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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print:ISBN: 978-3-7910-3844-5Bestell-Nr.: 10201-0001
ePDF:ISBN: 978-3-7910-3845-2Bestell-Nr.: 10201-0150
ePub:ISBN: 978-3-7910-3879-7Bestell-Nr.: 10201-0100

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Umschlaggestaltung: Kienle gestaltet, Stuttgart
Satz: kühn & weyh Software GmbH, Satz und Medien, Freiburg

April 2017

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart
Ein Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

Vorwort

Dieses Buch will Sie als Leser und Leserin in dreifacher Hinsicht beflügeln: Es gibt Ihnen einen profunden Überblick über die Materie Führung und Organisation als professionelle Grundlage, es entfaltet das Professionsfeld Leadership Development zur professionellen Verortung, und es stellt Ihnen – zur professionellen Inspiration – ein von Praktikern entwickeltes Modell für ein innovatives, integriertes Leadership Development vor.[2]

Der erste Teil dieses Buches legt die praxisrelevanten theoretischen Grundlagen und vermittelt Ihnen das Big Picture von Management und Leadership. HR-Profis, die mit Aufgaben der Leadership-Entwicklung betraut sind, finden hier einen wissenschaftlich fundierten Denkrahmen, einen gemeinsamen Sprachvorrat, der sie untereinander anschlussfähig sowie Auftraggebern und Führungskräften gegenüber auskunftsfähig macht.

Welche Definitionen gibt es für Management und Leadership? Mit welchen Herausforderungen und Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Organisationen hängen sie zusammen? Welche Gurus, welche Standardwerke der Managementliteratur haben das jeweilige Verständnis von Leadership und Führung in einem gegebenen zeitgeistigen Kontext geprägt? Konkret: Wie unterscheiden sich Leadership und Führung im Industriezeitalter, im Konsumzeitalter und im Change-Zeitalter? Was ist der allgemeingültige, kontextübergreifende Kern von Leadership? Welche überkommenen Konzepte stellen die Weichen für das Verständnis von Führung und Organisationen zurück in die Vergangenheit? Was ist im Leadership Development heute Ballast, was unnötiges Gepäck, und was sollte geschultert werden?

Der zweite Teil des Buches legt die Grundlagen für ein zeitgemäßes Leadership Development. Ausgehend von der Prämisse, dass sich Wirtschaft und Organisationen in der Emergenzphase eines tief greifenden Wandels befinden, die auch die Funktion Führung in eine Grauzone zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht verweist, werden die Herausforderungen für Leadership und das Leadership Development benannt: Welche neuen Skills und Kompetenzen sind für die Wegstrecke vom Heute zum Morgen gefragt? Wie verändern sich klassische Gestaltungsfelder wie Mitarbeiterführung und Selbstführung? Welche zusätzlichen Aufgabenfelder ergeben sich, weil die Organisation mit ihrer Verfasstheit und ihren Capabilities mehr denn je ein kritischer Wettbewerbsfaktor sein wird? Was bedeutet der Appell zum postheroischen, verbindenden Management konkret, wie kommt man in Sachen Leadership vom einsamen Wolf zum starken Rudel? Wie lässt sich der genetische Code im Management umschreiben, wie lassen sich Management-Innovationen hervorbringen, um die Basis für nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu legen? Und – auch wenn niemand weiß, wie ein Management 2.0 aussehen wird – was lässt sich tun, um erste Schritte von der Utopie in die Praxis zu tun?[3]

Wie die Funktion Führung, so hat auch die Funktion des Leadership Development ihr Selbstverständnis in den vergangenen 25 Jahren immer wieder tief greifend verändert: vom Seminaranbieter nach dem Modell der Managementinstitute zur Corporate Academy, von der Führungskräfteentwicklung mit dickem Seminarkalender zur Verantwortung für die Ausdifferenzierung und Wartung einer Leadership Brand. Seit Jahren wachsen die Professionsfelder der Personalentwicklung und der Organisationsentwicklung zusammen; in der Service- und Governance-Funktion für ein starkes Leadership Development finden sie einen gemeinsamen Aufgabenkern, in dem sie auf neue Art kollaborieren. Dies bildet einen allgemeinen, empirisch belegten Trend in den Human Relations ab, der die businessrelevanten Erfolgsfaktoren in den Kompetenzfeldern des (Organizational) Capability Buildings und der Integration von HR-Praxisfeldern verortet.[4]

Wie aber kann sich das Professionsfeld des Leadership Development professionell ausrichten angesichts der Ungewissheit und Volatilität in den Umwelten der Organisation, die sich im Aufgabenbereich Leadership niederschlagen? Was soll das Leadership Development tun, wie sollen die Verantwortlichen dort vorgehen, um Führung zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht zu entwickeln? Das zweite Kapitel trägt einige anerkannte Fixsterne zusammen, die Profis sich ins Pflichtenheft schreiben können: Führung als Profession, Führung als Funktion bzw. Führungspersonen als Entscheidungsprogramme im Luhmann’schen Sinn, den Mindset-Ansatz, das Modell der Leadership Pipeline, das Modell der Community of Practice und die emergierenden Praktiken zum Aufbau einer Leadership Brand. Damit lässt sich ein Baukasten zusammenstellen für ein Corporate Leadership tbd – to be defined: für die nächste Wegstrecke der eigenen Organisation; ein Leadership, das, wie jede Marke, laufend beobachtet und ‚gepflegt’ werden muss.[5]

Was sind nun die Gestaltungsfelder für ein zukunftgerichtetes Leadership Development? Zum einen wird es nach wie vor um die Qualifizierung und Sozialisation von Führungspersonen auf ihre Rollen in ihrer Organisation gehen. Um aber ein postheroisches, verbindendes Leadership zu entwickeln, soll Leadership als Wirkung überall und hierarchieunabhängig in der Organisation effektiv sein. Wesentliche weitere Handlungsfelder eines Leadership Development bestehen also in der Förderung der Leadership-Wirkung von Teams und in der Gestaltung von Entwicklungsräumen und Sprachanschlüssen für eine Leadership Community im Unternehmen, die in Schwingung zu versetzen ist. Vorgeschaltet ist ein normativer Rahmen zu setzen, was die zu entwickelnden Schlüsselkompetenzen für Leadership im abzusteckenden Entwicklungsfenster sein sollen. Zugeschaltet ist ein Prozess zu organisieren, der die Pflege und Weiterentwicklung der Corporate Leadership Brand leisten kann.

Der dritte Teil des Buches stellt das Modell der Fünf Wetten auf eine Leadership Brand vor, das Martina Eissing und Kurt Stettler in Zusammenarbeit mit vielen Führungsverantwortlichen, Kollegen und Experten entwickelt haben, als sie 2014 den Auftrag zu einem Neudesign der Swisscom AG Leadership Academy bekamen. Ganz bewusst ist – auch im Diskurs der Führungskräfte untereinander – von Wetten die Rede, wenn es um Zukunft geht, nicht von Thesen. Denn bei einer Wette ist man sich – anders als bei einer These – bei aller Überzeugung doch einer Rest-Ungewissheit bewusst. Je mehr man auf eine Wette setzt, mit desto größerer Spannung wird man die Entwicklungen verfolgen und den Ausgang der Wette überprüfen.[6]

Der dritte Teil des Buches stellt Ihnen das methodische Vorgehen zur Entwicklung eines integrierten Leadership-Development-Systems vor: Wie sich auf der Ebene der Mysterien ein normativer Rahmen und ein Führungsverständnis explizieren lassen, wie sich auf Ebene der Heuristiken programmatische Vorgehensweisen ableiten lassen, und wie sich auf Ebene der Algorithmen die Stellgrößen für die Umsetzung in konkrete Angebotsportfolien, Lernmixes und Spielregeln definieren lassen.

Dann werden die fünf Wetten einzeln vorgestellt, jeweils mit ihren Funktionen für ein integriertes Leadership Development, ihrem Beitrag zur Bildung einer Leadership Brand, mit ihren konstitutiven Bausteinen und Portfolien und mit den sie unterstützenden Workbooks und Arbeitstemplates.

Die erste Wette betrifft das Verständnis von Leadership als einer spezifischen Verantwortung, für die es im gegenwärtigen Entwicklungsfenster der Organisation spezifische Schlüsselfähigkeiten benötigt. Diese werden im Leadership Canvas formalisiert und legen die normative Basis für alle Aktivitäten des Leadership Development.

Die zweite Wette betrifft den Lern- und Erfahrungsraum des Personal Lab, mit seinen Entwicklungsangeboten – Basisausbildung, Evergreens und Transformationsthemen – für die Führungsperson. Die Prinzipien der Eigenverantwortung und des offenen Zugangs manifestieren sich u. a. in Selbstlernangeboten durch E-Learning-Angebote, Workbooks usw. Peer-to-Peer-Lernen und der Ansatz des Leaders develop Leaders sollen im Tun die Weichen für ein neues Führungsverständnis neu stellen.[7]

Die dritte Wette geht davon aus, dass ein wirkungsorientiertes Leadership Development die Führungs-Kraft von Teams unterschiedlichster Provenienz gezielt stärken wird. Im Team Lab werden neben Evergreens der Teamentwicklung Transformationsthemen – das sind Themen, die Ziele, Rollen, Skills, Kommunikations- und Zusammenarbeitsmuster von Teams verändern –, und längere Team-Begleitungsprozesse angeboten. Der Team Space gibt Teams Entwicklungsraum im wörtlichen Sinn und hält Ressourcen für einen Push-Ansatz bereit, wenn das Unternehmen Top-down Teams in standardisierten Formaten erreichen will.

Die vierte Wette zielt auf die Entwicklung einer Leadership Community durch das Community Lab ab. Es geht hier um Experimentier- und Laborsituationen, in denen Führung sich mit sich selbst und mit entwicklungskritischen Fragen der Organisation beschäftigt. In geeigneten Kommunikationsräumen werden Praxiserfahrungen ausgetauscht, die gelebte Führungspraxis expliziert und reflektiert und frühzeitig Impulse aus der Managementwelt eingespielt und gesoundet. Ziele des Community Labs sind, eine gemeinsame Leadership-Sprache nach innen und außen zu finden, erfolgskritische Aspekte der Leadership Brand zu benennen, Foren für wechselseitige Sozialisation auf die Profession Führung zu bieten und vor allem: eine Gemeinschaft, ins Schwingen zu bringen, die sich für Führung in Verantwortung sieht.[8]

Die fünfte Wette hat das Ziel, den Leadership Evolution Process selbst in Gang zu halten. Zum einen geht es in einem klassischen Evaluierungsansatz darum, einzuschätzen, wie wirksam die einzelnen Leadership-Development-Maßnahmen sind. Zum anderen geht es darum, das Portfolio der angebotenen Entwicklungsimpulse dem State of the Art im Management und den Notwendigkeiten der Führungspraxis in der Organisation anzupassen; Auch die normative Grundlage der Corporate Leadership Brand, die im Leadership Canvas formalisiert ist, ist immer wieder zu validieren: Was sind aus gegenwärtiger Sicht die Schlüsselkompetenzen im Corporate Leadership? Wesentlicher Bestandteil des Leadership Evolution Process ist ein Lern-Eco-System, in dem Vertreter aus den Umwelten des Leadership Development zusammenkommen, denen Führung am Herzen liegt.

Angesichts der vielen Parallelen zwischen dem Praxismodell der Fünf Wetten und der in den ersten beiden Teilen zusammengetragenen Theorie, ist hier explizit zu betonen, dass das tatsächliche Vorgehen zum Redesign der Leadership Academy keine geradlinige Ableitung der Theorie war. Vielmehr handelte es sich in der Praxis um einen Weg durch eine Landschaft von Theorie-Puzzlesteinen, die Martina Eissing und Kurt Stettler im Austausch mit vielen Menschen innerhalb und außerhalb des Unternehmens jeweils zentral für die jeweils nächsten Schritte schienen. Sie haben über ein Jahr Tagebuch geführt über diesen Entwicklungsprozess, der sich als emergent und mäandernd darstellt und immer wieder zwischen operativer Ausarbeitung, Klärung von Grundsatzfragen und Entwicklung von Konzepten oszilliert.[9]

Das Fünf-Wetten-Modell für ein integriertes Leadership Development ist neu und gegen den Strich der gängigen, gelebten Praxis im Professionsfeld gebürstet. Dort wird zwar generell appelliert an ein zeitgemäßes Führungsverständnis im Sinn des Mintzberg’schen postheroischen, verbindenden Managements; die Entwicklungsmaßnahmen adressieren praktisch aber ausschließlich wenige nominierte Personen als Rollenträger der Hierarchie, dies meist in Form von klassischen Curricula.

Dieses Buch will Ihnen als HR-Profi oder -Berater Anregungen geben, wenn Sie mit einer ähnlichen Aufgabenstellung betreut werden, die meist mit dem Auftrag beginnt, den Wildwuchs von – über die Zeit in unterschiedlichen Unternehmensbereichen entstandenen – Leadership-Development-Maßnahmen zu bereinigen. Der geschilderte Theorierahmen in den Teilen 1 und 2 sowie die geschilderte Praxis in Teil 3 mögen Ihnen Orientierung und Reflexionshilfe geben, wenn Sie vor der Herausforderung stehen, mit der schieren Komplexität der Aufgaben, den vielen Widrigkeiten des Alltags, dem Wissensgefälle zu ihren Auftraggebern und Peers, der Beharrlichkeit gewohnter Erwartungshaltungen bei Kunden und Lieferanten sowie mit Ihrer eigenen Unsicherheit, was jetzt die konkreten nächsten To dos sind, zurande zu kommen. Sie finden hier Anregungen und Mut, sich Verbündete zu suchen, die Ihre Inspiration teilen.[10]

Joana Krizanits, Wien, im August 2016

Danksagung

Das Fünf-Wetten-Modell ist nicht am Schreibtisch entstanden, sondern in unzähligen sozialen Begegnungen. Viele Menschen aus verschiedenen Professionen in unterschiedlichen Rollen haben mit uns mitgedacht, mitgestaltet, mitgesteuert und umgesetzt. Sie haben uns inspiriert, bereichert und beschenkt. Wir danken (jeweils in alphabetischer Reihenfolge):

... für die Beauftragung, die gewährten Freiräume, die Unterstützung und Mitsteuerung des Projektes Neudesign der Leadership Academy: Adrian Bucher, Esther Kühne, Hans C. Werner.

... für ihre Inputs, Feedbacks und ihr Engagement bei der Entwicklung von Konzepten und Testen von Prototypen: den Führungsverantwortlichen aus den Bereichen, die sich in der Fokusgruppe engagiert haben, den vielen Führungsverantwortlichen, die sich als Pilotteilnehmer, Ko-Kreateure oder in einer Funktion als Leader develop Leaders engagiert haben – in den vielen Workshops, spontanen Mails, unzähligen ungeplanten ‚Bilas’ am Gang, Zurufen beim Mittagessen ...

… für die Gestaltung und Umsetzung des Personal Lab: Bernadette Birchler mit ihrem Team: Roland Brunner, Matthias Forster, Suzana Gavrilova, Ursula Geu, Nicole Goetschi, Margrit Maag, Natalia Winterberger-Tannò, Anne-Marie Wittwer, Francesco Zoppi.

… für die Gestaltung und Umsetzung des Team Lab: Franziska Espinoza mit ihrem Team: Michele Casserini, Stefanie Gfeller, Anja Heggli, Oswald König, Daniel Sigrist.[11]

... für die aktive Mitgestaltung und Umsetzung in unterschiedlichen Rollen: Bettina Aebischer, Nicole Aeschbacher, Stefanie Brüning, Michael Bürgi, Ingrid Dohme, Jöri Engel, Petra Ewald, Tobias Furrer, Charlotte Grob, Danjela Hüsam, Milijana Mrsic, Phillipe Nicod, Jonas Schweizer, Emmerich Stoffel, Andreas Wecker, Regina Wittwer.

... für die Erstellung aller Filme für eLearnings und Promotion: dem Filmteam der Lernenden der Swisscom AG.

... unseren Lead-Partnern für ihr Einbringen von Modellen und Konzepten und ihre Mitgestaltung von Angeboten: UPGRADE.SWISS Organisationsentwicklungspartner: Dr. Jens-Peter Abresch, Fabian Berg, Clemens Frowein, Andrea Griesinger. ZHAW Zürich, Institut für angewandte Psychologie: Andrea Chlopczik, Christoph Gütersloh, Christoph Hoffmann, Marion Jonassen, Urs Jörg, Thomas Klink, Andres Pfister, Elisa Streuli.

... unseren weiteren Kooperationspartnern für ihre Mitgestaltung des Entwicklungsprozesses: Prof. Dr. Heiko Roehl, dem Team von euforia, dem Team der ghostbuster, Bernhard Sterchi von Palladio Trusted Advisors, Diane Van den Berge und Jens Goder von grey to green sowie anderen externen Partnern, die bei der Konzeption und der Implementierung von Angeboten mitgewirkt haben.

Im dritten Teil dieses Buches geben wir unsere Erfahrungen und unser Wissen an die Professional Community weiter. Dazu haben wir unsere Konzepte so ausgearbeitet und verallgemeinert, dass auch Profis im Leadership Development in anderen Unternehmen profitieren können.[12]

Martina Eissing, Kurt Stettler, Bern, im August 2016

Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre ...

Wir würden uns freuen, wenn Sie als Profis im Leadership Development in diesem Buch eine Wissensbasis und eine professionelle Verortung finden, die Sie bei Ihren fachlichen Herausforderungen ankert und Ihnen eine gemeinsame Sprache und einen gemeinsamen Bezugsrahmen geben kann. Mögen Ihnen das Fünf-Wetten-Modell und die in diesem Buch beschriebenen Gedanken und Erfahrungen Anregung und Mut geben, über ihr Vorgehen im Leadership Development nachzudenken und Sie dadurch unterstützt werden, auch ihre Profession für die Zukunftsfähigkeit ihres Unternehmens neu zu erfinden.

Martina Eissing, Joana Krizanits, Kurt Stettler, Zürich, im August 2016

Leadership gestern, heute, morgen – Praxistheorie für Profis

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Donau bei Wien

Dieser Teil trägt im ersten Kapitel zusammen, wie sich das Selbstverständnis von Führung in den vergangenen hundert Jahren verändert hat. Dabei werden folgende Einflusskreise für das Selbstverständnis von Führung beleuchtet:

Im geschichtlichen Rückblick auf diese Einflusskreise lassen sich paradigmatisch unterschiedliche Verständniszugänge für Management und Leadership erkennen. Konkret wird im Folgenden unterschieden zwischen Führen im Industriezeitalter, Führen im Konsumzeitalter und Führen im Change-Zeitalter.[13]

Paradigmen sind grundsätzliche, gesellschaftlich tradierte Wirklichkeitszugänge, die den Verständnisrahmen dafür setzen, was als Problem gesehen wird und mit welchem Problemlösungszugang diesem zu begegnen sei. Führen im Industriezeitalter, Führen im Konsumzeitalter und Führen im Change-Zeitalter – in jedem dieser Paradigmen lassen sich Entwicklungen nachzeichnen, die den jeweiligen Problemlösungszugang ausdifferenzieren, verfeinern und optimieren, bis schließlich inhärente Probleme – Systemiker sprechen von Turbulenzen – spürbar werden und der ausgeblendete Gegenpol des jeweiligen Problemlösungszugangs in den Blick gerät.

So fokussiert Kapitel 1, Führung im Industriezeitalter, das Problem der Produktivität; man geht vom Prinzip der Arbeitsteilung aus, das in fortschreitender Rationalisierung perfektioniert wird, um schließlich zu erkennen, welche Beiträge der Human-Relations-Ansatz zur Steigerung der Produktivität bereithält. Kapitel 2, Führen im Konsumzeitalter, fokussiert die Probleme der veränderten Absatzmärkte und der Kundenorientierung; man geht von methodisch zu planenden Entscheidungsprozessen nach dem Modell des Operation Research, Managementsystemen wie Management by Objectives (MbO) und Unternehmensfunktionen – allen voran Marketing inklusive Strategie und Innovation – aus, die immer weiter verfeinert werden, bis schließlich die Faszination mit dem charismatischen Leader als Garant für Zukunft und Entwicklung Platz greift. Kapitel 3, Führen im Change-Zeitalter, zeigt eine atemlose Rennstrecke um den Erdball auf, an deren Ende ein stilles Nachdenken über Systemwechsel und Nachhaltigkeit zu stehen scheint.[14]

Diese Selbstverständnisse von Führung wirken heute in einem Amalgam von mentalen Bildern über Leadership zusammen. ‚Gute Führung’, das wird noch immer normativ und appellativ gehandelt – im Rückgriff auf nicht näher definierte Prämissen. Ziel dieses Kapitels ist es, das jeweilige Selbstverständnis von Führung zu explizieren und an seinen Zeitgeist – im Zusammenwirken der o. a. Einflusskreise – zurückzubinden.

Eine Anmerkung vorab: Wir verwenden die Begriffe Führungskräfteentwicklung, Führungsentwicklung, Management Development und Leadership Development im Folgenden weitgehend synonym. Wir gleichen uns damit pragmatisch der gelebten Praxis an, die all diese Begriffe verwendet, um HR-Vorgehensweisen zu beschreiben, die die vitale Unternehmensfunktion Führung bewusst fördern, stärken und weiterentwickeln. Auch die Begriffe Unternehmen und Organisation verwenden wir weitgehend synonym.

1   Führen im Industriezeitalter

Vom Beginn des Industriezeitalters bis in die 1960er-Jahre verlief die Leitdifferenz im Selbstverständnis von Führung entlang der Dichotomie ingenieurwissenschaftliche Rationalisierung versus Vermenschlichung der Arbeitswelt. In diesem Zeitraum wurde die Gesellschaft zunehmend durch das System Wirtschaft geprägt und es entstanden Organisationen, die bis heute das Rückgrat unserer Gesellschaft bilden.[15]

1.1   Der ingenieurtechnische Ansatz

1832 veröffentlichte Charles Babbage (1791–1871) sein Buch On the Economy of Machinery and Manufactures, in dem er unter anderem die Aufspaltung eines Arbeitsprozesses in Teile mit unterschiedlichen Qualifikationsansprüchen empfahl, um den maximal möglichen Output des Teils mit dem höchsten Qualifikationserfordernis als Basis für die Konfiguration der anderen Arbeitsbeiträge zu setzen. Durch dieses Babbage-Prinzip lassen sich Lohnkosten senken bzw. die Produktivität erhöhen. Seinen Ausführungen vorangegangen war die gesellschaftliche Innovation der Manufaktur, in der Menschen in Einheit von Zeit und Ort Waren fertigten.

Das Prinzip des Arbeitsvollzugs in Einheit von Zeit und Raum führte, in Verbindung mit zunehmender Mechanisierung und maschineller Kraftübertragung, zur Frage, wie durch rationale Aufteilung und Gestaltung des Arbeitsvollzugs Produktivitätsvorteile erzielt werden könnten. Darin bestand im Industriezeitalter das Kernproblem für Führung; der ingenieurtechnische Ansatz lieferte den Lösungszugang: die immer weitergehende Optimierung der mechanischen Arbeitsabläufe nach rationalen Kriterien.

1.1.1   Management als System statt Born Captains of Industry

Das Babbage-Prinzip betrifft einen Kernaspekt der Arbeitsteilung, die Frederick Winslow Taylor (1856–1915) achtzig Jahre später in seinem Scientific Management[16] (1911) weiter ausbaute. Analyse und Optimierung von Arbeitsabläufen waren für ihn die Grundlage, um den Arbeitsprozess in kleinste Abschnitte gleichförmiger Verrichtungen zu teilen und für einen gegebenen Arbeitsplatz das „Pensum“ und den „Stücklohn“ zu ermitteln. Bekannt ist Taylor für eine weitere Art der Arbeitsteilung, die er einführte: die Trennung von Hand- und Kopfarbeit. Den auf bestimmte Arbeitsfunktionen spezialisierten White-Collar-Angestellten wurden Planung, Disposition und Kontrolle über die Arbeitsprozesse übertragen und den Blue-Collar-Arbeitern die Ausführung derselben.

Taylor nahm in Anspruch, nicht nur mit Scientific Management die Produktivität der Arbeit auf Shopfloor-Ebene, d. h. in der Fabrikhalle, zu steigern, sondern ein „Management als System“ entwickelt zu haben, das die unberechenbaren autokratischen „Born Captains of Industry“ ablösen würde. Die Debatte um Führung als Persönlichkeitsmerkmal und die Frage, ob dieses angeboren oder erlernbar sei, sei damit hinfällig. Aufgabe des Managements sei die Gestaltung der Arbeitsbedingungen, die Standardisierung von Arbeitsmethoden und die Durchsetzung verstärkter Kooperation, um Effizienz zu erreichen. Taylors Managementsystem umfasste auch die Prinzipien der gezielten Personalauswahl und Personalentwicklung nach einem Job-Anforderungsprofil. Taylor prägte die neue Funktion des Industrial Engineering, das Selbstverständnis von Management als technokratischer Ingenieurwissenschaft und die Sicht auf Organisationen als triviale, berechenbare Maschinen.[17]

1.1.2   Henry Ford und Alfred Sloan – Rollenmodelle für den Central Executive Officer

Den Sprung vom Scientific Management zur Massenproduktion erzielte Henry Ford (1883–1947) mit der Einführung der Fließbandproduktion, die der Praxis in den Chicagoer Schlachthöfen abgeschaut war. Sein Verständnis von Management und Organisationen in der Gesellschaft wird noch heute Fordismus genannt. Für die Managementtheorie schuf Henry Ford die ‚Vision’, den Zukunftsentwurf für den Zweck einer Organisation, die weit über deren Grenzen in die Gesellschaft hineinreicht. Die im Proletariat lebenden Arbeitermassen sollten mit dem Automobil aus dem Elend der Städte ins Grüne fahren und sich daran erfreuen können. Dazu war es notwendig, dass sie sich ein Automobil leisten konnten; umgekehrt war durch Massenkonsum auch die Massenproduktion gewährleistet. Das Standardmodell T kam 1908 auf den Markt; in den nächsten 15 Jahren wurden 15 Millionen davon verkauft. Ford zahlte seinen Arbeitern überdurchschnittlich hohe Löhne und führte den Achtstundentag ein. Er gab einen Teil der durch Economies of Scale erzielten Gewinnmarge an seine Arbeiter weiter, sodass der Preis für das Modell T schließlich ca. 7.000 US Dollar auf Wertbasis 2008 betrug.

Alfred Sloan (1875–1966), von 1920 bis 1937 Vorstand von General Motors, übertrug den ingenieurtechnischen Ansatz von der Gestaltung der Produktionsabläufe auf die Optimierung von Prozessen und Strukturen der Gesamtorganisation. So führte er die Dezentralisierung von Unternehmensbereichen ein, die Spartenorganisation, sowie die Spezialisierung in verschiedene Verantwortungsbereiche – Technik, Administration, Verkauf – auf Managementebene.[18]

Auch Ford und Sloan waren Ingenieure; sie wurden zum Inbegriff erfolgreichen US-amerikanischen Managements und zu Rollenmodellen für Führung im Industriezeitalter. Durch ihre Geschäftstüchtigkeit, klare Entscheidungen und ihren Einfluss als öffentliche Personen führten sie ihre Unternehmen in immer größere Profitabilität.

1.1.3   Erste Schritte auf dem Weg zu einer allgemeinen Managementlehre

Schon 1916 hatte der französische Bergbauingenieur Henri Fayol (1841–1915) mit seinem Werk Administration Industrielle et Générale eine allgemeine Managementlehre vorgestellt, die Gültigkeit für die ‚Administration’ jeder Organisation beanspruchte, unabhängig von deren konkreten Zweck. Danach hat das Management fünf Funktionen zu erfüllen: Vorschau und Planung, Organisation des Aufgabenvollzugs, Koordination, Kontrolle und die Leitung. Ein Unternehmen sollte nach vierzehn Prinzipien geführt werden, darunter die Prinzipien der Arbeitsteilung, der angemessenen Mischung von Zentralisation und Dezentralisation, der unternehmerischen Initiative u. a. m. Die von Fayol vorgestellten Funktionen des Managements wurden später von Luther Gulick (1892–1993) zum ‚POSDCoRB-Modell’ ausgearbeitet; danach bestehen die wesentlichen Aufgaben des Managements im Planen, Organisieren, Directing/Anleiten, Koordinieren/Coordinating, Reporting und Budgetieren.[19]

1938 veröffentlichte Chester Barnard (1886–1961) – selbst CEO bei AT&T – mit The Functions of the Executive erstmals eine integrierte Organisations- und Managementtheorie. Barnard verstand Organisationen als Kooperationssysteme menschlichen Handelns, die nur überleben können, wenn sie effektiv ihre Zielsetzungen verwirklichen und wenn sie effizient die Motivation ihrer Mitarbeitenden erschließen. Damit Kooperation entsteht, müssen Führungskräfte den Sinn und Zweck der Organisation und ihre Ziele formulieren, diese den Menschen vermitteln und dafür sorgen, dass sie sich dafür engagieren.

Die wesentliche Führungsaufgabe bestehe darin, für effektive Kommunikation zu sorgen, d. h. für klare Kommunikationskanäle, auf die jede/r Zugriff hat und für kurze, direkte Kommunikationswege. Eine Führungskraft habe nur dann Autorität und Durchsetzungsvermögen, wenn ihr dies von den Mitarbeitenden zugeschrieben wird, und dies geschehe nur, wenn Führungskräfte sie kompetent und mit Respekt behandeln. Schließlich müssen Führungskräfte ihre Mitarbeitenden motivieren – z. B. durch Überzeugung und durch Anreize materieller oder nicht materieller Art, wie der Möglichkeit, sich hervorzutun, Stolz auf Erreichtes zu verspüren, Teil eines größeren Ganzen und mit anderen verbunden zu sein.

1.2   Der Human-Relations-Ansatz

Barnards Führungs- und Organisationstheorie ist eine frühe Formulierung des damals im Entstehen befindlichen Human-Relations-Ansatzes; er greift dabei viel umfassender aus als die späteren Human-Relations-Konzepte, die hauptsächlich auf die soziale Beziehungsgestaltung zwischen Führungskraft und Mitarbeitenden abstellen.[20]

Als Ausgangspunkt der Entwicklung zum Human-Relations-Ansatz gelten die Beleuchtungsstudien; die Theorie X und Y und Maslows Bedürfnispyramide markieren die Eckpfeiler dieses Ansatzes, der 1960 im Bestseller The Human Side of Enterprise von Douglas McGregor erstmals publiziert wurde. Er wurde zur Grundlage für eine aus der Psychologie abgeleitete Organisationstheorie, für die neue Disziplin der Organisationsentwicklung und für die beginnende Managementausbildung.

1.2.1   Gruppennormen und soziale Beziehungen als leistungsbestimmende Einflüsse

Die Beleuchtungsstudien in den Hawthorne-Werken, die ab Mitte der 1920er-Jahre in klassischer Ingenieurtradition die Einflüsse technischer Arbeitsplatzausstattungen auf die Produktivität messen sollten, hatten Anfang der 1930er-Jahre zu einer Erleuchtung ganz anderer Art geführt: Als leistungsbestimmende Faktoren erwiesen sich soziale Beziehungen, informelle Gruppennormen und die wohlwollende Aufmerksamkeit, die Führungskräfte ihren Mitarbeitenden entgegengebrachten. Der letzte Faktor, der sogenannte Hawthorne-Effekt, bewirkte auch eine anhaltende Motivationssteigerung der Mitarbeitenden und deren loyale Bindung an das Unternehmen.

1939 veröffentlicht der in die USA emigrierte Kurt Lewin (1890–1947) gemeinsam mit Ralph White und Ronald Lippit seine Studien über die Auswirkungen eines demokratischen und eines autoritären sozialen Klimas auf die Arbeit und Leistung von Gruppen1[21]. Dies markiert den Ausgangspunkt für drei große Innovationen Lewins, die bis heute grundlegend für das Verständnis von Führung und Beratung sind: die Gruppendynamik als neue wissenschaftliche Disziplin, die Methode des Action Research, und Lewins Change-Modell.

1945 wurde am Massachusetts Institute of Technology (MIT) das Research Center for Group Dynamics2  gegründet, um Grundlagenforschung zur Gruppendynamik in sechs Programmbereichen zu betreiben: Gruppenproduktivität, Kommunikation und Einflussverbreitung, Gruppenmitgliedschaft und soziale Wahrnehmung, Intergroup-Beziehungen, Gruppenmitgliedschaft und Anpassungsverhalten sowie Training von Führungskräften und Verbesserung von Gruppenprozessen mit dem speziellen Fokus auf der Einführung von Veränderungen und dem Umgang mit Widerständen.

Der letzte Programmbereich führte 1946 zur Gründung der National Training Laboratories (NTL), wo Ausbilder und Führungskräfte mit der T-Gruppen-Methode für erfahrungsbasiertes Lernen trainiert wurden, um typische Prozesse, Strukturen und Dynamiken in Kleingruppen zu verstehen. Die Leistung einer demokratisch interagierenden Gruppe beim Lösen komplexer Aufgaben liegt bei entsprechender Führung höher als die beste Einzelleistung ihrer Mitglieder. Bis Kleingruppen diesen Gruppenvorteil erreichen können, durchlaufen sie typische Reifungsphasen mit spezifischen Zusammenarbeitsmustern, die Bruce W. Tuckman 1965 Forming, Storming, Norming und Performing nannte.[22]

Der Methode der Gruppendynamik ist die Entdeckung von Feedback zu verdanken. Zufällig beobachtete man, dass Teilnehmende auf Aussagen, die ihr eigenes Verhalten betrafen, wie auf einen „gewaltigen elektrischen Stromstoß“3 reagierten. Feedback auf und Selbstbewertungen von Verhalten wurden bald als eigene Intervention in den Gruppendynamik-Trainings eingerichtet – mit dem Ergebnis, dass die Teilnehmenden durch Feedback und Reflexion ihrem eigenen Verhalten gegenüber sensibler und veränderungsbereiter wurden.

Lewins Methode des Action Research verortete sich im symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Soziologieschule, der besagt, dass Menschen mit ihren Handlungen nicht auf die Dinge selbst, sondern auf die Bedeutungen reagieren, die sie den Dingen zuschreiben. Diese Bedeutungs-Zuschreibungen entstehen in einem interpretativen Prozess in sozialen Interaktionen. Action Research ist ein methodisches Vorgehen, um die Muster sozialer Handlungen zu untersuchen, um zu neuen, angemesseneren Handlungsoptionen zu finden. Dies ist in der Regel umso wirkungsvoller, je mehr die Betroffenen in die Problemdefinition und -Lösungsfindung einbezogen sind.

1946 erhielt Kurt Lewin einen Auftrag, wirksame Methoden für die Bekämpfung religiöser und rassistischer Vorurteile zu finden. Sein daraus entwickeltes Change-Modell[23] – seither die Grundlage für die Gestaltung von geplantem Wandel – geht von einem dreistufigen Prozess4 aus: In der „Unfreezing-Phase“ geht es darum, Trägheit und Widerstand zu überwinden und das bestehende „Mindset“5 zu explizieren. Die „Move-Phase“ ist eine Transition: Bestehende Handlungsmuster lösen sich auf, ohne dass noch klar ist, welche neuen Muster an ihre Stelle treten werden. Letztere kristallisieren sich erst in der „Freeze-Phase“ heraus, in der sich ein neues Mindset festigt. Lewin hat mit seiner „Hockeyschläger-Kurve“6 den für Change typischen Abfall in der Systemleistung beschrieben, dem erst später ein Anstieg der Systemleistung über das Ausgangsniveau folgt. Diese Kurve ist bis heute die – meist unzitierte – Grundlage der meisten Change-Konzepte.

Der Erkenntnis, dass soziale Beziehungen, Einstellungen und Gruppennormen leistungsbestimmende Faktoren sind, folgte also bald das Unterfangen, mithilfe des Dreigestirns von Action Research, Change-Modell und Gruppendynamik solche Normen, Einstellungen und sozialen Handlungsmuster zu verstehen und gezielt zu verändern.

1943 publizierte Abraham Maslow (1908–1970) seine Theorie der Bedürfnishierarchie, die von der Prämisse ausgeht, dass Menschen durch ein angeborenes Wachstumspotenzial angetrieben sind, ihr höchstes Ziel, Selbstverwirklichung, zu erreichen – vorausgesetzt, tiefere Bedürfnisebenen wie physiologische Bedürfnisse z. B. nach Nahrung, Schutz vor Kälte usw. sowie Sicherheitsbedürfnisse und darauf folgend soziale Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Austausch sind erfüllt7[24]. Ab 1954 übertrug Douglas McGregor (1906–1964), selbst Gruppendynamiker aus dem Kreis um Kurt Lewin, Maslows Bedürfnistheorie auf die Arbeitswelt.

Auf Basis all dieser Einflüsse und Forschungen differenzierte sich Anfang der 1950er-Jahre der Human-Relations-Ansatz aus, der Organisationen als Orte beziehungsbasierten sozialen Handelns in Gruppen versteht und die Erfolgsfaktoren von Führung in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nach Individualität, sozialer Zugehörigkeit und Arbeitszufriedenheit durch Selbstverwirklichung sieht – alles zu erreichen durch einen angemessenen Führungsstil, auf den Führungskräfte in eigenen Schulungen trainiert werden können.

1.2.2   Theorie X, Y, Z ...

Vor dem Hintergrund der damals bewegenden Frage, was der ‚richtige’ Führungsstil sei, wurde aus McGregors 1960 erschienenem Buch The Human Side of Enterprise vor allem die Unterscheidung der Menschenbilder über Mitarbeitende, die Theorie X und die Theorie Y, rezipiert. Tatsächlich wollte McGregor allerdings gar nicht die Theorie Y als die ethisch-moralisch überlegene propagieren, sondern darauf hinweisen, wie eng das Menschenbild, das eine Führungskraft über ‚den’ Mitarbeitenden hat, sein Führungsverhalten prägt, was in der Folge wieder zu einer Bestätigung des Menschenbildes und zu einem rekursiven Kreislauf zwischen Annahmen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen führt.

McGregors „Theorie X“ übernimmt die Annahmen des Taylorismus8[25] und geht davon aus, dass der Mensch eine angeborene Abneigung gegen Arbeit hat und Leistung verweigert. Er ziehe Routineaufgaben vor, scheue sich vor Verantwortung, entwickle keinen Ehrgeiz bezüglich der Ergebnisse seiner Arbeit. Die Führung eines solchen Mitarbeitenden setze die detaillierte Vorgabe und nachgehende Kontrolle jedes seiner Handlungsschritte voraus; ohne Zwang, Regeln und Sanktionierung durch den Vorgesetzten werde der oder die Mitarbeitende keine effiziente Arbeitsleistung bringen. Die „Theory Y“ übernimmt die Prämissen des Maslow’schen Bedürfnismodells. Menschen seien von Natur aus leistungswillig, sie besäßen Kreativität, Arbeit sei eine Quelle für soziale Zugehörigkeit, die Befriedigung von Ich-Bedürfnissen und das Streben nach Selbstverwirklichung. Angemessene Führung setze Ziele und sorge für eine Arbeit, die Herausforderungen berge, eigenständige Gestaltungsmöglichkeiten und einen hohen Grad an Eigeninitiative und Selbstbestimmung des oder der Mitarbeitenden ermögliche.

McGregor wurde kritisiert, dass die Theory Y eine unrealistische normative Vorgabe sei. 1964 schlug er deshalb eine Synthese in Form der „Theorie Z“ vor, die William Ouchi (1943–2011) im Jahr 1981 aufgriff, um darin den damals hippen japanischen Managementstil zu verpacken: Mitarbeitende wollen Teil eines Kollektivs und an Entscheidungen beteiligt sein, dann seien sie hoch motiviert und hoch produktiv. Gute Führung sorge für intakte soziale Beziehungsgefüge, verzichte auf formale Regelungen und zeige Interesse durch Management by Wandering Around.[26]

Edgar Schein (geb. 1928) nahm die ursprüngliche Absicht McGregors auf und stellte nach der historischen Entwicklung vier Sets von „managerial assumptions about humans“ jeweils entsprechenden Konsequenzen für Führung und Organisation gegenüber. Demnach wurde das Bild des „rational economic man“, das weitgehend deckungsgleich mit dem der Theorie X war, vom Bild des „social man“ abgelöst, das dem Human-Relations-Ansatz entsprach. Darauf folgte das Konzept des „self-actualizing man“, das weitgehend mit dem der Theorie Y übereinstimmte, und schließlich das des „complex man“9. Letzteres besagt, dass Menschen vielfältige, situationsabhängige und miteinander interagierende Motive besitzen und je nach Lebenssituation andere Motivlagen aufweisen können. Der „psychomaterielle Kontrakt“ zwischen Organisation und Mitarbeitenden solle deshalb herausfordernde Aufgaben zu Beginn der Organisationszugehörigkeit vorsehen und in späten Lebensabschnitten einen Tausch von Loyalität gegen Fürsorge anbieten. Grundsätzlich solle Arbeit so gestaltet sein, dass sie für die Mitarbeitenden eine Entwicklungsstrecke bietet, in der auch neue Fähigkeiten entwickelt und ausgebaut werden können.

1.2.3   Die Führungsstilforschung

Neben der grundsätzlichen Dichotomie zwischen Theorie X und Y gab es zur Zeit des Human-Relations-Ansatzes eine Reihe von Modellen, die zwar letztlich ein klares Votum für den bestmöglichen Führungsstil abgaben, aber konzedierten, dass dieser auf dem Weg dahin an die Umstände angepasst werden könne.[27]

Ein Beispiel dafür ist das „Führungskontinuum“ von Robert Tannenbaum und Warren H. Schmidt, das 1958 sieben Führungsstile unterscheidet: autoritäre, patriarchalische, beratende, konsultative, partizipative, delegative und demokratische Führung. Führungskräfte sollten je nach Art des Problems oder der Situation und abhängig von Kompetenz und Engagement der Mitarbeitenden sowie von ihrem eigenen Vertrauen wählen.

1964 stellten Robert Blake und Jane Mouton ihr Managerial Grid: The Key to Leadership Excellence vor. Im „Managerial Grid“, das sie auf der Basis wissenschaftlicher Forschungen für ein Führungstraining entwickelt hatten, kombinierten sie insgesamt neun Ausprägungen von Sachorientierung mit neun Ausprägungen von Personenorientierung zu unterschiedlichen Führungsstilen. Führungsstil 1,1 „Überlebensmanagement“ galt als der schlechteste, der weder auf die Mitarbeitenden noch auf die Ergebnisse Wert legt, Stil 1,9 „Glacéhandschuh-Methode“ verfolgt freundliche zwischenmenschliche Beziehungen, vernachlässigt dabei die Ziele, Stil 9,9 „Teammanagement“ sollte als bester Führungsstil immer angestrebt werden. Einfluss auf die Wahl eines Führungsstils haben die Situation und die Organisation, in der sich die Mitarbeitenden befinden und die Persönlichkeit und Werthaltungen der Führungskraft. Deshalb brauche es eine Einschulung auf den Führungsstil 9,9.

Einen ähnlichen Zugang wie das Managerial Grid boten Paul Hersey und Kenneth Blanchard 1969 mit ihrem Modell des[28]situativen Führens, in dem sie je nach „Reifegrad“ des Mitarbeitenden – eine Resultante aus Motivation und Fähigkeit – eine Mischung zwischen Sach- und Personenorientierung anboten, die sie mit den idealtypischen Führungsoptionen Dirigieren, Überzeugen, Partizipieren und Delegieren beschrieben.

1.2.4   Das Verständnis von Organisationen im Human-Relations-Ansatz

So wie im ingenieurtechnischen Ansatz des Scientific Management das Verständnis von Management als technokratische Ingenieurwissenschaft eng mit dem von Organisationen als triviale, berechenbare Maschinen verbunden war, so transportiert auch der Human-Relations-Ansatz mit seinem Verständnis von Führung, die durch Humanisierung der Arbeitswelt menschliche Bedürfnisse erfüllen soll, ein ganz bestimmtes Verständnis von Organisationen.

Diese Organisationstheorie wurde Ende der 1960er-Jahre von Richard Beckhard10 formuliert. Sie überträgt Konzepte aus der Individualpsychologie und Psychiatrie auf Organisationen und versteht sich als präskriptiv bzw. normativ. Danach sind Gruppen die Bausteine von Organisationen; ihre Prozesse und Dynamiken bestimmen das Verhalten der Organisationsmitglieder. Entwicklungsziele für eine gesunde Organisation sind offene Kommunikation, gegenseitiges Vertrauen und Selbstvertrauen innerhalb und zwischen den Hierarchiestufen, Abbau von Konkurrenz, Aufbau von Kooperation. Entscheidungen sollten von denjenigen getroffen werden, die im Besitz der Information sind – nicht von einem bestimmten Rollenträger oder einer bestimmten Hierarchiestufe. Organisationen, Organisationseinheiten und Individuen richten ihr Verhalten immer an Zielen aus. Kontrolle diene der Messung zwischendurch; sie dürfe nicht die Grundlage für Führungsstrategien sein. Menschen unterstützen die Lösungen, die sie mitentwickelt haben, sie sollten deshalb als Betroffene bei Veränderungen beteiligt werden.[29]

Organisationen mit „geistiger Gesundheit“ weisen nach Warren Bennis11 folgende Merkmale auf: Identität, indem die Organisationsziele von den Mitarbeitenden verstanden und geteilt werden, Anpassungsfähigkeit, indem sie durch Erfahrungslernen und Problemlösung ihre Umgebung meistern und Realitätsorientierung als Fähigkeit, die eigene Lage in der Welt korrekt wahrzunehmen. Das Merkmal der Realitätsorientierung setze einen effektiven Austausch mit der Umwelt voraus, bei dem erfolgreiche Organisationen ähnlich vorgehen wie Wissenschaftler: Sie zeigen Forschergeist, reflektieren über Probleme, sind bereit zu experimentieren und Ideen zu testen und teilen eine Kultur, die „Rationalität, Vielseitigkeit, Individualität, Gemeinsamkeitsgrad und Selbstlosigkeit“ pflege und keine Autorität als eine wissenschaftliche anerkenne.

1.3   Rahmenbedingungen für Organisationen und Führung im Industriezeitalter

[30]

1.3.1   Gesellschaftliche und wirtschaftliche Prämissen von Organisationen und Führung im Industriezeitalter

[31]

Der Fantasieraum zu diesem Gesellschaftsmodell war durch Fords Vision der Massenproduktion in Verbindung mit dem Massenkonsum geöffnet worden. Der Human-Relations-Ansatz baute sie zur Utopie der Erfüllung höchster existenzieller menschlicher Bedürfnisse aus. Das war kein Zufall, denn in diesem Zeitalter speiste sich der Antrieb von Millionen Menschen aus spürbarem Mangel und dem Wunsch diesem zu entkommen und gesellschaftlich aufzusteigen. Es gibt wenig Narrative, die so vielen Menschen so oft und in so vielen Varianten erzählt wurden, wie der vom Aufstieg des Tellerwäschers vom Proletariat in die Mittelschicht.[32]

mentalen Modell des Rationalitätsglaubens

Im Industriezeitalter wurden auch die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse als effektiv und zweckmäßig angenommen. Scientific Management und Human-Relations-Ansatz gingen von der Selbstverständlichkeit einer stabil geschichteten sozialen Ordnung mit trennscharf segmentierbaren gesellschaftlichen Gruppen aus, von eindeutigen Lebensentwürfen und schlüssigen Skripten, die entlang der Leitplanken gesellschaftlicher Normen verliefen. Ausbruchversuche wurden zwar thematisiert, fanden aber entweder ein Happy End im Sinn gesellschaftlicher Normvorgaben oder ein Scheitern der Ausbrecher an elterlichen oder religiösen Autoritäten nach dem Motto „Denn sie wissen nicht, was sie tun“.[33]

Mit den Führungstheorien des Scientific Management und des Human-Relations-Ansatzes waren also tatsächlich die wesentlichen Gestaltungsfelder zumindest im Mittelmanagement bzw. auf Shopfloor-Level bespielt. Alle anderen Führungsaufgaben – strategische Zielsetzungen, Vorgabe von Entscheidungsprämissen, Strukturierung des großen Ganzen, z. B. durch Spartenorganisation bei GM – waren, wie die Kapitalaufbringung, Aufgabe des Entrepreneurs oder der oberen Managementebenen. Die interne Organisationswelt war genauso trennscharf in Hierarchieebenen geschichtet wie die Gesellschaft.[34]

1.3.2   Warum sich Führungs- und Organisationsverständnis des Industriezeitalters so nachhaltig perpetuieren ...

The Human Side of Enterprise

[35]

  • Der Ansatz des Scientific Management war schon 1921 vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) aufgenommen worden. 1924 wurde der REFA – Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung gegründet. Ab den 1960ern erweiterte dieser sein ursprüngliches Portfolio „Rationalisierung“ um Methoden für die „menschengerechte Arbeitsgestaltung“ und integrierte in den 1990ern neue Organisationskonzepte wie Lean Production, Total Quality Management (TQM), Geschäftsprozessmanagement. Heute versteht er sich als „Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung“.

  • Mitte der 1940er-Jahre rief Alfred Sloan die erste universitäre Managementausbildung am MIT (Massachusetts Institute for Technology) ins Leben und sponserte dort 1950 die später nach ihm benannte „Alfred Sloan School of Management“, an der sich seitdem so gut wie alle großen Managementgurus US-Amerikas lehrend oder lernend die Klinke in die Hand gaben. Einer der ersten war Douglas McGregor, der 1960 dort den Human-Relations-Ansatz bekannt machte.

  • Ab Mitte der 1965er-Jahre trainierten die NTL (siehe siehe Teil 1, Kap. 1.2.1, S. 9) Führungskräfte aus allen gesellschaftlichen Bereichen. Praktisch alle Pioniere aus Führungsforschung und den Anfängen der Organisationsberatung waren aktive Gruppendynamiker, die Kurse durchführten.[36]

  • Das einwöchige „Managerial Grid Training“ wurde weltweit lizensiert und fand Ende der 1960er-Jahre – ebenso wie Gruppendynamik-Laboratorien – in Europa Eingang in die ersten Managementinstitute, die Kammern und öffentliche Träger um diese Zeit zur Qualifizierung von Unternehmensleitern einrichteten.

12

  • Er rekrutierte auch Richard Beckhard, Warren Bennis und Edgar Schein in den engen Kreis der ersten Gruppendynamiker, dem er selbst angehörte.

  • Mit der Dichotomie zwischen Managern und Leadern (siehe Kap. 2.5) und seinen Büchern über Leadership13 prägte Bennis – auch er war Dozent am MIT – den Diskurs um die Bedeutung von Leadership. In ähnlicher Weise wurde sein Buch über Hochleistungsteams Trendsetter für die Teamliteratur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts.[37]

  • Gleiches gilt für Edgar Schein, der die Methoden des Organizational Development zum Ansatz der Prozessberatung weiterspann, die Theorie der Organisationskultur entwickelte und diese sowohl für die Organisationsentwicklung als auch für Führung – siehe sein Buch Organizational Culture and Leadership – aufbereitete. Schein hielt über viele Jahre einen Lehrstuhl für Organisationspsychologie und Management an der Alfred Sloan School of Management.

The Human Side of The Enterprise14

[38]

1.4   An den Profi: Hand aufs Herz ...

Wie angemessen, wie hilfreich und wirkungsvoll ist das Führungsverständnis des Industriezeitalters aber angesichts der Herausforderungen, vor denen Führung heute in Organisationen steht? Wie passen das Organisationsverständnis des Scientific Management und des Human-Relations-Ansatzes zur heutigen Erfahrungswelt in Organisationen? Hat sich das Portfolio der Themen, die Führung in Beobachtung halten und Entscheidungen zuführen muss, nicht längst dramatisch verlagert und umstrukturiert? – Das ist jedenfalls der grundlegende Tenor des jüngeren Diskurses in Managementtheorie und -praxis, verbunden mit dem Appell, dass dem auch neue Sets von Leadership-Kompetenzen und neue Ansätze im Leadership Development folgen müssen.

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