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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97838-5

August 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Vorwort

Literatur gilt als Kunst, die Zeit braucht, um auf Ereignisse und Entwicklungen zu reagieren. Zwar erweisen sich Romane und Erzählungen oft als prophetisch, doch lässt sich das naturgemäß erst im Nachhinein feststellen. Einer engagierten Literatur hingegen wird oft die breite Anerkennung versagt. Dabei ist es keineswegs so, dass Schriftsteller zu aktuellen Ereignissen schweigen.

In diesem Herbst haben wir in Deutschland die Wahl. Zum ersten Mal, seit vor zwei Jahren Hunderttausende Menschen bei uns Zuflucht suchten, also seit jenen Ereignissen, die als »Flüchtlingskrise« erst ins öffentliche Bewusstsein und dann bei Wikipedia eingegangen sind. Erstmals auch seit den Terroranschlägen von Paris, Nizza, Brüssel und Berlin, seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten und seit dem Verfassungsreferendum in der Türkei, das Recep Tayyip Erdoğan zum de facto Alleinherrscher macht. Es ist die erste Bundestagswahl seit dem deutlichen Erstarken von Rechtspopulisten in vielen europäischen Ländern; in Österreich, den Niederlanden und Frankreich hätten es ihre Vertreter zuletzt beinahe bis in höchste Staatsämter gebracht, während in Russland, Ungarn oder der Türkei Antidemokraten bereits an der Macht sind. Bei uns holt derweil die AfD (Alternative für Deutschland) bei Landtagswahlen mehr Stimmen als die Grünen, und Anhänger der Pegida-Bewegung rufen auf offener Straße fremden- und islamfeindliche Parolen.

Die Idee zu diesem Buch entstand im Piper-Lektorat aus Gesprächen mit unseren Autorinnen und Autoren, die diese Entwicklungen besorgt, empört, verstört und in einigen Fällen sehr persönlich betrifft, weil sie selbst erleben oder erlebt haben, was es heißt, Ziel von Rassismus, Hasskommentaren und ausgrenzender Aggression zu sein. Die Schriftsteller wollen ein Zeichen für Solidarität, Freiheit und Toleranz setzen – und wir als Verlag mit ihnen. In diesem Band erheben zahlreiche Piper-Autorinnen und -Autoren ihre Stimme, darunter Andreas Altmann, Bruno Jonas, Lamya Kaddor, Hape Kerkeling, Stephan Orth, Georg M. Oswald, Gisa Pauly, Michael Peinkofer, Kai Strittmatter und Su Turhan. Es geht in den Texten nicht darum, Strategien zur Flüchtlingsfrage zu entwerfen, Leitplanken einer Leitkultur aufzuzeigen oder überhaupt Ratschläge zu erteilen. Vielmehr ist das Anliegen der Texte, durch Reflexion das Bewusstsein dafür zu schärfen, was derzeit auf dem Spiel steht. Es geht darum, wie wir gemeinsam und als Einzelne dazu beitragen können, dass die politischen und gesellschaftlichen Werte der Demokratie erhalten und gelebt werden, also darum, die Welt, so wie sie ist, »wohnlicher einzurichten«, wie Andreas Altmann es mit Bertolt Brecht mitreißend formuliert.

So vielfältig wie die Verfasser und ihre Temperamente sind die Texte. Ob erzählerisch angelegt oder autobiografisch, satirisch, wütend oder nachdenklich – alle sind sehr persönlich. In ihren Texten treten die Autorinnen und Autoren ein für die Rechte und Werte, die das Wesen unserer freiheitlichen Gesellschaft ausmachen, und sie wenden sich gegen die Bequemlichkeit jener Einstellung, dass es auf den Einzelnen nicht ankomme. In manchen Texten klingt Angst an, in anderen Zweifel, in den meisten jedoch wird das beschworen, was die Gesellschaft im Innersten zusammenhält: Menschlichkeit, Empathie, guter Wille. Und eigentlich alle sind davon überzeugt, dass unsere Demokratie stark genug ist, um souverän und besonnen, aber eben auch selbstkritisch auf Versuche der Ausgrenzung einzelner Gruppen zu reagieren. Hape Kerkeling besingt den Ort, wo es nicht sexy oder schrill zugeht, nicht gruselig oder aufregend, da, wo der gute Durchschnitt zu Hause ist und die Gesellschaft ganz bei sich: die Mitte als Bollwerk.

Diese Anthologie will aufrütteln, anregen und berühren, dabei aber auch animieren, appellieren und unterhalten. Der Prozess ihres Zustandekommens ist der beste Beweis für die Kraft eines gemeinsamen Anliegens. Die gesamten Erlöse aus diesem Buch werden an gemeinnützige Einrichtungen gespendet, und alle Beiträger haben auf ein Honorar verzichtet, ebenso Grafiker, Setzer, Papierlieferanten und Drucker. In diesem Buch sind aus jedem Lektorat des Piper Verlags, aus Literatur und Sachbuch, aus Unterhaltung, Fantasy und von Malik, Autorinnen und Autoren vertreten, sodass sich in der Bandbreite der Verfasser auch die Vielfalt des Verlagsprogramms spiegelt – und die Vielfalt einer Gesellschaft, die es zu verteidigen lohnt.

Felicitas von Lovenberg,

im Sommer 2017

Andreas Altmann
Monsieur Hassan

Wo ich auch hinzog – immerhin schaffte ich drei Kontinente –, suchte ich zuerst ein paar wichtigste Dinge: eine Wohnung mit Bett und Tisch. Ein Kaffeehaus. Und einen Schneider. Der flickt und dafür sorgt, dass ich präsentabel durch die Welt gehe. Mit elegant sitzenden Hosen und Hemden.

Viele Schneider habe ich getroffen. Die einen waren Gangster, die anderen super und die Mehrheit so lala. Doch in Paris fand ich ihn, den Schneider aller Schneider, den Meister, den Weltmeister: Monsieur Hassan. Ein Herr aus der Türkei, ein Ex-Flüchtling, der vor Jahren vor einem der zahlreichen Militärregimes seines Landes davonlief.

Mindestens einmal die Woche komme ich bei ihm vorbei, und bisweilen hängt an der Tür seines winzigen Ateliers ein Schildchen mit dem Hinweis: Je reviens dans cinq minutes, bin zurück in fünf Minuten. Ah, das ist geschwindelt, denn Hassan, der Muslim, kniet hinter seiner Umkleidekabine. Und betet. Richtung Mekka, vermute ich.

Dann warte ich geduldig, und irgendwann sperrt er wieder auf – und lächelt.

Ich bin froh, dass er betet. Das klingt bizarr aus dem Mund eines notorischen Atheisten. Doch, das heimliche Murmeln scheint ihn zu wärmen. Selbst wenn ich überzeugt bin, dass Beten – in welche Himmelsrichtung auch immer, im Namen welches Herrn auch immer – nichts als Simsalabim ist. Aber bei Hassan gelingt der Selbstbetrug, auf wunderbar coole Weise: weil er nicht zu predigen beginnt. Weil er mir nicht verspricht, dass ich, der Ungläubige, zur Hölle fahre. Weil er nie einen heiligen Krieg anzettelt. Weil er als Fremder die Spielregeln des Landes bejaht, das ihm Asyl gewährt. Weil er seinen Landsmann Nâzim Hikmet liebt, den Dichterhelden. Und weil er – ganz orientalischer Gastgeber – uns stets zwei Tässchen türkischen Kaffees braut, sich gleichzeitig von mir ausfragen lässt und mich hinterher den »deli« nennt, den Verrückten.

Mit Hassan würde ich gerne auf Tournee gehen, als meinem Vorzeigeflüchtling: einer, der sein Handwerk in die Fremde mitbrachte und so von Anfang an das Glück hatte, Geld und Anerkennung zu verdienen. Einer, der ein friedliches Herz besitzt und mit seinem Können und seinem Kichern zur Lebensfreude der Kundschaft beiträgt. Einer, der – so einfach der Mensch Hassan auch sein mag – als Weltmann auftritt: weil er nicht demütig und verdruckst daherkommt, sondern wie jemand, der ahnt, dass wir – wir sieben Milliarden – einander ebenbürtig begegnen sollten. Und weil Monsieur Hassan von seiner Dankbarkeit spricht, in Frankreich leben zu dürfen. Nichts würde ich an ihm ändern wollen, auch nicht sein Französisch, das noch immer zu lang gezogenen Lachsalven verführt.

Ich bin ein Glückspilz. Alle Nichtfranzosen in meinem Viertel, mit denen ich zu tun habe – ob nun Flüchtling oder ehemaliger Flüchtling, ob nun aus wirtschaftlichen Gründen oder politischen aus der Heimat davon –, sie alle ähneln mir: Sie träumen von einem guten Leben, sie versuchen, freundlich zu sein, sie haben Angst vor dem Tod und hundert andere Ängste, sie brauchen, nein, sie fordern Anerkennung und Respekt, sie tun ihre Arbeit. »Chacun sa merde«, sagen sie hier, denn auch das haben wir gemeinsam: die Scheißtage dazwischen, die Wut auf die Welt, die Fassungslosigkeit. Und da die meisten aus Nordafrika kommen – la Grande Nation war dort einst Kolonialmacht –, sind sie mehrheitlich Muslime. Und noch nie hat einer von ihnen versucht, mir seinen Herrn Allah einzureden. Keiner zückte je einen Säbel. Und nie fiel mir in ihren Läden ein religiöses Zeichen auf. Was zeigt, dass sie eine der Grundregeln demokratischen Zusammenlebens verinnerlicht haben: Religion hat in der Öffentlichkeit nichts zu suchen.

Um jedes Missverständnis auszubremsen: Natürlich schreckt mich der Islam. Wie jede monotheistische »Offenbarung«. Der christliche Glaubensterror, der jahrhundertelang im Abendland randalierte und schlachtete, soll reichen. Wir Europäer haben unsere Quote an spirituellem Irrsinn bereits erfüllt, wir brauchen keine Neuauflage. So wird hier auch nicht der Text eines Toren stehen, der nicht wüsste um die Herausforderungen, die eine so massive Zuwanderung fremder Frauen und Männer mit sich bringt. Nein, ich rede keinem »angélisme« das Wort, der mit Engelszungen nur vom Wahren und Schönen plappert. Allein nach Deutschland kam eine Million neuer Menschen. Und mit ihnen garantiert ein Prozentsatz geifernder Zeloten, islamistisch verblödeter Krimineller und notorischer Schnorrer. Wie überall auf der Welt.

Doch die Mehrheit der Ausgebombten und Geschundenen gehört zur Spezies jener, die guten Willens sind. Ich fantasiere mir hier niemanden heilig, aber wir werden nicht froh auf Erden, wenn wir den »anderen« grundsätzlich als Bestie wahrnehmen. Dass in jedem von uns unberechenbare, so bedrohliche Energien lauern, auch das hat sich inzwischen herumgesprochen. Ich wüsste folglich kein zuträglicheres Serum gegen den Ausbruch unserer – unser aller – Dämonen als Menschenfreundlichkeit, sprich, Achtung, sprich, einen gewissen Vorschuss an Vertrauen.

Auch Vertrauen in unser Land. Deutschland hat Kraft und Power und stinkt vor Geld und Erfolg. Kein Salafist wird es aus den Angeln heben. Keine Scharia wird uns terrorisieren. Kein potenzieller Massenmörder wird das Kalifat in Berlin ausrufen. Je souveräner wir auf unsere republikanischen Gesetze pochen (ja, in extremis mit Gewalt), desto eindeutiger das Signal an die Welt: Wir sind Teil von Europa, Teil der so bitter und endlos lang erkämpften Vereinbarung, dass auf diesem Erdteil kein Mufti, kein Guru, kein Pfaffe und erst recht kein »Wort Gottes« kommandieren, sondern dass wir uns auf das grandioseste Talent des menschlichen Geistes verlassen: die Vernunft.

Die ebenfalls eingreift, wenn der hauseigene, braun gefärbte Mob – besonderes Kennzeichen seiner Eiferer: urgermanischer Hass auf Ausländer – auf jeden losgeht, dessen Kopf anders aussieht als der vereinstypische Quadratschädel. Die Zahl der (gemeldeten) Übergriffe auf Fremde und ihre Unterkünfte lag 2016 in Deutschland bei über fünftausend (!). Was beweist, dass bei so manchem ein Hirnschrittmacher nottäte und dass die Demokratie, dieser magische Ort, an dem Meinungsverschiedenheiten auf zivilisierte Weise ausgetragen werden (sollten), tagtäglich gefährdet ist.

Ich mag mein Land, wenn es Größe zeigt, Großzügigkeit, wenn es sich rühren lässt vom Leid anderer. Und die Flüchtlingskrise stellt uns allen die Gretchenfrage: Mitgefühl oder stillgelegtes Herz? So eins, das mit den Jahren zu klirren anfing vor Kälte, längst eingesargt im eigenen Panzer.

Hier ist kein Platz, um Strategien zur Flüchtlingsfrage auszubreiten. Dafür bezahlen wir unsere Volksvertreter. Damit sie Ideen entwickeln, die greifen. Dass Integration das Zauberwort ist für jene, die als politisch Asylsuchende anerkannt wurden, muss ich niemandem erzählen. Eine trockene Wohnung und ein Job, der eine Ahnung von Sinn vermittelt, sind die ersten zwei Pfeiler, die einem Menschenleben Würde verschaffen. Noch schöner wird es, für beide Seiten, wenn der Fremde die fremde Sprache trainiert. Auf dass ihm irgendwann die notwendigen Wörter zur Verfügung stehen, das Zaubermittel, um sich unbekümmert in der neuen Welt zu bewegen.

Auch klar, ohne Wenn und ohne Aber: wer die Regeln der Gastfreundschaft missbraucht, wer nicht begreifen will, dass in Europa die Menschenrechte Vorfahrt haben vor jeder Form spirituellem Hokuspokus, nicht begreift, dass Frauen hier nicht als Freiwild unterwegs sind, nicht begreift, dass Lebewesen hier nicht als schwarze Windel verpackt den öffentlichen Raum betreten (das Burkaverbot muss kommen, wie in Frankreich!), nicht begreift, dass wir unwirsch reagieren, wenn hier glutäugige Bartträger »Allah Akbar« brüllend durch die Straßen rennen, wer das alles nicht begreift, nicht begreifen will: Der muss zurück in sein Land expediert werden. Und wenn das nicht funktioniert, da dort Gefahr für Leib und Leben besteht, dann soll ein Richter ihn aus dem Verkehr ziehen. Vielleicht nüchtert er in der Zelle aus und fängt an, sich auf den Weg in die modernen Zeiten zu machen. Wenn nicht, muss er nachsitzen.

Das hätten wir geklärt: Ich bin kein radikaler Pazifist, ich bin kein Gutmensch, ich predige Intoleranz gegen Intoleranz. Und ich heiße jeden willkommen, der Hilfe braucht, der Grauenhaftes hinter sich hat und der mit seiner Begabung, seinem Wissen und seinem Anstand bei uns anklopft. Wie sagte es Bert Brecht? »Keinen verkommen lassen, auch nicht sich selbst, das ist gut.«

Ich will eine kleine Szene erzählen. Nicht, um mich als glorioses Vorbild herauszuputzen, nein, nur um zu zeigen, mit welch einfachen, schier kostenlosen Gesten – Investition: sechzig Sekunden Zeit und neunzig Cent Geld – man zum Weltfrieden, bescheidener, zur Entspannung und zum flüchtigen Glück von vier Personen beitragen kann: Ich fahre mit der Schnellbahn zum Flughafen Charles de Gaulle. Neben mir ein junges Ehepaar mit seinem dreijährigen (?) Sohn. Das Kind plärrt, die Mutter ist bedrückt, der Vater redet zornig drauflos. Ich bin kein Vater, aber ich weiß, dass solche Erziehungsmethoden nicht taugen. Und tatsächlich, das Gegenteil trifft ein: Es wird noch ein atü schriller, weder der Dreijährige noch der 28-Jährige (?) geben nach. Eine Lawine von Stress fegt jetzt durch den Waggon. Der Vater, dem Aussehen nach wohl Araber, sammelt einen Minuspunkt nach dem anderen. Sein Gesicht bekam inzwischen etwas Hässliches und schwer Unsympathisches.

Da ich mich auf den Tag freue, will ich etwas von meiner Freude hergeben. (Und nicht missmutig die Augen verdrehen.) So erinnere ich mich sogleich an den Bienenstich, den ich vor dem Einsteigen gekauft habe. Und hole ihn heraus und winke damit Richtung Schreihals. Und der Kleine, doch ja, erstarrt, streckt die Hände aus und nimmt das viereckige Ding in Empfang. Und nagt. Und kaut. Stille, Glücksstille. Die Mutter sagt tausendmal »merci«, der Vater sagt es zweitausendmal, und ich sag es auch, eine Art Dankesflüstern an den unbekannten Bäcker. Und das Gesicht des Wütenden wird wieder attraktiv (ein hübscher Kerl, durchaus), er sagt noch, dass ihm das Gebrüll vom Sohnemann peinlich war wegen der anderen Passagiere, ja, irgendwie – irgendwie umständlich – entschuldigt er sich, selbst bei dem Bambino mit den Bröseln um den Mund, streichelt ihm zart über die Mütze, der Knirps schaut ihn an, und die beiden schließen wortlos Frieden.

Ich bilde mir stets ein, dass winzige Handlungen schon reichen – sicher nicht überall und sicher nicht immer –, um die Welt, nochmals Brecht, »wohnlicher einzurichten«. Ohne Pose, eher nebenbei, im Vorübergehen. Keiner muss einem anderen sein Leben opfern, für niemanden sein Konto plündern, ja, sogar seine Schuldgefühle kann er sich sparen. Aber für Augenblicke von der Anbetung des Egos lassen und etwas teilen, das hebt – jeder hat diese Erfahrung bereits gemacht – die eigene Tagesform. Freundlichkeit sorgt für Wärme. Zudem: Ein waches Herz sieht besser aus als ein verranztes.

Noch zwei Geschichten. Zum Auftauen. Zum Verführen. Als Einladung zur Empathie. Vor einiger Zeit hörte ich einen Bericht über Jutta Lehmann, einst deutsche Friseurmeisterin, jetzt kommt sie mehrmals pro Monat in ein Flüchtlingsheim, um Migrantinnen aus Syrien, aus dem Irak und Afghanistan die Haare zu schneiden.

Was für eine fulminante Idee, denn welche Frau auf Erden will nicht schön aussehen, will sich nicht als Frau fühlen, gepflegt und ansehnlich? Und Juttas Kundinnen dürfen sich wünschen, was sie wollen, sie hat sogar eine Mappe mit Musterfrisuren mitgebracht. Und die Chefin berät und schneidet und kämmt und föhnt. Und ein Mensch – ziemlich allein, ziemlich pleite, ziemlich verstört – spürt, wie sich ein anderer, wildfremder Mensch um ihn kümmert. Das heilt das Unglück nicht, aber es hilft mit, ihm standzuhalten.

Die Meisterin macht Schule, Kolleginnen, ja, Kollegen fragen nun ebenfalls in den Heimen nach. Und legen los.

So ist das mit der Hilfsbereitschaft, sie steckt an. Nicht anders als die Bosheit.

Hier die letzte Szene, sie wird mich nicht verlassen, solange ich atme. Sie gehört in die Top Charts meiner hundert innigsten Momente. Dabei war es ein Augenblick ohne special effects, ohne Aufsehen, ohne jubelnde Massen. Ich habe ihn einmal erlebt und werde ihn kein zweites Mal erleben. Man kann ihn nicht inszenieren, er muss passieren. Mitten am Tag.

Paris, März 2017, Place de la Nation. Bevor ich das Café erreiche, in dem ich eine Verabredung habe, komme ich an einem SDF (sans domicile fixe) vorbei, einem Mann »ohne festen Wohnsitz«. Die Zeiten sind rauer geworden, sogar das romantische Wort Clochard wurde abgeschafft. Der Mensch sitzt neben einem Baum, abseits, die Augen halb geschlossen, wohl schwer vom Alkohol. Mir fällt auf, wie schmutzig sein Gesicht ist, ganz offensichtlich hat er die schönen Tage schon eine Weile hinter sich. Ich eile achtlos weiter. Irgendwo spielen Kinder, und zwei Teenies üben mit ihren Skateboards. Aus naher Ferne wehen Stimmen von den Caféterrassen herüber. Die ersten Sonnenstrahlen wärmen.

Aus unerklärlichen Gründen bleibe ich nach etwa zehn Metern stehen und drehe mich um. Und jetzt geschieht es. Ein Halbwüchsiger nähert sich dem Afrikaner (?). Ich erschrecke, sofort fallen mir die Übergriffe rechtsextremer Halunken ein, die im Namen eines »sauberen Frankreichs« Obdachlose verprügeln, ja, noch härter zuschlagen, wenn ein Ausländer daliegt, der nicht der »weißen Rasse« angehört.

Alles wird anders. Der Junge, vielleicht siebzehn, geht in die Hocke, und die beiden reden ein paar Worte miteinander. Dann holt er aus seinem kleinen Rucksack eine Flasche Wasser und eine Packung Papiertaschentücher. Und nun kommt die Geste, die wundersam überrascht und aus ihr einen Moment namenloser Schönheit macht: Der Junge wäscht dem Alten das Gesicht.

Manuel Andrack
Auf dem Land schaffen wir das – über deutsche Markenzeichen

Wandereinkehr in »Schorsch’s Panoramahütte« im Oberbergischen Land. Ich bekomme einen Schnellkurs in einem rustikalen Kneipenspiel verpasst. Ein großer Nagel muss mit einem Rohrhammer in einen Holzklotz getrieben werden. Mo, der syrische Migrant, erklärt mir alles. Es ist wahnsinnig schwer, den Nagel einzuschlagen, weil ich mit der Außenkante des Rohrs treffen muss, das ist leider kein normaler Hammer. Diese Hüttengaudi scheint eine oberbergische Spezialität zu sein, in Köln haben wir das nie gemacht. Mo ist deutlich geschickter als ich, er macht es nicht zum ersten Mal. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass mir ein Migrant die regionalen Gepflogenheiten erklärt. Eigentlich wollte ich doch umgekehrt einigen Flüchtlingen die deutsche Wanderkultur näherbringen.

HALT! STOPP! Einsatz für Flüchtlingsintegration, widerspricht das nicht dem Zeitgeist? Ist das nicht total altmodisch, Bahnhofsklatschertum in Reinkultur, schlimmstes Gutmenscheln? Aber was genau ist da eigentlich in den letzten Jahren ins Rutschen gekommen? Sind wir jetzt plötzlich alle Pegida, nachdem wir vorher Willkommenskultur waren? Steckt hinter diesen »Stimmungsschwankungen«, wie zuletzt die ZEIT bezweifelte, »tatsächlich ein Wandel im Willen des Volkes« oder »eine echte Verschiebung von Meinungsbildern«?

Schauen wir doch noch einmal genau hin, was im September 2015 passierte. Ein gewaltiger Flüchtlingsstrom bewegte sich in Richtung Deutschland, schon in den vorausgegangenen Monaten waren mehr gekommen als in den Jahren zuvor. Zehntausende hatten sich auf den Weg zur deutsch-österreichischen Grenze gemacht. Zu Fuß. Und ich als Wanderer weiß: Wenn man ein Ziel hat, kann einen nichts davon abhalten, es zu erreichen. Angela Merkel hatte zwei Möglichkeiten. Erstens: Grenze dichtmachen (wohlgemerkt eine Schengengrenze, also quasi mehr Negligé als wirkliches Vorhängeschloss), Bundespolizei und Bundeswehr in Alarmbereitschaft setzen, Wasserwerfer, hässliche Szenen, verzweifelte Flüchtlinge, Verletzte, vielleicht Tote. Zweitens: Grenzen öffnen, und zwar sofort, unbürokratisch Hilfe leisten. Wer im so oft beschworenen christlichen Abendland (Hallo, Pegida!) kein Herz aus Stein hatte und noch mal die Flüchtlingsgeschichte von Jesus und seinen Eltern Revue passieren ließ, musste das gut finden. Manchmal hört man, Frau Merkel habe eine Million Flüchtlinge eingeladen, aber das ist populistisches Geschwätz. Ebenso der Vorwurf, sie hätte doch bitte schön erst mal die 27 anderen Regierungschefs der EU befragen sollen. Dann hätten wir bis heute keine Lösung.

Ich habe selbst an einem Tag Anfang November 2015 gesehen, wie Hunderte Flüchtlinge die Grenze zu Deutschland bei Passau überquerten. (Ich bin ein kurzes Stück mit den Flüchtlingen gewandert.) Wie viele dieser Flüchtlinge wirklich gerne wanderten (und sich gerne integrieren lassen wollten), weiß ich natürlich nicht.

Wir hatten uns mittags an der Tourist Information im Zentrum von Eckenhagen in der Nähe von Köln getroffen, sind an der Kirche und an Fachwerkhäusern vorbeigegangen. Unser Wanderführer erklärte den Flüchtlingen, wie erdbebensicher Fachwerk ist. Wie ein Erdbeben ist ja auch der Krieg über Syrien gekommen, sonst wären die Flüchtlinge nicht hier im Oberbergischen an der Grenze zum Sauerland gelandet. Sieben syrische Flüchtlinge nehmen an unserem Ausflug teil. Es hätten mehr sein können, aber viele sind in der Schule oder in Integrationskursen. Dabei machen wir doch auf dem Wanderweg auch einen Integrationskurs, Wanderintegration sozusagen.

Ein älterer Syrer wandert mit, ansonsten sind es junge Männer, Mohammad ist der Jüngste. Mohammad mag seinen Namen nicht, er hört sich »nicht deutsch genug« an. Wir sollen Mo zu ihm sagen, wie auch seine Mitschüler. Mo ist 16 Jahre alt, im Oktober 2015 ist er mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. Er hat sechs jüngere Geschwister. Dafür, dass er erst zwölf Monate in Deutschland ist, spricht er ein fantastisches Deutsch.

Wir haben den herbstlich bunten Wald oberhalb von Eckenhagen erreicht. Zwei syrische Mittzwanziger fliehen vor dem matschigen, nassen Weg und gehen an seinem Rand auf dem weichen Moos unter den Fichten. Die beiden erzählen, wie lange sie auf ihrer Flucht gewandert sind. Insgesamt seien sie 30 Kilometer gelaufen. Ich frage: »Ach was, mehr nicht?« – »Nein, so lang!«, antworten sie. Bei der EinWANDERUNG der meisten Flüchtlinge waren eher die Verkehrsmittel Bus und Zug gefragt. Anscheinend sind aber die meisten Migranten – seit sie in Deutschland sind – viel per pedes unterwegs. Bis zur Anerkennung als Asylberechtigte zum Nichtstun gezwungen, erkunden sie die neue Heimat zu Fuß. Die Leute von der Flüchtlingshilfe erzählen, sie bekämen per WhatsApp Selfies der Migranten von der Aggertalsperre, da seien sie natürlich hingewandert.

Unser Wanderführer ist der Wastl. Ich kenne ihn von der Wandermesse »TourNatur« in Düsseldorf, er ist Wegemanager im Naturpark Bergisches Land, ein absoluter Wanderprofi. Wastls Eltern kommen aus Berchtesgaden, er hat eben auch einen Migrationshintergrund. Trotzdem ist er durch und durch Rheinländer, er war der erste Karnevalsprinz seines Dorfes. In den letzten Jahren hat er sich immer als Hofnarr verkleidet, der den Leuten in Schönenbach den Narrenspiegel vorhält. Zweihundert Einwohner hat Wastls Heimatdorf. »Seit Kurzem sind es 209«, sagt Wastl lachend, denn seit einem Jahr wohnt eben auch die syrische Familie von Mo in einem Bauernhaus im Ort. Bevor die Flüchtlinge kamen, stellte Wastl zwei Kisten Bier auf den Dorfplatz und rief die Dorfjugend mit WhatsApp zusammen. Er sagte zu den Versammelten: »So, jetzt diskutieren wir mal über Flüchtlinge, ab morgen haben wir nämlich welche.« Dieses Dorfmeeting half schon vorab, Sorgen, Vorbehalte, Ängste abzubauen. Als die Familie von Mo ankam, war sie vom ersten Tag an integriert, das ganze Dorf nahm sie herzlich auf, und so ist das bis heute geblieben.

An einer Wegkreuzung treffen wir auf die gelben Schilder des Bergischen Panoramasteigs, eines Weitwanderwegs mit dem Prädikat eines Qualitätswegs. Wastl ist für die Markierung dieses Wegs (und des Wegs, auf dem wir wandern) verantwortlich. Natürlich hat Wastl auch schon sein »Patenkind« Mo auf eine Markierungstour mitgenommen. Mo zeigt mir stolz auf seinem Smartphone ein Foto von einem wunderschönen Baum am Essener Baldeneysee, an dem er seine erste Wandermarkierung angebracht hat. Wastl ist ehrenamtlicher Sanitätshelfer, also hat er auch Mo zu den Maltesern geschleppt. Er bekommt dort eine Grundausbildung und trägt stolz sein Outfit: grelle Allwetterjacke, feste Wanderstiefel, Arbeitshandschuhe, blauer Pullover. Auf seinem Namensschild lese ich: M. Alamour. Das sei aber nicht sein kompletter Name, der hätte nicht auf den Pullover draufgepasst. Eigentlich heiße er Mohammad Al Ayd Al Amour. Das mit der Amour komme, so wird es in seiner Familie erzählt, vom französischen Ururgroßvater. Immerhin war Syrien mal eine Art französische Kolonie. Mos Ururopa war also ein Liebeseinwanderer nach Syrien.

Wir erreichen mit unserer internationalen Wandertruppe eine Wacholderheide und können im Nebel gerade so die Sträucher erkennen. Kurze Zeit später wandern wir leicht bergan, bis uns ein rot-weißes Flatterband den Weg versperrt. Gekreuzte Warnflaggen und ein rotes Schild weisen auf Holzfällarbeiten hin. Wir vertrauen unserem Gehör: keine Motorsäge zu hören, also keine Gefahr, wir können weitergehen. Wir geben für »unsere« Flüchtlinge kein gutes Vorbild ab. Von wegen Deutsche sind ordentlich und obrigkeitshörig. Mo gesellt sich zu dem älteren Syrer. »Der will wissen, warum der Weg gesperrt ist. Er will immer alles ganz genau wissen, wie ihr Deutschen.« Also wandert Mo neben ihm und erklärt ihm auf Arabisch den Grund der Wegsperrung.

Wir kehren in »Schorsch’s Panoramahütte« ein, die Bestellungen werden aufgenommen. Ich erläutere den Migranten, was ein Almdudler ist. Ein alkoholfreies Getränk, sozusagen korankompatibel. Alle bestellen ein Pils. Nachdem ich das beschriebene Nagelklotzduell mit Mo vergeigt habe, stehe ich mit ihm und Wastl an der Theke. Ich erzähle, was sich in meiner Wahlheimat Saarland seit dem Herbst 2015 geändert hat, seit der ..., seit der ... – mir kommt das Wort »Flüchtlingskrise« nicht über die Lippen, weil Mo neben mir steht. Er ist immerhin Teil der »Flüchtlingskrise«, und ich frage mich in diesem Moment, worin diese Krise eigentlich besteht. Ist es eine Krise, dass so wunderbare Menschen wie Mo jetzt in unserer Mitte leben? Haben wir nichts zu essen, wird der Müll nicht mehr abgeholt, fallen Bomben auf Deutschland? Wo verdammt noch mal gibt es eine Krise?