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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print:ISBN: 978-3-7910-3165-1Bestell-Nr.: 20193-0001
ePDF:ISBN: 978-3-7992-6611-6Bestell-Nr.: 20193-0150
ePub:ISBN: 978-3-7910-4045-5Bestell-Nr.: 20193-0100

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Umschlagentwurf: Goldener Westen, Berlin
Umschlaggestaltung: Kienle gestaltet, Stuttgart
Lektorat: Friederike Moldenhauer, Hamburg
Satz: kühn & weyh Software GmbH, Satz und Medien, Freiburg

Juni 2017

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart
Ein Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

Geleitwort

Kathleen M. Sutcliffe

In jeder Organisation werden wir früher oder später mit Ereignissen konfrontiert, die wir nicht kommen gesehen haben. Diese Vorfälle stellen unsere Resilienz auf die Probe. Dabei kommt es darauf an, wieweit wir in der Lage sein werden, adäquat zu reagieren und unsere Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.[2]

Annette Gebauer zeigt in diesem klugen und sehr lesenswerten Buch zahlreiche Wege auf, wie Unternehmen mit unerwarteten Ereignissen erfolgreich umgehen können. Neben einem umfassenden Überblick über organisationale Strategien, um unter schwierigsten Bedingungen Tag für Tag Spitzenleistungen zu erbringen werden die wichtigsten Konzepte anhand von Fallbeispielen und Interventionen aus der Praxis dargestellt. Nur wenige Bücher bieten sowohl eine zeitgemäße Darstellung achtsamen Organisierens, das auf ein wirksames Managen des Unerwarteten zielt, als auch eine Hilfestellung, wie diese Praktiken im organisationalen Alltag umgesetzt werden können. Ansprechend und lesbar geschrieben können verschiedene Berufsgruppen davon profitieren – vom Topmanagement über mittlere Führungskräfte und Linien-Manager bis zu denjenigen, die in der Organisation an vorderster Front tätig sind. Nur wenig Vordenker haben sich bisher mit diesem Thema intensiv beschäftigt und die Konzepte erfolgreich in die Praxis umgesetzt. Und nur wenige Experten haben ein so tief greifendes Verständnis für die Feinheiten von Unternehmen und Abläufen entwickelt und engagieren sich dafür, dass Organisationen die notwendigen Veränderungen nachhaltig umsetzen und somit besser werden.

Antizipation und Resilienz

Das Buch folgt der Einsicht, dass um eine äußerst zuverlässige Organisation zu entwickeln, die ihr anspruchsvolles Leistungsversprechen auch unter sich verändernden Bedingungen einlösen kann, die Fähigkeit erforderlich ist, auch angesichts von Mehrdeutigkeiten und Unsicherheit Sinn herzustellen. Leadership und Strategie beeinflussen das Denken von Führungskräften hinsichtlich zukünftiger Organisationsziele.[3]

Operative Exzellenz erfordert zum einen ein profundes Verständnis für die Beziehungen im System und die Art und Weise, wie die Arbeit erledigt wird. Darüber hinaus müssen die Organisationsmitglieder modernste Analysetools und -methoden einsetzen, um Ereignisse, die nicht passieren dürfen, vorwegzunehmen sowie ihre kausalen Vorläuferereignisse auszumachen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Leistungsfähigkeit entsteht dann durch die Abwesenheit von Varianz (z. B. indem man Aufgaben mithilfe von Routinen, Prozessen und Strategien immer gleich ausführt).

Wie dargelegt sind hochzuverlässige Organisationen besessen von dieser Logik der Vorwegnahme. Sie nutzen moderne Analysemethoden, um das Verhalten der Organisationsmitglieder zur effektiven Sicherung der Leistung zu kontrollieren. Diese Form der Antizipation reduziert Unsicherheit und die Fülle an Informationen, die verarbeitet werden muss. Ebenso reduziert sie die Gefahr, dass Erinnerungslücken, Fehleinschätzungen oder andere Verzerrungen passieren, die zu Störungen und Versagen beitragen können. Diese Vorwegnahme leitet Lernprozesse ein, schützt den Einzelnen vor Schuldzuweisungen, wirkt idiosynkratischen informellen Anpassungen entgegen und bietet Anlass für mögliche Verfahrensänderungen und Prozessanpassungen.[4]

Doch wie Annette Gebauer unterstreicht, können die existierenden Verfahrensabläufe nicht verarbeiten, was sie nicht antizipieren können. Antizipation ist nur ein Teil der Story. Um angesichts unerwarteter Überraschungen wirklich zuverlässig zu funktionieren, gehen die meisten hochzuverlässigen Organisationen einen Schritt weiter: Sie stärken ihre Resilienz, ihre Fähigkeit, in Echtzeit flexibel zu reagieren, Ressourcen zu reorganisieren und Maßnahmen zu ergreifen, um trotz unvorhergesehener Überraschungen, Variationen oder umfassendem Versagen funktionstüchtig zu bleiben. Dazu braucht es kollektive Achtsamkeit.

Kollektive Achtsamkeit

Kollektive Achtsamkeit, so zeigt Annette Gebauer im ersten Teil, kann uns davor schützen, von Überraschungen überwältigt zu werden. Kollektive Achtsamkeit ist mehr als ein kognitiver Zustand oder die Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bündeln. Sie besteht in einem umfassenden Gewahrsein für Details und der Fähigkeit, unerwartete Ereignisse zu entdecken und sie zu managen. Kollektive Achtsamkeit ist ein Weg, klarer zu sehen, nicht klarer zu denken. Es geht um die Qualität der Aufmerksamkeit, die in der Organisation praktiziert wird, ihre Stabilität, Dauerhaftigkeit und Lebendigkeit. Achtsam zu sein bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: Statt sich auf Dinge zu konzentrieren, die das eigene Denken bestätigen, lautet das Ziel, Hinweise zu suchen, die das Gedachte infrage stellen oder unangenehm sind.[5]

Organisationen, die achtsam agieren, schaffen durch ihre Prozesse eine Aufmerksamkeitsqualität, die es ermöglicht, Signale dafür, dass die Dinge nicht wie erwartet laufen, deutlicher und früher wahrzunehmen. Zudem können die Betroffenen resilienter agieren, sobald unerwünschte Prozesse auftreten. Unfälle und Versagen sind in den seltensten Fällen das Resultat von Einzelhandlungen (auch wenn es natürlich die Tendenz gibt, die Schuld Einzelnen zuzuschreiben) und lassen sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Oft verbinden sich kleine Vorfälle miteinander und weiten sich dann aus. Deswegen müssen Organisationen lernen, früh kleine Irrtümer und Fehler zu entdecken und zu korrigieren, bevor sie sich zu größeren auswachsen. Solange Probleme klein sind, bestehen oft vielfältige Lösungsoptionen. Werden sie größer, tendieren Probleme dazu, sich mit anderen Schwierigkeiten zu verstricken, was die Auswahl an Lösungsmöglichkeiten deutlich einschränkt.

Gestaltung einer kollektiv achtsamen Organisation

In den letzten beiden Teilen ihres Buches zeigt Annette Gebauer, wie jede Organisation kollektive Achtsamkeit durch entsprechende Führungs- und Teambildungspraktiken erzeugen kann und wie Unternehmen adäquate Umsetzungsprozesse anstoßen können. Diese Vorgehensweisen gehören mit der Zeit natürlich zu der Art und Weise, wie die Organisation agiert – der Stoff, aus dem ihre Kultur gemacht ist.

Oft hört man in Organisationen: „Wenn wir nur eine bessere Kultur hätten, wäre die Leistung bei uns auch besser und sehr viel zuverlässiger.“ Ob das stimmt, ist schwer zu beurteilen, denn oft bleiben solche Aussagen eher vage und nur in den seltensten Fällen greifen sie konkrete Themen auf, wo etwas falsch läuft. Kulturwandel ist ein langer, beschwerlicher Weg. Wer sich mit dem Thema Organisationskultur beschäftigt, weiß, dass der Wunsch, die Kultur zu ändern, nie am Anfang stehen sollte. Man fängt immer mit den bestehenden Problemen an, für die eine Organisation eine Lösung sucht. Es geht darum, eingehender zu analysieren, um diese Probleme besser verstehen zu können. Wie verhalten sich die Mitarbeiter, wie sie sich ihrer eigenen Meinung nach nicht verhalten sollten? Was tun sie nicht, was sie ihrem Ermessen nach aber tun sollten? Und warum ist das so? Um einen Kulturwandel zu erreichen, muss man zunächst damit anfangen, sich mit den operationalen Problemen zu beschäftigen, die direkt vor einem liegen. Wenn es gelingt, Menschen dazu zu bringen, sich anders zu verhalten, entsteht eine neue Kultur. Sie nimmt die Form eines neuen Sets von Erwartungen und Standards (Normen) an, mit neuer Dringlichkeit werden die Mitarbeiter diesen Erwartungen und Standards auch gerecht. Sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte übernehmen neue Werte, Überzeugungen, Einstellungen und Gewohnheiten im Tun.[6]

Eine wirksame Organisationskultur wird von ihren Führungskräften durch ihre Handlungen und die von ihnen gestalteten Systeme ermöglicht, sie wird von Organisationsmitgliedern hervorgebracht, indem sie vorhandene Instrumente und Technologien nutzen und die Prozessrichtlinien und Verfahrensvorgaben in der Praxis anwenden. Mit der Zeit werden diese kontinuierlich weiterausgebaut und gestärkt, weil die Mitarbeiter dazu angeregt werden, über die erbrachte Leistung und andere Feedback-Indikatoren nachzudenken.[7]

Das Schöne an dem vorliegenden Buch ist, dass es uns nicht nur zeigt, was erforderlich ist, um kollektive Achtsamkeit zu entwickeln, sondern auch, wie Organisationen dieses Ziel erreichen können. Die Empfehlungen, die Annette Gebauer ihren Lesern an die Hand gibt, können in ihrem Wert nicht hoch genug geschätzt werden.

Teil I: Theoretische Grundlagen – Einen gemeinsamen Kompass entwickeln

 

1   Einführung: Warum kollektive Achtsamkeit?

Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt uns die Frage, wie zuverlässigkeitsorientierte Organisationen angemessene Formen für den Umgang mit Risiken und hoher Komplexität entwickeln können: Unternehmen der chemischen oder der Schwerindustrie, Krankenhäuser, Banken, Automobilhersteller, Dienstleister oder Pharmakonzerne. Wenn diese Unternehmen sich an uns wenden, stellen sie sich meistens folgenden Fragen: Wir tun so viel für Sicherheit, Qualität oder für das Risikomanagement – teilweise tun wir sogar zu viel und trotzdem passieren noch immer unerwartete und unerwünschte Vorfälle, die wir uns in Zukunft aber nicht mehr leisten können. Tun wir überhaupt die richtigen Dinge? Und wie tun wir die Dinge, die wir tun?[8]

Viele dieser Unternehmen erwägen einen grundlegenden Musterwechsel im Umgang mit Risiken, denn das Prinzip „mehr Systeme und mehr Vorgaben“ funktioniert für sie nicht mehr. Sie erleben, wie ihr bisheriges Muster, Unsicherheit ausschließlich durch Kontrolle und immer weiter ausufernde Vorgaben zu bearbeiten, an eine Grenze stößt.

Dieses Buch widmet sich der Frage, wie alternative, angemessenere Formen des Organisierens für die Bewältigung von Risiken und Komplexität aussehen und wie sie in der Praxis nachhaltig umgesetzt werden können. Wir stützen uns dabei auf die Erkenntnisse besonders zuverlässiger Organisationen, die es geschafft haben, ihre Leistungsfähigkeit durch das gezielte Organisieren ihrer kollektiven Achtsamkeit zu steigern.

Steigende Anforderungen an die Bearbeitung von Komplexität und Risiken

So unterschiedlich die Anforderungen der genannten Unternehmen sind – sie alle stehen vor der Herausforderung, ein steigendes Ausmaß an Risiken, Komplexität und Dynamik bewältigen zu müssen, sei es durch den zunehmenden Einsatz hoch spezialisierter Technologien, der digitalen Transformation oder aufgrund fortschreitender Globalisierung. Neue Risiken entstehen zudem durch einen reflexiven Umgang mit Gefahren: Risikoerwartungen führen zu unerwarteten Verhaltensveränderungen, die neue Risiken und Ungewissheiten produzieren.

Zeitgleich steigen die Erwartungen der Außenwelt an die Zuverlässigkeit dieser Organisationen. Kunden, Patienten, Mitarbeiter, Regulierungsbehörden und die mediale Öffentlichkeit beobachten sie kritisch und verlangen von ihnen Berechenbarkeit und Transparenz. Krankenhäuser stehen zum Beispiel zunehmend in der Pflicht, Auskunft über Patientensicherheit und Behandlungsqualität zu geben und müssen sich mit den Leistungskennzahlen anderer Häuser vergleichen. Banken müssen die Auflagen der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) der Finanzaufsichtsbehörde erfüllen, ebenso wird ihr Umgang mit operationellen Risiken kontrolliert. Produzierende Unternehmen sind verpflichtet, über ihre Performance in der Arbeits- und Umweltsicherheit oder im Risikomanagement zu berichten und werden danach bewertet. Weil sie in einem riskanten Umfeld tätig sind, dürfen sich diese Unternehmen nur eine minimale Anzahl an unerwarteten, unerwünschten Ereignissen leisten.[9]

Sicherheit als Trend

Nicht das Thema Risiko, sondern das Thema Sicherheit hat Hochkonjunktur. Das Institut für Zukunftsstudien wertet Sicherheit bereits als neuen Megatrend (vgl. Seitz, 2015). Anders als der Begriff Risiko ist der Wunsch nach mehr Sicherheit mit der Vorstellung verbunden, dass es einen bereits erreichten „sicheren“ Zustand zu erhalten und zu schützen gilt. In Zeiten erlebter Unsicherheit ist es offenbar naheliegender, den Schutz der Sicherheit zu fordern, statt sich mit selbst produzierten Risiken auseinanderzusetzen. Der Ruf nach mehr Sicherheit führt allerdings häufig zu einer sich selbstverstärkenden Spirale: Die Sensibilität für erlebte Unsicherheit steigt und damit wiederum der Anspruch an Sicherheit.[10]

Sinnvoller wäre es, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass wir mit jeder unternehmerischen Entscheidung zwangsläufig Risiken produzieren und dass die Aufgabe darin besteht, für diese Risiken angemessene Bewältigungsformen zu entwickeln. Wir behandeln Sicherheit deshalb nicht als eine Frage von Security oder geeigneten Schutzmaßnahmen, wie es auch das Institut für Zukunftsstudien sieht. Es geht darum, wie Organisationen die notwendige Resilienz oder gar Antifragilität (vgl. Taleb, 2012) entwickeln, um mit unerwarteten Veränderungen, Brüchen und Krisen umgehen zu können.

Alte Bewältigungsmuster reichen nicht mehr aus

Geht es um die Bearbeitung von Sicherheits- bzw. Risikofragen, verfolgen viele Unternehmen immer noch vor allem kontrollorientierte Strategien. All diesen Bemühungen ist der Versuch gemein, das „Problem der Komplexität“ durch Regulierung und Technisierung zu lösen. Das Unbeherrschbare soll beherrschbar, das Unerwartbare erwartbar gemacht werden.

Mit diesem Vorgehen haben viele Unternehmen einiges erreicht. Sie haben zum Beispiel umfangreiche Systeme für das Risiko-, das Sicherheits- oder das Qualitätsmanagement eingeführt und haben sich zertifizieren lassen. Konzerne schulen ihre Mitarbeiter vorschriftsmäßig und führen regelmäßig Initiativen zu ihrer zusätzlichen Motivierung durch. Diese Sicherheitsstrategien haben in den ersten Jahren zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Kennzahlen geführt. Doch mittlerweile klagen viele Unternehmen, sie kämen über ein bestimmtes Niveau in der Risikobewältigung nicht hinaus, während die Komplexität ihrer Sicherheitsherausforderungen sowie der Anspruch an Sicherheit steige.[11]

Es lässt sich beobachten, dass in besonders sicherheitsorientierten Unternehmen die formalen Systeme aus Vorschriften, Regeln, Checklisten und Prozessvorgaben, Ampelsystemen, Dokumentationspflichten, Statistiken oder Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein Eigenleben entwickeln und als wenig effektiv und extrem zeitaufwendig erlebt werden. Banken und Chemieunternehmen gehören zum Beispiel zu den am stärksten regulierten Branchen. Neue Vorgaben für das Risikomanagement in Krankenhäusern lassen vermuten, dass diese Systemlogik nun auch auf das Gesundheitswesen übertragen wird. Kontrollorientierte Strategien im Umgang mit Komplexität, Risiko und Unsicherheit führen dazu, dass Mitarbeiter nur noch Systembefriedigung betreiben. Damit wird ihre Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problemen und Risiken abgelenkt. Die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen sinkt. Mitarbeiter sichern sich lieber in alle Richtungen ab, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Entwicklung einer Sicherheits- bzw. Risikokultur als Lösung?

Weil die Erfolge etablierter Managementsysteme für den Arbeits- und Umweltschutz, das Risikomanagement oder die Qualitätssicherung ausbleiben, sehen viele Entscheider die Lösung in einer neuen Kultur. Hinter der Forderung steckt häufig der Wunsch nach einem „ganzheitlichen Ansatz“. Dieser soll sich zum Beispiel in den Unternehmenswerten, im Verhalten und den Einstellungen der Führungskräfte und Mitarbeiter sowie der Zusammenarbeit in der Organisation niederschlagen. So definiert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht in ihren Mindestanforderungen an das Risikomanagement für Banken (MaRisk) einen unternehmensweiten Ansatz zum Risikomanagement (ERM) sowie die Entwicklung der Risikokultur. In einem Rundschreiben fordert der Exekutivdirektor der Bankenaufsicht Röseler die Unternehmensführung aller Banken auf, die Entwicklung dieser Risikokultur aktiv voranzutreiben (vgl. Rundschreiben der Bafin vom 18.02.2016). Auch Krankenhäuser, Chemie- und Industrieunternehmen suchen verstärkt nach Wegen, ihre Sicherheits- bzw. Risikokultur weiterzuentwickeln. Ebenso hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallversicherung (DGUV) jüngst eine zehnjährige Kampagne zur Entwicklung der Präventionskultur für Sicherheit und Gesundheit ins Leben gerufen, die nun von den Berufsgenossenschaften umgesetzt werden soll (DGUV, 2016).[12]

Organisieren kollektiver Achtsamkeit

Wenn man Führungskräfte oder Experten fragt, wie die geforderte neue Sicherheits- oder Risikokultur aussehen soll, gehen die Meinungen schnell auseinander. Ein erster wichtiger Schritt in der Kulturentwicklung ist deshalb, mit der Unternehmensführung ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln und die damit verbundenen, meist impliziten Steuerungs- und Interventionsvorstellungen zu reflektieren: Wie stellen wir uns zuverlässiges Organisieren vor? Wie entsteht „Sicherheit“ bzw. wie sieht aus unserer Sicht eine angemessene Bearbeitung von Risiken und Unsicherheit aus? Was sind aus unserer Sicht erfolgsversprechende Hebel, um Zuverlässigkeit gezielt zu beeinflussen?[13]

Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Bearbeitung dieser Frage liefern die Forschungsergebnisse über sogenannte high reliability organizations, also Organisationen wie Feuerwehren oder Flugzeugträgermannschaften der US Navy, die durch eine überraschend hohe Zuverlässigkeit aufgefallen sind – trotz der hohen Risiken und Unberechenbarkeiten, mit denen sie es zu tun haben.

Bereits 2003 veröffentlichten Weick und Sutcliffe das Buch Managing the Unexpected, das bei Führungskräften und Beratern in den USA und Europa auf große Aufmerksamkeit stieß – vor allem nach aktuellen Krisen (vgl. Weick u. Sutcliffe, 2003). Eine grundlegende Erkenntnis dieses Buches und der vorausgegangenen Forschung ist, dass Zuverlässigkeit, Sicherheit und hohe Leistungsfähigkeit unter Bedingungen von Unsicherheit, Komplexität und hohem Risiko weder allein durch ein wohlgestaltetes System aus Regeln und Prozessen noch durch das Kontrollieren und Beseitigen von Störfaktoren und Fehlern erreicht werden kann. Zuverlässigkeit entsteht den Forschungserkenntnissen zufolge vielmehr durch die organisationale Fähigkeit, sich immer wieder an neue Bedingungen anzupassen. Wenn es um das Überleben im unsicheren Terrain geht, müssen Organisationen und ihre in diesem Umfeld agierenden Teams in der Lage sein, sich auf neue, sich permanent wandelnde Bedingungen einzustellen. Notwendige Voraussetzung für diese „resilienten“ Anpassungsleistungen ist das Vermögen einer Organisation, Sinn zu produzieren, um die entwickelten Erwartungen regelmäßig gegen den Strich zu bürsten und eingespielte Routinen im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. So beobachteten die Forscher in überraschend zuverlässigen Unternehmen wiederkehrende Formen eines high reliability organizing, [14]das bestimmten Prinzipien folgte. Es handelt sich dabei nicht um festgelegte Abläufe oder Handlungsanweisungen. Vielmehr waren es eher kollektive kognitive Routinen, die strukturieren, wie Mitarbeiter und Führungskräfte in unbekannten, hochkomplexen Situationen oder Krisen gemeinsam Sinn produzieren, also ein im Moment tragfähiges Bild von der Wirklichkeit erzeugen. So entsteht die notwendige kollektive Aufmerksamkeit, die es für einen angemessenen Umgang mit Unerwartetem und zuverlässige Leistungen braucht.

Damit rücken Fragen der kontinuierlichen Verbesserung, Agilität und Lernfähigkeit in den Vordergrund. Zuverlässigkeit und Sicherheit sind aus dieser Sicht das Ergebnis permanenter Selbsterneuerung und kontinuierlichen Lernens der Organisation und bilden die Grundlage für die allgemeine, organisationale Leistungsfähigkeit. Weick und Sutcliffe nennen diese neue Qualität der Sinnproduktion auch das Organisieren kollektiver Achtsamkeit (organizing collective mindfulness[15]). Diese zukunftsweisende Form des Organisierens haben wir als Titel für dieses Buch gewählt. Er markiert bereits drei wichtige Aspekte:

Herausforderungen bei der Übersetzung in die Praxis

In unserer Beratungspraxis nutzen wir die in der Folge diskutierten Prinzipien für das Organisieren kollektiver Achtsamkeit für die Entwicklung einer proaktiven Risiko- bzw. Sicherheitskultur. Obwohl das theoretische Wissen und die empirischen Befunde vordergründig überzeugend klingen, tun sich insbesondere sicherheitsorientierte Unternehmen in der Praxis schwer, auf diese Erkenntnisse zu reagieren und ihre Form des Organisierens zu überdenken:

Ziel und Aufbau dieses Buches

Die Entwicklung einer proaktiven Risiko- oder Sicherheitskultur ist ein anspruchsvoller Veränderungsprozess. Das vorliegende Buch bietet Hilfestellung auf diesem Weg. Die Ausführungen basieren auf unseren Praxiserfahrungen, den Erkenntnissen aus der Forschung zum high reliability organizing[19] und resilience engineering, die wir mit Ansätzen des systemischen Managements und Beratung kombinieren.

Das Buch gliedert sich in drei Teile:

  1. Ziel des ersten Teils ist die Entwicklung eines gemeinsamen Kompasses für das Organisieren kollektiver Achtsamkeit für eine proaktive Sicherheits- bzw. Risikokultur: Wir erörtern, was wir unter kollektiver Achtsamkeit verstehen und wo wir geeignete Ansatzpunkte für ihre Entwicklung sehen. Es geht uns in diesem Teil vor allem um das Herausarbeiten des Unterschieds zwischen einer traditionellen und einer angestrebten neuen Logik, wie sie Ansätze zum Organisieren kollektiver Achtsamkeit nahelegen. Dafür setzen wir uns mit dem Begriff der Sicherheit und Risiko auseinander und diskutieren vier verschiedene Spielarten im Umgang mit Sicherheit bzw. Risiko. Wir geben Hinweise, wie sich die beiden Logiken im Unternehmensalltag bemerkbar machen und bieten Hilfestellungen, wie sie beobachtet und bearbeitet werden können.

  2. Im zweiten Teil stellen wir einige ausgewählte und bewährte Methoden und Werkzeuge für das bewusste Organisieren kollektiver Achtsamkeit vor. Die Methoden sind nach drei Aspekten geordnet: Zum einen erläutern wir Vorgehensweisen, um das Lernen von unerwarteten Ereignissen in der Organisation zu fördern. Zweitens stellen wir Methoden vor, die die Sinnproduktion im Unternehmensalltag fördern. Drittens zeigen wir Methoden und Instrumente auf, die der kontinuierlichen Selbstbeobachtung zur nachhaltigen Kulturentwicklung dienen.[20]

  3. Im dritten Teil diskutieren wir schließlich unsere Überlegungen, einen nachhaltigen Veränderungsprozess zu gestalten und schildern konkrete Erfahrungen mit seiner Durchführung. Wir zeigen die notwendigen Schritte für die Entwicklung einer Interventionsstrategie und stellen mithilfe zweier Beispiele aus der Praxis einen evolutionären und einen top-down gesteuerten Entwicklungsverlauf dar.

Dank

Ideen entstehen zwischen den Köpfen. Viele der Überlegungen, Ansätze, Methoden und Erfahrungen sind in Diskussionen und gemeinsamen Projekten in einem Netzwerk von geschätzten Experten entstanden, ohne die dieses Buch nicht denkbar gewesen wäre. Ich möchte mich vor allem bei denen bedanken, mit denen ich in den letzten Jahren intensiv zusammen gearbeitet habe, um die Theorie in die Praxis zu bringen: Bert Slagmolen, Stefan Günther, Fabian Brückner, Marc Otten, Beth Lay, Ursula Kiel-Dixon, Kathleen Sutcliffe, Henning Breuer, Torsten Groth, Athanasios Karafillidis, Wolfgang Dehm, Stephan Kasperczyk, Peter Pawlowsky, Daved van Stralen, Robert Taen, Bert van Dalen, Francois Smith, Silvia Puhani, Thomas Makait, Ralph Diener, Gerard Uittenhout, Jörg Arnold, Rainer Nielinger, Ulrich Schwalm, Just Mields, Gundolf Lange, Rudolf Wimmer, Fritz Simon, Dirk Baecker u.v.m.

Mein besonderer Dank gilt Oliver Ziegenbalg, Sandra Schaede und Anja Wollenberg, die mir als Partner und Freunde wertvolle, kreative und reflektierte Impulsgeber und Sparringspartner für meine Arbeit sind.[21]