Am falschen Ufer der Rhône

Paul Grote

Am falschen Ufer der Rhône

Kriminalroman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Paul Grote

Paul Grote ist Deutschlands bekanntester und meistgelesener Weinkrimi-Autor. Der Berliner, Jahrgang 1946, begann nach dem Studium der Soziologie und Politik seine journalistische Laufbahn in Hamburg. Anschließend berichtete er fünfzehn Jahre lang als freier Reporter aus Südamerika. Bei Aufenthalten in Argentinien und Chile entdeckte er sein besonderes Interesse für Wein und Weinbau, den er, zurück in Deutschland, zu seinem Thema machte.

2004 erschien mit ›Tod in Bordeaux‹ sein erster Weinkrimi. Seitdem hat er die wichtigsten europäischen Weinbaugebiete bereist und jedes Jahr einen neuen Krimi veröffentlicht. Seine Bücher sind bei dtv erschienen.

 

Mehr unter: www.paul-grote.de

Über das Buch

Für seine Patentochter Simone, gelernte Weinbautechnikerin, sucht Martin Bongers einen Praktikumsplatz, der mehr zu bieten hat als sein Bordelaiser »Garagenweingut«. Das weltberühmte Châteauneuf-du-Pape scheint ihm der perfekte Ort dafür. Doch der Spitzenwinzer Didier Lamarc, für Martin die erste Adresse, ist seit zwei Jahren spurlos verschwunden. Und Joseph de Bergerac, der nach ihm den renommierten Concours de la St. Marc gewann, kam bei einem Autounfall mit Fahrerflucht ums Leben. Nur ein seltsamer Zufall?

Simone, am linken Ufer der Rhône angekommen, will sich umhören. Dabei trifft sie den deutschen Jungwinzer Thomas Achenbach, der vor beruflichen und privaten Problemen nach Lirac ans rechte Ufer der Rhone geflüchtet ist. Als das Nachbarweingut von einer Diebesbande überfallen wird, erwacht Thomas aus seiner Lethargie. Und reißt Simone mit in den Strudel der Ereignisse ...

 

Von Paul Grote sind bei dtv u. a. erschienen:

Der Portwein-Erbe

Der Wein des KGB

Tod in Bordeaux

Bitterer Chianti

Die Insel, der Wein und der Tod

Rioja für den Matador

Impressum

Originalausgabe 2017

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv unter Verwendung von Fotos

von gettyimages/Richard Susanto und aus dem Privatbesitz des Autors

 

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eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook 978-3-423-43184-2 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21691-3

ISBN (epub) 9783423431842

 

 

Mit sicherer Hand griff sie ins Weinlaub, fasste den wilden Trieb direkt am Stock, brach ihn ab und ließ ihn fallen. Die Triebe waren kurz, sie hatten gerade mal das Fünf-Blatt-Stadium erreicht, waren zart und ließen sich leicht brechen, ohne größere Verletzungen im Holz zu hinterlassen, die dem Weinstock schadeten. Beim Winterschnitt hatten sie die Bogrute auf acht oder zehn Augen gekürzt, und aus diesen Augen oder Knospen sprossen jetzt die neuen Triebe in saftigem Grün. Eine zweite Fruchtrute blieb stehen, wurde auf zwei Augen gekürzt, sie würde im nächsten Jahr die Trauben tragen. Guyot-Methode nannte man diese Technik, bei der die Fruchtrute an den untersten Draht des Drahtrahmens gebunden wurde. Simone Latroye hatte den Winterschnitt zum zweiten Mal in Folge mit Martin hinter sich gebracht, sie erinnerte sich gut, wie sie tagelang der Februarkälte getrotzt hatten, die Schere in der Hand, die ihr beinahe aus den klammen, blau gefrorenen Fingern gefallen war. Trotzdem hatte es ihr Spaß gemacht.

Zugesehen hatte Simone bei diesen Arbeiten schon immer; es war, als wäre sie zwischen diesen Weinstöcken, die sie jetzt umgaben, aufgewachsen. Manchmal, wenn sie hier im Weinberg oberhalb des Hauses unterwegs war, glaubte sie, jeden einzelnen dieser Weinstöcke zu kennen, die ihr Vater zusammen mit Martin gepflanzt hatte. Hier war sie als Kind herumgekrabbelt und hatte ihren Vater von der Arbeit abgehalten, was er sich gern hatte gefallen lassen. Hier war

Seit dem frühen Morgen hatte sie sich langsam, aber stetig durch die Rebzeilen gearbeitet, bis auf eine kurze Mittagspause. Wieder griff sie zielsicher ins Laub und brach den nächsten Doppeltrieb, manche ließen sich beinahe abstreifen, so zart waren sie, besonders die Kümmertriebe unten am Stamm. Als langweilig empfand sie diese Arbeit keineswegs. Ab Mitte April war sie mindestens einmal täglich durch ihre Weinberge gelaufen, nur darauf wartend, dass die Augen am Stock sich öffneten und die ersten Blätter sich hervorwagten. Jetzt würde es sich auch zeigen, ob sie beim Winterschnitt Fehler gemacht hatte. Eine Rebzeile hatte Martin ihr überlassen, er hatte ihren Schnitt nicht einmal kontrolliert, sie ganz allein war für das Ergebnis verantwortlich.

Ich habe den richtigen Zeitpunkt zum Ausbrechen gewählt, sagte sich Simone, richtete sich auf und bog den Rücken durch. Begann man zu früh, erwischte man nicht alle Beiaugen, dann wuchsen neue Triebe nach, und man musste die Arbeit wiederholen. Ging man zu spät durch, waren die Triebe länger als zehn Zentimeter, dann verletzte man den verholzten Stock, und später Frost drang durch die Wunde ein. Aber damit rechnete niemand mehr in diesem Jahr. Vorsichtshalber hatte sie Martin gestern angerufen. Sie hatte ihm den Zustand der Weinstöcke beschrieben, ihm mitgeteilt, dass sie heute mit dem Ausbrechen beginnen würde, und sich seine Zustimmung dafür geholt. Schließlich war er der Chef, mochte er auch ihr Patenonkel sein.

Eines Tages würde sie das Weingut erben. Außer ihr kam niemand infrage, auf gar keinen Fall ihr Bruder Daniel. Martin und Charlotte hatten keine eigenen Kinder. Doch sie würden es sicher nicht Greenpeace vermachen.

Heute noch wollte Martin aus Deutschland

Simone sah hinüber zum Haus von Charlottes Eltern. Madame Lisette und Monsieur Jérôme waren schon damals so etwas wie Großeltern für sie geworden, denn die leiblichen Großeltern hatte sie so gut wie nie gesehen, und nach dem Tod ihres Vaters, als sie mit ihrer Mutter wieder nach Saint-Chinian gezogen war, hatte es mit ihrer leiblichen Großmutter dauernd Streit gegeben. Ständig hatte sie an ihr herumgemeckert, aber Simones Bruder, der war der König gewesen, der wurde für jeden Blödsinn gelobt, sogar für die Abiturprüfung, die er nur mit Ach und Krach geschafft hatte. Dass sie das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte, war als Selbstverständlichkeit hingenommen worden. Sie ärgerte sich noch immer darüber. Als Ausgleich hatten ihr Madame Lisette und Monsieur Jérôme ein wundervolles Geschenk gemacht: Sie hatten ihr den Führerschein bezahlt. Heute Abend würde sie jedoch nicht hinübergehen, heute wollte sie hören, wie es Martin auf der Reise ergangen war.

Seit einem Jahr verkauften sie nicht nur den Merlot, einen Garagenwein, den ihr Vater damals kreiert hatte, sondern produzierten auch eine Cuvée. Martin hatte zu experimentieren begonnen und drei Hektar mit Cabernet Franc bestockt, hinzu kamen die drei Hektar Cabernet Sauvignon, die Charlottes Eltern gehörten. Sie konnte die Rebanlagen von hier aus sehen und mittlerweile sogar die drei Rebsorten am Blatt unterscheiden. Merlot reifte zuerst, dann war Cabernet Franc an der Reihe, zuletzt der Cabernet Sauvignon.

Simone bückte sich, sie hatte einen Trieb am Stamm übersehen. Das alles interessierte ihre Mutter Caroline sehr wenig, nein, ganz und gar nicht. Nach dem Tod ihres Mannes war sie mit den Kindern nach Saint-Chinian zurückgegangen und wieder bei ihrer Mutter eingezogen. Und dann hatte sie diesen Mann kennengelernt, Jean-Antoine! Geschieden, in leitender Position bei einer Großkellerei, der es auf Absatz und nicht auf Qualität ankam, eigenes Haus mit Garten und Gärtner in Narbonne, zwei Söhne, prétentieux, eingebildete Schnösel – was auch ihr Onkel Jean-Claude fand, der in Narbonne als Professor lehrte. Für die beiden Schnösel war Simone mit ihrem Hang zur Landwirtschaft das »Bauernmädchen«, la paysanne, wie sie sie hämisch nannten.

Auch wenn die finanziellen Sorgen mit der neuen Ehe ihrer Mutter ein Ende hatten und Jean-Antoine es auf seine Art vielleicht gut meinte, konnte Simone ihn weder leiden noch riechen. Er roch schlecht, unangenehm, sie hielt es in seiner Nähe nicht aus, besonders schlimm war es, wenn er sie ansprach. Wie nur konnte ihre Mutter seine Küsse ertragen?

Simone reckte sich, steckte dabei ihr bis auf den Rücken reichendes blondes Haar im Nacken wieder zusammen und schätzte die Strecke ab, die sie in der letzten halben Stunde geschafft hatte. Sie war zufrieden. Sie kam sehr schnell voran heute, darauf war sie stolz. Einen Hektar wollte sie geschafft haben, und Martin würde sie dafür loben. Er schimpfte nie, jedenfalls nicht mit ihr, erklärte alles mit einer Engelsgeduld, die er bei Charlotte manchmal vermissen ließ, obwohl ihn sonst selten etwas aus der Ruhe brachte.

Sie sah einen Weinstock, der sich nicht gut entwickelte, er

Da meldete sich ihr Smartphone, das in der Seitentasche ihrer grünen Arbeitshose steckte. Sie griff danach, schaute aufs Display und musste zugeben, dass ihr letzter Gedanke falsch gewesen war. Mit so einem Gerät in der Tasche konnte man überall genervt werden. Noch dazu war es die Telefonnummer ihrer Mutter. Simone zögerte. Sollte sie das Gespräch annehmen? Schicksalsergeben drückte sie die Taste.

»Ja?«

»Hallo, mein Liebling.«

Es war tatsächlich ihre Mutter. Liebling? Das war doch ihr Bruder … Was mochte sie von ihr wollen?

»Wie geht es dir?«

»Gut, danke.«

»Wo bist du?«

»Im Weinberg.«

»Was machst du gerade?«

»Ausbrechen, Wasserschosse, Doppeltriebe …«

Was sollte diese Frage? Es interessierte sie doch überhaupt nicht. Die schwierigen Aufbaujahre hatte Caroline in schlechtester Erinnerung. Heute wollte sie allerdings nicht mehr wahrhaben, wie sehr der Tod ihres Mannes sie aus der Bahn geworfen hatte.

»Geht es gut voran?«

»Ja.« Simone musste sich zwingen, einigermaßen verbindlich zu klingen. »Es geht gut voran, und es macht Spaß.«

»Das freut mich zu hören. Und mit Martin und Charlotte läuft alles gut?«

»Bestens. Nun sag schon, weshalb rufst du an?«

»Klar. Und – nehmt ihr Daniel mit?«

»Das geht leider nicht, dein Bruder hat eine neue Position im Unternehmen, er wird Assistent der Geschäftsleitung.« Der Stolz in der Stimme war deutlich zu hören. »Er muss sich auf die neue Position vorbereiten.«

Karrieregeil – das war Daniel. Er hatte sich schon immer zu wichtig genommen. Protektion, das war alles, worauf er zählen konnte, Protektion durch den Stiefvater. Sonst stellte er nicht viel auf die Beine.

»Wir hatten überlegt, dich mitzunehmen …«

Oh Gott, bloß nicht! Weshalb sagte sie das? Drei Wochen mit den beiden würde sie nicht überleben.

»… aber du bist ja immer so beschäftigt. Ich hoffe, du kommst uns nach dem Urlaub mal wieder besuchen.«

»Aber gewiss doch, maman.« Sie würde höchstens einen Tag opfern, aus Anstand, am Geburtstag. »Dann wünsche ich euch ganz schöne Ferien. Wo geht’s hin?« Simone fragte es lediglich der Höflichkeit halber.

»Nach Florida, Fort Lauderdale und Key West. Du weißt doch, Jean-Antoine ist ein großer Hemingway-Fan.«

Nicht nur das. Wie Hemingway trank ihr Stiefvater auch zu viel. »Wusstest du, dass es im Hemingway-Haus von Katzen wimmelt? Bist du nicht gegen Katzen allergisch?« Unter dieser Allergie litt Caroline erst, seit sie mit Jean-Antoine zusammen war. Simone sagte es im Ton tiefer Besorgnis, aber innerlich ein wenig gehässig, sie hatte sich die letzte Bemerkung einfach nicht verkneifen können.

Bevor ihre Mutter weiter nachfragen konnte, verabschiedete sich Simone. »Maman, ich muss hier weitermachen, ich muss heute fertig werden. Auf jeden Fall wünsche ich euch schöne Ferien!

Die rote Taste auf dem Smartphone war ihr äußerst lieb, und sie steckte das Gerät wieder in die Tasche. Sie hatten im

Obwohl sie schneller weiterarbeitete als zuvor, kamen die unliebsamen Erinnerungen gnadenlos zurück. Jean-Antoine hatte sich damals sofort in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt. Sie war es nicht gewohnt, auf Befehle, die als Ratschläge getarnt waren, zu reagieren – und sie hatte zugemacht, sich verschlossen, abgekapselt. Wieso ihre Mutter diesen Mann hatte akzeptieren können, war ihr schleierhaft. Er war das absolute Gegenteil ihres Vaters. Hatte das Geld sie überzeugt? War ihr Leben dadurch leichter geworden? Martin meinte immer, dass viel Geld schlimmer sei als Dynamit. Oder war es Jean-Antoines herrisches Wesen und dass er ihrer Mutter die Entscheidungen abnahm? Nach dem ersten gemeinsamen Wochenende hatte auch Daniel vor ihm den Diener gemacht, er fand ihn »große Klasse«, bewunderte ihn und machte sich mit seinen Söhnen gemein. Die drei Jungen zusammen waren ätzend. Daniel bekam auch gleich für die Zeit nach dem Studium einen Job in der Großkellerei versprochen. Und jetzt arbeitete er unter seinem Stiefvater, machte den Rücken krumm und redete ihm nach dem Mund. Dass sie, seine Schwester, jeden Respekt vor ihm verloren hatte, interessierte ihn einen Dreck.

Nach dem zweiten gemeinsamen Wochenende war zum ersten Mal die Rede davon gewesen, zusammen in ein Haus zu ziehen. Eine Woche später war Simone nach Saint-Émilion getrampt, war verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Abends hatte sie vor ihrem ehemaligen Elternhaus gestanden, das inzwischen Charlotte und Martin gehörte, vor jener Tür, deren Knarren sie so gut kannte. Nur Martin war zu

Drei Jahre Gefangenschaft hatte sie durchgestanden. Nachdem sie die Schule mit Bravour beendet hatte, war sie sofort wieder in Saint-Émilion aufgekreuzt. Hier war sie zu Hause. Zwei Jahre lang hatte sie eine Ausbildung zur Weinbautechnikerin gemacht, und seit zwei Jahren arbeitete sie nun mit Martin und Charlotte zusammen. Martins Frau kümmerte sich hauptsächlich ums Büro, wenn sie nicht auf politischen Kongressen weilte, mit Politikern stritt oder für NGOs auf Reisen ging. Es war kaum vorstellbar, dass sie in Paris mal Staatssekretärin gewesen war, im Kostüm oder im Hosenanzug, und der Sozialistischen Partei angehört hatte, deren gesamte Führung sie für korrupt hielt.

Zwei Rebzeilen fehlten noch. Bei der vorletzten hingen die Spanndrähte durch, die sie wieder richtete, wobei die unangenehmen Erinnerungen verblassten. Die schönen Erinnerungen blieben an diesem lauen Nachmittag, der einen herrlichen Sommer versprach. Die Tage waren lang, aber auch sie gingen zu Ende, die Sonne sank, das Licht wurde weich, es schmeichelte dem Weinlaub, glitt vorüber, legte sich sanft auf die Blätter und die Bäume, die Martin in den Weinberg gesetzt hatte. Sogar die Pyramiden aus grauem Feldstein, die er errichtet hatte, um die Monotonie der Monokultur aufzubrechen und das Leben in den Weinberg zurückzuholen, glühten in der Sonne des Nachmittags.

Da hörte sie ein Geräusch, zwar nur leise, aber sie kannte es. Ein Wagen war vorgefahren. Das musste Martin sein. Am liebsten wäre sie gleich zum Haus gelaufen, aber nein, sie wollte mit diesem Hektar fertig sein. Ab morgen würde Martin mitmachen und Monsieur Jérôme auch, und dann mussten sie dringend mit dem Mulchen beginnen. Gräser und Kräuter zwischen den Reben waren kräftig gewachsen, und was sie herausgebrochen hatten, musste in den Boden eingearbeitet werden. Wegen des Traktors hatte sie längst mit dem Nachbarn gesprochen, sie teilten sich die Maschine, alles war vorbereitet, sie war hier unabkömmlich …

Der Kies knirschte unter den Reifen. Martin Bongers war das Geräusch vertraut wie kaum ein anderes, er hatte es vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gehört, damals, als Gaston den Kies hatte aufschütten lassen, um die Zufahrt zum Haus und zur Kellerei zu befestigen. Zuerst hatte Martin das Geräusch selten wahrgenommen, vielleicht einmal im Monat, wenn er zu Besuch gekommen war, später dann täglich, während der Weinlese, bei der er Gaston geholfen hatte. In den Wintermonaten waren die Intervalle länger gewesen, bis er schließlich ganz hierher übergesiedelt war, nachdem er mit Charlotte das Weingut gekauft hatte. Während der Lese, er erinnerte sich, klang ihm nichts anderes als dieses Knirschen in den Ohren (außer dem Lärm der Maschine zum Entrappen der Trauben), denn der Kies reichte von der Straße bis zum Haus und weiter zur Garage, wohin sie die Trauben brachten. Obwohl er den Weinkeller inzwischen um mehr als die Hälfte des ursprünglichen Grundrisses erweitert und unterkellern hatte lassen, nannten alle die Kelterhalle und das Lager für seine Barriques weiterhin die Garage. Hier hatten sie angefangen, da war das Wohnhaus noch eine Baustelle gewesen. Und Gaston hatte noch gelebt.

Martin glaubte nicht an Gespenster. Er glaubte vielmehr, dass der Geist eines Menschen gegenwärtig sein konnte, an einem Ort, den der Verstorbene zu einem wesentlichen Teil geprägt hatte. Manche nannten es das Fluidum eines Ortes, für andere wieder war es der Spiritus Loci, der Geist des

Martin ärgerte sich, dass er schon wieder an Gaston dachte, genau in diesem Moment, hier in der Zufahrt zu seinem Haus. Also war es noch immer nicht sein Haus? War das überhaupt wichtig? Während der Fahrt von Frankfurt nach Saint-Émilion hatte er sich nur Gedanken darüber gemacht, wann er endlich wieder einmal mit Charlotte Ferien machen und Simone dazu bewegen konnte, bei Didier Lamarc in Châteauneuf-du-Pape für ein Jahr – oder zumindest ein halbes – zu hospitieren. Der Winzer war ihm aus seinen Zeiten als Weinhändler in guter Erinnerung.

Charlotte erwartete ihn in der Haustür, herabgebeugt, damit sie ihn durchs Wagenfenster sehen konnte. Sie lächelte, oh, wie er dieses Lächeln liebte. Es hatte ihm gefehlt.

»Wenn du nicht aussteigst, muss ich mich zu dir setzen.« Mit diesen Worten öffnete sie die Beifahrertür und ließ sich auf den Sitz fallen, ungeachtet der dort ausgebreiteten Papiere. Sie umarmte ihn: »Es ist gut, wenn du mal weg bist. Es ist aber auch schön, wenn du wieder da bist.«

»Wenn’s anders wäre, müssten wir uns Sorgen machen.«

»Die kannst du dir machen. Sorge ist vielleicht ein wenig übertrieben, aber Simone will nicht gehen. Ich hab’s versucht, mit Engelszungen geredet …«

»Das habe ich erwartet.« Martins Bewegung der Hand zum Kopf, um sich ratlos daran zu kratzen, kam angesichts Simones Starrköpfigkeit häufiger vor. Simone hatte auch vor seiner Reise jedes Gespräch verweigert. Wenn seine

»Ich habe sie bearbeitet, aber nicht überzeugen können«, bedauerte Charlotte. »Ich dachte, dass du zu viel Druck machst. Aber nein, und überreden lässt sie sich schon gar nicht. Ich glaube, sie weiß gar nicht genau, weshalb sie nicht will, doch das ist ihr egal. Wir können nur an ihre Einsicht appellieren.«

Martin würde sich damit nicht zufrieden geben. Es wäre gegen seine Überzeugung. Simone trug das Herz nicht unbedingt auf der Zunge, auch darin ähnelte sie ihrem Vater Gaston.

Im Haus läutete das Telefon, Charlotte machte sich aus der Umarmung frei und lief hinein. Martin sah ihr und ihren fliegenden Haaren nach. Das tat er gern, seit dem Tag, als er sie kennengelernt hatte, hier in diesem Haus, in der Küche, am Tag von Gastons Beerdigung. Ihr Geburtshaus stand weiter oben, auf der Anhöhe, es war das mit dem schönsten Garten in der Umgebung. Martin stieg schwerfällig aus, lediglich eine Pause hatte er sich auf der mehr als tausend Kilometer langen Strecke gegönnt. Er blickte hinüber zum Haus seiner Schwiegereltern, er ging gern hinauf, abends, nach der Arbeit, und plauderte mit Madame Lisette über ihren neuen Kräutergarten und über Hildegard von Bingen, deren Schriften sie kürzlich für sich entdeckt hatte. Sie war bei Weitem liebenswürdiger als seine leibliche Mutter, die nicht einmal zur Hochzeit mit »seiner Französin« erschienen war. Es war ein tolles Fest gewesen, hier auf dem Land hatten sie gefeiert, bei strahlendem Sonnenschein, so wie jetzt, Mitte Mai. Der Maler Pieter Bruegel der Ältere hätte seine Freude daran gehabt und reichlich Motive gefunden.

Martin stopfte die zerknitterten Unterlagen vom Beifahrersitz in seine Aktentasche. Der Papierkram nahm immer mehr Raum ein. Er hatte geglaubt, dass sich die Schreibarbeit als Winzer gegenüber seiner früheren Tätigkeit als

Er stellte sein Reisegepäck im Flur ab, direkt unter den Fotos von Gaston und Caroline. Mit ihr war der Umgang schwierig, seit sie mit diesem Mann verheiratet war, der für Martins Weine nichts übrighatte. Unter einer Million Flaschen lief bei ihm nichts, alles darunter betrachtete er als »Kinderkram«. Dass Carolines Foto auch dort hing, störte Simone. Aber das war kein Grund, es abzuhängen. Caroline hatte das hier alles mitgeschaffen.

In der oberen Reihe hingen auch die Bilder von Daniel und Simone, in zweiter Reihe erst kamen sie, Charlotte und er selbst. Er hatte die Bilder lange nicht so ausführlich betrachtet wie heute. Normalerweise rannte er daran vorbei, und nur aufmerksame Besucher erkundigten sich nach den dort hängenden Porträts.

Martin holte die Akten aus dem Auto und brachte alles ins Büro. Charlotte lächelte ihm von ihrem Schreibtisch aus zu, den Hörer am Ohr, sie bedeutete ihm hierzubleiben, doch Martin winkte ab. Er wollte erst richtig ankommen, bevor er sich wieder dem Alltag zuwandte.

»Der Journalist«, raunte ihm Charlotte zu, »ihr habt für heute ein Interview vereinbart.«

Martin stöhnte, das hatte er vergessen oder verdrängt. Er mochte es nicht, ausgefragt zu werden und über seine Weine

Sein neuer Wein, der Mémoire, war vom Handel sofort gut angenommen worden, die »Erinnerung« an seinen Freund Gaston, eine klassische Bordelaiser Cuvée. Über sie wollte der Journalist sicher nicht sprechen.

»Morgen! Morgen soll er kommen«, flüsterte Martin, heute stand ihm nicht der Sinn nach diplomatischem Gerede und Eigenlob. Und das Wenige, was es hier zu sehen gab, war seiner Meinung nach keinen Artikel wert. Bisher waren alle Interviews mit Weinjournalisten ähnlich verlaufen. Sie fragten nach den Vorfällen um Gastons Tod und wie er, Martin, zu dem Weingut gekommen war. Dreizehn Mal ist es seitdem Frühling geworden, dachte er, genauso oft hat es den Austrieb gegeben, dreizehn Mal war es Sommer und wieder Herbst geworden, der sich stets anders zeigte und nie dem des Vorjahres glich. Jedes Jahr lasen sie die Trauben zu einem anderen Zeitpunkt, mal waren fünf Lesedurchgänge nötig gewesen, im folgenden Jahr reichten vier. Immer fielen die Trauben anders aus, und im Keller waren andere Maßnahmen nötig.

»Ich habe keine Lust auf ein Interview!« Es hing ihm zum Hals heraus.

Charlotte hingegen hielt jede Erwähnung in den Gazetten für wichtig. Also würde er ihr den Gefallen tun und den Mann empfangen. Er verließ das Büro und setzte den Wagen bis vors Tor der Garage, um die übrig gebliebenen Probeflaschen ins Lager zu bringen. Er sah sich um. Simone hielt

»Im Weinberg – wo sollte sie sonst sein«, sagte Charlotte lachend. »Sie hat mit dem Ausbrechen begonnen, als ich noch geschlafen habe; sie will bis zum Abendessen einen Hektar geschafft haben. Bleib hier«, sagte Charlotte schnell, als sie bemerkte, dass Martin nach den Arbeitsschuhen griff. »Lass sie gewähren, sie will es sich beweisen, sie will es dir beweisen.«

»Das muss sie nicht, und das weiß sie.« Niemand kannte Simone so gut wie Martin.

»Es geht ihr auch darum klarzustellen, dass sie unabkömmlich ist, dass sie hier nicht wegkann. Andernfalls würde das Weingut zusammenbrechen.«

»Nichts bricht zusammen«, brummte Martin unwirsch, die Debatte um Simones Praktikum ging ihm auf die Nerven. Er hatte sich eine Lösung ausgedacht. Aus der linken Innentasche seiner Anzugjacke zog er einen dicken braunen Umschlag. Er blickte kurz hinein, grinste Charlotte an, die wusste, dass es sich um die Einnahmen aus den Schwarzverkäufen handelte, und legte den Umschlag ganz hinten in ein Schreibtischfach. Es war das Geld, das er als Prämie für Hilfskräfte brauchte, für all das, was bezahlt werden musste und steuerlich nicht anzurechnen war. Die Steuerbehörden wurden immer gieriger, die Verfolgung des Mittelstands immer rigoroser, während die Konzernchefs ihre Finanzminister überredet zu haben schienen, ihre Steuern auf quasi null zu senken.

»Als du weg warst«, sagte Charlotte, die Martins kleine Geschäfte billigte und selbst davon profitierte, »haben bei einigen Kollegen Hausdurchsuchungen stattgefunden. Man hat bei Betriebsprüfungen festgestellt, dass die Anzahl der

»Bis August arbeiten wir nur für den Staat und seine Beamten.« Es war ein Thema, bei dem Martin sich gern in Rage redete. »Würden sie mit gutem Beispiel vorangehen, würde niemand meckern. Aber was leistet so ein Abgeordneter? Fürs Reden und Handhochheben kriegt er dreizehntausend Euro im Monat! Du weißt doch selbst, was du damals als Staatssekretärin verdient hast, das waren knapp siebzehntausend. Da wundert sich niemand mehr, dass die Schattenwirtschaft wächst. Wenn sie tatsächlich das Bargeld abschaffen und wir gänzlich den Banken ausgeliefert werden, werden wir eben unsere eigenen Zahlungsmittel erfinden.«

»Seit wann bist du so radikal?« Charlotte sah ihn verdutzt an. »Sonst wirfst du mir vor, ich sei extremistisch, und jetzt bist du es selbst.«

»Viertausendsechshundert sind in dem Umschlag. Das hilft uns eine Weile weiter. Simone braucht ein Auto, und der Betrieb gibt es momentan nicht her …«

»… weil du ständig in neue Weinberge investierst.«

»Es ist die einzige Möglichkeit, Steuern zu sparen.«

»Und wir sind bis über unseren Tod hinaus verschuldet. Wir werden nie schuldenfrei sein. Ein Hektar hier amortisiert sich höchstens in dreißig Jahren. Wenn uns was passiert, fällt alles an die Banken.«

»Ich würde jetzt lieber kochen.« Martin stand auf.

»Immer wenn es heikel wird, verziehst du dich in die Küche.«

»Es entspannt. Du kannst ja mitkommen …«

 

Bei allem, nach dem Simone sich erkundigte, war ihr das Wichtigste, dass er eine Weile blieb, möglichst lange. »Charlotte kann ja zur nächsten Messe fahren, und du bleibst hier.«

Mit ihm fühlte sie sich sicher. Ihre Mutter kannte sie nur neun Monate länger. Am Tag nach ihrer Geburt hatte er sein Patenkind auf dem Schoß gehalten. Seit sie wieder hier in dem Haus lebte, in dem sie aufgewachsen war, zeigte sie sich immer wieder verstört, wenn er verreisen musste.

»Ich glaube, es hat damit zu tun, dass du immer wieder zurück nach Deutschland musstest, und dann warst du weg. Ich fand es schwer, mich darauf einzustellen.«

Und als Charlotte und er schließlich das Weingut übernommen hatten, hatte Caroline die Kinder und die Koffer gepackt und war nach Saint-Chinian ins Languedoc verschwunden. Damals hatten sie sich noch hervorragend verstanden, doch dann hatte Caroline auf Betreiben ihrer Mutter einen Prozess wegen Betruges gegen ihn angezettelt. Dahinter stand der Anwalt des korrupten Bankiers Fleury, der die Domaine für seinen nichtsnutzigen Sohn erwerben wollte.

Schließlich signalisierte Charlotte Martin mit ihrem Blick, dass er sich nicht länger vor dem leidigen Thema Praktikum drücken konnte.

»Da du ja leider selbst keine Vorschläge machst, habe ich mir etwas ausgedacht, das dir behagen wird.«

»Hör erst mal zu. Ich habe damals in Frankfurt die Weine von Didier Lamarc verkauft. Er hat sein Gut an der Rhône in Châteauneuf-du-Pape. Es ist viermal so groß wie das unsrige, vierzig Hektar oder mehr. Ich bin darauf gekommen, weil ich bei einem Weinhändler in Darmstadt die Weine gesehen habe. Sie gehören zur Spitzenklasse, und ich kannte Didier recht gut, wir haben uns bei verschiedenen Gelegenheiten getroffen. Er ist verheiratet und hat zwei oder drei Kinder, die müssten inzwischen erwachsen sein. Sein Château liegt außerhalb des Ortes, keine fünf Autominuten vom Ortskern entfernt. Nachbarn gibt es auch, soweit ich mich erinnere …«

Entnervt stöhnte Simone auf. »Warum wollt ihr mich unbedingt loswerden? Bin ich euch bei irgendwas im Weg?«

Für einen Moment hatte Martin den Eindruck, dass seine Patentochter den Tränen nahe war. Und dass sie das Gefühl hatte, abgeschoben zu werden, ließ ihn betroffen innehalten. Jetzt war sie wieder das kleine Mädchen, das er so gut kannte, und nicht die junge, selbstbewusste Frau.

»Niemand will dich loswerden oder abschieben, Simone.« Charlotte griff nach ihrer Hand, doch Simone zog sie schnell weg und verschränkte die Arme. »Wir brauchen dich hier, und du gehörst dazu. Wie kommst du auf eine solche Idee? Bitte – sag es mir, sag es uns. Wir wissen es wirklich nicht.«

Bei diesen Worten brach Simone in Tränen aus. Martin stand auf, trat hinter sie und umarmte sie. Simone ließ es geschehen, und nach einer Weile beruhigte sie sich.

»Früher, als Papa noch lebte, wohnten wir alle hier, und alles war in Ordnung. Und dann, als wir nach Saint-Chinian gezogen sind, war Oma da, verspritzte ihr Gift und funkte bei allem dazwischen. Und dann kam dieser Mann, le grand chef. Es war eine schreckliche Zeit. Aber seit ich hier bin, bei

»Wir wollen dich nicht weghaben, Simone. Wir möchten, dass du mehr lernst, als du von uns lernen kannst, damit du dich später leichter behauptest. Der Weinbau wird komplizierter, der Klimawandel schreitet voran, die Konkurrenz wird härter. Um mehr zu lernen, musst du in eine andere Umgebung, musst sehen, was die anderen Winzer tun, musst ihre Beweggründe kennen und sehen, wie sie ihr Wissen umsetzen. Die Rhône und Bordeaux – dazwischen liegen Welten.«

»Wieso muss es denn die Rhône sein? Das ist so weit weg.« Simone hörte sich an, als wollte man sie mitten in der Wüste dem Verdursten aussetzen.

Auf das Argument der Entfernung war Charlotte vorbereitet. »Es sind sechs Stunden mit dem TGV von Avignon hierher. Mit dem Auto dauert es kaum kürzer.«

»Dann braucht man aber mindestens noch mal eine Stunde bis Saint-Émilion, und ihr müsstet mich abholen.«

Die Argumente wurden schwächer, fand Martin. Vielleicht drang er doch zu ihr durch, denn in Sachen Weinbau vertraute sie ihm völlig.

»Dort unten praktizieren viel mehr Winzer als hier ökologischen Weinbau – wegen des wärmeren Klimas …«

»Du predigst doch immer, dass es so etwas nicht gibt, beim Einsatz von Schwermetallen gegen Pilze.«

Martin lächelte, Simone hatte gut zugehört, sie nutzte seine Argumente gegen ihn. Er führte ein weiteres Argument ins Feld. »Die Winter werden wärmer, die Krankheiten nehmen zu. An der Rhône regnet es deutlich weniger, es ist ein anderes Wassermanagement nötig, künstliche

»Hört sich sehr intelligent an. Und wie gut kennst du diesen … Wie heißt er noch?«

Die Frage klang bereits etwas kleinlaut. Martin spürte, wie Simones Widerstand nachließ. »Didier Lamarc. Er müsste in etwa so alt sein wie ich. Ein freundlicher Typ und wirklich ein Spitzenwinzer. Die Familie betreibt Weinbau seit Generationen.«

Simone gab noch nicht auf. »Der kennt mich doch gar nicht. Womöglich kann er mich nicht leiden. Und wo sollte ich wohnen? Haben die überhaupt Platz auf dem Weingut? Würden die mir was bezahlen oder mich nur ausnutzen wie alle Praktikanten?«

Wenn sie sich bereits auf praktische Fragen einließ, war viel gewonnen. »Das ist wie alles andere Verhandlungssache. Verhandeln gehört zu unserem Beruf, mit Banken, mit Kunden, mit Behörden und Lieferanten.«

»Ansonsten zahlen wir dir die Differenz zu deinem jetzigen Gehalt«, fügte Charlotte hinzu.

»Und wie komme ich da hin? Ich will es mir vorher ansehen und die Leute kennenlernen.«

Erstaunt bemerkte Simone, dass Martin aufstand und den Raum verließ. Er ging ins Büro, holte den Umschlag aus dem Schreibtisch und legte ihn vor Simone auf den Tisch. »Mach ihn auf!«

Verwirrt blickte sie ihn an, wog den Umschlag in der

»Das ist für dein Auto. Damit du meines nicht mehr brauchst und uns besuchen kommen kannst.«

Mit offenem Mund starrte Simone von Martin zu Charlotte. »Ihr Lumpen, ihr wollt mich kaufen?«

»Bestechen«, sagte Charlotte mit gespieltem Ernst. »Geld öffnet alle Türen.«

Die Vorstellung vom eigenen Auto schien Simones Widerstand zu brechen, doch sie war noch nicht restlos überzeugt.

»Würdest du diesen … diesen Monsieur Lamarc anrufen, Martin?«

»Selbstverständlich.«

»Ist das wirklich ein netter Mensch? Seine Familie auch?«

»Sehr angenehme Zeitgenossen, soweit ich das beurteilen kann.«

»Kannte Papa ihn? Weiß er, was ihm zugestoßen ist? Auf Mitleid kann ich verzichten«, erwiderte sie widerborstig.

»Ich glaube nicht, dass er davon weiß.«

»Würdest du mitkommen und mit mir das Weingut anschauen?«

»Auch das.«

»Wenn es mir nicht gefällt, kann ich Nein sagen?«

»Das erwarte ich sogar von dir, alles andere hätte keinen Sinn.« Martin sah auf die Uhr. Es war noch früh am Abend. »Wenn du willst, rufe ich ihn jetzt sofort an.«

Simone stimmte zu, jedoch immer noch halbherzig. »Na gut. Vielleicht erübrigt sich die Debatte, und er will keine Praktikanten haben.«

»Freu dich nicht zu früh.« Mit diesen Worten stand Martin auf und ging ins Büro. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wie Lamarc reagieren würde. Das Weingut gab es noch, und den Winzer auch, er hatte ihn zuletzt vor vier Jahren auf der Vinexpo in Bordeaux getroffen. Martin

Kurz darauf meldete sich eine Frauenstimme. »Domaine Didier Lamarc, bonjour

Martin stellte sich vor und erklärte, dass er gern mit Didier sprechen wolle. Er erinnerte sich daran, dass man sich geduzt hatte.

»Mit Didier wollen Sie sprechen?« Erstaunen oder Befremden schwangen in der Stimme mit.

»Ja sicher, ich bin doch richtig bei Didier Lamarc?«

Eine Pause entstand, als ob sie sich die Antwort erst zurechtlegen müsste. »Ja – aber wissen Sie es denn nicht?«

Jetzt meinte Martin, etwas wie Bitterkeit aus der Stimme herauszuhören. »Was soll ich wissen? Hat er … hat er etwa verkauft?«

»Nein, keineswegs, Didier … Didier wird seit zwei Jahren vermisst. Er verschwand im Juli, von einem Tag auf den anderen. Niemand hat seitdem jemals wieder von ihm gehört.«

Nur um seine Bestürzung zu überspielen, fragte Martin, mit wem er spreche.

»Ich bin … seine Ehefrau, ich führe jetzt das Weingut.« Die Stimme fand zu einem festen Ton zurück. »Didier hatte gerade den ersten Preis beim Concours de la St. Marc gewonnen, beim Wettbewerb für die besten Weine von Châteauneuf-du-Pape. Drei Tage später verschwand er. Seit damals gibt es nicht eine Spur von ihm.«

Bis vor wenigen Tagen hatte die Erinnerung an die Rhône irgendwo in seinem Hinterkopf geschlummert, verblichen wie Fotos, die zu lange in einem Schaukasten der Sonne ausgesetzt gewesen waren. Jetzt, als er sein Gepäck voller Zorn in den Kofferraum knallte, gewannen die Bilder wieder Konturen und Farbe. Vor zehn Jahren hatte ihn sein Vater auf eine seiner Geschäftsreisen mitgenommen, nach Châteauneuf-du-Pape, nach Tavel und Lirac, er erinnerte sich an Namen wie Gigondas und Vacqueyras, wo die Winzer die Namen ihrer Dörfer auf den Etiketten ihrer Weine nennen durften. Damals hatte er auch Alain kennengelernt, Alain Dupret. Sie waren im gleichen Alter, Alain arbeitete bereits im elterlichen Weingut in Lirac mit, in der Gewissheit, eines Tages die Weinberge zu übernehmen sowie die Kellerei weiterzuführen. Bis vor Kurzem waren Thomas’ Pläne ähnlich gewesen …

Die Reisetasche mit den persönlichen Dokumenten und seinem Diplom als Önologe kam auf den Vordersitz des Wagens. Zu jener Zeit, damals, vor zehn Jahren, hatte er sich mit dem Gedanken herumgeschlagen, Betriebswirtschaft zu studieren. Aber dann war alles anders gekommen. Beim Praktikum in der Champagne hatte das Unglück sozusagen seinen Lauf genommen, da hatte er Blut geleckt beziehungsweise Champagner, ein Teufelszeug. Er hatte immer geglaubt, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Wenn dieser Satz seines Vaters richtig war, was war dann mit dem

Hatte er etwas Wichtiges vergessen? Thomas glaubte, an alles gedacht zu haben, und wenn nicht, so würde er Verena bitten, es ihm nachzuschicken. Die Frau seines Vaters hatte er noch vor ihm in seinem Plan eingeweiht.

Die Rhône – jetzt war sie sein Fluchtpunkt –, dabei hatte er kaum noch eine Vorstellung von diesem Fluss. Alles, was ihm in den Sinn kam, waren die bunten Schönwetterbildchen in den Prospekten und auf den Websites der Winzer. Er hatte immer geglaubt, dass die Rhône im Genfer See entsprang, doch sie kam aus einem Gletscher in den Schweizer Alpen, ähnlich wie der Rhein, nur war die Rhône längst nicht so lang. Weshalb machte er sich Gedanken darüber, wie lang der Fluss war? Es war völlig egal, und es war auch unwichtig, und jetzt, wo er versuchte, sich diesen Fluss vorzustellen, irgendein Bild entstehen zu lassen und es festzuhalten, hatte er wieder den Rhein vor Augen. Der war ihm näher, der war gegenwärtig, drei Jahre lang war er Woche für Woche montags mit der Fähre von Bingen nach Rüdesheim übergesetzt und am Freitag zurückgekehrt. Und wenn es erforderlich gewesen war, hatte er die Fähre am Abend benutzt, nur um über Nacht eine wichtige Arbeit auf dem Weingut zu erledigen, und war am nächsten Morgen – müde wie ein Hund – zurück zur Hochschule nach Geisenheim gefahren.

Ja, die Rhône war verblasst, war zu einem Wort verkümmert, ausgetrocknet, mit diesem Fluss verband sich kein Gefühl. Oder doch? Jetzt, auf dem Weg zu neuen Ufern, nahm die Rhône wieder Gestalt an. Knapp drei Kilometer soll sie von Lirac entfernt sein. Von ihrem Weingut bis zum Rhein war es dreimal so weit. Und Lirac? Alain hatte ihm einige Bilder auf sein Smartphone geschickt: Ein Dorf wie viele, ein französisches, typisch und auch wieder nicht, doch typisch wofür? Das Internet berichtete von 888 Einwohnern. Und

Ich muss aufhören zu denken, sagte sich Thomas, ich werde noch irrsinnig, ich muss hier weg, sonst werde ich verrückt.

Leise öffnete er das Tor und warf einen zaghaften Blick zurück auf das Haus. Sein Haus? Nein, das war es nicht mehr, obwohl ihm davon ein Drittel gehörte – auf dem Papier. Blickte ihm jemand nach? Er ärgerte sich, dass er sich das fragte, dass es ihm nicht gleichgültig war, und raste mit dem Wagen bis an den Rand der Landstraße, stieg aus und schloss das Tor, diesmal ohne auf das Haus zurückzuschauen. Nichts gab es hier, bei dem er nicht selbst Hand angelegt hatte, trotzdem wollte er es nicht sehen. Es tat ihm weh, zu gehen, Verzweiflung und Zorn wechselten sich ab. Am liebsten hätte er das Tor zugeschmissen. Was dort drinnen geschah, ging ihn nichts mehr an. Dabei wusste er, dass er sich belog. Denn außer diesem Drecksack und der falschen Schlange wohnten auch sein Vater und Verena dort. Wieso hatten ihn die beiden nicht gewarnt?

Mit quietschenden Reifen fuhr er los, sah sich nicht einmal um, warf keinen Blick mehr auf seine geliebten Weinberge, er starrte zwanghaft auf den Asphalt und fuhr durch das schlafende Dorf, das ihm so blass erschien wie der frühe Morgenhimmel, so ausgestorben wie sein Inneres.

Erst gestern Abend, nach dem Kofferpacken, hatte er es seinem Vater eröffnet. »Ich gehe nach Frankreich, morgen früh fahre ich. Es ist alles mit Alain Dupret besprochen. Du kennst das Weingut. Du hattest früher mit ihnen zu tun. Ich werde dort arbeiten, Alain braucht Hilfe, sein Vater schwächelt, wie er sagte.« Ihm stehe eine kleine möblierte Wohnung zur Verfügung. Die müsse er allerdings von seinem Gehalt bezahlen, was ihm egal war, um Geld war es ihm nie gegangen. »Dann sehen wir weiter …«

Thomas’ Achselzucken war kein Zeichen von Gleichgültigkeit, es war vielmehr sein Ausdruck seiner Hilflosigkeit, aber er konnte nicht bleiben.

»Wo willst du hin? Nicht, dass ich dich daran hindern wollte. Aber – wo willst du hin?«

»An die Rhône, zu Alain Dupret, wie ich sagte, mit ihm ist alles besprochen.«