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Kurzbeschreibung:

"Das Lied des Paradiesvogels - Die Polynesien Saga" 

Hamburg, 1890. Die Zwillinge Thea und Daniel sind unzertrennlich. Als Daniel vom Vater auf eine Expedition in die deutschen Südseegebiete geschickt werden soll, erscheint allein der Gedanke an Trennung den Geschwistern kaum vorstellbar. Sie fassen einen Entschluss: Wenn sie gehen, dann nur gemeinsam und so schmieden sie einen gefährlichen Plan ... 

Auch der junge Hamburger Reeder Leopold Saarner macht sich mit dem Schiff auf den Weg nach Polynesien. Er muss auf der fernen Insel seinen unehelichen Halbbruder finden und zu seinem Vater bringen. Aber er hat eigentlich kein Interesse daran, sein Erbe zu teilen .. Der in Richtung Südsee fahrende Dreimaster beherbergt die Hoffnungen, Wünsche und Ängste der Hamburger - es beginnt eine lange Fahrt in eine ungewisse Zukunft.

Rebecca Maly

Das Lied des Paradiesvogels 1


Die Polynesien - Saga 


Edel Elements

KAPITEL 1

Hamburg 1884

Dorothea zog die schweren, dunkelgrünen Brokatvorhänge zurück. Sofort wurde der gesamte Raum mit Sonnenlicht geflutet. Sie blinzelte mehrfach, bis sich ihre Augen daran gewöhnt hatten. Die Fenster reichten von der Decke bis zum Fußboden und stammten ursprünglich aus einer Orangerie, in der vornehme Herrschaften einst exotische Pflanzen aus aller Herren Länder gepflegt hatten. Nun gehörten sie hierher, als wäre es nie anders gewesen. Vater hatte sie gebraucht gekauft und für sein Fotostudio verbauen lassen.

Ihr Bruder Daniel schätzte das natürliche Licht für seine großflächige Malerei, die er im Nachbaratelier betrieb. Dort entstanden die aufwendigen Kulissen für Vaters Porträtfotografie, für die er mittlerweile weit über Hamburgs Grenzen hinaus bekannt war.

Daniel bekam Dorotheas Meinung nach viel zu wenig Anerkennung. Ihm schien das nichts auszumachen. Er ging ganz in seiner Kunst auf, ganz gleich, was andere darüber dachten.

Dorothea sah sich im Atelier um. Hier musste noch viel erledigt werden, bevor die Kundschaft kam.

Im hereinfallenden Licht tanzte der Staub wie Schwärme winziger Insekten. Sie öffnete die Fenster, um ihn von einer frischen Brise vertreiben zu lassen, und musste prompt niesen.

Mittlerweile überließ Vater es ihr hin und wieder, eine Kulisse für die Porträts auszusuchen. Heute sollte eine Familie kommen: Vater, Mutter und zwei Söhne. Dorothea ging zu einem großen, eigens angefertigten Ständer, in dem die Hintergründe aufbewahrt wurden.

Daniel hatte sein ganzes Talent in die Malereien gelegt. Es gab weite Blumenwiesen, Berglandschaften, Seen, aber auch Straßenansichten und anderes. Schließlich wählte sie die Gartenansicht irgendeines Schlosses, mit geometrisch geschnittenen Hecken und Büschen, deren lineare Anordnung der Fotografie später Tiefe verleihen würde.

Auf einer Leiter stehend, befestigte sie zuerst die Leinwand, dann einen schweren Vorhang, der diese zum Teil verdeckte und so das Augenmerk auf die Familie lenken würde. Davor stellte sie einen schlanken Tisch mit einer kleinen Karaffe und zwei Stühle. Fertig.

Sie trat zurück und musterte ihr Werk. Noch ein Stückchen zurück, bis sie neben der großen Kamera ihres Vaters stand. Beinahe zärtlich strich sie über das lackschwarze Gehäuse. Sie wusste genau, wie sie damit umzugehen hatte, wie sie Nass- oder Trockenplatten einlegen musste.

In ihren Träumen war sie eine berühmte Fotografin. Doch in der Realität würde das niemals passieren. Eher würde sie die Ehefrau eines solchen und, wenn sie Glück hatte, dort die gleichen Handlangerdienste vollbringen dürfen wie jetzt.

„Irgendwann“, flüsterte Dorothea der Apparatur zu, „irgendwann.“ Dann widmete sie sich wieder ihrer Aufgabe und brachte das Atelier so weit in Ordnung, dass die Kunden kommen konnten.

Mit einem Seufzer kehrte sie dem Raum den Rücken und folgte dem Geruch von Ölfarben durch einen schmalen Flur in das Reich ihres Bruders.

Daniel saß konzentriert an seinem Schreibtisch und schien sein Werk zu bewachen wie ein Greifvogel, der seine Beute mit ausgebreiteten Flügeln schirmte.

Eine Weile sah sie ihm zu, und es wurde ihr wieder einmal klar, wie lieb sie ihn hatte. Sie hatten von jeher alles geteilt, nicht nur den Leib ihrer Mutter. Ein unsichtbares Band schien zwischen ihnen gespannt, das sie empfänglich füreinander machte.

Auch jetzt dauerte es nicht lange, bis Daniel ihre Anwesenheit spürte. „Bist du wieder neugierig, Thea?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Darf ich schauen?“

„Du kennst die Antwort.“

Außer ihr durfte niemand seine unfertigen Bilder sehen. Während sie näher herantrat, fuhr er sich grüblerisch durchs Haar. Es war von einer Farbe irgendwo zwischen Blond und Braun, störrisch und leicht gelockt, genau wie ihres. Beide waren sie von schmaler Statur, waren sogar fast gleich groß, nur ihre Augen unterschieden sich völlig. Während Daniel mit strahlend blauen zu ihr aufsah und auf ihr Urteil wartete, waren ihre eigenen von einem warmen Braun.

Dorothea legte ihrem Bruder die Hände auf die Schultern. Unter ihren Fingern konnte sie seine Verspannung spüren. „Wie lange kauerst du denn schon hier?“

„Weiß nicht“, nuschelte er, weil er das Kinn in die Hand stützte und beinahe grimmig auf die winzige Porträtmalerei starrte.

„Du warst nicht beim Frühstück, hast du überhaupt etwas gegessen?“ Sie wusste, dass er es nicht getan hatte. „Irgendwann bist du so dünn, dass dich der Wind einfach davonweht.“

„Musst du gerade sagen, Bohnenstange“, gab er zurück und drückte ihre Hand. „Hast ja recht, gleich esse ich was. Ich muss nur eben …“

„Jaja. Das sagst du doch immer. Darf ich mal schauen?“

„Hast du doch schon“, meinte er lächelnd, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit einem Stöhnen zurück. Anscheinend merkte er jetzt erst, dass er schon viel zu lange in derselben Haltung dagesessen hatte.

Fasziniert betrachtete Dorothea das winzige Abbild eines jungen Mannes. Schwarzhaarig und dunkeläugig blickte er ihr scheinbar forsch entgegen. Sein Gesicht war gebräunt, und die Uniform ließ auf einen Seemann schließen.

Daniel reichte ihr ungefragt eine große Lupe, die er benutzte, um Details zu malen. Dorothea beugte sich konzentriert vor. Nun konnte sie das verschmitzte Lächeln auf dem jugendlichen Gesicht erkennen.

„Du bist ein Künstler, Brüderchen. Wie abenteuerlustig dieser Mann aussieht. Man meint, ihn sofort kennenzulernen, und ich habe den Eindruck, ich würde ihn vom ersten Moment an mögen.“

Daniel lachte. „Oh, das würdest du auch.“ Er zeigte ihr eine Fotografie, viermal so groß wie sein Porträt.

„Das ist er? Du hast ihn wirklich gut getroffen, aber lass Vater nicht sehen, dass du nur Fotografien erstellst, damit sie dir als Gedächtnisstütze dienen.“

„Wenn du mich nicht verrätst?“

„Niemals, bei mir ist dein kleines Geheimnis sicher. Versprochen.“

Er küsste ihr die Hand und stand auf. „Komm, lass uns etwas essen, Thea, ich sterbe vor Hunger.“

***

Leopold Saarner ging hektisch im Flur auf und ab. Er konnte es nicht mehr ertragen, wie seine Mutter schrie.

Am liebsten wäre er weggelaufen oder hätte sich die Ohren zugehalten. Seit Tagen ging das nun so.

Im Hause Saarner schlief niemand mehr. Verschiedene Ärzte gaben sich die Klinke in die Hand. Jeder von ihnen machte das gleiche betretene Gesicht. Jeder, bis auf einen Quacksalber, der für die Wunderheilung Unsummen verlangte. Dass Vater ihn nicht die Treppe hinuntergestoßen hatte, überraschte Leopold, er hätte es fast selbst getan.

Seine Nerven lagen blank, waren bis zum Zerreißen gespannt. Er konnte nicht mehr warten, wollte sich nicht mehr ohnmächtig fühlen angesichts der Leiden seiner geliebten Mama. Er hatte zu Gott gebetet, was er sonst nie tat, hatte die Ärzte angefleht, irgendetwas zu tun.

Nun war er einfach nur noch müde.

Für Mama gab es keine Rettung mehr, das war ihm mittlerweile völlig klar. Warum aber ließ das Schicksal oder Gott sie vor dem unausweichlichen Tod derart leiden?

Sie war eine so herzensgute, wunderbare Frau. Sie hatte nichts falsch gemacht, sich nie etwas zuschulden kommen lassen, außer vielleicht, ihrem Ehemann nur ein einziges Kind geboren zu haben. Aber das warf Vater ihr nicht vor.

Sie lebte ein vorbildliches Leben, war immer tüchtig, engagierte sich sogar in einem Komitee für Waisenkinder aus dem Gängeviertel, in dem die Armen wohnten.

Und nun litt sie, wie kein Mensch leiden sollte. Nicht einmal den schlimmsten Verbrechern wünschte Leopold eine derartige Pein.

Die Bauchschmerzen hatten vor drei Tagen wie aus heiterem Himmel begonnen und sich bald zu Krämpfen und Koliken ausgewachsen. Sie waren erst noch erträglich gewesen. Leopold erinnerte sich noch gut an Mamas Scherze, sie habe sich beim Kaffeekränzchen an zu viel Sahnetorte den Magen verdorben. Am Abend des ersten Tages riefen sie dann doch einen Arzt. Er gab ihr ein Abführmittel und für später Laudanum, damit sie schlafen konnte.

Sie schlief nicht, niemand tat das.

Mittlerweile half kein Laudanum mehr und auch sonst nichts.

Leopold durchmaß den langen Flur mit großen Schritten, als ihm auf einmal klar wurde, dass er schon seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihr gehört hatte.

Schlagartig wurde ihm die Brust eng. War der Moment, den er so gefürchtet und zugleich in einem stillen Winkel seines Herzens herbeigesehnt hatte, etwa gekommen?

Schnell war er bei der verschlossenen Schlafzimmertür seiner Eltern. Als er die Hand auf die Klinke legte, hörte er sie. Mutter sprach leise und mit vom Schreien heiserer Stimme. Sie lebte!

Als Vater ebenso leise antwortete, trat er zurück, um das Zwiegespräch seiner Eltern nicht zu belauschen.

Die beiden hatten um ein wenig Zeit für sich gebeten, nachdem Vater und Sohn die ganze Nacht hindurch gemeinsam bei ihr ausgeharrt hatten. Rastlos nahm er seine unermüdliche Wanderung durch den Flur wieder auf.

Als es an der Haustür klingelte, schrie Mutter gellend auf. Leopold zuckte zusammen, dann eilte er hinab ins Erdgeschoss, um zu öffnen. Es war der Pastor der Gemeinde. Ein alter, gebrechlicher Mann, den Leopold bereits aus Kindertagen kannte. Schon damals war sein Schädel kahl, die Haut faltig und der üppige Bart grau gewesen.

Mittlerweile musste er fast achtzig Jahre alt sein. Warum starb er nicht statt der Mutter, warum durfte er doppelt so lange auf der Erde verweilen wie sie?

„Herr Erpenbek, gut, dass Sie kommen konnten.“

Draußen regnete es in Strömen, der Schirm des Pastors war triefnass.

Erpenbek schien es nichts auszumachen. Er sah Leopold mitfühlend an – mit diesem Gesichtsausdruck, den alle aufsetzten, die oft mit der Trauer anderer umgehen mussten. Der Pfarrer gab ihm die regennasse Hand und legte ihm zugleich die Linke auf die Schulter. „Meine aufrichtige Anteilnahme, Herr Saarner.“

„Sie ist doch nicht tot!“, schoss es aus Leopold heraus. „Noch nicht“, setzte er leiser nach.

„Ich werde ihr Trost spenden.“ Er trat ein und ließ sich aus dem Mantel helfen. „Was ist denn nur geschehen? Ich sah Ihre Mutter doch noch vergangenen Sonntag im Gottesdienst. Wir haben danach kurz geplauscht, es ging ihr gut.“

„Die Ärzte meinen, es sei der Darm. Etwas sei gerissen oder verschlungen. Ihr Körper vergifte sich nun selbst.“

„Der Blinddarm“, meinte Erpenbek wissend. „Er hat schon viele gute Menschen vor ihrer Zeit zu Gott gerufen.“

Wieder hallte Mutters Schrei durchs Haus. Erpenbek hörte es zum ersten Mal und wurde schlagartig blass. Gleich einem düsteren Omen begannen auf der Straße Hunde zu bellen.

„Eilen wir uns“, sagte der Pastor und umklammerte das Treppengeländer.

Leopold stieg vor ihm hinauf, musste aber bei jeder dritten Stufe innehalten, um auf den Pastor zu warten. Wenn er weiterhin so trödelt, ist Mutter tot, bevor er sie gesegnet hat, dachte er grimmig.

Leopold klopfte und trat mit dem Pastor ein. Vater sah auf, er hielt Mamas Hand, und seine Wangen waren nass vor Tränen. Als er den Gast bemerkte, wandte er sich ab, um Fassung zu gewinnen.

„Der Herr Pastor Erpenbek ist gekommen“, sagte Leopold leise und strich seiner Mutter über die Wange. In den letzten Tagen war sie um Jahre gealtert. Ihr blasses Gesicht von tiefen Furchen gezeichnet. Er dachte schon, dass sie ihn gar nicht wahrgenommen hätte, doch dann hielt sie plötzlich seine Hand fest. Aber ihr Griff war kraftlos und löste sich fast augenblicklich wieder.

Leopold sank neben dem Bett auf die Knie und schmiegte ihre Hand an seine Wange.

„Mein Junge“, sagte sie schwach. „Komm her.“

„Mama, spar dir deine Kräfte.“

„Komm“, flüsterte sie und seufzte tief.

Er lehnte sich so weit vor, dass sein Ohr ganz dicht über ihrem Mund war. „Versprich mir etwas.“

„Alles.“

„Hör auf deinen Vater, er ist ein guter Mann, und er will nur das Beste für dich. Es wird ein Tag kommen, an dem du etwas erfahren wirst, was dich vielleicht wütend machen wird. Aber denke daran, dass wir dich lieben. Wenn ich deinem Vater verzeihen kann, dann musst du es auch, schwöre es mir.“

Leopold verstand nicht, wovon sie sprach, konnte nicht einmal vermuten, worauf ihre Worte abzielten. War es etwas, was er ihr schwören konnte, ohne überhaupt zu ahnen, worum es ging? Ihr flehender Blick war deutlich. Er musste es tun. Gerade, als er ihr versprechen wollte, Vater alles zu verzeihen und immer ein gehorsamer Sohn zu sein, krümmte sie sich. Krämpfe durchliefen ihren Körper, als würde sie von einer gewaltigen Kraft durchgeschüttelt.

Leopold war wie erstarrt. Vater schob ihn zur Seite und drückte Mutter an sich, wiegte sie in den Armen wie ein kleines Kind und machte leise, beruhigende Geräusche.

Ihre Schreie verebbten zu einem Wimmern. Fast unmerklich bedeutete sie dem Pastor, zu ihr ans Bett zu treten.