Mitscherlich, Alexander; Mitscherlich, Margarete Die Unfähigkeit zu trauern

PIPER

Vorwort zu dieser Ausgabe

Der als Taschenausgabe vorliegende Band »Die Unfähigkeit zu trauern« erschien erstmals in den sechziger Jahren. Nach den zahlreichen Auflagen und Übersetzungen zu schließen, die das Buch erlebt hat, muß es ein Thema getroffen haben, das im Spannungsfeld widersprechender Interessen verblieben ist. Denn zehn Jahre sind für ein Buch zeitgeschichtlichen Inhalts schon ein beträchtliches Alter. Sei es, daß sich die politische Szenerie verschoben hat, sei es, daß andere Probleme Aufmerksamkeit verlangen.

Wir müssen freilich betonen, daß es uns bei der Beschreibung aktueller Ereignisse nicht in erster Linie um die Darstellung von Tagesaktualität im engeren Sinne ging, sondern um Entstehung und Entwicklung von allgemeineren Tendenzen. Was wir beschrieben haben, hat offenbar nicht viel an Aktualität eingebüßt; vielmehr sind neue Strömungen aufgetreten, die sich mittelbar an die Beobachtungen anschließen, von denen in der »Unfähigkeit zu trauern« die Rede war. Jetzt geht es nicht mehr vorrangig um die Schuldproblematik, sondern darum, daß die Geschichte Hitlers und seines sogenannten »Dritten Reichs« offenbar nur entstellt tradiert werden kann. Das Thema, für welches die Autoren sich geneigte Leser erwünschen, ist der Sachlage entsprechend nicht durch die langsam in die Vergangenheit zurücksinkende Geschichte des »Dritten Reichs« bestimmt, sondern es ist auch als Musterbeispiel eines überaus zeittypischen Geschichtsverlaufs in unserem Jahrhundert gedacht. In ihm hat sich eine ungeheure Anhäufung von Inhumanität zugetragen, die über jeden Bewältigungsversuch hinaus reicht.

In vielen Köpfen vollzieht sich gegenwärtig ein Verfall von Geschichtswissen. Er nimmt aber sonst kaum ein solches Ausmaß an wie in den Vorstellungen und Phantasien, die sich um das »Dritte Reich« und seinen Führer ranken. Was muß man unseren Kindern und Jugendlichen über den schrecklich »heroischen« Alltag des »Dritten Reichs« und der Gaskammern, was über den Mann Hitler erzählt haben, bis sich so verdrehte Phantasien bilden konnten wie sie sich z. B. im Bericht des Pädagogen Dieter Boßmann niederschlagen? Boßmann hat für seine Information 3042 Aufsätze von Schülern aus allen Schultypen untersucht. Umfragen in der letzten Zeit ließen erkennen, daß hauptsächlich die mündliche Überlieferung durch Eltern und Großeltern diese chaotische Geschichtsrezeption bewirkt haben. Die Teilhaber und Mitwirkenden, die mittel- und unmittelbaren Beobachter des »Dritten Reichs« sind es, die eine solche Wirrnis zustande gebracht und an die Nachkommen übermittelt haben. Nicht späteren Historikern blieb es überlassen, unfaßbar grauenvollen Fakten nicht gewachsen zu sein. Die Vorstellungen, die über Hitler kursieren, wären gar nicht anders zu erklären, als aus der Tatsache, daß offenbar die Auseinandersetzung mit verdrängten Inhalten der Nazizeit keineswegs abgeschlossen ist, weder auf bewußter noch auf unbewußter Ebene. Soweit Erinnerungen preisgegeben werden, sind sie nicht nach Gesetzen der Logik wie bei einem rationalen Geschehen zusammengefügt, sondern eher in der Art und Weise, wie wir träumen und mit den Traumstücken der äußeren und bedrohlichen inneren Realität umgehen. Der Traum sprengt die Schranken, die unserer nüchternen Vorstellungswelt gesetzt sind. Das Unsinnige ist aber zugleich das Notwendige, wenn es gilt, nicht von Schrecken und Todesangst – Angst auch vor späterer Rache ihrer Opfer – überwältigt zu werden. So bedrohlich lebendig ist in unserem Unbewußten geblieben, was sich in den Jahren des »Dritten Reichs« zutrug. Verhängnisvoll könnte es werden, wenn wir aus den Augen verlören, was damals Wirklichkeit war. Die heute Zwanzigjährigen und Jüngeren leben immer noch im Schatten der Verleugnung und Verdrängung von Ereignissen, die wir nicht ungeschehen machen können. Wir sollten aber wenigstens bis dahin gelangen, wo um die geschichtliche Wahrheit gerungen wird – und nicht um die effektivste Abwehr dieser Wahrheit.

Die Schuld des »Dritten Reichs« endet also nicht, wie man es gerne gesehen hätte, bei würdevollen Nachrufen auf die Opfer.

Noch etwas ist zu kontrollieren: der Einfluß, den die Verrücktheiten der Eltern auf das Weltbild ihrer Kinder nehmen. Es sollte unser Ziel bleiben zu erreichen, daß Schüler und Studenten nicht nur einseitig von den Eltern her über das Nazitum beeinflußt werden, über das, was Wirklichkeit war. Sie müssen auch von der Schule, und zwar dort vom historischen Fachmann her, informiert werden, so daß sie die Eltern aus unverzerrten Darstellungen ihrerseits unterrichten können. Solches Material stellt zum Beispiel das Münchner »Institut für Zeitgeschichte« mit seinen Veröffentlichungen bereit. Alle Versuche der Aufklärung von Erwachsenen zu Erwachsenen waren bisher zum Scheitern verurteilt, weil wir uns nicht den inneren Wahngehalten, die wechselseitig projiziert wurden, nähern konnten. Wenn irgend etwas, so kann in dieser Notlage nur das angemessene psychologische Verständnis weiterhelfen. Es bleibt immer noch ein aktuelles Thema, das hier abgehandelt wird: »Die Unfähigkeit zu trauern«. Wenn man einen Wahn, der zum Unzugänglichsten am Menschen gehört, überhaupt beeinflussen kann, dann sicher nur durch solche Versuche, Unbewußtes psychologisch zu verstehen. Hier eröffnet sich ein Verständnis, das uns vielleicht weiterbringt. Wir hoffen, die neuen Leser, die das Buch vielleicht jetzt gewinnen wird, verstehen es als Paradigma einer Psychohistorie.

A. M.

Vorbemerkung

Von allen Staatsformen gewährt die parlamentarische Demokratie ihren Mitgliedern das größte verbriefte Recht auf individuelle Freiheit. In Tat und Wahrheit ist der Spielraum nicht groß. Es kann deshalb nicht als Ausdruck eines ängstlichen Pessimismus gedeutet werden, wenn man sich um den Fortbestand dieses Wenigen Sorge macht. Denn offenbar fällt es unvergleichlich schwerer, eine kollektive Lebensform zu erreichen, welche Gedankenfreiheit gewährt – als Basis jeder Freiheitserfahrung –, als diese Freiheit wieder zu verlieren.

Die Abhandlungen dieses Buches untersuchen psychische Prozesse in großen Gruppen, als deren Folge sich Freiheit oder Unfreiheit der Reflexion und der Einsicht ausbreiten. Es wird also der Versuch unternommen, einigen Grundlagen der Politik mit Hilfe psychologischer Interpretation näherzukommen, der Interpretation dessen, was Politik macht, nämlich menschlichen Verhaltens in großer Zahl.

Den Ausgangspunkt solcher Überlegungen bildet die Bundesrepublik. In ihr erfahren deutsche Bürger zum ersten Mal demokratische Gedankenfreiheit in Verbindung mit der Ausbreitung relativen Wohlstands. Der Beobachter dieses politischen Gebildes sieht sich jedoch zu der Frage gedrängt, wieviel Leidenschaft für die Demokratie sich zeigen würde, wenn die bundesrepublikanischen Geschäfte einmal entschieden schlechter gehen sollten. Gibt es neben unserem Streben nach Reichtum auch ein neuerdings erwachtes nach Freiheit? Mehrt oder mindert sich die Toleranz, abweichende Meinungen – auch solche, die uns ärgern – zu ertragen und zu achten? Ist Gedankenfreiheit für die Bürger unseres Landes zur unabdingbaren Forderung an ihre Gesellschaft geworden? Mit anderen Worten: Wird diese Freiheit lebendig empfunden, oder ist sie ein günstiger Zufall, der wie in der Weimarer Republik rasch wieder verlorengehen könnte? Das sind Fragen nach der Stabilität des Bewußtseins der Vielen, welche unsere Öffentlichkeit ausmachen.

Manches spricht für eine Demokratisierung des Landes, manches zeigt, wie leichthin das Wort gebraucht wird und wie hartnäckig vordemokratische Anschauungen sich am Leben halten. Es ist nicht die Absicht der Autoren, berechtigtes Mißtrauen vor deutschen Überraschungen zu schüren, es geht ihnen vielmehr um die Vergrößerung der Einsicht in jene Motive, welche die Direktiven für unsere Politik von langer Hand her bestimmen. Dieser Einsicht bedürfen wir aber besonders, um zu verstehen, was sich in diesem Jahrhundert in unserem Land zugetragen hat, und womöglich daraus zu lernen.

Das kann nicht ohne Berührung neuralgischer Punkte abgehen. Wo aber Gedankenfreiheit nicht fortwährend kritisch herausgefordert wird, ist sie in Gefahr, wieder zu verlöschen. Denn sie ist an den schwächsten Teil unserer seelischen Organisation, an unser kritisches Denkvermögen, geknüpft.

Vornehmlich in dem Kapitel Über die Unfähigkeit zu trauern werden Tabus angefaßt. Es wird der psychologische Nachweis versucht, warum bis heute die Epoche des Dritten Reiches – und schon zuvor der Zusammenbruch der Weimarer Republik durch demokratiefeindliches Verhalten ihrer Bürger – nur unzulänglich kritisch durchdrungen wurde. Das trifft natürlich nicht auf das Wissen einiger Fachleute zu, sondern auf die mangelhafte Verbreitung dieses Wissens im politischen Bewußtsein unserer Öffentlichkeit. Wir – als ein Kollektiv – verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt. Infolgedessen ist unser Selbstvertrauen unsicherer, als es sein könnte.

Die Autoren bemühen sich, schwer verfolgbare Bedingungszusammenhänge sichtbar werden zu lassen. Es kommt ihnen auf die Darstellung einiger, wie sie meinen, unsere Gedankenfreiheit einengender Verhaltensweisen an. Das ist gewiß nicht alles, was sich über die gegenwärtige Bewußtseinslage Deutschlands sagen ließ. Aber es spiegelt sich in ihnen der innere Zustand, der unser öffentliches Bewußtsein, den Grad seiner Wachheit oder Schläfrigkeit mitbestimmt.

Der Analytiker seelischer Prozesse in Gruppen sieht sich einer oft nur schwer greifbaren und niemals nur einsinnig zu ordnenden Vielfalt von Erscheinungen gegenüber. Das wird bei der Untersuchung des Ausbleibens von Trauerreaktionen nach einer nationalen Katastrophe größten Ausmaßes sehr deutlich. Trauer ist ein seelischer Prozeß, in welchem das Individuum einen Verlust verarbeitet. Henry Loewenfeld[1] hat mit Recht darauf hingewiesen, daß eine Störung dieser Trauerarbeit beim einzelnen dessen seelische Entwicklung, seine zwischenmenschlichen Beziehungen und seine spontanen und schöpferischen Fähigkeiten behindert; eine Übertragung solcher Einzelerfahrungen auf eine große Gruppe bereite jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil hier bei der Vielfalt der Lebensumstände und Charaktere neue unbekannte Faktoren hinzukommen. Die Autoren sind sich deshalb darüber im klaren, daß ihre Versuche der Verallgemeinerung oder, besser, ihre Beschreibung von Reaktionen, die bei Personen sonst sehr unterschiedlichen Charakters dennoch übereinstimmend verlaufen, zunächst auf Hypothesen beruhen. Es liegt ihnen daran, die Aufmerksamkeit auf diese Vorgänge zu lenken und vielleicht empirische Einzeluntersuchungen anzuregen; über den behaupteten Sachverhalt nämlich, daß zwischen dem in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus einerseits und der hartnäckig aufrechterhaltenen Abwehr von Erinnerungen, insbesondere der Sperrung gegen eine Gefühlsbeteiligung an den jetzt verleugneten Vorgängen der Vergangenheit andrerseits ein determinierender Zusammenhang besteht. Es erwies sich für die Autoren als überaus schwierig, die Folgerichtigkeit dieser Entwicklung sichtbar zu machen.

Das liegt auch an der Eigenart der psychischen Ökonomie: Was im vorliegenden Buch zu beleuchten und zu erklären versucht wird, entzieht sich gemeinhin unserem Bewußtsein, weil mit ihm für unser Selbstgefühl so schmerzliche und erschütternde Erfahrungen verbunden sind. Die Autoren hatten es mit dem wohlorganisierten inneren Widerstand gegen die Durcharbeitung eines Stücks unserer Geschichte zu tun, deren Schuldmoment unerträglich war und ist.

So entsteht die Alternative: Verjährung ohne Trauerarbeit; die Täter, Mittäter und Mitläufer sterben aus. Oder: durcharbeiten, wenigstens im Detail, beginnend mit jenen Einzelheiten, die an sich noch keine Unmenschlichkeiten sind, in der zahllosen Verbreitung freilich das Klima schufen zum Beispiel für Projekt und verbissene Verwirklichung der »Endlösung«. Darauf folgte jene panische Schuldangst, die zur Ausdauer in blinder Selbstzerstörung zwang und dann zur totalen äußeren Abkehr von dieser Identifikationslinie mit dem Nazismus. Es ist schon einiges erreicht, wenn es uns gelingt, etwas von der Essenz des damaligen Geschehens so zu vermitteln, daß der Leser eventuell auch mit eigenen Erfahrungen vergleichen und an ihnen nachprüfen, unter Umständen Mitschuld fühlend wiederentdecken kann.

Die emotionelle Verfassung, die den definitiven Ausschlag für ein vorherrschendes Verhalten in Großgruppen gibt, ist nicht nur eine rein quantitative Frage. Es geht um die Leichtigkeit der Ausbreitung eines Verhaltens. Um die Frage nämlich, ob ihm die seelische Struktur bei der großen Zahl entgegenkommt. So wird kaum jemand leugnen, daß es in Deutschland keine kleine Zahl von Menschen gibt, die höflich, anteilnehmend, rücksichtsvoll sind, dies alles nicht aus sittlichem Dressatgehorsam, weil man ihnen »Manieren« beigebracht hat, sondern weil sie gelernt haben, die Eigenart des Partners zu achten und sich für ihn zu interessieren. Die Einschränkung ist aber nicht zu vermeiden, daß diese freundlichen Deutschen etwa im Straßenverkehr oder in anderen Rücksicht fordernden Situationen nicht der den Ton bestimmende, sondern ein mehr oder minder »stummer« Bevölkerungsanteil sind. Der freundliche Deutsche, um es in einer zugespitzen Form zu sagen, hat im eigenen Land keinen zwingenden Vorbild-Charakter. Obgleich es ihn als angenehme Überraschung gibt.

Mit solchen Widersprüchen hat es der Sozialpsychologe zu tun; genauer betrachtet sind es nicht eigentliche Widersprüche, sondern gleichzeitig vorkommende gegensätzliche Charakterstrukturen und Verhaltensweisen. Allerdings bringen sie die Gesellschaften in verschiedener Häufigkeit hervor und geben ihnen verschiedene Erfolgschancen. Höflichkeit zum Beispiel widerspricht einigen tradierten Grundwerten unserer Gesellschaft.

Die aufklärerische Absicht der Autoren ist es, die Chancen für den freundlichen Deutschen zu vermehren. Das kann man nicht, indem man seinerseits freundlich Zuspruch erteilt, sondern nur, indem man die Motivationen zu unfreundlichem Verhalten – im weitesten Sinn des Wortes – erkennt und zu verstehen lernt, warum es in unserer deutschen Gesellschaft über einen so langen Zeitraum dominierte.

Die Gedanken dieser Kapitel sind als Orientierungshilfe einem sehr schwierigen, sehr komplexen Gegenstand gegenüber zu verstehen. Es ist von unserer Geschichte die Rede, wie sie durch unser Verhalten zustande kam und jetzt fortgesetzt wird. Die Feststellungen, die notwendig sind, werden ohne Beschönigung getroffen, so eindeutig als möglich formuliert, sollten aber vom Leser nicht als apodiktisch verstanden werden.

Die Autoren fühlten sich bei der Arbeit an diesen Untersuchungen sehr engagiert. Sie haben ihre Absicht erreicht, wenn es ihnen gelingt, dem Leser zu zeigen, daß er und die Autoren diejenigen sind, die eine Sache zunächst selbst besser machen müssen, ehe ein Anspruch an andere gestellt werden kann.

Beim kritischen Sichten und Ordnen anderer vorangegangener und dieser letzten Fassung des Manuskriptes halfen uns Dr. Walter Hinderer und Dr. Hermann Schulz. Ihr sachgerechter Rat hat zur Verbesserung des Textes an vielen Stellen geführt, wofür wir herzlich danken. Die Ausdauer unserer Mitarbeiterin Frau Rosemarie Blaas beim Herstellen der Manuskripte war bewundernswert. Auch ihr gilt unser Dank für ihre unschätzbare Hilfe. Das Buch als Ganzes gehört zu einem sozialpsychologisch-sozialmedizinischen Forschungsprojekt, für das der eine von uns (A. M.) eine Unterstützung des Foundation Fund for Research in Psychiatry erhält. Dadurch wurden internationale Beobachtungen ermöglicht, die unser Auge, wie wir hoffen, für die nationalen Eigentümlichkeiten unseres Landes geschärft haben.

I

Die Unfähigkeit zu trauern – womit zusammenhängt: eine deutsche Art zu lieben

»Den germanischen oder ›nordischen‹ Erbstrang, dem die Deutschen selber ihre ›heroische‹, ›faustische‹, unendlich schweifende Natur zugeschrieben haben – das heißt, eben die Eigenschaft, die von außen als Aggressivität erscheint –, diesen germanischen Erbstrang haben sie mit den meisten europäischen Völkern gemein, ja er ist besonders vorwaltend und rein bewahrt gerade in den friedfertigen, nüchternen und demokratischen Nationen der Niederlande und Skandinaviens. Diese Nationen haben das unbändige, chaotische Barbarentum der alten Germanenstämme restlos in sich zu überwinden oder zu sublimieren vermocht, und nicht für einen Augenblick haben sie sich von dem Nazitraum eines nordischen Weltreichs verführen lassen. Der einzigartige Charakter der Deutschen stammt nicht aus ihrer Herkunft, sondern aus ihrer Entwicklung.«

(Erich Kahler Verantwortung des Geistes. Frankfurt, S. Fischer, 1952.)

1. Deutsche Illusionen

In der Nacht des 22. Juni 1941, 15 Minuten vor Beginn des deutschen Angriffs auf Rußland, weckte man Mussolini aus dem Schlaf, um ihm einen Brief Hitlers vorzulegen, worin er ihm den »entscheidenden Entschluß seines Lebens« mitteilte. Auf die Frage seiner Frau, was das zu bedeuten habe, soll Mussolini geantwortet haben: »Das bedeutet, daß der Krieg verloren ist.«[2]

Der Krieg ging verloren. So gewaltig der Berg der Trümmer war, den er hinterließ, es läßt sich nicht verleugnen, daß wir trotzdem diese Tatsache nicht voll ins Bewußtsein dringen ließen. Mit dem Wiedererstarken unseres politischen Einflusses und unserer Wirtschaftskraft meldet sich jetzt mehr und mehr unbehindert eine Phantasie über das Geschehene. In etwas vergröberter Formulierung ließe sich sagen, daß durch die Verleugnung der Geschehnisse im Dritten Reich deren Folgen nicht anerkannt werden sollen. Vielmehr will man die Sieger auf Grund ihrer eigenen moralischen und politischen Maßstäbe zwingen, die Konsequenzen der Naziverbrechen so zu handhaben, als ob es sich um einen belanglosen kriegerischen Konflikt gehandelt hätte. Nach dieser Interpretation des Weltgeschehens haben wir dann natürlich auch »Ansprüche«, zum Beispiel auf die verlorenen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie. Zwar hat uns das Beharren auf diesen Phantasien in der politischen Realität keinen Schritt weitergebracht; die Kluft zwischen den beiden deutschen Staaten hat sich unnötig vertieft; wir bestehen jedoch auf der Idee eines Rechtsanspruches, den wir in einem Friedensvertrag zur Geltung zu bringen hätten. Zwar ist ein solcher Vertrag nicht in Aussicht, und oft genug hat in der Geschichte der Menschheit die Regel gegolten, daß, wer einen Krieg zur völligen Vernichtung des Gegners begann, bei einer Niederlage mit entsprechenden Konsequenzen zu rechnen hatte. Denn es ist leicht abzusehen, in welcher Weise ein nationalsozialistischer Staat, wenn ihm der Sieg zugefallen wäre, die östlichen Staaten behandelt hätte – wir aber bringen nach all dem »Rechtsansprüche« vor, Rechtsansprüche, die wir selbst, wären wir die Mächtigen geblieben, nie als verbindlich anerkannt hätten. In den zwanzig Jahren seit Kriegsende und insbesondere seit Stalins Tod hat sich die definitive Festigung der Sowjetunion als Weltmacht vollzogen. Desungeachtet beharren wir auf der Erwartung, ein Friedensvertrag werde uns die Rückkehr nur »provisorisch unter fremder Verwaltung stehender Gebiete« bringen – also eine restitutio ad integrum. Das Dritte Reich, Hitlers Krieg nur ein Traum.

Mit dieser Einsicht in eine illusionär begründete Politik wird dem Vorwurf, wir betrieben »Revanchismus«, nicht das Wort geredet. Denn unsere Politik hat nicht die Mittel, das Weltgeschehen derartig zu beeinflussen, daß irgendwer mit uns auszöge, um mit Waffengewalt uns unsere verlorenen Ostgebiete »heimzuholen«. Diese Spekulation mag auf der Höhe des Kalten Krieges hier und da ernstlich gepflegt worden sein. Seit dem Sputnik sind solche Hoffnungen erkaltet. Unsere Politik ist nicht revanchistisch, sie ist illusionär – aber auch deshalb nicht ungefährlich. Weder unseren Regierungen noch unseren Parteien noch sonstigen Gruppen unserer Öffentlichkeit ist es gelungen, uns alle von einer einfachen, logisch verknüpften Kette von Tatsachen zu überzeugen: Wir haben die Sowjetunion mit Krieg überzogen, haben dem Land unendliches Leid gebracht und dann den Krieg verloren. Das hat zu einer Verschiebung der machtpolitischen Einflußzonen geführt. Nach der bedingungslosen Kapitulation müssen wir uns realpolitisch in die Tatsache schicken, daß der Sieger – der seinerseits den Sieg nur unter größten Opfern erreichte – seine Bedingungen so stellt, wie er sie für seine Interessen glaubt stellen zu müssen. Daß Rußland, ob bolschewistisch oder zaristisch, nach einem gewonnenen Krieg Gebietsforderungen stellen und eine Ausweitung seiner Einflußzone mit Nachdruck verfolgen würde, konnte man im vorhinein wissen. Indem wir in Rußland einmarschierten, waren wir dieses kalkulierbare Risiko eingegangen; aber wir sind jetzt nicht fähig, die Forderungen Rußlands als Kriegsfolge anzuerkennen, als ob die ganze Auseinandersetzung ein Kabinettskrieg und nicht ein ideologischer Kreuzzug gewesen wäre.

Man kann natürlich, wenn man so schroff formuliert – wir seien nicht bereit, hinzunehmen, den Krieg gegen Rußland ohne Einschränkung verloren zu haben –, leicht überführt werden, die Dinge zu übertreiben. Die Formulierung zielt auch nicht auf den rationalen Vordergrund, in dem man gezwungenermaßen mit einem schwer beweglichen machtpolitischen Koloß zu tun hat, sondern auf die dahinterliegenden Phantasien. Es geht um die Hintergedanken und ihren nicht geringen, wenn auch nicht leicht in einer einfachen Beweisführung darstellbaren Einfluß auf unser faktisches Verhalten.

Ein Tabu ist entstanden, ein echtes Berührungstabu. Es ist verboten, die Anerkennung der gegenwärtigen Grenzen beider deutscher Staaten als ein Faktum zu diskutieren, von dem man zunächst einmal auszugehen hat. Im Berührungstabu ist der Traum enthalten, es könnte sich doch noch durch unabsehbare Glücksfälle fügen, daß zurückzuholen ist, was sträflich Hybris aufs Spiel gesetzt und vertan hat. Es ist tatsächlich ein gefährlicher Traum, statt der Anstrengung, nationale Grenzen ihres Charakters der Barrieren vor einem freien Verkehr zu entkleiden – so daß es uns erlaubt wäre, an die Kurische Nehrung zu fahren wie in die Vogesen –, den »Alleinvertretungsanspruch« höher einzuschätzen und während zwanzig Jahren sich nicht um eine vernünftige Koexistenz zu bemühen. Dabei enthüllt sich die Macht der Hintergedanken, denn sie sind es, die den erträglichen Kompromiß zugunsten der unerträglichen Rechthaberei auf beiden deutschen Seiten verwerfen ließen.

Dementsprechend müssen auch für fremde Ohren unsere Versicherungen, bei der Verfolgung unserer Rechtsansprüche auf Einsatz von Machtmitteln zu verzichten, etwas Unverbindliches enthalten. Diese deutsche Art, das schier Unerreichbare kompromißlos so zu lieben, daß das Erreichbare darüber verlorengeht, wiederholt sich in der deutschen Geschichte seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Die Orientierung am Unwirklichen war einer der Anlässe der folgenden Untersuchung. Da wir es mit Phantasien zu tun haben, die im scheinbar logisch geordneten Verhalten aufzufinden sind, kompliziert sich die Darstellung, und wir können es nicht verhindern, daß unsere Beobachtungen oft schwerfällig formuliert und vielleicht peinigend um die Sache bemüht sind. Trotzdem erhoffen wir vom Leser, daß er seine Unlust angesichts dessen, was wir ausbreiten, zunächst aushält, ehe er zum Urteil schreitet.

Die Grundlagen dieser sozialpsychologischen Analyse sind keine systematischen Untersuchungen, sondern Spontanbeobachtungen, wo immer Verhalten zutage trat, von dem sich sagen ließ, es vertrete nicht nur eine individuelle, sondern eine verbreitete und häufig beobachtbare Reaktion. Wir stellen im folgenden zwei Verhaltensweisen dar, die uns so weit verbreitet erscheinen, daß man sie als repräsentativ ansehen darf. Ein Trend des Verhaltens läßt sich mit dem Begriff »Abwehrmechanismen gegen die Nazivergangenheit« zusammenfassen. Das soeben genannte Beispiel der Verleugnung der Niederlage durch einen Gegner, dem man sich nach »Rasse« und Kultur weit überlegen dünkte, zeigt etwas von diesem seelischen Aufwand. Es ist wichtig, festzustellen, daß die Niederlage an dieser negativen Bewertung nicht viel geändert zu haben scheint. Jedenfalls hat die deutsche Regierung und haben offizielle und inoffizielle Sprecher unseres Landes bis in die allerletzte Zeit wenig getan, um die tiefe Kluft der Entfremdung zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn mit Hilfe eines tiefer gehenden Verständnisses zu verringern.

Der zweite Trend läßt sich wesentlich schwerer beschreiben. Er bezieht sich auf eine Reaktionsträgheit, die sich in unserem gesamten politischen und sozialen Organismus bemerkbar macht. Die Einsichten, die hier mit Hilfe seelischer Sperrungen abgewehrt werden, sind ungelöste oder unzureichend verstandene Probleme unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Wo wir höchste Aufmerksamkeit erwarten dürfen, stoßen wir auf Indifferenz. Diese diffus verteilte Anteilnahmslosigkeit wird besonders dann bemerkbar, wenn man sich die rasche Veränderung unserer materiellen Umwelt vor Augen hält. Lebhaftes Interesse bei allen Beteiligten für technische Probleme steht in Kontrast zur Indolenz, mit der unsere politischen Grundrechte behandelt werden. Die Anteilnahme an alledem, was einer aufgeklärten Öffentlichkeit am Herzen liegen sollte, ist relativ gering. Die rapide zunehmende Industrialisierung, die Ballung der Bevölkerung in Schwerpunktsregionen der Industrie, die Zunahme der unselbständigen Arbeit, die ständige Umstrukturierung aller Herstellungstechniken, die Handhabung der Wissensvermittlung in einer derart veränderten und komplizierten Gesellschaft, die Rückwirkung alles dessen auf das Bezugspaar Trieb – Moral sollte Anstrengungen provozieren, in einem reflektierten Bewußtsein zu einem angemessenen Verständnis vorzudringen. Eine neue Welt entsteht vor unseren Augen, aber es verlangt die meisten Menschen unseres Landes kaum danach, sich verläßlich zu informieren, die Manipulationen zu durchschauen, denen ihre Wertvorstellungen dauernd unterworfen werden, überhaupt sich ein zusammenhängendes Bild von den Kräften zu machen, die zu unseren Lebzeiten den Gang der Geschichte beeinflussen. Darin müßte unsere Zeit sich prinzipiell von der Vergangenheit unterscheiden, weil vom Menschen produzierte Umwelt für immer mehr Menschen in immer überwiegenderem Maß das Leben bestimmt.

Hier überdeckt sich ein spezifisch deutsches mit einem zeittypischen Verhalten. Die unabsehbare und sich dauernd beschleunigende Vermehrung unseres Wissens, das enge Eingebundensein des einzelnen in große Produktions- oder Verwaltungskombinate, sein immer kleinerer Aktionsraum als Spezialist wirken überall lähmend auf die Initiative. Für alle Länder, die vom Prozeß der Industrialisierung ergriffen wurden, wird die fatale Frage immer drängender, wie man politisches Engagement der Massen gerade an den Prozessen erreichen könnte, die über ihr Fortleben und die Art ihres Zusammenlebens entscheiden, auf die sie aber unter den gegenwärtigen Verhältnissen schwindende Möglichkeiten des Einflusses haben. Denn die Vorgänge der Konzentration der Macht an wenigen Orten, die höchst vermittelte Einflußmöglichkeit vielseitig abhängiger Spezialisten schließen aus anderen Gründen als in der Vergangenheit, aber ebenso wirkungsvoll die Massen von den politisch wirklich bedeutenden Entscheidungen aus. Die Verhärtung in nationalistischer Selbstbezogenheit hat hierin eine ihrer Wurzeln. Innerhalb des nationalen Raumes verweigern ihrerseits große Teile der Bevölkerung ihre Anteilnahme an den politischen Problemen, geschweige daß sie zu einer aktiven Mitarbeit über ihre Arbeitsverpflichtungen hinaus zu bewegen wären. Ihr Zustand verrät Abstumpfung eines neuen Typs. Er läßt sich als Verarmung in den Objektkontakten, das heißt in den von Gefühl und Denken getragenen Kommunikationsprozessen, charakterisieren. Es mag sein, daß eine ähnliche Interesselosigkeit etwa unter den chronischen Mangelverhältnissen der Vergangenheit, also unter dem Einfluß endemischen Hungers, bestanden hat. Mit Ausnahme weniger Stadtrepubliken ist in der Geschichte auch kaum eine ernsthafte Anstrengung gemacht worden, die Bevölkerung als ganze systematisch auf Entscheidungen vorzubereiten und sie damit an ihrem sozialen Umfeld mit mehr als primitiv egoistischer Anteilnahme zu interessieren. In unserer Zeit bietet das Problem der politischen Apathie (bei gleichzeitig hochgradiger Gefühlsstimulierung im Konsumbereich) jedoch besondere Aspekte. Aus diesen durch die gesellschaftlichen Prozesse in Apathie gezwungenen Massen brechen fortwährend irrationale destruktive Verhaltensweisen hervor. Außerdem hat es noch nie Massen dieser Größenordnung, aber damit auch noch nie politische Entscheidungen gegeben, die so viele Menschen betreifen.

Diese ubiquitären Schwierigkeiten in den national abgegrenzten, sich industrialisierenden Gesellschaften kamen uns nach Kriegsende sehr gelegen. Aus einer unter dem Nationalsozialismus rückschrittlich aggressiven wandelten wir uns, was den Phänotypus betrifft, in eine apolitisch konservative Nation. Das ist relativ leicht darstellbar am Mangel unserer Neugier. Psychologisches Interesse für die Motive, die uns zu Anhängern eines Führers werden ließen, der uns zur größten materiellen und moralischen Katastrophe unserer Geschichte führte – was mit Vernunft betrachtet das brennendste aller Erkenntnisprobleme sein müßte –, haben wir nur wenig entwickelt und uns auch nur wenig für die Neuordnung unserer Gesellschaft interessiert. Alle unsere Energie haben wir vielmehr mit einem Bewunderung und Neid erweckenden Unternehmungsgeist auf die Wiederherstellung des Zerstörten, auf Ausbau und Modernisierung unseres industriellen Potentials bis zur Kücheneinrichtung hin konzentriert. Die monomane Ausschließlichkeit dieser Anstrengung ist nicht zu übersehen; sie hat allmählich das politische Leben unseres Landes immer mehr in administrativer Routine erstarren lassen. Diese Entwicklung bietet sich uns wie eine Selbstverständlichkeit dar. Sie so einzuschätzen ist gewiß ein Trugschluß, ein Einblick in die Motive dieses einseitigen Verhaltens scheint vielmehr das, was zu fordern ist. Das gleichsam Natürliche dieses werktätigen Eifers verdeckt zunächst schon einmal die Zusammenhänge, aus denen heraus es ihm gelingt, sich in unserem Bewußtsein mit solcher Selbstverständlichkeit zu präsentieren.

Die Restitution der Wirtschaft war unser Lieblingskind; die Errichtung eines demokratischen Staatsgebäudes hingegen begann mit dem Oktroi der Sieger, und wir wissen bis heute nicht, welche Staatsform wir selbst spontan nach dem Kollaps der Naziherrschaft: gewählt hätten; wahrscheinlich eine ähnlich gemildert autoritäre von Anfang an, wie sie sich heute aus den demokratischen Grundlagen – die wir schrittweise bis zur Großen Koalition hin aufgeben – entwickelt haben. Es ist nicht so, daß man den demokratischen Staatsgedanken ablehnte wie weitgehend während der Weimarer Republik. Man kann aber auch wenig mit ihm anfangen, weil man ihn, psychologisch gesprochen, nicht libidinös zu besetzen versteht. Es ist kein spannendes Spiel der Alternativen, das in unserem Parlament ausgetragen würde, wir benützen diesen Staat als Instrument für Wohlstand – kaum der Erkenntnisproduktion; entsprechend drängen sich nur wenig politisch schöpferische Talente in seine Ämter. Die politische Routine, die sich immer mehr in ein spanisches Zeremoniell des Proporzes hinein entwikkelt, bringt kaum originelle Versuche, produktive Phantasien in den politischen Gegebenheiten der Nachkriegszeit wirksam werden zu lassen. Dazu hätte etwa die Anstrengung gehört, unser politisches Selbstverständnis unter Anerkennung der Tatsache zu bilden, daß der Sowjetmacht die endgültige Stabilisierung als Weltmacht gelungen ist und daß wir ihrer Ideologie gegenüber Argumente statt Vorurteile ins Feld zu führen haben. Oder es hätte dazu die andere Aufgabe gehört, zu begreifen, welch nachhaltige Vorstellungen über uns bei den mit uns in politischen und Handelsbeziehungen stehenden Völkern in Erinnerung der Ziele und der Art unserer Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind. Es ist kaum ernstlich zu bestreiten, daß nur eine kleine Schicht der deutschen Öffentlichkeit sich in dieser Richtung bemüht hat und daß die offizielle Politik an Fiktionen und an ein Wunschdenken gefesselt blieb und – zunächst auch für die eigene politische Sanierung – den tiefer gehenden Versuch, zu einem Verständnis der erschreckenden Vorgänge zu gelangen, bis heute schuldig geblieben ist, unter anderem des erschreckenden Ausmaßes unserer Beeinflußbarkeit durch die Versprechungen der Nazis.

Der Effekt ist eine weitgehende Isolierung nach außen und eine auffällig linkische Art in der Entscheidung von Takt- und Geschmacksfragen. Es fehlt die Urbanität. Adenauers Entschluß, den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, Hans Globke, zum Leiter seiner Kanzlei zu machen, symbolisiert das ebenso wie Lübkes Ablehnung der französischen Auszeichnung für Klara Faßbinder. Die Unfähigkeit, beim Wiederaufbau der Städte neue Konzepte zu verwirklichen oder auch bei der Planung unserer Schulen, zeigt auf drastische Weise die Ich-Entleerung unserer Gesellschaft. Damit ist die Schwäche gemeint, die das Ich in seinem produktiven und integrierenden Anteil bei der Gestaltung der sozialen Realität in den vielfältigsten Facetten und an den unterschiedlichsten Schauplätzen erkennen läßt. Nach dem Ausmaß der Katastrophe, die hinter uns liegt, konnte es nicht zu einer Traditionsorientierung kommen; die Tradition war gerade das, was durch die nationalsozialistische Herrschaft am nachhaltigsten zerstört wurde, und es war zuvor schon eine höchst problematische Tradition gewesen. Übrig geblieben sind äußerliche Gewohnheitselemente, Verhaltensmuster und Konformismen, welche eine darunterliegende ziemlich unartikulierte Lebensform wie eine Kulisse verdecken. Und diese überall aufgestellten Versatzstücke geben unserer innenpolitischen Wirklichkeit und unserem Alltag einen theatralischen und unwahrhaftigen Beigeschmack.

»Keine Experimente«, diese Kurzdefinition des Zustandes steht – gerade weil es kaum Traditionen, das heißt unzerstörte und wirksam gebliebene Identifikationen gibt – im Widerspruch zur deutschen Sozialgeschichte. Denn von unserem Lande ist schon einmal in der industriellen Ära die Initiative zur Bewältigung bedrückender Sozialverhältnisse ausgegangen. Im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts hat es die stärkste sozialistische Bewegung hervorgebracht, welche die konservativen Kräfte unter Bismarck zu einem beachtlichen Kompromiß in der Sozialgesetzgebung zwang. Keine derartige revolutionäre, vorwärtsdrängende Idee war nach dem Ende des Dritten Reiches zu spüren. Das Land scheint in seiner Kraft, politisch wirksame Ideen hervorzubringen, erschöpft, da die meisten seiner Bürger mit den Ideen des Rassismus und der Herrschaftsideologie des Nationalsozialismus einverstanden waren. Sie haben in der Tat mit dem Untergang der Naziherrschaft die Grundlage ihrer Orientierung verloren. Seit 1914 wurden zwei Generationen mit traditionsverwirrenden Ereignissen konfrontiert, die aber auch ihrerseits den Zustand innerer Erregtheit bei den Individuen erkennen lassen. Die Inflation des Selbstgefühls in der kaiserlichen Ära des bürgerlichen Nationalismus diente der Abwehr von Parvenügefühlen, zu spät Großmacht geworden zu sein, dazu addierte sich wenig bedächtiges Machtbewußtsein aus der Kraft der neuen »Waffenschmieden«. Die Verkennung der politischen Realität führte zur Niederlage im Ersten Weltkrieg. Die Verwechslung von Allmachtsphantasie und faktischer Potenz hatte die Übermacht mißachtet. Zwanzig Jahre später beginnt sich das gleiche zu wiederholen, als hätte es keine Vorerfahrung gegeben. Dazwischen erweckt die Arbeitslosigkeit von Millionen regressive Ängste; die Krise der dreißiger Jahre wird nicht als Zeichen einer noch nicht erreichten Ordnung, sondern als Folge der Abkehr von alten Autoritäten gedeutet. Bei Hitler wurden daraus Blutmächte, gegen welche gesündigt worden war.

Solche welterlöserische Träume von alter Größe stellen sich ein, wenn das Gefühl, von der Geschichte überholt zu sein, Ohnmacht und Wut erweckt. Ressentiments rufen dann nach dem starken Mann, nach Diktatur und Terror als mit Gott und dem Schicksal verbündeten Ordnungsmächten. Hat man sich mit einer Freund-Feind-Lehre solcherart eingelassen, dann kann man nicht mehr in nüchternem Kalkül die seelische Verfassung und die Widerstandskraft der Gegner, die man angreifen will, angemessen einschätzen. Es ist leicht, hier von Irrationalität der Urteilsbildung zu sprechen, aber sehr schwierig, dieses irrationale Verhalten in seinen Motivationen zu verfolgen. Daß es sich um irrationale, das heißt aus dem Unbewußten stammende Impulse bei der politischen und militärischen Zielsetzung gehandelt haben muß, geht daraus hervor, daß die deutsche Öffentlichkeit einschließlich des Militärs diese Umwelt so irrtümlich in ihrer Widerstandskraft gegen das deutsche Angriffspotential eingeschätzt hat. Abermals folgte die Quittung: der verlorene Krieg, der bis heute mit dem früheren idealisierten Selbstbildnis der privilegierten Rasse nicht zu vereinen ist. Den Begriff Rasse sollte man hier nicht zu eng fassen. Er meint Leute, die sich auf Grund der Fähigkeiten, die sie sich selbst zuschreiben, prädestiniert dafür halten, über andere zu herrschen. Da auch die meisten Offiziere des Generalstabs dem Wunschdenken der politischen Führung unterlagen, sind sie ein treffendes Beispiel, mit welchem Nachdruck emotionell besetzte Zielvorstellungen logisches Denken auch in Menschen, die in solchem Denken geübt sind, sich ein- und unterzuordnen vermögen.

Nach dem Wahn, mit sozialen Problemen im Stil der »Endlösung« fertig zu werden, ist nicht zu erwarten, daß die Rückkehr in den »Alltag« mühelos gelingt. Im Jahre 1945 gab es keine Autorität in der deutschen Öffentlichkeit, die nicht kompromittiert gewesen wäre. Das galt für die Relikte der Feudalstruktur und des liberalen Bürgertums. Außer einer vagen Hoffnung auf europäische Integration war auch kein Rückgriff auf ein politisches Konzept möglich, das aus einer Widerstandsbewegung gegen den Nazismus hervorgegangen wäre. Die Rückerinnerung mußte weiter ausgreifen, auf einen Mann, der seine Prägung in der längst vergangenen Staatsform des kaiserlichen Deutschland erhalten hatte. Die Herrschaft einer uralten Vaterautorität begann; und ihr blieb es überlassen, »Staat« zu repräsentieren, während sich die libidinöse Energie, wie gesagt, im Wirtschaftsbereich sammelte. Der »Staat« übernahm die Rolle, die Wirtschaft vor Auseinandersetzungen zu bewahren, die aus einer Kritik an unseren bis 1945 gültigen nationalen Zielsetzungen herrühren könnten. Und solche Kritik kam auch weithin nicht auf. Statt einer politischen Durcharbeitung der Vergangenheit als dem geringsten Versuch der Wiedergutmachung vollzog sich die explosive Entwicklung der deutschen Industrie. Werktätigkeit und ihr Erfolg verdeckten bald die offenen Wunden, die aus der Vergangenheit geblieben waren. Wo ausgebaut und aufgebaut wurde, geschah es fast buchstäblich auf den Fundamenten, aber kaum noch in einem durchdachten Zusammenhang mit der Tradition. Das trifft nicht nur für Häuser, sondern auch für den Lehrstoff unserer Schulen, für die Rechtsprechung, die Gemeindeverwaltung und vieles andere zu. Im Zusammenhang mit dieser wirtschaftlichen Restauration wächst ein charakteristisches neues Selbstgefühl. Auch die Millionenverluste des vergangenen Krieges, auch die Millionen getöteter Juden können nicht daran hindern, daß man es satt hat, sich an diese Vergangenheit erinnern zu lassen. Vorerst fehlt das Sensorium dafür, daß man sich darum zu bemühen hätte – vom Kindergarten bis zur Hochschule –, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.

Die Beispiele mögen zufällig und nach dem Horizont der Autoren gewählt sein. Andere Beobachter werden mit anderen Beispielen aufwarten können. In allen sehen wir jene Hemmung, jene Blockierung der sozialen Phantasie, jenen fühlbaren Mangel an sozialer Gestaltungskraft.

Diese Fakten werden hier nicht erwähnt, weil moralische Anklage erhoben, sondern weil ein Notstand besonderer Art charakterisiert werden soll. Unsere Überlegungen möchten zur Aufhellung des vielfältigen Motivationszusammenhangs zwischen Ereignissen unserer Nazivergangenheit und einem Mangel an sozialer Gestaltungskraft in unserer Gegenwart beitragen. Dementsprechend sieht unsere Hypothese die gegenwärtige politischgesellschaftliche Sterilität durch Verleugnung der Vergangenheit hervorgerufen. Die Abwehr kollektiv zu verantwortender Schuld – sei es die Schuld der Handlung oder die Schuld der Dul-Gung – hat ihre Spuren im Charakter hinterlassen. Wo psychische Abwehrmechanismen wie etwa Verleugnung und Verdrängung bei der Lösung von Konflikten, sei es im Individuum, sei es in einem Kollektiv, eine übergroße Rolle spielen, ist regelmäßig zu beobachten, wie sich die Realitätswahrnehmung einschränkt und stereotype Vorurteile sich ausbreiten; in zirkulärer Verstärkung schützen dann die Vorurteile wiederum den ungestörten Ablauf des Verdrängungs- oder Verleugnungsvorganges. Auf eine Behandlung sozialer Probleme im Stil der »Endlösung« kann kein müheloser Übergang in den zivilisierten »Alltag« folgen, ohne daß eine Bewußtseinsspaltung eintritt.

Das, was kam, muß deswegen in seinem Wirkungszusammenhang mit dem Vorhergehenden verstanden werden, sosehr im Bewußtsein der Bruch, die Abkehr, der Neuanfang bei der Stunde Null im Vordergrund steht. Es ist klar, daß man millionenfachen Mord nicht »bewältigen« kann. Die Ohnmacht der Gerichtsverfahren gegen Täter wegen der Größenordnung ihrer Verbrechen in dieser Vergangenheit beweist diesen Tatbestand in symbolischer Verdichtung. Aber eine so eng juristische Auslegung entspricht nicht dem ursprünglichen Sinn der Formulierung von der unbewältigten Vergangenheit. Mit »bewältigen« ist vielmehr eine Folge von Erkenntnisschritten gemeint. Freud benannte sie als »erinnern, wiederholen, durcharbeiten«[3]. Der Inhalt einmaligen Erinnerns, auch wenn es von heftigen Gefühlen begleitet ist, verblaßt rasch wieder. Deshalb sind Wiederholung innerer Auseinandersetzungen und kritisches Durchdenken notwendig, um die instinktiv und unbewußt arbeitenden Kräfte des Selbstschutzes im Vergessen, Verleugnen, Projizieren und ähnlichen Abwehrmechanismen zu überwinden. Die heilsame Wirkung solchen Erinnerns und Durcharbeitens ist uns aus der klinischen Praxis wohlbekannt. In der politischen Praxis führt uns dieses Wissen noch keinen Schritt weiter. Denn nur der Kranke, dessen Leiden am Symptom größer ist als der Gewinn aus der Verdrängung, findet sich bereit, seine Bewußtseinszensur für die Wiederkehr des Verleugneten und Vergessenen schrittweise zu lockern. Diese Therapie müßte aber in einem Kollektiv verwirklicht werden, dem es, wenigstens materiell, insgesamt besser geht als je zuvor. Es verspürt keinen fühlbaren Anreiz, seine Auslegung der jüngsten Vergangenheit den unbequemen Fragen anderer auszusetzen; einmal, weil die manische Abwehr durch Ungeschehenmachen im Wirtschaftswunder sehr erfolgreich war, die Welt akzeptiert die »deutsche Wertarbeit«, was immer sie sonst von den Deutschen denken mag; zum anderen – und das fällt nicht weniger ins Gewicht –, weil die militärischen und moralischen Sieger über das Dritte Reich inzwischen in »begrenzten« Unternehmen wie dem Krieg in Algier oder Vietnam gezeigt haben, daß auch sie zu schwerer wiegenden Inhumanitäten fähig sind.

Wir verlangen also nach näherer Aufklärung über den Sprung, den so viele vom Gestern ins Heute taten. Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte. Durch Jahre war die Kriegführung und waren die Kriegsziele der Naziführer mit minimaler innerer Distanz bejaht worden, Vorbehalte blieben jedenfalls ohne Auswirkung. Nach der vollkommenen Niederlage kam die Gehorsamsthese auf, plötzlich waren nur noch die unauffindbaren oder abgeurteilten Führer für den in die Tat umgesetzten Völkermord zuständig. Zwar hatten alle Schichten, und vornehmlich die führenden, die Industriellen, die Richter, die Universitätslehrer, entschiedene und begeisterte Unterstützung gewährt, mit dem Scheitern sahen sie sich jedoch wie selbstverständlich von der persönlichen Verantwortung entbunden.

Die große Majorität der Deutschen erlebt heute die Periode der nationalsozialistischen Herrschaft retrospektiv wie die Dazwischenkunft einer Infektionskrankheit in Kinderjähren, wenn auch die Regression, die man unter der Obhut des »Führers« kollektiv vollzogen hatte, zunächst lustvoll war – es war herrlich, ein Volk der Auserwählten zu sein. Dieser Glaube ist für sehr viele zwar nicht unerschüttert geblieben, aber auch nicht widerlegt. Der Nationalismus, den Deutschland heute bietet, ist relativ unauffällig, sowohl im Vergleich mit den übrigen westlichen, sicher aber mit den Ost- und Entwicklungsstaaten. Dennoch fühlen sich viele Beobachter davon bedroht und alarmiert, da sich mit deutschem Nationalgefühl nun einmal für zunächst unabsehbare Zeiten die Erinnerung an Auschwitz und Lidice verbindet und der blitzartige Szenenwechsel zu friedlichem und emsigem Fleiß und rasch gesammeltem Wohlstand nur zeigt, wie übergangslos sich hierzulande alles ändern kann. Die Reaktion auf die Reorganisation einer neonazistischen Rechten hat deswegen die Welt ungleich mehr erschreckt als die Etablierung des Neofaschismus in Italien.

Daß man im Ausland hypersensibel für Anzeichen einer Wiederkehr des Überwundenen geblieben ist, verstehen manche Politiker unseres Landes schon wieder als Zeichen ihrer Stärke auszulegen. Die Abwehr der mit der Nazivergangenheit verbundenen Schuld- und Schamgefühle ist weiterhin Trumpf. Bücher und Zeitungen bleiben nicht ungelesen, in denen die Auffassung vertreten wird, daß wir nur unter dem Druck bösartiger Verfolger all das tun mußten, was wir taten – gleichsam in unserer Ehre unbetroffen. Eine solche Einstellung bedeutet, daß nur die passenden Bruchstücke der Vergangenheit zur Erinnerung zugelassen werden. Alle Vorgänge, in die wir schuldhaft verflochten sind, werden verleugnet, in ihrer Bedeutung umgewertet, der Verantwortung anderer zugeschoben, jedenfalls nicht im Nacherleben mit unserer Identität verknüpft. Die siegreichen Vormärsche werden glorifiziert, der Verantwortungslosigkeit, mit der auch Millionen Deutscher in einem Größenrausch geopfert wurden, wird selten gedacht. Zu dieser Trennung in genehme und nicht genehme Erinnerung ist ein ganz erheblicher Aufwand an psychischer Energie vonnöten. Was von ihr zur Abwehr im Dienste eines Selbst verbraucht wird, das sich vor schwersten Gewissensanklagen und Zweifeln an seinem Wert schützen will, fehlt in der Initiative zur Bewältigung der Gegenwart. Und je weniger wirklich produktive Lösungen gefunden werden oder gelingen, desto empfindlicher reagiert die große Öffentlichkeit auf jene »Böswilligen«, die nicht vergessen wollen und die unsere so sorgsam abgewehrte Vergangenheit als eine Wirklichkeit, die in der Tat noch wirkt, erleben.

Die »intellektuelle Aufgabe« kann es deshalb zunächst nur sein, in aller Vorsicht die Selbsttäuschungen, die zu der Entstehung eines neuen Selbstbildnisses nicht unerheblich beitragen, als das, was sie sind, sichtbar werden zu lassen. Vielleicht trifft Freuds Bemerkung, die Neurose verleugne die Realität nicht, sie wolle bloß nichts von ihr wissen, auch für die kollektiven Anstrengungen zu, die wir in unserer Umgebung beobachten. Natürlich beherrschen solche Abwehrvorgänge nicht nur die deutsche Szene, sie sind allgemeinmenschliche Reaktionsformen. Trotzdem bleibt es entscheidend, wie jeder einzelne und jedes einzelne Kollektiv der spezifisch gehegten Selbsttäuschungen innezuwerden und sie zu überwinden verstehen.

2. Der »Führer« war an allem schuld