Cover

Noch eine Minute

Ich mache mir Sorgen um Ellermann, besonders weil er unser letztes Treffen so überstürzt verlassen hat. Nachdem er einen offenbar brisanten Anruf bekommen hatte, fand er nicht mal mehr die Zeit, mir zu erklären, warum und wohin er so plötzlich wegmusste. Das, was er mir bis dahin erzählt hatte, war allerdings wahrlich ominös. Ellermann war in eine so dramatische wie eigenartige Geschichte hineingeraten.

Ich hatte nach seinem hektischen Aufbruch mehrmals vergeblich versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Vor kurzem allerdings, etwa zwei Tage nach unserem letzten Treffen, erhielt ich eine SMS von ihm. Er wollte mich unbedingt und dringend sehen. Ich schrieb zurück und schlug ihm drei Uhr vor, wie immer in unserem Stammcafé. In einer weiteren SMS bestätigte er das. Nun ist es kurz vor drei. Noch eine Minute.

Ich bin überpünktlich. Neugierde und Sorgen um Ellermann haben mich schon vor einer halben Stunde ins Café getrieben. Ich habe mich, wie meist, in einer hinteren Ecke niedergelassen, an einem der kleinen, runden Bistrotische, von dem aus ich eine perfekte Sicht auf den Raum und die anderen Gäste habe. Mein Regenschirm, der mir, wenn ich meinen Stock nicht dabeihabe, auch gut als Gehhilfe dient, steht neben mir in einem Schirmständer. Hektisch und nervös spiele ich mit meinem Diktiergerät. Es ist ein altes Gerät, das mir schon seit vielen Jahren, besser gesagt seit etlichen Jahrzehnten, gute Dienste erweist. Ich hasse es, Dinge zu ändern, wenn alles perfekt läuft. Never change a running system. Ich nippe an meinem schwarzen Kaffee und verbrenne mir fast die Lippen. Er ist jedes Mal zu heiß, der Kaffee. Ich blicke zur Tür, aber Ellermann ist noch nicht aufgetaucht. So kenne ich ihn gar nicht. Er kommt sonst nie zu spät. Er hasst es, anderen Menschen Zeit zu stehlen. Aber genauso erwartet er auch von den anderen immer Pünktlichkeit.

Ellermann und ich treffen uns seit einiger Zeit regelmäßig in unserem gemeinsamen Stammcafé. Früher, als er noch mein Patient war, als ich noch arbeitete, kam er nur zu mir in die Praxis. Ein Therapeut und sein Patient sollten nicht den professionellen Rahmen verlassen. Was uns aus dieser Zeit geblieben ist, ist eine Freundschaft, aber mit einer gewissen Distanz, auch wenn ich mir sicher bin, dass Ellermann mir Dinge und Geschichten erzählt wie sonst niemandem. Wir siezen uns, und doch gibt es zwischen uns eine starke persönliche Bindung. Ellermann schätzt mich als Vertrauensperson und als Lebensberater, vielleicht auch weil ich so viel älter bin. Allerdings ist das überraschend, wenn man bedenkt, dass alle meine therapeutischen Ansätze bei ihm seinerzeit fehlgeschlagen sind. Ich konnte ihm nie wirklich helfen bei seinen Problemen. Ellermann ist ein Mensch voller Ängste und Phobien und die wird er eines Tages wohl auch mit ins Grab nehmen. Aber ich mag ihn, er ist mir ans Herz gewachsen, vielleicht gerade deswegen, weil er seine Schwächen hat und diese lebt.

Der große Zeiger der Uhr hinter dem Tresen an der Wand springt in diesem Moment weiter. Drei Uhr! Und keine Spur von ihm.

Die meisten der anderen Gäste im Café sind alleine, aber es gibt auch einige wenige Paare. Es herrscht eine eigenartige Stimmung, eine Art großes Schweigen, und nur hier und da hört man ein leises Klappern von Gläsern und Löffeln, ein Tuscheln oder Gemurmel. Ganz aus dem Hintergrund dringt etwas Musik, dem Krächzen nach zu urteilen aus einem kleinen Kofferradio, vielleicht aus der Küche. Südländische Schlager, Melodien, die an Meer, Sonne und Wellen erinnern.

Ich blicke auf mein Diktiergerät, rühre im Kaffee in der Tasse vor mir, damit er etwas abkühlt, und fingere nach meiner Zigarettenschachtel, auch wenn ich weiß, dass ich hier drinnen gar nicht rauchen darf. Wenn ich ein bekannter Politiker wäre oder ein Rockstar, würde ich mir vielleicht ohne Hemmungen eine Zigarette anstecken. Aber so verzichte ich darauf. Ich werde später zum Rauchen vor die Tür gehen. Nachdenklich drehe ich die Schachtel in meinen Händen.

Das, was ich bisher, bei unserem letzten Treffen, von Ellermann gehört habe, enthält mehr als das, was ein normaler Mensch an Aufregung aushalten kann. Nächtliche Einbrüche, Verfolgungsjagden, unheimliche Begegnungen, ein Toter in einem Weiher. Der Mann wurde erstochen. Die ganze Stadt scheint in großer Aufregung zu sein, auch seit dem Banküberfall auf eine örtliche Privatbank. Und Ellermann ist irgendwie mittendrin. Alles dreht sich um ihn wie stürmische Winde um das Auge eines Hurrikans. Dabei hatte es, wenn ich so daran denke, scheinbar harmlos und friedlich begonnen.

Ellermanns Geschichte

Eins

Mindestens zweimal die Woche besucht Ellermann das Grab seines Großvaters auf dem Friedhof. Gleich hinter dem Eingang biegt er rechts um die Ecke zu dem Komposthaufen, an dem nebeneinander aufgereiht unterschiedlich große Gießkannen an einer Holzstange hängen. Es sind Kannen, die sich der Friedhofsbesucher umsonst ausleihen kann.

Ellermann kümmert sich gerne um das Grab seines Großvaters. Er mochte den alten Mann sehr, war er doch der einzige Verwandte, der ihm im Leben zuletzt verblieben war. Er hatte nach dessen Tod vor einigen Monaten das alte Häuschen geerbt, das er, so der letzte Wunsch des Alten, immer hegen und pflegen sollte. Was der lebenslustige Großvater seinem Enkel vor seinem Ableben allerdings verschwiegen hatte, war, dass er mit dem Häuschen auch eine Menge Schulden erben würde. Aber Ellermann wollte dennoch das Erbe nicht ausschlagen, schließlich hatte er dem Alten auf dem Totenbett ein Versprechen gegeben.

Ellermanns Traum, mit dem Erbe nie wieder Klavierstunden geben zu müssen, erfüllte sich allerdings nicht. Er versucht auch weiterhin verzweifelt, unbegabten Töchtern oder Söhnen, Hausfrauen oder Pensionären seine geliebte Musik zu vermitteln. Doch selbst das Geld aus diesen Stunden reichte und reicht nicht aus, um die Schulden abzutragen. Sicherlich, mit den Einnahmen aus dem Klavierunterricht kann Ellermann ein bescheidenes Leben führen, aber die geerbten Schulden zwingen ihn, immer wieder auch nach anderen Einnahmequellen zu suchen.

An jenem Sonntag hielt es Ellermann wie immer. Er füllte eine Kanne mit Wasser, nahm das Sträußchen Wiesenblumen, das er noch schnell in dem Laden um die Ecke gekauft hatte, und ging den Kiesweg hinunter, an dessen Ende er zu dem Grab seines Großvaters nach rechts abbiegen musste. Genau genommen hüpfte er leicht, weil er an diesem Tag gut gelaunt war. Dabei ist er mit seinem leichten Bauchansatz und seinem Übergewicht normalerweise jedem Sport gegenüber abgeneigt. Und für Ellermann zählen schon Hüpfen und Laufen zu sportlichen Aktivitäten. Er hätte wahrscheinlich selber nicht sagen können, was seine gute Laune ausgelöst hatte. Vielleicht war es der Konzertbesuch am Abend zuvor. Er hatte den Mozart-Abend einer jungen russischen Violinistin besucht. Ihre Intonation hatte ihn wirklich berührt. Vielleicht war es aber auch der Umstand, dass Martha ihm heute Morgen endlich mal wieder frisch gefundene Steinpilze mit Rührei gemacht hatte. Ellermann liebt Steinpilze, wenn sie denn kross, fast schwarz angebraten werden.

Ellermann hatte Martha mit dem Häuschen seines Großvaters sozusagen mitgeerbt. Die etwas stämmige Frau, Anfang fünfzig, hatte sich schon viele Jahre um den Großvater und das Haus gekümmert. Sie ist pragmatisch und liebt das Gradlinige. Sie hat keine Zeit für übermäßige Gefühle, Sentimentalitäten, hat sie doch neben der Arbeit bei Ellermann bei sich zu Hause noch einen bettlägrigen Ehemann zu versorgen. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht Dinge direkt aus. Und das kann wahrlich komisch sein, und Ellermann mag herzlich lachen, auch wenn er selber oft die Zielscheibe ihrer Kommentare ist. Ich weiß das, weil er es mir einmal verraten hat. Es ist ihm eher so rausgerutscht.

Ellermann hatte zunächst gezögert, Marthas Dienste nach dem Tod des Großvaters in Anspruch zu nehmen. Doch dann überlegte er es sich anders. Besser gesagt – Martha ließ nichts anderes zu. Sie wollte die Stelle behalten. Also blieb sie. Ganz abgesehen davon, hatte auch sie dem Großvater eine nicht unerhebliche Summe geliehen. Sie, die Haushälterin! Kurzum: Ellermann hat auch bei Martha Schulden. Geerbte Schulden.

Im Grunde genommen ist er sehr froh, dass Martha sich um ihn kümmert. Nicht nur, dass sie für ihn einkauft und ihn bekocht und all das andere erledigt, das in einem Haushalt so anfällt. Dabei könnte das Ellermann auch selber. Schließlich war er all die Jahre vor dem Tod seines Großvaters auch so zurechtgekommen, hatte sich in seiner kleinen Mietwohnung allein versorgt. Doch er freut sich ganz einfach, dass mit Martha regelmäßig ein anderer Mensch im Haus ist und dieses mit Leben erfüllt.

Hin und wieder setzt sich Ellermann unvermittelt an den Flügel im kleinen Salon im Erdgeschoss. Dann spielt er unbeschwert und frei all die geliebte Musik, die ihm zufliegt, wie etwa Chopins Etüden und Walzer, während Martha nebenan Staub wischt oder den Boden putzt. Ellermann macht es nichts aus, wenn ihm Martha zuhört. Auch das verbindet die beiden auf eine geheimnisvolle Weise. Denn so ein brillanter Pianist Ellermann auch von jeher war und ist, hat ihm doch seine Nervosität immer wieder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Vor Publikum scheiterte er regelmäßig an seinen Nerven, und damit scheiterte auch eine Karriere als gefeierter Konzertpianist. Sein Lampenfieber brachte ihn um alle Chancen, und keine Therapie vermochte ihm zu helfen.

Während Martha putzt, spielt er, glücklich und ohne Hemmungen. Manchmal setzt sie sich dann auf ein Bänkchen im Flur, macht eine Pause und lauscht den wunderbaren Klängen. Nach diesen glücklichen Momenten wischt sie sich schnell die Tränen aus den Augen und verschwindet in der Küche. Das Essen muss schließlich vorbereitet werden. Darüber hinaus haben die beiden noch eine besondere gemeinsame Passion: Sie lieben es, an schönen Tagen einfach mal für eine Stunde irgendwo in der Stadt auf einer Bank zu sitzen und dem Treiben der Menschen zuzusehen, und dieses Treiben zu kommentieren. Natürlich gibt Martha dabei den Ton an, doch unter ihrer Leitung entwickelt auch Ellermann großen Spaß an Schmäh und kleinen Gehässigkeiten. Dazu gibt es für beide ein Eis – jeweils zwei Kugeln im Becher – vom besten Eismacher in der Stadt. Auch wenn diese Ausflüge nicht sehr oft vorkommen, wollten Ellermann und Martha sie auf keinen Fall missen. Beide wissen, dass sie einander überhaupt nicht mehr missen wollen, auch wenn das so nie ausgesprochen wird.

Als Ellermann am Ende des breiten Kiesweges nach rechts abbiegen wollte, sah er mit einem Mal eine junge Frau am Grab seines Großvaters stehen. Sie mochte etwa Mitte dreißig sein. Kurze blonde Haare, Sommersprossen. Helle Augen. Ellermann schluckte, erstarrte und war gefangen. Was für ein bezauberndes Geschöpf, dachte er sich und war für einen Moment unfähig, sich zu bewegen. Nur seine Augen wanderten hin und her. Nervös fuhr er sich mit einer Hand durch seine strähnigen Haare. Dieses Wesen hatte er noch nie auf dem Friedhof gesehen. Aber er hatte, je länger er so stand, das eigenartige Gefühl, sie von irgendwo zu kennen. Ja, er war sich dessen sicher, wusste aber nicht, wann und wo dieses Zusammentreffen stattgefunden haben könnte. Er ließ sie nicht aus den Augen. Wie hieß sie noch mal? Auch daran erinnerte er sich nicht mehr, doch gab er ihr spontan den Namen Annabelle. Er liebte den Namen, und diese schöne Erscheinung bezauberte ihn.

Sie stand still vor dem Grab seines Großvaters, und Ellermann hatte den Eindruck, dass ihre Lippen sich leicht bewegten, so als spräche sie mit dem Toten. Er selber hielt sich hinter dem riesigen Grabstein einer Familiengruft versteckt, wollte sich nicht zu erkennen geben. Er hatte keine Ahnung, was er zu ihr hätte sagen sollen. Er stand da, bis er merkte, dass eine andere Friedhofsbesucherin ihn skeptisch aus der Ferne beäugte. Er versuchte, mit einem lässigen Winken und einem ebenso lässigen wie angedeuteten »Hallo« die Situation zu entkrampfen, was ihm aber nicht gelang, wenn man nach der Miene der Besucherin ging. Sie fixierte ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. Also musste er schließlich seinen Posten aufgeben und schlenderte scheinbar teilnahmslos den Kiesweg zurück, nicht ohne bei erstbester Gelegenheit, als er sich unbeobachtet fühlte, hektisch umzudrehen und zurückzurennen. Doch an der Abzweigung angekommen, sah Ellermann, dass die junge Frau verschwunden war. Annabelle stand nicht mehr vor Großvaters Grab. Enttäuscht eilte er zum Ausgang des Friedhofs, doch auch dort war sie nicht.

Ellermann schwitzte leicht, obwohl er sich nicht von der Stelle bewegte. Er spürte eine Verzweiflung in sich hochsteigen. Still stand er da und starrte auf den kleinen Parkplatz direkt neben dem Friedhof, als plötzlich sein Handy klingelte. Es war Martha, wie er auf dem Display sehen konnte. Ihm war klar, dass er besser rangehen sollte. Martha liebt es nicht, wenn ihr nur die Mailbox antwortet.

Martha sagte mit einem bestimmten, schneidenden Klang in der Stimme, den Ellermann kennt, aber nicht sehr schätzt, er solle schnell nach Hause kommen. Es sei Besuch für ihn da: Herr Markowski. Ellermann überlegte nur einen Moment, dann stieg er ins Auto und fuhr nach Hause. Herrn Markowski wollte er lieber nicht warten lassen, stand dessen Name doch für eine der wenigen wirklich lukrativen Einnahmequellen.

Auf dem Nachhauseweg war Ellermann so unkonzentriert und in Gedanken, dass er gegen die Fahrtrichtung in eine Einbahnstraße fuhr, wobei er allerdings keinen weiteren Schaden anstellte, wenn man davon absieht, dass sich ein älterer Herr darüber so sehr aufregte und dermaßen laut schrie, dass er einen kleinen Schwächeanfall erlitt.

Nicht wegen Markowski war Ellermann verwirrt. Annabelle, die junge Frau am Grab seines Großvaters, ging ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte sie aus den Augen verloren, aber wenn er sie wirklich schon einmal irgendwo gesehen hatte, bestand doch auch die Hoffnung, sie bald wiederzusehen. Diese Hoffnung zauberte ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Allerdings konnte er zu dem Zeitpunkt noch nichts von den Ereignissen ahnen, die ihn bald überrollen würden. Und alles sollte mit dem Besuch von Herrn Markowski seinen Anfang nehmen.

Zwei

Karl Markowski ist ein allem Anschein nach erfolgreicher, international agierender Finanzunternehmer, ein immer perfekt gekleideter Mann Mitte vierzig. Nie würde er ohne Anzug, mit zum Hemd passenden Einstecktuch, das Haus verlassen. Allerdings sind bei ihm meistens die Hemdkragen etwas zu eng, was dazu führt, dass sein Hals sich im Gespräch gerne reckt, streckt und hin- und herdreht. Der Kleidung entsprechend legt Markowski Wert auf gute Manieren, auch wenn er bisweilen etwas hölzern wirkt, so perfekt will er sein. Markowski duldet keine Widerrede, ist er es doch gewohnt, Anweisungen zu erteilen, nicht zu empfangen. Er lebt mit seiner Familie, seiner Frau und zwei noch sehr kleinen Kindern, einige Hundert Kilometer entfernt am Meer. Meist ist er auf Reisen, immer unterwegs zwischen Meeting-Rooms, Flughäfen, Hotelsuiten und Sterne-Restaurants. Hierher, in diese Stadt, kommt er nur wegen eines Menschen, seiner Mutter: Sophia Markowski. Sie ist sicherlich schon an die achtzig, wie Ellermann schätzt, und will auf keinen Fall in ihrem Alter nochmals umziehen. Also bleibt sie in der Villa wohnen, in der sie über viele Jahrzehnte mit ihrem inzwischen verstorbenen Mann gelebt hat und in der auch ihr einziger Sohn aufgewachsen ist. Karl Markowski liebt seine Mutter, wie ein Sohn seine Mutter nur lieben kann, vielleicht noch ein bisschen mehr. Sicherlich ist sie die einzige Respektsperson, der er nicht so ohne weiteres zu widersprechen wagt. So hat er schließlich, wenn auch widerwillig, akzeptiert, dass seine Mutter nicht zu ihm ziehen, sondern in ihrem alten Zuhause bleiben will. Dafür hat er ihr einen Pflegedienst organisiert, der sich um die alte Dame kümmert. Zwei junge Frauen, zwei Schwestern, wechseln sich dabei in einem wöchentlichen Rhythmus ab.

Ellermann hatte keine Idee, was Markowski von ihm wollte. Aber nach Marthas Ton am Telefon zu urteilen, schien es ihm dringend zu sein. Und dieser Gedanke bereitete ihm ein unbehagliches Gefühl in der Magengegend. Er hatte die alte Dame Sophia kennengelernt, als sie eines Tages unvermittelt vor seiner Haustür stand. Martha war gerade beim Einkaufen. Sophia hatte gefragt, ob sie ein Zimmer mieten könne. Ellermann machte die alte, aber rüstige und energische Dame darauf aufmerksam, dass er kein Zimmer zu vermieten habe und das Haus auch kein Hotel sei. Es dauerte eine Weile, bis Sophia ihm das zu glauben schien. Er hatte sie inzwischen hereingebeten.

Nach einiger Zeit war es Ellermann gelungen, die Adresse seiner Besucherin ausfindig zu machen, sowie die Telefonnummer ihres Sohnes. Wie sich herausstellte, war und ist die alte Dame zwar noch bei bester Gesundheit, scheint aber hin und wieder etwas verwirrt zu sein. Deswegen auch ihr Auftritt und ihr Klingeln an Ellermanns Haustür. Karl Markowski war überaus glücklich, als Ellermann seine Mutter wieder nach Hause brachte. Auch wenn Ellermann nicht mochte, so konnte er den angebotenen Dankesdrink unmöglich abschlagen. Daraus ergab sich eine längere Unterhaltung, an der auch Sophia mehr und mehr teilnahm. Und als sich schließlich herausstellte, dass Ellermann ein großer Anhänger von klassischer Musik und Konzerten ist, und zudem ein Fachmann auf diesem Gebiet, zog sich die Schlinge um seinen Hals immer enger. Er wurde – gegen ein fürstliches Honorar – als Abendbegleitung engagiert und besucht seitdem etwa einmal pro Woche eine kulturelle Veranstaltung, nicht nur Konzerte, auch Opern oder Theater, mit ihr zusammen. Das Geld kann Ellermann sehr gut gebrauchen, zumal er die alte Dame gern mag, auch wenn diese einen ziemlich herrischen Charakter hat. Selbst Nettigkeiten und Komplimente packt sie oft in einen schnarrenden Befehlston. Ellermann verstand schnell, dass bei dieser Mutter auch der Sohn gelernt hat, sich im Leben durchzusetzen.

Kaum war Ellermann zu Hause eingetroffen – er hatte gerade seinen grauen Mantel im Flur abgelegt –, kam Markowski nach einigen kurzen Begrüßungsworten auf den Punkt. Martha hatte dem Besucher bereits eine Tasse Kaffee auf der Terrasse serviert, in der Ecke neben dem Steinbrunnen, der von Rosensträuchern umgeben ist. Während sich Ellermann zu seinem Gast setzte, blieb Martha einfach in einer gewissen Entfernung stehen, so dass sie alles mithören konnte. Ein Umstand, der Markowski zunächst etwas irritierte. Doch als er merkte, dass Ellermann keine Anstalten machte, seine Haushälterin wegzuschicken, ging er darüber hinweg. Und Ellermann wiederum war klar, dass er Martha keinesfalls – unter welchem Vorwand auch immer – würde wegschicken können. Das würde sie ihm nicht verzeihen.

»Herr Ellermann, ich möchte, dass Sie sich um meine Mutter kümmern.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

Markowski gab mit einem kleinen Handzeichen zu verstehen, dass Ellermann noch nicht an der Reihe war.

»Ich rede nicht von Ihren regelmäßigen Unternehmungen, die im Übrigen meiner Mutter große Freude bereiten. Vielen Dank dafür. Nein, es geht um Folgendes.«

Martha zog einen der grün lackierten Klappstühle, die an der Hauswand lehnten, zu sich, um sich ebenfalls zu setzen. Das, was nun zu folgen schien, konnte interessant werden. Ellermann glaubte das auch, besser gesagt, er befürchtete es.

»Sie wissen, dass ich meine Mutter nicht allein lasse. Leider ist es jetzt so, dass sich am kommenden Wochenende niemand um sie kümmern kann. Beide junge Frauen, die dies sonst tun, sind unabkömmlich. Ein Todesfall in der Familie. Sie werden für ein paar Tage in ihre Heimat fahren.«

Ellermann wurde blass, er lockerte seinen Hemdkragen, der schon gelockert war. Auch wenn er Sophia ehrlich mochte, reichten ihm die gelegentlichen Abende wirklich.

»Kurzum. Ich möchte, dass Sie für ein paar Tage zu meiner Mutter ziehen und sich um sie kümmern.«

Markowski fixierte Ellermann. Dieser strich mit einer Hand über seine schweißnasse Stirn, seine Lippen zitterten, aber es kam zunächst kein Laut aus seinem Mund. Erst nach einer längeren Pause hatte er sich etwas gefangen, räusperte sich und versuchte, möglichst entschlossen zu klingen.

»Ich fürchte, das geht nicht.«

»Warum?«

Ellermann wusste, dass diese Gegenfrage kommen würde, war aber gar nicht darauf vorbereitet.

»Weil … weil …«

Er stockte. Markowski wie auch Martha fixierten ihn. Ellermann hätte heulen können, aber was hätte das gebracht, zumal Markowski noch mal zu seinem stärksten Argument griff.

»Ich zahle Ihnen fünftausend Euro für Ihre Dienste. Und Ihre Auslagen ersetze ich Ihnen selbstverständlich auch. Sie können mit Mutter unternehmen, was Sie wollen. Und was sie will, natürlich.«

Er spitzte kurz die Lippen und zeigte ein freundliches, aber kaltes Lächeln. Der Kopf drehte sich dabei im Hemdkragen ein paar Mal hin und her.

»Hauptsache, ihr geht es gut und ihr passiert nichts. Aber ich weiß, dass ich mich auf Sie verlassen kann.«

Ellermann spürte, dass es für ihn kein Entrinnen geben würde, hatte er doch aus den Augenwinkeln heraus das Glänzen in Marthas Augen gesehen, als diese die hohe Summe aus Markowskis Mund gehört hatte. Doch so ganz wollte er sich nicht geschlagen geben.

»Hören Sie, Herr Markowski, ich fühle mich geehrt, aber leider kann ich gerade an diesem Wochenende nicht. Sonst jederzeit.«

Markowskis Lächeln war ein kurzes Aufblitzen, und Ellermann glaubte in der Miene seines Gegenübers etwas Gnadenloses entdecken zu können. So muss sich ein Schaf beim Schächten fühlen.

»Das freut mich. Dann steht dem ja nichts im Weg. Denn ich sprach nicht von diesem Wochenende, sondern von dem darauf.«

Ellermann sackte in sich zusammen wie ein Luftballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Martha wiederum konnte ein leichtes Glucksen nicht unterdrücken.

»Schön, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Dann sind wir uns ja einig.«

Ellermann hätte das wahrlich anders ausgedrückt, von Einigkeit konnte wohl keine Rede sein, aber wer fragte ihn schon. Mit einem Mal wurde ihm leicht übel und er entschuldigte sich. Mein Gott, auf was hatte er sich da eingelassen?

Drei

Martha wusste, dass Ellermann nach diesem Treffen die nächsten Tage nicht sehr guter Laune sein würde. Die Zeit mit Sophia stand ihm bevor. Und beiden, Martha wie Ellermann, war klar, dass sie ihn nicht unterstützt hatte, bei dem Versuch, Markowskis Angebot abzulehnen. So versuchte sie, einiges wiedergutzumachen, und verwöhnte Ellermann, wo immer sie konnte. Sie brachte ihm sogar das Frühstück ans Bett. Etwas, was Ellermann liebt – Frühstücken im Bett –, aber was von Martha nicht besonders gern gesehen wird. Es hat ihrer Meinung nach etwas Dekadentes. Außerdem gibt es immer lästige und schwer zu beseitigende Krümel.

Am dritten Tag nach Markowskis Besuch schien Ellermann plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Er hatte nicht wie üblich gesagt, wann er wohin gehen würde, war aber auch sonst nirgends im Haus zu finden. Martha befürchtete schon das Schlimmste, sprich: Ellermann wolle sich irgendwie vor der Verantwortung drücken und sei mit unbekanntem Ziel verreist. Doch dann fand sie ihn im Keller, sehr zu ihrer Überraschung, schließlich hasst Ellermann doch enge und dunkle Räume. Aber dieses Mal hatte er seine Ängste überwunden und sich voller Leidenschaft den verschiedenen Fotoalben aus Großvaters Kisten gewidmet. Vielleicht konnte er hier irgendeinen Hinweis auf die unbekannte Schöne finden. Denn auch wenn das Wochenende mit der alten Dame Sophia wie ein Damoklesschwert über ihm hing, so beschäftigte ihn doch vielmehr dieses rätselhafte Wesen vom Grab seines Großvaters. Wer war sie? Und wo hatte er sie schon mal gesehen?

Ellermann konnte dem bohrenden Nachfragen seiner Haushälterin nicht lange widerstehen und musste stockend zugeben, was ihn so bewegte. Martha war aufrichtig gerührt, hatte sie ihren Chef schon lange nicht mehr so ehrlich aufgewühlt gesehen. Ellermann neigt eher dazu, Gefühle nicht zu zeigen. Doch in diesem Fall ließ er seinen Worten freien Lauf und offenbarte sich Martha. Leider konnte auch sie ihm nicht helfen, wie auch immer er die Unbekannte beschrieb. Sie hatte diese wohl noch nie zuvor gesehen und konnte sich auch nicht vorstellen, in welchem Verhältnis sie zu Ellermanns Großvater gestanden haben könnte. Obwohl … Martha schien eine Idee zu kommen, die sie jedoch sofort wieder verwarf. Ellermann konnte sie nicht dazu bewegen, ihre Vermutungen zu äußern. Nein, das wolle sie nicht, das sei nur ein Hirngespinst gewesen, wehrte sie alle weiteren Fragen ab.

Es vergingen die Tage und das Wochenende rückte unaufhaltsam näher. Karl Markowski hatte noch mehrmals, genauer gesagt täglich angerufen, um im Vorfeld kleine Anweisungen zu geben, die sich Ellermann zu notieren hatte. Diese betrafen vor allem gewisse Eigenheiten und Rituale im Leben seiner Mutter. Der Mann war nervös, ein Umstand, der Ellermann auch nervöser werden ließ.

Seine Besuche auf dem Friedhof hatte Ellermann inzwischen auf zwei Mal täglich erhöht, natürlich in der Hoffnung, dass vielleicht die Unbekannte nochmals auftauchen würde. Doch deren Besuch am Grab blieb einmalig, zumindest war sie die nächsten Tage nicht mehr zu sehen, wenn Ellermann am Friedhof weilte. Das drückte auf seine Stimmung.

An jenem Freitag, an dem er vereinbarungsgemäß gegen Mittag zur Villa Sophia kommen sollte, nahm Ellermann abermals einen kleinen Umweg, um auf dem Friedhof vorbeizuschauen.

Doch wieder war sie nicht zu erblicken, und so widmete sich Ellermann verstärkt dem Grab und richtete Blumen und Sträucher. Das hatte er die letzten Tage sträflich vernachlässigt. Gerade als er seine Arbeiten abschließen wollte, fiel ihm etwas kleines Rotes auf, das sich unter einem Blatt versteckt hatte. Er nahm den Gegenstand hoch und betrachtete ihn nachdenklich. Es war ein Feuerzeug mit dem Aufdruck eines Restaurants, das er zwar kannte, aber in dem er noch nie verkehrt hatte. Ein Restaurant mit dem Namen »Götterspeise«. Ein Abendessen dort war Ellermann schlichtweg zu teuer. Aber ihn beschäftigte eine ganz andere Frage. Wie war dieses Feuerzeug hierhergekommen? Er war sich sicher, dass er es nicht verloren hatte. Er hatte nie Feuerzeuge bei sich. Aber wer dann? Konnte es sein, dass …? War das ein Hinweis, eine kleine Spur zu ihr? Zu der unbekannten Schönen? Zu Annabelle? Er wusste, dass diese Gedanken mehr als vage waren, aber er wollte am liebsten sofort zu dem Restaurant fahren und dort nach ihr suchen. War sie Gast dort? Vielleicht arbeitete sie da?

Ein kurzer Blick auf die Uhr am Kirchturm setzte seinem Vorhaben ein abruptes Ende. Er war schon zu spät. Und, wie bereits erwähnt, Ellermann hasst es, unpünklich zu sein. Er musste unbedingt zu Sophia und ihrem Sohn. Jetzt sofort. Er eilte zu seinem Wagen. Mit der neu gefundenen Hoffnung erschien ihm mit einem Mal das Leben leichter.

Vier

Markowski war nicht sehr erfreut, dass Ellermann genau zwölf Minuten zu spät eintraf, wie er in knappen Worten an Stelle einer freundlichen Begrüßung streng feststellte. Er hoffe aber, dass er sich ansonsten auf ihn würde verlassen können. Ellermann begründete seine Verspätung mit den zahlreichen Baustellen, und Markowski musste sich auf Grund seines Zeitdrucks wohl oder übel mit dieser Ausrede zufriedengeben. Dann händigte er Ellermann eine Liste aus, die dieser noch weiter zu beachten hätte. Es ging darin um bestimmte Vorlieben seiner Mutter, Wichtiges in ihrem Tagesablauf, aber auch um Telefonnummern, wie etwa die der wichtigsten Ärzte. Sophia Markowski besitze selber kein Handy. Sie wolle keines.

Markowski müsse jetzt auch sofort losfahren, weil er dringende Termine habe und sein Fahrer schon draußen warte. Ellermann hatte sich beim Eintreffen über die schwere Limousine gewundert, die direkt unterhalb der Eingangstreppe geparkt hatte. Hinter den getönten Scheiben konnte er allerdings niemanden erkennen. In wenigen Tagen sei er, Markowski, wieder zurück, dann würde Ellermann auch seine Entlohnung bekommen. Darüber hinaus ließ er noch zweitausend Euro in Hundertern für Spesen auf der Kommode liegen. Über die könne Ellermann frei verfügen, natürlich nur, wenn das auch im Sinn seiner Mutter wäre. Diese würde im Augenblick noch einen kleinen Mittagsschlaf halten, aber sicherlich bald hier unten im Salon erscheinen. Mit einem festen Händedruck, der Ellermann um seine Pianistenhände fürchten ließ, verließ Markowski eilenden Schrittes die Villa.

Ellermann setzte sich ans Fenster, öffnete die Terrassentür und machte nichts – außer in die Luft zu starren. Das Hin und Her der Blätter im leichten Wind hatte eine stark beruhigende Wirkung auf ihn, und so versank er in einer Art meditativen Ruhe, aus der er erst nach einer Stunde plötzlich herausgerissen wurde. Eine hohe, leicht krächzende Stimme holte ihn zurück in die Wirklichkeit.

»Ist mein Sohn schon weg?«

Sophia war unvermittelt im Salon aufgetaucht. Sie musste hereingeschwebt sein, Ellermann hatte nicht mal das Klopfen ihres Gehstocks – des Stocks mit dem silbernen Griff in Form eines Adlers – auf dem Parkett gehört. Die alte Dame war wie immer perfekt gekleidet, und auch die weißen Haare waren wie von einem Bildhauer modelliert. Sicherlich das Ergebnis einer dreistündigen Dauerwellenbehandlung bei ihrem Lieblingsfriseur »Don Giovanni«. Sophia trug ein dunkelgrünes Kostüm, an dem sich eine Brosche mit einigen funkelnden Steinen abhob. Ihre knorrigen Hände klopften Ellermann zur Begrüßung auf die Schulter. Er war von ihrem Auftreten so überrascht, dass er sich noch nicht mal von seinem Stuhl erhoben hatte, dies aber sofort nachholen wollte.

»Bleiben Sie sitzen.«

Sophia drückte ihn sanft nach unten, und doch schaffte es Ellermann, sich durchzusetzen und aufzustehen. Sophia ist sicherlich noch mal zehn Zentimeter kleiner als Ellermann, der schon nur auf vielleicht ein Meter und sechzig kommt. Aber da sie es liebt, trotz ihres Alters hochhackige Schuhe zu tragen, ist er meist im Endeffekt nicht größer. Sophia trug ihre Lieblingsbrille, die mit dem dicken Goldrand. Überhaupt hat die alte Dame ein Faible für alles Glänzende, besonders wenn es wertvoll ist. Aber sie kann es tragen, dieses leicht Überladene steht ihr, fand Ellermann schon beim ersten Treffen. Überhaupt macht Sophia keinen Hehl daraus, dass ein gewisser Luxus zu ihrem Leben unbedingt dazugehört. So war das immer, und so soll das auch immer bleiben, ist ihre Überzeugung.