Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

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© Text: Silke Schellhammer

© Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Material von © Elena Barenbaum/shutterstock.com

Die Autorin wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN ebook 978-3-8458-2384-3

ISBN Printausgabe 978-3-8458-2006-4

www.arsedition.de

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Für meine Oma

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Habt ihr euch schon mal gefragt, …

1.

2.

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4.

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7.

8.

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10.

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13.

14.

Die Autorin

Weitere Titel

Leseprobe zu "Bad Family Days"

Habt ihr euch schon mal gefragt, wann eure Geschichte begann? Klar, irgendwie mit der Geburt natürlich. Einfache Antwort. Und ich erspar euch mal meine ersten Jahre. Sie wirken, schätze ich, von außen betrachtet ziemlich langweilig.

Nein, ich meine tatsächlich die eigene Geschichte. Wenn man an einen Punkt kommt, an dem man nicht nur vom Kopf her weiß, sondern wirklich richtig kapiert, praktisch mit dem Herzen erfasst, dass das eigene Handeln Spuren bei anderen hinterlässt. Und man weiß es eben nicht, weil es auf einem Blatt des Buddha-atme-dir-die-Welt-schön-Kalenders steht. Sondern weil man es selbst erlebt hat.

Weil man diesen einen Moment des unendlichen Bedauerns hat, an dem man sich wünscht, Dinge ungeschehen zu machen. Und noch mal von vorne anfangen zu können. Ein Moment, wo das gegenwärtige Ich das vergangene Ich nicht mal mehr im Ansatz versteht und rückblickend auch ziemlich doof findet und hofft, das zukünftige Ich wird sich besser verhalten. Ehrlich gesagt, und genau darum geht es ja eigentlich, stelle ich es mir unglaublich toll vor, wenn alle drei Ichs zufrieden sind. Denn dann weiß man, wer man ist.

Ich wusste es irgendwie nicht. Probierte Seelenzustände wie Outfits. Trug nachdenkliche Trauer ohne besonderen Grund zur Schau. Vielleicht weil ich hoffte, von jemand aufgeheitert zu werden. Hüllte mich in grüblerisches Schweigen, wartete, wie lange es dauerte, bis es jemand bemerkte und versuchte mich zum Reden zu bringen. Gewöhnte mir irgendwelche Ticks an. Experimentierte mit meinen Launen. Manchmal zog ich mich in meine Fantasiewelt zurück, wo ich alles sein konnte. Und manchmal übertrieb ich es, wie zum Beispiel im letzten Herbst …

1.

Meine Schwester Marlene behauptete immer, zwölf wäre ein Kackalter. Man wäre alt genug, um vernünftig zu sein, aber zu jung, um wirklich Spaß zu haben. Sie musste es ja wissen. Sie war sechzehn. Und bei dem Ärger, den sie mit Mama hatte, würde ich mal behaupten, sie hatte jede Menge Spaß.

Ich war zwölf und wahrscheinlich hatte Marlene recht. Mein Leben verlief lächerlich langweilig. Zumindest bis meine Eltern glaubten, es wäre eine tolle Idee umzuziehen. Also vom einen Ende der Stadt zum anderen. In das Haus meiner Oma. Warum sie dachten, dass ausgerechnet das ein grandioser Plan sein könnte? Keine Ahnung. Aber jetzt konnten sich meine Mutter und meine Oma von morgens bis abends auf die Nerven gehen. Und ich musste die Schule wechseln und war die Neue! Also genau genommen: DIE NEUE!

Und jeder, der schon mal der oder die Neue war, weiß, wie absolut bescheuert es sich anfühlt, nirgends dazuzugehören. Da konnte jetzt niemand speziell etwas dafür, außer vielleicht meine Eltern. Aber das machte es nicht unbedingt besser. Es war einfach so, dass sich alle kannten, bis auf eine: tadaaaa, Scheinwerfer an, mich, die Neue.

Dauerbeobachtung. Egal wohin du gehst, immer verfolgen dich irgendwelche verstohlenen Blicke! Und jeder kennt dich. Oder eben nicht. Aber jeder weiß, wie du aussiehst.

»Ach, die Neue, die mit den braunen Haaren?«

»Die, die aussieht, als hätte sie in die Steckdose gefasst?«

»Die mit den tausend Sommersprossen?«

»Mit dem Malen-nach-Zahlen-Gesicht?«

»Und der komischen Augenfarbe? Ob das Kontaktlinsen sind?«

Jep, genau die! Und seit zwei langen Wochen war ich das. Mit einer eher mittelmäßigen Begeisterung fürs Angestarrtwerden. Und nur fürs Protokoll: Meine Haare sind extrem unkooperativ, was Frisuren angeht, das Grün meiner Iris wirkt zwar irgendwie seltsam, ist aber tatsächlich echt, und ja, ich halte wahrscheinlich den internationalen Rekord für Sommersprossen pro Quadratzentimeter Gesichtshaut.

Aber es war einfach nervig, ständig und überall aufzufallen. Und dabei war es egal, ob mich die Lehrer besonders behandelten, um mir den Einstieg zu erleichtern. Oder ob ich andauernd umgesetzt wurde, damit ich möglichst viele meiner Mitschüler kennenlernte, um in den Pausen dann doch allein rumzustehen. Ich wollte einfach nur unauffällig mitschwimmen und nicht die Sardine mit dem Blinklicht auf dem Kopf sein. Besonders hasste ich die Momente, in denen ich mit meinem beladenen Tablett in der Cafeteria stand und nicht wusste, wohin ich mich setzen sollte. Da ließ ich das Mittagessen lieber ausfallen und verkroch mich in irgendeinen Winkel, wo mich keiner sah. Und da mich keiner kannte, wurde ich auch nicht vermisst. Keiner fragte: »Hat eigentlich jemand Zoe gesehen?« Niemand machte sich auf die Suche nach mir. Und ich redete mir ein, dass mich das überhaupt nicht störte.

Denn ich hatte ja meine Fluchtmöglichkeiten. Zumindest in Gedanken. Das war jetzt nichts, was ich jedem auf die Nase binden würde. Denn ich hatte keine Ahnung, ob andere es auch taten. Vielleicht war ich ja komplett verrückt. Oder aber auch total normal. Wer wusste das schon so genau von sich. Auf alle Fälle stellte ich mir die Dinge gerne etwas anders vor, als sie tatsächlich waren. Und das konnte ich ziemlich gut.

So war ich in den Pausen nicht allein, sondern in geheimer Mission unterwegs. Mein Auftrag war es, möglichst unentdeckt die fremde Spezies auf diesem unbekannten Planeten zu beobachten. Das half! Wirklich! Wenn ich zu Hause an meinem Schreibtisch über den Hausaufgaben brütete, tat ich, als würde ich einen internationalen Hedgefonds managen. Und ich konnte das, auch wenn ich nicht genau wusste, was das eigentlich war. Denn es ging nicht um die Tätigkeit an sich, sondern darum, jemand anderer zu sein. Jemand, der etwas extrem gut konnte. Der irgendwie besonders war oder Dinge erkannte, die sonst niemand sah.

Auf der Treppe im Haus meiner Oma zum Beispiel gab es eine knarrende Stufe. Und ich wusste als Einzige, dass darunter eine Mäusefamilie hauste. Malte mir aus, wie putzig ihre Wohnung aussah und wie lustig ihr Leben war. An meinem einen Nachmittag als Schriftstellerin begann ich sogar über sie zu schreiben. Und immer, wenn ich morgens die Treppe nach unten ging, ließ ich die Stufe aus, damit Margo und Fred, die Mäusekinder, noch ein bisschen schlafen konnten. Denn die Mäuseschule begann ja erst um zehn.

Das Haus meiner Oma war voller Winkel und Ecken, in denen wunderliche Dinge geschahen, und es war steinalt. Aber irgendwie nicht im guten Sinn, sondern eher so in der Art greisenhaft kauzig. Mein Ururur- − keine Ahnung, wie viele -ur da noch hingehören − -großvater hatte den Kasten, wahrscheinlich direkt nach dem Verlassen der Arche, vor Tausenden von Jahren gebaut. Und es dabei richtig krachen lassen. Von Türmchen, Freitreppe, Eingangshalle, Salons und unendlich vielen Zimmern, von denen ich nicht wusste, wie man sie jemals alle nutzen konnte, bis hin zu einem eigenen Dienstbotentrakt war alles am Start. Und bevor ihr jetzt sagt, diese Tussi wohnt in einem Palast und beschwert sich noch, denkt mehr Richtung grottiges Gruselschloss. Dann habt ihr ein Bild und könnt euch überlegen, ob es wirklich zickig war, sich in ein ganz normales Haus zurückzuwünschen.

Dort wäre es auf alle Fälle um einiges weniger unheimlich. Hier gab es knarzende Holzböden, klappernde Fenster, quietschende Türen, begleitet vom leisen Klimpern der kristallenen Kronleuchter und Rascheln der dicken, schweren Samtvorhänge, die vor den bodentiefen Fenstern hingen. Genau genommen waren es zu viele Geräusche, denn auch in Zimmern, in denen niemand war, knackte und knisterte es unentwegt. Als würden nicht nur Menschen dort wohnen. Und auch wenn ich noch keinen erwischt habe, war ich mir doch ziemlich sicher, dass es weitere Mitbewohner gab. Also keine menschlichen Mitbewohner. Und vielleicht auch keine tierischen Mitbewohner. Andere eben. Eventuell Gespenster oder so. Mich würde da rein gar nichts wundern.

Und da fragte man sich doch, was wir dort im Monsterhaus zu suchen hatten, oder? Ja, okay, es war das Elternhaus meines Vaters. Und wahrscheinlich fühlte sich Oma extrem einsam in dem riesigen Kasten. Und vermutlich wusste sie, dass es spukte, und wollte es einfach nur nicht zugeben. Denn sie war eine kleine, unerschrockene und sehr spezielle Dame, die sich auf keinen Fall aufregte, sondern höchstens echauffierte. Die ständig extrem seltsame Wörter benutzte, die ich nicht kannte. Außerdem stand sie auf Perlenketten, Opernchöre, Lederhandschuhe, mit Parfüm beträufelte Stofftaschentücher, das englische Königshaus und Anlässe, bei denen man ausladende Hüte mit und ohne Schleier tragen konnte. Eine etwas über siebzigjährige Lady, die sich in eine Zeitkapsel eingesponnen hatte und dort fröhlich ihr Dasein zelebrierte. Und wir, hurra, durften da jetzt auch irgendwie mitspielen.

• • •

»Wenn du deine Kisten nicht auspackst, wirst du dich nie heimisch fühlen«, erklärte meine Mutter bestimmt, als sie auf dem Rückweg vom Supermarkt an einer roten Ampel bremste. Ja, ich nutzte wirklich jede Gelegenheit, um aus diesem Haus zu entkommen. Aber ich war auch gern mit Mama allein. Sie arbeitete ziemlich viel. In einem Labor, wo sie manchmal tagelang Versuche betreuen musste. Und dann war da noch Marlene, die ihren Frust über den Umzug ziemlich auslebte. Und Oma, die vorsichtig formuliert eine echte Dramaqueen war. Also genoss ich die Zeit, wenn man mal nicht Gefahr lief, dass sich gleich etwas total Tragisches abspielte. Ach so, einen Vater hatte ich natürlich auch, aber das kommt erst später.

»Ja, genau, das ist das Problem«, murrte ich, von Mamas Vorschlag absolut begeistert. Wir kurvten durch das Wohngebiet zu meiner Oma. Also genau genommen nach Hause. Was sich für mich aber gar nicht so anfühlte. Sondern eher noch wie besuchen.

»Aber Zoe, das braucht sicher mehr als zwei Wochen, bis du dich da heimisch fühlst«, antwortete Mama und warf mir einen kurzen verständnisvollen Blick zu. Ja, da war ich mir allerdings auch sicher.

Hab ich eigentlich erwähnt, dass der alte Kasten auch noch auf einem Friedhof stand?! Okay, es war natürlich kein echter, also keiner mit Gräbern, Kränzen, Kerzen und sonstigem Trauergedöns, aber ganz, ganz nah dran. Die Gegend war bereits ähnlich tot. Die ganze Straße entlang standen in riesigen Gärten lauter leicht marode Villen. Und in jeder lebte meistens nur ein einziger Mensch, der auch nicht mehr der Frischeste war. Sie hausten dort wie in Gräbern, nur mit Briefkasten, elektrischen Rollläden und Bewegungsmeldern. Eine absolute Traumgegend. Genau dort, wo man unbedingt sein wollte.

Inzwischen hatten wir in der Auffahrt geparkt. Meine Mutter war schon hinten am Kofferraum. Ich folgte ihr.

»Kannst du bitte was mit ins Haus nehmen?«, fragte sie und sortierte flüchtige Dosen und eine Kekspackung, die während der Fahrt aus den Taschen gekullert waren, wieder zurück.

»Klar«, antwortete ich und schnappte mir zwei der Einkaufsnetze. Meine Mutter nahm die beiden Stofftaschen. Gemeinsam gingen wir über den breiten Gartenweg zum Haus.

Über den sogenannten Dienstboteneingang, der seitlich des weitaus pompöseren Haupteingangs lag, kamen wir direkt in die Küche. Meine Mutter begann Milch und Joghurt in den alten, brummenden Kühlschrank zu räumen. Ich sortierte Nudeln, Dosen und irgendwelchen Tuben- und Fläschchenkram in einen Schrank.

»STEPHANIE?!«, hörten wir meine Oma nach meiner Mutter rufen. Klang nach Alarmstufe Rot. Wieder mal! Ausufernde Nervenkrisen waren fester Bestandteil ihres Lebens. Konnte sein, dass der Duke von Edinburgh beim Nachmittagsausritt vom Pferd gefallen war. Oder jemand die Unverfrorenheit besessen hatte, Flieder in die Rosenvase zu stecken. Auch gut möglich, dass tatsächlich der Dachstuhl in Flammen stand. Wir hatten gelernt, auf jeden Fall nachzufragen, bevor wir alle in Panik verfielen, denn es gab soooooo viele Dramen im Leben meiner Oma und sie durchlebte sie alle mit der gleichen Intensität.

»Stephanie! So geht das nicht!«, rauschte meine Oma mit hochrotem Gesicht herein.

Doch bevor sich meine Mutter nach dem aktuellen Drama erkundigen konnte, kam Marlene ebenfalls in die Küche gestürmt.

»Mama, ich halt das auf keinen Fall aus! No way!« Na, da waren sich die zwei immerhin mal einig.

»Erhellt mich«, stöhnte meine Mutter, während sie Wasser in einen Topf laufen ließ.

»Diese Rocklänge ist vollkommen indiskutabel«, zeterte Oma sofort los. Irritiert musterte ich Marlene, die Jeans anhatte. Dann Oma, deren Rock bis weit unter die Knie reichte. An was dachte sie? Mini? Oder mit Schleppe?

»Ich hab Oma in meinem Kleiderschrank erwischt«, polterte Marlene los. »Mit einem Maßband!« Noch war ich dabei, mir auszumalen, wie Marlene die Tür ihres echt kolossal großen Schranks öffnete und darin Oma entdeckte – mit einem Maßband! Das schien nicht nur für die Geschichte wichtig, sondern auch extrem verwerflich zu sein. Und trotz Marlenes Wut fand ich die Vorstellung eher witzig.

»Weißt du, wie wir früher zu jemand, der solche Röcke trug, gesagt haben?«, fuhr meine Oma Marlene an.

»Nein? Wie denn?«, fauchte meine Schwester zurück.

»Konkubine!«, flüsterte meine Oma. Mist, das würde ich jetzt wieder googeln müssen. Hoffentlich konnte ich mir das merken! Es musste ein echt tolles Wort sein. Etwas richtig Übles! Denn meine Mutter knallte das Messer, mit dem sie angefangen hatte, Tomaten zu schnippeln, wütend auf das Schneidebrett.

»Schluss jetzt!«, fauchte sie. Ich würde mal sagen, da war richtig Ärger im Anmarsch. Und es wäre echt hilfreich zu wissen, warum. Was hatte Oma da nur vom Stapel gelassen? Immer benutzte sie Wörter, die ich nicht verstand. Das war echt nervig.

»Okay! Jetzt beruhigen sich erst mal alle!«, ermahnte meine Mutter. Wohl auch sich selbst, denn sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch.

»Was ist jetzt mit Marlenes Röcken?«, fragte sie gefährlich ruhig. Ich war mir nicht sicher, ob Oma die Anzeichen eines aufziehenden Mama-Orkans erkannte. Es wurde nämlich erst so richtig gefährlich, wenn sie plötzlich betont freundlich wurde.

Aber ganz offensichtlich fehlten Oma in dem Bereich ein paar Erfahrungen. Außerdem war sie sich irgendwie total sicher, einen riesigen Skandal aufgedeckt zu haben. Zumindest verhielt sie sich so. Sie reckte den Hals und kniff kurz die Lippen fest zusammen. Schenkte meiner Mutter einen Wenn-du-nur-wüsstest-Blick, bevor sie tief Luft holte.

»Und dieses Mal ohne Beleidigung«, warf meine Mutter noch schnell ein, bevor Oma, mit einem Blick, als hätte sie die Sensation des Jahrtausends aufgedeckt, fragte: »Weißt du, dass die Röcke deiner Tochter 32 Zentimeter lang sind?« Sie rollte dabei so bedeutungsvoll die Augen, dass man tatsächlich Angst haben musste, sie würden ihr aus den Höhlen purzeln. Oh nein! Schande! Schande! 32 Zentimeter! Ich war mir nicht sicher, wohin sich mein Entsetzten konzentrieren sollte. War das jetzt zu lang oder zu kurz?

»Ich sehe Marlene in ihren Röcken! Täglich! Wo ist das Problem?« Meine Mutter. Immer noch gaaaaanz gelassen.

»32 Zentimeter! Das ist doch frivol!«, ereiferte sich Oma. Oh Mann, das ist doch nicht wahr! Frivol! Machte sie das mit Absicht? Ich hatte schon wieder keinen Plan.

Der Streit zog sich, obwohl uns allen, na ja, wahrscheinlich allen außer Oma, klar war, wie er ausgehen würde. Mama verfügte, dass Oma nichts in Marlenes Kleiderschrank zu suchen hätte, sich aber bei moralischen Bedenken jeder Art vertrauensvoll zuerst an sie, Mama, wenden sollte. Und nein, niemand in diesem Haushalt müsse wollene Strumpfhosen tragen, wenn er es nicht wollte. Ende der Diskussion.

Irgendwie schafften wir es dann auch noch, ein gemeinsames Abendessen hinter uns zu bringen. Obwohl Oma es als Zumutung empfand, in der Küche zu essen. Vor allem, weil es ein paar Zimmer weiter einen prächtigen Speisesaal gab. Irgendwie schien sie zu glauben, dass alle Familien auf diesem Planeten an gigantischen Esstischen in Salons, die so festlich wie Ballsäle waren, tafelten. Und wahrscheinlich Heerscharen von Bediensteten dafür sorgten, dass das mehrgängige Mahl auf seiner Reise von der Küche dorthin auch warm blieb. Nur wir saßen, wie der Pöbel, in der Küche und aßen Nudeln mit Tomatensoße. Ein weiteres Drama im Leben meiner Oma. Zumindest konnte man sich auf eines bei ihr verlassen: Sie fand überall dort Probleme, wo keiner von uns welche vermutet hätte.

• • •

Nach dem Abendessen ging ich einen Stock höher in mein Zimmer. Dort war es extrem warm. Geradezu tropisch. Die Heizung in diesem Haus führte ein sehr aufmüpfiges Eigenleben. Und der Knauf an dem Heizkörper in meinem Zimmer schien pure Zierde zu sein. Egal in welche Richtung man drehte, das Ding kannte nur eine Einstellung. Bullenhitze. Ich tastete mich im Dunkeln durchs Zimmer. Und es war wirklich stockduster. Es gab zwar eine Deckenbeleuchtung, sogar mit Schalter direkt an der Tür, doch auch sie war zu kapriziös, um benutzt zu werden. Ein Kronleuchter mit Glühbirnen in Kerzenform baumelte von der hohen Decke. Wenn man ihn anknipste, machte er außer zu leuchten noch jede Menge anderen Blödsinn. Zuerst begann er merkwürdig zu knistern. War man mutig genug, noch ein bisschen länger zu warten, setzte er einen penetranten Geruch nach Kabelbrand obendrauf. Ob er noch mehr konnte, als Rauch aus den kleinen Glühbirnenfassungen aufsteigen zu lassen, wussten wir nicht. Denn länger hatten wir uns noch nie getraut, ihn eingeschaltet zu lassen.

Offenbar gab es einen sehr mutigen Elektriker, der bereit war, sich das Monstrum mal anzuschauen. Das hatte er zumindest Mama am Telefon versprochen. Und solange er noch auf sich warten ließ, verzichtete ich großzügig auf Deckenlicht und tastete mich durch die Dunkelheit, um zuerst mal diese Sauna in den Griff zu kriegen. Auf meinem Weg zum Fenster stieß ich mir den Fuß am Schminktisch, der zwischen den zwei großen Fenstertüren stand. Auch der war alt, seine Spiegel halb blind. Was jetzt ein eher minderschweres Problem war, da ich zu diesem Thema nicht mehr als Lippenpflege zu bieten hatte. Das kleine rosa Döschen stand dort auch ganz verloren herum und hatte nur meine Haarbürste zur Gesellschaft.

Endlich fand ich den Griff und konnte die Tür öffnen. Oh, eine wirklich coole Sache; ich hatte einen eigenen kleinen Balkon. Nun weiter Richtung Bett. Oder sollte ich besser sagen: größte Matratze-Himmelbett-Kombination, die ich jemals gesehen hatte? Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ähnlich große Schlafstätten nur noch in ein paar französischen Schlössern zu besichtigen gibt. Eigentlich dürfte der Rieseneumel in der Dunkelheit nicht so schwer zu finden sein. Er stand nur mit seinem Kopfende an einer Wand und ragte ansonsten mitten ins Zimmer. Damit die Träume, ich würde auf einem Fußballfeld nächtigen, aufhörten, hatte ich mir angewöhnt, am Kopfende quer zu schlafen. Und da schauten noch nicht mal meine Füße raus, selbst wenn ich mich ganz lang machte. Das Querschlafen hatte durchaus Vorteile. Ich kam mir nicht mehr so verloren vor und hatte neben mir unendlich viel Platz für all die wichtigen Dinge, die ich dringend brauchte.

Tuff! Angestoßen! Bett gefunden. Ich tastete mich zu meinem Nachttischchen vor und knipste das Lämpchen dort an. Das Licht fiel auf Bücher, Comichefte, eine Tasse, Zeichenblöcke, ein paar lose Blätter, Farbstifte, meine ganz persönliche Schatzkiste, eine Flasche Kleber, eine angebrochene Kekspackung, Lieblingssocken, eine Frotteejacke mit Loch am Ellbogen, hübsche Muscheln, ein paar besondere Steine, Notfall-Schokoriegel, oh, mein Mathebuch und ein Säckchen mit Murmeln, die sich auf dem unteren Teil der Matratze tummelten! Und nein, das war keine riesige Sauerei in meinem Bett, sondern alles lebensnotwendiger Kram!

Der Rest des Raumes blieb im Halbdunkel. Was auch besser war. Denn wie das ganze Haus, so sah auch mein Zimmer etwas mitgenommen aus.

Jeder von der Wand hängende Tapetenfetzen, Seide hin oder her, schrie extrem laut nach Leim oder noch besser nach jemand, der sich auf Generalsanierungen verstand. In dem monströsen Kleiderschrank, der neben der Tür stand, könnte man sicher total unbemerkt ein ganzes Rugby-Team unterbringen. Gegenüber dem Bett ragten Regale bis in schwindelerregende Höhen unter die Decke. Wir hatten die unteren sechs Fächer für meine Sachen freigeräumt. Viel höher würde ich ohne Leiter sowieso nicht kommen. Vor der riesigen Regalwand stand etwas verloren mein Schreibtisch von zu Hause. Zusammen mit dem roten Sitzsack an der Balkontür waren das meine einzigen eigenen Möbelstücke, die ich mitgebracht hatte. Sobald wir uns etwas eingelebt hätten, würden wir dieses Problem angehen, hatte mir Mama versprochen. Ich war mir nicht sicher, wann ich mich an all das gewöhnen würde und ob ich dann, vielleicht mit zwanzig, tatsächlich noch hier leben wollte.

Verzweifelt schaute ich mich um. Es lag wirklich nicht an den sechs Umzugskartons, die in dem großen Raum kaum auffielen, dass man sich hier nicht spontan heimisch fühlen konnte. Trotzdem machte ich mich daran, sie auszupacken. Ich öffnete die erste Schachtel. Oh, alle achtzehn Mitglieder meiner Kuscheltierfamilie waren versammelt. Die hatte ich ja noch gar nicht vermisst. Nun sortierte ich sie zu den anderen wichtigen Dingen aufs Bett.

»Hier spricht Jolanda Jäger, und ich bin live im Raumfahrtzentrum Spaca, wo sich Zoe Münterbach, die erste Forscherin, die den galaktischen Sternengürtel im hintersten Winkel unseres Alls erforscht hat, zu einem Interview bereit erklärt hat. Frau Professor Doktor Doktor Münterbach, Sie waren wochenlang allein in einer Raumkapsel unterwegs. Nun sind Sie wieder zurück auf der Erde, wie fühlen Sie sich?«, fragte die Reporterin, die ich aus dem Nichts auftauchen ließ.

»Danke, ganz gut, Frau Jäger, ein bisschen ungewohnt, nach den Monaten im All, ist es schon«, antwortete ich beherrscht, denn ich war eine Vollprofi-Wissenschaftlerin.

»Sie werden noch etwa einen Monat in der Quarantänestation leben müssen. Was werden Sie dort machen?«, hakte die Reporterin nach. Ich öffnete den nächsten Karton. Darin schlummerten die Unterlagen meiner bisherigen Schule.

»Zunächst einmal werde ich meine gesammelten Aufzeichnungen auswerten, bearbeiten und einen Bestseller schreiben«, zählte ich auf, während ich Bücher und Hefte ins Regal legte.

»Stimmt es, dass Sie weltweit Anfragen für Vorträge haben?«, wollte die Reporterin als Nächstes wissen.

»Es besteht ein gewisses internationales Interesse an meinen Forschungsergebnissen«, versuchte ich so vage wie möglich zu antworten und öffnete eine Kiste mit der Aufschrift Krimskrams. Die Presse musste ja nicht gleich erfahren, dass sich praktisch jede namhafte Universität dieser Welt um mich riss. Und ich deshalb jede Menge tolle Geschenke bekam. Da waren eine solarbetriebene Hula-Hula-Tänzerin, ein Schuhkarton voll Washi Tapes, ein kleiner Pokal Dritter Platz beim Nikolaus-Handballturnier, etwa hundert Tiersticker, mehrere Meter Lichterkette, das leere Nutellaglas mit Snoopy vorne drauf, in dem ich mein Geld aufbewahrte, und, wirklich mehr als lebensnotwendig, mein Haarreif mit den Micky-Maus-Ohren. Er war natürlich ein Unikat und es handelte sich selbstverständlich um die Originalohren. So machte Auspacken doch deutlich mehr Spaß.

»Ihr Leben soll verfilmt werden, und es wird gemunkelt, dass Sie sich selbst spielen werden?«, fragte die Reporterin, während ich versuchte, die Lichterkette möglichst dekorativ um das Metallgestell des Bettes zu drapieren.

»Das war zumindest der Wunsch des Regisseurs. Aber ich glaube nicht, dass ich dafür Zeit haben werde«, wehrte ich sofort ab.

»Werden Sie bei der Besetzung denn mitsprechen dürfen?«, wollte die Reporterin weiter wissen. Ja klar, mich soll doch nicht irgendwer spielen!

»Natürlich werde ich alle endgültigen Entscheidungen treffen«, informierte ich sie.

»Während Sie im Weltraum unterwegs waren, hat die Arbeitsgruppe um Wilhelmina Temming beachtliche Erfolge erzielt. Sind Sie neidisch?«, fragte die Reporterin als Nächstes.

Wil-hel-mi-na. Ich betonte die Silben gern einzeln, dann klang der Name noch monströser. Sie war in meiner neuen Klasse und leider angsteinflößend perfekt. Sah irgendwie nach Glossy Lipstick Glamour Girl aus. Verwendete wahrscheinlich Wörter wie bitchy und OMG. Und solche, die ich gar nicht kannte. Weil ich nicht so cool wie sie war. Und weil ich keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Wir waren wie der Nord- und Südpol. Nur dass der Südpol echt gut aussah und offenbar alle dort sein wollten, während sich keiner zum schäbigen Nordpol verlief.

»ICH soll auf Wilhelmina Temming eifersüchtig sein?«, wiederholte ich etwas fassungslos und fragte, total neutral, zurück: »Wollen Sie etwa behaupten, sie wäre eine ernsthafte Forscherin?«

»Ist sie das denn nicht?« Die Reporterin wirkte etwas aus dem Konzept gebracht.

»Also, wenn Sie gefälschte Ergebnisse und veruntreute Forschungsgelder mit einer seriösen Wissenschaftlerin in Verbindung bringen wollen …«

»Ach, ist das so?«, vergewisserte sich Jolanda Jäger und blätterte nervös in ihren Unterlagen.

»Glauben Sie mir, Wilhemina Temming ist so sicher Wissenschaftlerin, wie ich ein Kaiserpinguin bin.«

»Ja, wenn Sie das sagen, dann wird das sicher stimmen.«

»Aber selbstverständlich, Jolanda! Oder habe ich Sie schon jemals angelogen?« Und damit war das Interview beendet und die Stimmung ein bisschen im Keller. Denn manchmal schlich sich selbst in die schillerndste Fantasie ein Gedanke, den man eigentlich lieber nicht denken wollte. Und dazu gehörte ganz sicher alles, was mit Wil-hel-mi-na zu tun hatte. Was wusste die schon von mir. Nichts. Und irgendwie glaubte ich nicht, dass sie sich für mich interessierte. Oder meine Erfolge im galaktischen Asteroidengürtel. Wahrscheinlich wohnte unter ihrer Treppe keine Mäusefamilie. Und ich sah sie auch nicht wirklich einen wilden Mustang zähmen. Okay, es war vielleicht nur mein Fahrrad. Trotzdem glaubte ich nicht, dass Wil-hel-mi-na irgendetwas davon verstehen würde. Sie wurde von einem kleinen Hofstaat umschwärmt, der sich dankbar in ihrem Glanz sonnte. Leider war ich so gar nicht der hofierende Gefolgetyp und verabscheute bedingungslose Bewunderung.

Als ich die Washi Tapes in die Schreibtischschublade räumte, fiel mir Omas Willkommensgeschenk in die Hände. Eigentlich total süß. Sie hatte für Marlene und mich zur Begrüßung in unserem neuen Zuhause Tagebücher gekauft. Solche mit kleinen Schlösschen, in die mikroskopisch kleine Schlüssel passten. Mein erster Gedanke? Hoffentlich kann man das Schloss knacken, denn diesen Schlüssel habe ich praktisch schon verloren. Betrachtete man das Größenverhältnis Schlüssel zu meinem Zimmer, wäre es, als würde man den Staat Argentinien auffordern, auf eine einzelne Kaffeebohne aufzupassen. Na ja oder so ähnlich. Bislang hatte ich noch nicht den dringenden Wunsch gehabt, Tagebuch zu schreiben. Was sollte ich denn aufschreiben? Hab heute Morgen ein Eichhörnchen durch den Garten huschen gesehen.

So was trieb mir wahrscheinlich auch in zwanzig Jahren nicht die Tränen der Rührung in die Augen. Oder: Habe heute früh beim Zähneputzen beschlossen, eine Zeitmaschine zu erfinden.

Ist doch echt enttäuschend, irgendwann festzustellen, dass man deutlich weniger genial geworden war als angenommen. Also, um es kurz zu sagen, war mir nicht so ganz klar, was ein Tagebuch konnte.

Und irgendwie hatte ich auch keine Lust, vor sich hin wabernde Texte zu verfassen. Ich war, glaube ich, mehr der Listentyp. Was mich gerade beschäftigte: Dinge, die ich gerne haben würde. Und eh ich mich’s versah, kritzelte ich auf die erste Seite des Tagebuchs:

ein gemütliches Zimmer

einen echt einzigartigen Kleidungsstil

Alaska mit dem Hundeschlitten durchqueren

strahlend blaue Augen oder Kontaktlinsen

eine Hauptrolle in einer richtig coolen Hollywoodproduktion

mindestens fünf Fremdsprachen fließend sprechen

andere Haare

Freunde

Entnervt schlug ich das Buch wieder zu. Das war echt eine bescheuerte Idee! Denn nun dachte ich schon wieder an die Schule und meine neue Klasse. Und dass ich dort total überflüssig war. Warum sollten sie mich auch brauchen? Sie hatten ja sich und ihre Freundschaften. Was sollten sie da mit einer Fremden anfangen. Mit einer, über die sie nichts wussten. Die auch nichts zu bieten hatte. Da war gar nichts. Und da würde auch nie etwas sein, weil sie mich für total langweilig hielten. Weil ich eben nicht wie Wil-hel-mi-na war. Mann, freute ich mich vielleicht auf die Schule.

2.

Am nächsten Morgen stand ich total motiviert im überfüllten Bus. Yeah, neuer Schultag.

Ich döste, so gut das im Stehen ging, vor mich hin, bis ich mich plötzlich beobachtet fühlte. Aus den Augenwinkeln fiel mir ein Junge auf, der mich ziemlich direkt anschaute. Also jetzt kein unheimliches Angaffen. Eher so zufällig. Als würde er, selbst vollkommen in Gedanken versunken, einfach irgendwohin starren. Oder kannte ich ihn etwa? Ich versuchte verstohlen, einen Blick auf ihn zu werfen, indem ich mich nach links und rechts drehte, als wollte ich aus den Fenstern schauen. War sicher total unauffällig. Aber immerhin konnte ich ihn so genauer betrachten. Ganz spontan würde ich mal sagen, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Er war wahrscheinlich so alt wie ich, vielleicht auch ein bisschen älter. Schwer zu sagen. Außerdem trug er eine Mütze. Mit der er, nebenbei bemerkt, total bescheuert aussah. Es war diese Art Mütze, vor der man den Träger, würde man ihn besser kennen, warnen müsste. Ich musterte ihn heimlich, wie er sich den weinroten Strickrand etwas aus der Stirn schob. Was den Gesamteindruck nicht wirklich verbesserte. Als er meinen Blick bemerkte, nickte er mir leicht zu.

Okay, jetzt war ich echt verwirrt. Kannten wir uns etwa doch? Gingen wir sogar in dieselbe Klasse? Keine Ahnung. Mehr aus Reflex nickte ich zurück. Der Bus hielt. Ein paar Leute stiegen aus. Er nutzte den frei gewordenen Platz und rückte neben mich.

Eigentlich sah er ganz knuffig aus. Durfte man das sagen? Knuffig? Ich war mir da nicht so sicher, ob Jungs das cool fanden. Und irgendwie erinnerte er mich, so wie er mit seinen großen dunklen Kulleraugen unter dem Mützenrand hervorlinste, an ein Plüschtier, das sonst wo vergessen worden war. Etwas, das definitiv kein Junge hören wollte. Da war ich mir sicher.

»Du wohnst im Fichtenweg, im Eckhaus?«, erkundigte er sich plötzlich.

»Ähm, hmm!«, brummte ich überrascht. Woher kannte ich ihn nur?

»Du bist neu hier, oder?«, fragte er weiter und begann ganz ungeniert mit seinem Finger im Ohr zu bohren.

Hallo?!

Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Und ich war mir sicher, dass ich ihn ziemlich entsetzt angestarrt haben musste, trotzdem drehte er weiter andächtig seinen kleinen Finger in seiner Ohrmuschel hin und her.

»Fichtenweg!«, wiederholte er traumverloren. »Ich wohne eine Querstraße weiter, Föhrenallee … 17!«, fügte er nach einer kleinen Pause noch hinzu.

»Na dann!«, erwiderte ich. Und weil ich ihm nicht weiter bei seiner ausgiebigen Ohrenschmalzsuche zuschauen wollte, starrte ich wieder aus dem Fenster.

»Ich bin übrigens Namik«, stellte er sich noch brav vor. Kurz hatte ich die Befürchtung, ich würde die Hand gereicht bekommen. Also die, deren kleiner Finger gerade noch mit Probebohrungen in seinem Ohr beschäftigt gewesen war. Aber nix dergleichen, Glück gehabt.

»Zoe«, antwortete ich automatisch. Und während ich noch überlegte, ob ich ihn fragen sollte, woher wir uns kannten, sagte er: »Du hast einen Hund.«

»Gehört meiner Oma«, stellte ich schnell richtig. Denn obwohl ich noch nicht wusste, was ich von ihm halten sollte, war es mir irgendwie wichtig, dass er den richtigen Eindruck von mir bekam. Und dazu gehörte definitiv kein fetter, asthmatisch keuchender Niederbeiner. Vielleicht eher ein Husky oder so was.

»Ja, okay!«, murmelte er nicht wirklich interessiert.

»Ich hab dich letzte Woche gesehen«, setzte er plötzlich nach.

»Aha!« Mehr fiel mir nicht ein. Sollte ich ihn fragen, ob er da auch diese bescheuerte Mütze aufhatte?

»Großer, schwarzer Mischling?«, versuchte Namik meine Erinnerung aufzufrischen. Was? Ach, der Hund! Nahm ich jetzt mal zumindest an. Doch selbst dieser Hinweis war vollkommen nutzlos. Mein Erinnerungsvermögen lag im komatösen Tiefschlaf.

»Oh, die nächste Haltestelle muss ich raus!«, fiel mir plötzlich auf. Und das war immerhin besser, als zu sagen, dass ich keinen Plan hatte, wer er war.

»Man sieht sich«, verabschiedete er sich. Der Bus bremste und mit lautem Zischen öffneten sich die Türen.

Ich nickte etwas irritiert, bevor ich aus dem Bus sprang. Denken wir mal nicht über das Wann und Wo nach. Vielleicht würden wir uns ja tatsächlich irgendwann und irgendwo zufällig begegnen. Ich könnte heute Nachmittag Omas Wursthund ums Karree ziehen und abwarten, was passierte.