Schwartz, Richard Das Blut der Könige

PIPER

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ISBN 978-3-492-97371-7

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, München unter Verwendung eines Motivs von Anton Kokarev

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Vorwort

Das Blut der Könige ist eines dieser Bücher, die beinahe nie geschrieben worden wären.

Die Idee zu dem Buch kam mir unter dem Eindruck von Tschernobyl und dem Kalten Krieg. Noch war das Schreiben nur ein Hobby für mich. Es ist also ein Weilchen her.

In den frühen Neunzigern nutzte ich diese Buchidee dann als Weltentwurf für eine Rollenspielkampagne; anders als beim Askir-Zyklus, bei dem man mir das immer wieder unterstellt hat, war dies hier also tatsächlich der Fall.

Kein Rollenspielabend lässt sich einfach so abschreiben, doch die Figuren dieser Geschichte wurden durch die Spieler meiner Kampagne erst richtig lebendig.

Ich möchte an dieser Stelle Kai Rottenbacher, Ingo Lehman und anderen danken, vor allem aber Ingo Totzke, Volker Spatz und Christian Schaub, die Argor, Garret und Tarlon so lebendig für mich machten.

Ihnen widme ich dieses Buch.

Die Krone von Lytar schrieb ich, damals noch als Hobby, im Anschluss an die Kampagne, und es ist das erste Buch, das über einen Entwurf hinausging und beendet wurde.

Das erste fertiggestellte Buch ist ein Meilenstein für jeden Autor. Schade, dass es dieses Buch nicht mehr gibt …

Ich hatte das Glück, mit einem anderen Buch die Aufmerksamkeit von Herrn Michael Meller zu erwecken, der mein Agent wurde und dem ich dafür danke, dass er mir bei passender Gelegenheit die Ohren lang zieht, wenn ich es brauche.

Das Erste Horn war das erste Buch, das von mir veröffentlicht wurde. Es erweckte Interesse, Herr Meller fragte mich, ob ich andere Texte hätte, und ich schickte ihm das erste Kapitel der Krone von Lytar zu.

Er fand einen Verlag für mich, der Vertrag wurde unterschrieben. Ich war gerade dabei gewesen, die Firma, mit der ich zuvor meinen Lebensunterhalt verdient hatte, zu schließen, um mich ganz der Schriftstellerei zu widmen, und für fünf Tage besaß ich keine Daten-Back-ups außerhalb meiner eigenen vier Wände. Was sich rächte, als es bei mir einen Zimmerbrand gab, der bewies, dass bei einem lang andauernden Schwelbrand feuerresistent nicht feuersicher ist.

Damit war, neben Dutzenden anderen Manuskripten, Ideen und Entwürfen, auch das Originalmanuskript der Krone von Lytar verloren.

Der Vertrag war bereits unterzeichnet und ich musste das Buch neu schreiben.

Kein leichtes Unterfangen, und das Buch, das neu entstand, war naturgemäß nicht das gleiche, das verbrannt war.

Ich erhielt bald darauf den Auftrag, den zweiten Band zu schreiben, was ich auch tat, um dann eine wichtige Lektion zu lernen. Nämlich darauf zu achten, was der Lektor daraus macht.

Diese ersten beiden Bücher wurden so sehr umgeschrieben, dass ich mein eigenes Wort nicht mehr erkannte, und wir kämpften darum, die Rechte an den beiden Büchern zurückzuerlangen.

Als es so weit war, dachte ich nicht mehr daran, die Trilogie fertig zu schreiben. Die Bücher waren bereits zweimal (in der falschen Version) veröffentlicht worden und es galt als unwahrscheinlich, dass ein Verlag sie noch einmal aufgreifen würde.

Piper tat es.

Zum ersten Mal erschien die Krone von Lytar nun so, wie ich sie geschrieben hatte.

Ich war dankbar für die Gelegenheit, die Geschichte zu Ende zu schreiben, ich finde, sie hat es verdient.

Doch so einfach war das nicht. Ich hatte ein Konzept, eine Idee für den dritten Band gehabt. Aber nach all den Jahren, den anderen Projekten, den Veränderungen in meinem Leben und der Ungewissheit darüber, ob und wann wir die Rechte zurückerhalten würden, trat dieses Projekt mehr und mehr in den Hintergrund.

Und als es so weit war, den dritten Band zu schreiben, stellte ich fest, dass ich nicht mehr die geringste Idee hatte, wie ich mir damals den Fortgang der Geschichte vorgestellt hatte.

Kurz zuvor hatte ich den Wanderer fertiggestellt und damit den Askir-Zyklus zu Ende gebracht und es fiel mir schwer, mich wieder in die Lytar-Chronik einzufinden.

Als dritter Band sollte Das Blut der Könige sich harmonisch an die Vorgänger anfügen, die Veränderungen in meinem Schreibstil nicht auffallen und, vor allem, ein zufriedenstellendes Ende darstellen, um die Leser, die die ersten beiden Bände in der Hoffnung gekauft hatten, auch das Ende der Geschichte lesen zu können, nicht zu enttäuschen.

Es brauchte länger, als ich es für möglich gehalten habe, doch ich hoffe, dass euch der abschließende Band der Lytar-Trilogie gefällt.

 

R. Schwartz

Prolog

Als Lamar di Aggio, Gesandter des Reiches und Mitglied des Ordens von Seral, an diesem Morgen sein Zimmer verließ, blieb er auf der Schwelle stehen und rieb sich erstaunt und verschlafen die Augen. Er war der Ansicht gewesen, früh aufgestanden zu sein, gleich beim ersten Hahnenschrei, doch nun sah er, dass er nicht der Einzige gewesen war.

Der alte Gasthof war das größte Gebäude im Dorf, doch an diesem Morgen schien er aus seinen Nähten bersten zu wollen. Bis auf den Tisch in der Mitte des Gasthofs, an dem nur zwei Stühle standen, war jeder Sitzplatz belegt, quetschten sich die Menschen auf den langen Bänken und wer keinen Platz gefunden hatte, der stand eng gedrängt an den Wänden oder zwischen den Tischen. Selbst auf dem Kaminsims hatte man es sich bequem gemacht und die umlaufende Galerie war derart voll von Menschen, dass man befürchten könnte, die alten Balken würden unter der Last brechen. Oder auch nicht, dachte Lamar indessen, als er die massiven Balken in Augenschein nahm.

Lytara war ein kleines Dorf und es schien ihm, dass sich hier eindeutig mehr Menschen versammelt hatten, als man ob der Größe des Dorfes hätte vermuten können.

Die Leute hatten sich überraschend leise unterhalten, nur ein stetiges Gemurmel war vom Gastraum aus zu ihm vorgedrungen, doch als man ihn am oberen Ende der Treppe wahrnahm, erstarb auch dieses und man schaute ihn still und schweigend an. Wahrhaftig jeder hier in diesem Gasthof.

Und doch waren es keine feindlichen Blicke, eher freundlich, neugierig und irgendwie auch erwartungsvoll.

Fast hätte Lamar über seine eigene Schulter geschaut, um nachzusehen, ob dort nicht jemand anderes stand, er selbst war solche Aufmerksamkeit nicht gewohnt.

Tatsächlich verlangte es Lamar einige Überwindung ab, um einen Fuß vor den anderen zu setzen und langsam die Treppe hinunterzugehen.

»Mistral zum Gruße und möge sie diesen schönen Morgen segnen!«, rief der Wirt und eilte herbei, um einige der Umstehenden vom Fuße der Treppe fortzuscheuchen. »Macht doch dem Manne Platz«, rief er mit seiner dröhnenden Stimme. »Und hört auf, ihn so anzugaffen! Er ist kein Kaninchen mit drei Ohren! Was soll er von uns halten?«

Gestern hätte der Gesandte noch nicht gewusst, was er auf eine solche Begrüßung hätte erwidern sollen. Eher hinter Wänden aus Büchern zu Hause, war der Gesandte etwas scheu, doch seit gestern hatte er viel gelernt.

»Der Segen der Göttin für euch alle«, ließ er sich also vernehmen und begrüßte damit nicht nur den Wirt, der mit einem ausgestreckten Arm zu dem Tisch in der Mitte wies, der sich unter der Last eines reichlichen Frühstücks fast zu biegen schien, sondern auch die anderen Gäste des Gasthofs.

Es war, als hätte man nur darauf gewartet, dass er solches oder Ähnliches sagte, denn überall nickten die Menschen oder lächelten, fast als ob sie erleichtert wären. Was nicht bedeutete, dass man ihn nicht weiterhin neugierig und irgendwie erwartungsvoll ansah.

»Was ist mit dem alten Mann, Wirt?«, fragte Lamar höflich, als der Wirt ihm den Stuhl zurechtrückte.

»Er wird gleich kommen, Ser«, antwortete der Wirt geflissentlich. »Er ließ Euch ausrichten, dass Ihr schon ohne ihn anfangen sollt zu speisen, er hätte nur noch kurz etwas zu erledigen, doch lange würde es nicht dauern.« Er sah fragend zu dem Gesandten hin. »Kann ich noch etwas für Euch tun? Begehrt Ihr vielleicht nach anderem?«

Lamar musterte den reich gedeckten Tisch. Falls überhaupt etwas fehlen konnte, fiel es ihm nicht auf. »Danke, nein, Wirt«, meinte der Gesandte höflich. »Zumal ich ja inzwischen weiß, dass mir alles aus Eurer Küche vorzüglich munden wird.«

»So sollte es auch sein«, strahlte der Wirt. »Ja, so sollte es auch sein. Wie soll ein Tag gut werden, wenn man ihn nicht mit gutem Essen anfängt?«

»In der Tat«, lächelte Lamar.

»Wie wäre es, wenn du uns den Tag gut anfangen lässt?«, rief einer der anderen Gäste, ein stattlicher Mann, dem das Wams spannte. »Jetzt, wo der Gesandte da ist, werden wir hoffentlich ebenfalls bedient?«

»Mach dir keine Sorgen, Timor«, lachte der Wirt. »Wir bekommen dich schon satt!«

»Das sagt mein Weib auch immer!«, grinste Timor und klopfte sich auf seinen Bauch. »Und schaut mich an, dünn wie eine Bohnenstange!«

Freundliches Gelächter ertönte, zugleich öffnete sich die Tür zur Küche und die Schankmädchen kamen heraus, jede mit mehreren Holztellern beladen, auf denen sich das Essen türmte, ein Wunder, dachte Lamar bewundernd, dass ihnen dabei kein Missgeschick geschah. Seit gestern hatte der Wirt seine Bediensteten verstärkt, drei Lamar bislang unbekannte junge Frauen und zwei junge Männer halfen zusätzlich dabei, die hungrigen Gäste zu bedienen, und auch sie warfen dem Gesandten neugierige Blicke zu, wobei sie versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen.

Eine von den neu hinzugekommenen jungen Frauen schenkte dem Gesandten Kaffee ein, so sorgfältig, als ob ihr Leben davon abhängen würde, und atmete erleichtert aus, als es ihr gelungen war, seine Tasse zu füllen, ohne dass auch nur ein Tropfen danebenging. Mit einem tiefen Knicks eilte sie daraufhin wieder davon. Als der Gesandte nach der Tasse griff, schien es, als ob jeder hier im Gasthof den Atem anhalten würde.

Göttin, dachte Lamar verzweifelt und zwang sich, einen Schluck zu nehmen. Hat denn niemand etwas Besseres zu tun, als mich anzugaffen?

»Macht Euch nichts daraus, Freund Lamar«, hörte er die erheiterte Stimme des Geschichtenerzählers hinter sich, als der alte Mann um den Tisch herumging und sich mit einem zufriedenen Seufzer setzte. »Sie haben von Euch gehört und sind aus der gesamten Umgebung hierhergekommen, um sich ein Bild von Euch zu machen.«

»Warum?«, fragte Lamar erstaunt. »Ich bin nicht wichtig.« Er wies mit seiner Gabel auf die anderen Gäste. »Ich könnte verstehen, dass man neugierig ist, wäre ich der Prinz, bei ihm fallen die Menschen beständig über ihre eigenen Füße, um auch nur einen Blick auf ihn zu erhaschen. Doch ich bin nur ein besserer Bote.«

»Und bescheiden«, lächelte der alte Mann. »Bei uns gilt das als eine Tugend.«

Lamar war abgelenkt, er schaute sich suchend um. »Wenn wir schon bei Boten sind, was ist mit dem Herold des Königs?«

»Ich habe ihn fortgeschickt«, erklärte der alte Mann, während er nach seinem Frühstücksei griff. »Was ich heute hier zu erzählen habe, geht ihn nichts an.«

»Doch jeden, der hier ist?«, fragte Lamar.

Der alte Mann nickte. »Es ist unsere Geschichte. Doch sie ist nur für Eure Ohren bestimmt.«

»Wir hören sie immer wieder gerne«, rief eine junge Frau zu ihnen herüber. »Du erzählst sie nur so selten!«

Der alte Mann nickte. »So soll es sein. Eine besondere Geschichte für besondere Anlässe. Würde ich sie immer erzählen, wäre sie wohl nicht besonders!«

»Das bezweifle ich«, lachte ein anderer. »Diese Geschichte wird immer besonders sein!«

Der alte Mann lachte leise und hob seine Hand. Schlagartig wurde es still. »Dann lasst sie mich erzählen und stört nicht weiter!« In dem Moment wurde sein Lächeln weiter und Lamar drehte sich in seinem Sitz um, um zu sehen, was den alten Mann so guter Laune sein ließ. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, es war Saana, die auf Lamar zueilte und ihn mit einem weiten Lächeln herzlich umarmte, bevor sie Anstalten machte, ihm auf den Schoß zu klettern. Etwas hilflos schaute der Gesandte zu dem Geschichtenerzähler hin, doch Rettung nahte in Gestalt von Saanas Mutter, die ihre Tochter geschickt einfing. Sie schaute sich um, hielt mit der einen Hand Saana, während sie die andere in ihre Hüfte stemmte.

»Ihr«, wandte sie sich in freundlichem, aber bestimmtem Ton an zwei junge Burschen, »Ihr sitzt auf unserem Platz.«

»Verzeiht«, entgegnete einer der beiden, als sie hastig aufsprangen. »Das haben wir nicht gewusst.«

»Jetzt wisst Ihr es«, gab Saanas Mutter zurück und nahm mit ihrer Tochter Platz, während die beiden jungen Burschen sich einen Platz in der Menge suchten.

»Du kannst jetzt anfangen«, sagte Saana gewichtig. »Ich bin da.«

»Das ist nicht zu übersehen«, lachte der alte Mann. »Was willst du hören?«

»Erzähle, wie es mit Großmutter weiterging!«, forderte Saana aufgeregt.

Lamar sah den Geschichtenerzähler fragend an.

»Sie meint Vanessa«, lächelte der alte Mann. Er kaute gemächlich. »Wie ihr alle wisst, gelang es der Priesterin Leonora, den dunklen Priester Darkoths, Lord Daren, zu erschlagen.«

»Und ihm die Hand Darkoths abzunehmen«, meinte Saana aufgeregt. »Wie ging es danach weiter?«

»Nun, damit war die Schlacht um Berendall noch nicht vorbei«, sagte der alte Mann mit einem Lächeln. »Tatsächlich hatte es noch keine wahre Schlacht gegeben, denn das Regiment des Kanzlers hatte das Lager vor den Toren der Stadt ja nicht verlassen. Doch es stellte noch immer eine Bedrohung dar …«

1 In der Audienzhalle

Einst war die Audienzhalle von Graf Torwald zu Berendall ein erhabener, geradezu majestätischer Ort gewesen, mit hohen Fenstern, in denen die Sonne durch reiche Bleiverglasungen hatte scheinen können, die Mistrals Wunder zeigten. Doch jetzt waren die Fenster geborsten, eine der hohen Steinsäulen, die ebenjene Fenster fassten, war gebrochen und lag in Stücken auf dem steinernen Boden. Nur die großen Tische, an denen in glücklicheren Tagen der Graf zum Fest geladen hatte, standen noch, doch auch sie waren von Nestroks Drachenodem verkohlt und gezeichnet. Von allem anderen, was hatte brennen können, war kaum noch mehr geblieben als verkohlte Reste und Asche, nur ein Wandteppich, der ein mit einem Hund spielendes junges Mädchen in altertümlicher Tracht zeigte, war auf wundersame Art der Vernichtung entronnen.

Überall waren Soldaten des Grafen damit beschäftigt, die verkohlten Trümmer und Leichen wegzuräumen, der Graf selbst stand vor dem geborstenen Fenster und sah auf den Innenhof der Burg hinab, wo man die Toten der Schlacht in langen Reihen bettete, die feindlichen Priester und Soldaten links, die gefallenen Verteidiger rechts. Schon jetzt lag auf der rechten Seite ein Vielfaches der linken.

»So viele«, sagte der alte Graf betrübt. Noch immer trug er seine schwere Plattenrüstung und falls ihr Gewicht ihn drückte, zeigte er es nicht.

»Bedenkt man, mit was wir es hier zu tun hatten, können wir dankbar sein, dass es nicht noch mehr sind«, meinte Knorre grimmig und wies mit seiner aus Silber getriebenen Flasche zum hinteren Teil des Hofes, wo ein Scharfrichter sich gerade einen Leichnam auf dem Richtblock zurechtlegte und diesem mit einem Hieb seines schweren Beils den rechten Arm knapp an der Schulter abschlug. Der Gehilfe des Scharfrichters tat den Arm in eine stählerne Kiste und füllte sie mit flüssigem Blei auf. »Meinst du, Belior versteht die Botschaft?«

»Das ist mir egal«, knurrte der Graf. »Lord Daren diente Darkoth, die Welt soll sehen, dass er das Schicksal seines Gottes teilt. Ich werde diese Kisten bis zu den Grenzen des Greifenlandes bringen und an den Hauptstraßen aufstellen lassen, an ihnen eine Tafel, die erklärt, was sich hier heute zugetragen hat. Dies sind die Greifenlande, Knorre«, grollte er und nahm dem Arteficier die Flasche ab, um sie anzusetzen und einen kräftigen Schluck zu nehmen. »Solange ich lebe, wird hier kein Anhänger Darkoths Freunde finden.«

»Das ist meine Flasche! Lass mir etwas übrig!«, beschwerte sich der hagere Mann und griff nach seiner Flasche, doch der Graf wich ihm überraschend behände aus.

»Es ist mein Wein«, erinnerte der Graf seinen alten Freund. »Glaubst du, ich habe nicht gesehen, wie du deine Flasche aus meinen Karaffen aufgefüllt hast?«

 

»Freund?«, fragte Lamar überrascht. »Ich dachte, Knorre und der Graf wären verfeindet?«

»Das dachten wir auch«, nickte der alte Mann. »Es stellte sich heraus, dass die beiden sich schon seit Jahrzehnten kannten und sowohl befreundet als auch verfeindet miteinander waren. Es wechselte wohl oft.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt waren sie wohl wieder Freunde. Kann ich nun weitererzählen?«

»Verzeiht«, sagte der Gesandte hastig. »Bitte fahrt fort.«

 

»Torwald«, tönte eine klare Stimme vom Eingang der großen Halle her und unterbrach die beiden Streithähne. »Gib Knorre seine Flasche zurück und ihr beide hört sofort auf, euch zu streiten.« Sera Leonoras Stimme war überraschend sanft, was daran liegen mochte, dass sie lächelte.

»Wir streiten uns nicht«, widersprach Knorre übertrieben empört.

»Es ist nur Gewohnheit, Sera«, stimmte der alte Graf ihm lächelnd zu, was ihn gleich zwei Dutzend Jahre jünger erscheinen ließ, und überreichte mit einer überraschend eleganten Bewegung die Flasche wieder an Knorre. Der enttäuscht das Gesicht verzog, als er sie ansetzte und ihr nur noch einen einzigen Tropfen abgewinnen konnte.

»Leer«, stellte er betrübt fest. »Schon wieder.« Er schaute vorwurfsvoll zu der Sera hin, an deren Seite nun auch Argor und Sina, Leonoras Tochter, die Halle betreten hatte.

»Es war für einen guten Zweck«, erinnerte ihn die Sera mit einem Lächeln und schaute zu Garret hin, der mit Tarlon etwas abseits stand und sich eindringlich mit seinem großen Freund unterhielt.

»Ja«, seufzte Knorre und steckte die Flasche wieder ein. »Ich weiß.« Er schaute sie fragend an. »Wolltest du nicht in die Stadt gehen und den Verwundeten den Beistand der Göttin geben?«

»Wollte ich«, nickte die Sera. »Und habe ich auch getan, bis mir ein Meldeläufer vom Tor über den Weg lief. Man hat eine Gruppe Reiter gesichtet, die auf das Tor zureiten.« Sie schaute zu dem Grafen hin. »Ich nehme an, sie wollen zu dir.«

Graf Torwald seufzte und rieb sich erschöpft die Schläfen. »Neuer Ärger?«, fragte er müde. »Wenn es dieser Speichellecker Vidan ist, der seine Aufwartung machen will, um erneut zu versuchen, mich zum Verrat am Greifen zu bewegen, lasse ich ihn auf der Stelle aufhängen!«

»Ich glaube, du wirst dich nicht mehr über diesen Vidan ärgern müssen«, lächelte die Sera, während sie zusah, wie sich ihre Tochter und Argor zu den beiden Freunden gesellten. »Der Bote sagt, dass dieser Trupp unter der Flagge des Greifen reitet. Ich denke, es wird Meliande sein.« Sie strich ihr Gewand glatt und runzelte etwas die Stirn. »Falls sie es in der Tat sein sollte, dann hat sie sich wahrlich lange genug Zeit gelassen.«

»Meliande?«, fragte der Graf überrascht. »Aus diesem Dorf Lytara, von dem ich immer wieder höre?«

Die Sera nickte.

»Wenigstens halten sie ihre Traditionen aufrecht«, seufzte der Graf. »Sie trägt einen ehrbaren Namen.« Er schaute sich etwas hilflos in der großen Halle um. »Nicht gerade der geeignete Ort, um jemanden zu empfangen.« Er ballte die Fäuste. »Ich würde ihnen gerne Hilfe zukommen lassen, doch solange dieses verfluchte Regiment vor unseren Mauern lagert, sind mir die Hände gebunden. Ich verstehe sowieso nicht, warum sie in ihrem Lager sitzen und nichts tun«, knurrte er. »Befinden wir uns nun im Krieg mit Thyrmantor oder nicht?«

»O doch, wir befinden uns im Krieg«, meinte Knorre grimmig. »Vielleicht nicht mit Thyrmantor, zumindest aber mit Belior selbst.« Er runzelte jetzt auch die Stirn. »Vielleicht wissen diese Truppen es nur nicht.« Er schaute den Grafen fragend an. »Gab es eine Kriegserklärung?«

»Nein«, antwortete dieser mit grimmiger Miene und tat eine Handbewegung, die die ganze zerstörte Halle einschloss. »Nur dies.« Er atmete tief durch und straffte sich. »Wir werden tun, was wir können, um der Abordnung aus Lytara Hilfe zu gewähren. Es dürfte wenig genug sein«, fügte er bitter hinzu.

»Ich denke nicht, dass der Greif kommt, um sich Hilfe zu erbitten«, lächelte Sera Leonora. »Vielmehr glaube ich, dass Meliande Hilfe bringt.«

Der alte Graf schaute sie überrascht an und lächelte verhalten. »Dann ist sie ihrer Namensvetterin ähnlicher, als es ihr wahrscheinlich selbst bewusst ist. Weißt du, dass es in Lytar eine Prinzessin mit diesem Namen gegeben hat? Sie führte die Überlebenden des Kataklysmus aus der Stadt heraus und gab ihnen eine neue Zukunft.«

»Ja«, lächelte die Sera. »Ebenjene Meliande ist jetzt auf dem Weg zu dir.«

Die Augen des Grafen weiteten sich. »Prinzessin Meliande selbst? Wie kann das sein? Sie ist schon vor Jahrhunderten gestorben!«

»Du musst nicht alles ernst nehmen, was du so hörst«, tadelte Knorre ihn erheitert. »Du kannst sie ja fragen, wenn sie hier ist. Wenn Leonora sagt, es ist Meliande, dann ist sie es auch. Sag, weißt du noch, wie dein Lehnseid lautet? Wenn nicht, würde ich vorschlagen, dass du dein Gedächtnis auffrischst.«

»Göttin!«, hauchte der Graf ergriffen. »Wie … das … kann es wahr sein?« Er schaute Hilfe suchend zu Leonora hin.

»Es ist wahr«, nickte diese lächelnd.

Der alte Graf blinzelte und richtete sich zu seiner vollen Höhe auf. »Ihr da«, rief er und deutete auf eine Gruppe von Soldaten, die vergeblich versuchten, einen der zwei schweren Eichentische zu bewegen. »Hört sofort damit auf! Lasst die Ratshalle öffnen und sorgt dafür … Göttin«, knurrte er, »ich kümmere mich lieber selbst darum, sonst wird das nichts!«

Der Arteficier und die Sera schauten ihm erheitert hinterher, als er mit langen Schritten die große Halle durchquerte.

»Göttin«, lachte Knorre. »Ich hoffe, ich bin noch ebenso rüstig, wenn ich sein Alter erreiche!«

Leonora trat an ihn heran und legte ihm lächelnd eine Hand auf den Arm. »Du bist älter als er«, erinnerte sie ihn erheitert. »Sag bloß, du hast es schon wieder vergessen?«

Er schaute sie verwundert an. »Was soll ich vergessen haben?«

»Nichts«, antwortete die Sera und ihr Lächeln schien auf einmal trauriger. »Wenigstens nichts Wichtiges.«

2 Das Wiedersehen

Garret atmete erleichtert auf, als er Vanessa die Treppe herunterkommen sah. Wie er und Tarlon hatte sie sich waschen und neu einkleiden können und trug nun einen weiten, mit Brokat bestickten Wams, eine eng anliegende lederne Hose und Stiefel. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und sie lächelte etwas scheu, als sie Garrets Blick bemerkte.

»Vanessa!«, lachte Garret, als er auf sie zueilte und in seine Arme zog, noch bevor sie den Fuß auf die letzte Stufe hatte setzen können. Garret hatte seinen Kopf in ihrer Halsbeuge vergraben und konnte nicht sehen, wie ihr Lächeln mit einem Mal auf ihrem Gesicht erstarrte, doch er schien gleichwohl etwas zu bemerken, löste sich ein Stück von ihr und schaute sie forschend an. »Ist etwas? Geht es dir nicht gut?«

»Es ist nichts«, antwortete sie und diesmal schien ihr Lächeln echt, doch dann begegnete ihr Blick dem ihres Bruders, dessen Gesicht einer Maske aus Stein glich. Sie schaute ihn fragend an, doch Tarlon schüttelte nur leicht den Kopf und schien sich ein wenig zu entspannen, auch wenn seine Wangenmuskeln noch immer hart hervortraten.

Dann fiel ihr Blick auf Argor, der mit Sina an seiner Seite auf sie zuging, und sie löste sich aus Garrets Armen, um auf den überraschten Zwerg zuzueilen und ihn so plötzlich heftig zu drücken, dass der Sohn des Radmachers froh darum war, dass seine Rippen fester waren als die eines Menschen, gewiss hätte sie ihm sonst die ein oder andere eingedrückt.

»Argor!«, rief sie, während Tränen aus ihren Augen rannen. »Ich kann es nicht fassen, dass du lebst! Ich habe dich vorhin schon gesehen, doch ich …« Für einen Lidschlag lang schien ihr Lächeln gezwungen, während ein düsterer Schatten über ihre Augen glitt. »Ich war abgelenkt und wie betäubt, erst eben, als ich mich umgezogen habe und etwas zur Ruhe kam, erinnerte ich mich daran! Sag, wie ist das möglich?« Sie sah von Argor zu Sina hin und musterte sie neugierig. »Wer ist deine Freundin, Argor? Willst du sie mir nicht vorstellen?«

»Knorre fand in Lytara einen Stab, dessen Magie brachte uns hierher, bevor wir ersaufen konnten«, antwortete Argor mit einem breiten Grinsen. »Das ist Sina«, fuhr er dann fort. »Die Tochter von Knorre und Leonora.« Sein Blick wies zu der hochgewachsenen Frau, die sich am Fenster mit Knorre unterhielt. »Sie gaben uns Quartier und haben uns geholfen. Ohne sie«, fügte er ernst hinzu, »hätten Garret und Tarlon ihre Wunden nicht überlebt.«

»Oh«, sagte Vanessa betroffen und sah unwillkürlich zu Garret und Tarlon hin, die beide näher kamen. »Ich habe es fast vergessen, war mir nicht sicher, aber ich … Göttin!«, entfuhr es ihr. »Ich hoffte, ich hätte es mir nur eingebildet, doch ich sah euch beide niedergehen!«, fügte sie in vorwurfsvollem Ton hinzu, als ob es Garrets oder ihres Bruders Schuld gewesen wäre. »Du hast einen Hieb auf den Kopf erhalten, der ihn fast gespalten hat, und du wurdest von einem Speer durchbohrt!«

»Ein Kratzer«, sagte Garret nachlässig. »Weiter nichts!« Er versuchte, sein Lächeln unbekümmert erscheinen zu lassen, doch ausnahmsweise gelang es ihm nicht so ganz.

»Ja?«, meinte Vanessa grimmig, als sie an ihn herantrat und bevor er es verhindern konnte, sein Haar zur Seite strich. »Das nennst du einen Kratzer? Die Narbe zieht sich über deinen ganzen Schädel und muss …« Sie stockte und wo sie eben noch fast verärgert erschienen war, schossen nun Tränen in ihre Augen und sie warf sich an Garrets Brust und drückte ihn derart fest, dass Argor Garrets Rippen knacken hörte. »Ich hätte dich beinahe verloren!«, schniefte sie. »Und dich auch, Tar! Ihr könnt beide mit dem Schwert nicht umgehen, ihr habt im Nahkampf nichts zu suchen!«

»Wenn du dich erinnerst, Vani«, sagte Tarlon beschwichtigend, »hatten wir nicht die Wahl.«

»Es wäre anders ausgegangen, hätte ich meinen Bogen und Tar seine Axt in den Händen gehalten«, fügte Garret hinzu. »Eines kann ich dir versprechen«, grinste er. »Noch einmal geschieht uns das nicht.« Sein Lächeln wurde schwächer, als er zu seinem schweren Bogen hinsah, der ohne aufgezogene Sehne an der Wand stand. »Auch wenn er mir im Moment nichts nutzt, jemand hat mir die Sehne durchtrennt.« Jetzt war er es, der vorwurfsvoll klang. »Weißt du, dass mir noch nie eine Sehne gerissen ist? Ich habe keinen Ersatz dabei, wie soll ich jetzt eine neue finden?«

Doch Vanessa, die zunächst so ausgesehen hatte, als blickte sie schuldbewusst zu Boden, hörte ihm schon gar nicht mehr zu, obwohl sie noch immer in seinen Armen lag. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

»Argor!«, strahlte sie. »Du hast einen Bart!« Sie drehte sich in Garrets Armen zu dem Sohn des Radmachers um. »Wenigstens den Anfang von einem!«

»Das hättest du nicht sagen brauchen«, beschwerte sich Argor und strich sich über seine Barthaare. »Ein guter Bart braucht seine Zeit«, erklärte er ihr erhaben. »Vater sagt, dass es über hundert Jahre gebraucht hat, bis seiner so gewachsen war, wie er es sich gewünscht hatte!« Doch dann lachte auch er. »Aber ja, ich habe ihn mir wachsen lassen. Nachdem ich zweimal fast ersoffen bin, glaube ich, dass ich ihn mir verdient habe.« Er stockte etwas. »Ich hoffe nur, dass Vater zustimmt.«

»Warum sollte er nicht?«, fragte Sina mit einem weiten Lächeln. »Du hast Heldentaten vollbracht, Argor. Niemand wird bestreiten können, dass du ein Mann bist, der ein Anrecht auf seinen Bart hat.« Sie kicherte. »Wir sollten dennoch besser nicht erwähnen, welche Kleider du getragen hast.«

Vanessa, Garret und Tarlon sahen fasziniert zu, wie Argor rot wurde. Sie konnten sich nicht erinnern, dies jemals gesehen zu haben. Doch, dachte Garret und grinste. Als er Argor beim Lesen in einem Gedichtband, den er von Sera Tylane erhalten hatte, erwischt hatte.

»Wieso?«, fragte Tarlon unverständig, als er die Lederkleidung des jungen Zwergs musterte. »Was ist falsch an deinen Kleidern?«

»Nichts«, knurrte Argor. »Und wir werden auch nicht weiter darüber sprechen!«

 

»Natürlich«, sagte der Geschichtenerzähler mit einem leisen Lachen und griff nach seiner Flasche, »ließ Garret später nichts unversucht, um herauszufinden, von was die Sera Sina gesprochen hatte. Argors Steckbrief brachte ihn auf die richtige Spur und Jahre später gelang es ihm sogar die Kleider aus dem Haus der Sera Leonora zu entwenden. Über lange Jahre zog er Argor immer wieder damit auf. Was immer zu dem gleichen Ergebnis führte.«

»Natürlich«, lachte Lamar. »Zu welchem Ergebnis?«, fragte er dann und schaute sich verwundert um, als die meisten hier im Gasthof zu lachen anfingen.

»Es führte zuverlässig dazu, dass Argor, mit dem Hammer in der Hand, Garret durch das Dorf jagte«, erklärte Saanas Mutter erheitert. »Danach lagen sie dann lachend und außer Atem irgendwo im Gras herum und gingen anschließend etwas trinken.«

Lamar lachte. »Das würde ich gerne sehen!«

»Nun, vielleicht kommt es noch dazu«, meinte der alte Mann erheitert. »Wenn er davon hört, dass der König gestorben ist, wird er wissen, dass ich diese Geschichte erzähle. Und zu uns zurückkommen.«

»Er ist nicht hier?«, fragte Lamar und schaute sich um, als hätte er irgendwo einen Zwerg übersehen können.

»Nein. Er ist auf Brautschau. Was ein wenig dauern kann«, erklärte der alte Mann. »Wo waren wir? Richtig. Beim Grafen, kurz bevor Meliande ihm ihre Aufwartung machte. Wir haben sie verlassen, als sie die Mauern Berendalls vor sich liegen sah und …«

»Bitte«, sagte der Gesandte leise. »Wartet. Ihr seid Garret, nicht wahr? Ihr müsst es sein, doch warum …«

»Erzähle ich es nicht so?«, fragte der alte Mann, während er sich Kaffee nachschenkte.

Lamar nickte.

»Zwei Gründe«, seufzte der alte Mann und trank einen Schluck, um danach die Tasse wieder abzusetzen und nachdenklich seinen Blick auf dem Gesandten verweilen zu lassen. »Zum einen ist es meine Aufgabe, Euch diese Geschichte so vorzutragen, wie sie geschehen ist. Es ist nicht Garrets Geschichte, sondern die der Krone von Lytar.« Er stockte und ein dunkler Schatten lag für einen kurzen Moment auf seinem Blick. »Zum anderen …«, fuhr er dann leise fort, »sind wir alle nicht mehr die, die wir einst waren. Es wäre nicht gerecht, Garret besonders hervorzuheben. Es gab andere, die mehr getan, mehr geleistet, größere Opfer erbracht haben.« Er lächelte etwas gezwungen. »Hier und jetzt bin ich ein alter Mann, der Euch eine Geschichte erzählt, die Ihr kennen müsst. Ist dies getan, habt Ihr verstanden, worum es geht, wird Garret sicherlich gerne mit Euch ein Bier trinken wollen, um Euch kennenzulernen.«

»Ein Bier?«, lachte jemand. »Es ist zu bezweifeln, dass es bei einem bleibt.« Die Stimme erstarb, als der alte Mann drohend zur Seite blickte.

»Tatsächlich würde ich lieber etwas anderes mit Garret tun«, bemerkte Lamar und lächelte nun selbst.

»Was?«, fragte der alte Mann und schien überrascht.

»Fischen gehen«, lächelte Lamar wehmütig. »Ich war noch nie fischen.«

»Das«, rief der alte Mann empört, »ist eine Sünde! Jeder sollte in seinem Leben einmal fischen gegangen sein. Man lernt sehr viel daraus.« Er schmunzelte. »Wir werden sehen, ob es sich einrichten lässt. Wo waren wir? Bei Meliande. Die Mauern Berendalls lagen jetzt vor ihr …«

3 Der Treueschwur

Obwohl die Mauern Berendalls nun vor ihnen lagen und die Flagge des Greifen auf den Zinnen wehte, rieten sowohl Hauptmann Hendriks als auch Hauptmann Hugor der Hüterin zur Vorsicht.

»Noch wissen wir nicht, was hier geschehen ist«, mahnte Hendriks die Sera Meliande, während er sich aufmerksam umsah. Von dem Hügel aus konnte er die Umgebung gut überblicken. Zurzeit schien keine unmittelbare Gefahr zu drohen, doch sie hatten nur vierzig berittene Kämpfer als Begleitung. Eine stattliche Streitmacht, doch nicht, wenn es gegen ein Regiment der königlichen Soldaten gehen sollte. Nun, dachte Hendriks, wenigstens war hier ein jeder beritten, zur Not konnte man den Königlichen einfach davonreiten. »Unsere Späher berichten, dass das königliche Regiment in seinem Lager liegt, doch das kann sich jederzeit ändern. Bedenkt auch, dass wir einem Regiment königlicher Soldaten nichts entgegenzusetzen haben. Wenn unsere Boten erfolgreich sind und vor allem, wenn der alte Steinhof sich uns mit seinen Reitern anschließt, dann sieht es anders aus, aber noch ist dies nicht der Fall.«

Meliande nickte langsam. »Wir werden vorsichtig sein«, teilte sie dem Hauptmann mit, der bleich und gebeugt neben ihr im Sattel saß. Noch immer hatte er sich von seinen schweren Verletzungen nicht zur Gänze erholt, doch er hatte sich nicht davon abhalten lassen, sie zu begleiten. »Dennoch will ich wissen, was hier geschehen ist.« Sie wies auf die fernen Flaggen. »Das sind unsere Banner, die dort wehen!«

»Es mag dennoch eine Falle sein«, mahnte Hendriks erneut.

»Das glaube ich nicht«, widersprach Hauptmann Hugor, ein Mann fast so groß wie Tarlon, mit breiten Schultern und einem roten Bart, der lustig auf- und abhüpfte, wenn er sprach. Was nicht bedeutete, dass man ihn nicht ernst nehmen sollte, ein Blick in seine Augen ließ solcherlei Gedanken schnell vergehen. »Es ist nicht genug Zeit vergangen, um die Stadt erobern zu können. Was auch immer die Alarmglocken bedeutet haben, von denen wir hörten, jetzt scheint es ausgestanden. Zudem, man kann von Belior halten, was man will, Verrat und Täuschung sind ihm sicherlich nicht fremd, doch bisher beging er all seine Untaten stets unter eigener Flagge. Abgesehen davon hätte man wissen müssen, dass Ihr kommt.« Ein grimmiges Lächeln lag auf seinen Lippen. »Glaubt mir, Sera, niemand rechnete damit, dass die Prinzessin von Lytar nach Berendall reiten würde.«

»Was nicht verwunderlich ist«, murmelte Meliande wie zu sich selbst. »Wer hätte damit rechnen können, dass die Menschen hier so schnell das Knie vor mir beugen würden?«

»Garret«, antwortete Hendriks, als wäre es eine Frage gewesen, die auf eine Antwort gewartet hatte. »Er schien es zu wissen.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, wer von beiden mir unheimlicher ist. Garret oder Euer Falkenreiter.«

»Marten Dunkelfeder ist nicht mein Falkenreiter«, widersprach Meliande, als sie ihrem Pferd mit leichtem Schenkeldruck bedeutete, sich langsam in Bewegung zu setzen.

»Doch, das ist er«, widersprach Hendriks, als er zu ihr aufschloss. »Er wäre der Erste, der Euch widerspricht.«

»Er mag es sehen, wie er will. Ich sehe es anders. Genug davon«, fügte sie hinzu und gab ihrem Pferd die Sporen. »Berendall wartet auf uns.«

 

»Ihr solltet irgendwann einmal einen Halt in Berendall einlegen, Freund Lamar«, meinte der Geschichtenerzähler und nickte dem Mädchen dankend zu, das die Reste des Frühstücks abräumte. »In der Ratshalle des alten Grafen gibt es mehr als genügend Wandteppiche und Bilder, die das Treffen zwischen dem alten Grafen und der Prinzessin zeigen. Wir sind alle zu sehen, der alte Graf, Leonora, Sina, Meliande, Vanessa und die Freunde. Die Seras sind wunderschön, die Sers zeigen sich in heroischen Posen, die kostbar verzierten Rüstungen glänzen in einem Sonnenlicht, das es genauso wenig gab wie diese prächtigen Rüstungen, denn kurz nachdem Meliande durch die Tore Berendalls geritten war, brach ein schwerer Regen über uns herein. Wie es dem Protokoll entsprach, hatten wir die Prinzessin im Burghof erwartet und als die Wassermassen herunterkamen, flohen wir alle in die Grafenburg zurück.« Er lachte leise. »Keine Bilder davon, wie wir alle wie begossene Pudel dastanden. Doch trotz der Vorkommnisse, die noch kurz zuvor die Grafenburg verwüstet hatten, hatte der alte Graf sich erhebliche Mühe gegeben, Meliande einen angemessenen Empfang zu bereiten. Das Protokoll regierte, sowohl der alte Graf als auch Meliande waren Meister darin, so standen wir erst einmal alle steif herum, während diplomatische Höflichkeiten ausgetauscht wurden.« Die buschigen Augenbrauen des alten Mannes hoben sich fragend. »Ich nehme an, Ihr habt solches schon selbst erlebt, Freund Lamar?«

Der Gesandte nickte. »Nur von der Ferne, ich gehöre nicht zum engsten Kreis des Prinzen. Doch ich weiß, wovon Ihr sprecht.«

Der alte Mann nickte. »Man hat versucht, mir zu erklären, dass es bei der Kunst der Diplomatie auf jedes Wort und jede Betonung ankommt, und es war sicherlich ein historisches Ereignis, doch für uns, die steif wie Statuen an der Seite des Ratssaals standen, während Meliande und der alte Graf sich mit vorsichtigen Worten gegenseitig auf den Zahn fühlten, gab es nichts zu tun. Außer, wie Garret meinte, gut auszusehen. Schaut, der Graf, trotz seiner Verbundenheit zum Greifen, war sich nicht sicher, wer Meliande in Wahrheit war und Meliande …« Er zuckte mit den Schultern. »Man darf nicht vergessen, dass dies eine andere Welt war, als sie sie kannte. Wichtiger noch, sie war sich nicht sicher, ob sie die Last der Macht auf ihre Schultern laden wollte. Man drängte sie dazu, doch wollte sie es selbst? Also tauschte man vorsichtige Höflichkeiten aus, wobei es doch nur um eines ging: Würde der alte Graf ihr den Treueeid schwören und so den Weg dazu öffnen, die Greifenlande wieder unter die Herrschaft Lytars zu stellen, oder würde er dies verweigern? Ohne Berendall bestanden die Besitztümer des Greifen ja nur aus einem leeren Tal, einer Ruinenstadt, einer heruntergewirtschafteten Baronie und einem kleinen Dorf. Diplomatie ist etwas, das Geduld und Haltung erfordert. Geduld zumindest besaß nicht jeder hier im Übermaß.«

Lamar grinste. »Was hat Garret angestellt?«

Der Geschichtenerzähler lachte. »Ausnahmsweise war es nicht Garret, dem dies alles zu lange dauerte …«

 

»Göttin!«, barst es aus Knorre heraus, als sich Meliande und der alte Graf zum zweiten oder dritten Mal des gegenseitigen Wohlwollens versicherten. »Was gibt es da noch zu bereden?« Er stieß sich von der Wand ab, an der er gelehnt hatte, und humpelte, auf seinen Stab gestützt, in die Mitte der Ratshalle. Zwei Wachen wollten sich ihm in den Weg stellen, er duckte sich überraschend geschickt unter den langen Armen des einen hindurch, doch bevor noch mehr geschah, gab Graf Torwald ein Zeichen, den hageren Mann durchzulassen, und die Wachen traten zurück.

Meliande sah Knorre erstaunt an und runzelte dann die Stirn. Man hatte sie direkt vom Tor hierhergebracht und sie war kaum dazu gekommen, mehr zu tun, als Vanessa, Garret, Tarlon und Argor zuzunicken. Entsprechend wusste sie nicht, wer dieser Mann war, der es wagte, ihr Gespräch mit dem Grafen zu stören.

»Graf?«, begann sie höflich. »Wer ist dieser Mann? Mir kommt er bekannt vor, aber …«

»Dies ist Meister Knorre«, sagte der Graf im drohenden Ton. »Wäre er nicht zugleich auch unerträglich, ein stadtbekannter Dieb und Trunkenbold, wäre er mein bester Freund und wertvollster Berater.« Er bedachte den hageren Mann in seiner weißen Robe mit einem vernichtenden Blick. »Dies geht dich nichts an, Knorre«, fügte er hinzu. »Lass mich die Sera willkommen heißen und …«

»Ihr seid willkommen, Meliande vom Silbermond«, unterbrach Knorre ihn. »So. Damit haben wir das. Torwald, dies ist Prinzessin Meliande von Lytar. Belior, der Kanzler von Thyrmantor, greift nach der Krone von Lytar. Gelingt es ihm, sind wir alle verloren. Nur vereint können wir hoffen, gegen ihn zu bestehen, also …« Er tat eine auffordernde Handbewegung. »Also knie nieder und schwöre ihr deine Treue, damit wir das hinter uns haben und uns Wichtigerem zuwenden können!«

Der alte Graf seufzte vernehmlich. »Woher soll ich wissen, dass sie es wahrhaftig ist? Sie sieht nicht aus, als wäre sie über vierhundert Jahre alt!«

Meliande richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ich verstehe Eure Zweifel«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme. »Doch ich bin Meliande von Silbermond.«

Der alte Graf musterte sie mit prüfenden Augen und nickte langsam. »Glaubt mir, ich würde nichts lieber wollen, als dass es so wäre, doch soll ich mich Euch allein aufgrund Eures Wortes unterwerfen?«

»Nein«, ertönte eine klare Stimme, als Leonora vortrat und mit einem feinen Lächeln weitersprach. »Tue es auf mein Wort hin, Torwald. Sie ist es.«

Meliande war herumgefahren und schaute die Priesterin ungläubig an. »Magistra Lanfaire?«, stammelte sie fast. »Wie kann dies sein? Wie könnt Ihr …«

»… noch am Leben sein?«, fragte die Priesterin mit einem Lächeln und trat näher an die drei heran. »Durch den Willen der Götter, nehme ich an. Wie Ihr auch, Hoheit.«

»Ihr beide kennt einander?«, fragte der alte Graf verwundert.

»Natürlich kennen die beiden sich!«, rief Knorre empört. »Sie kennen sich seit … seit …« Er runzelte die Stirn. »Ich hab’s vergessen«, fügte er verwundert hinzu. »Doch sie kennen sich.« Er schaute etwas Hilfe suchend zu Leonora hin. »So ist es doch, nicht wahr?«

Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ja, so ist es.«

»Magistra Lanfaire hat mich in den Künsten unterrichtet«, erklärte Meliande, doch noch immer schwang Unglauben in ihrer Stimme mit. »Schon als Kind … Ihr seid es wahrhaftig, Magistra?«

»Ja«, nickte Leonora freundlich. »Auch wenn ich hier unter dem Namen Leonora bekannt bin.«

Sie wandte sich an den alten Grafen, der noch immer etwas verwirrt erschien. »Lytar steht erneut in der Gunst der Göttin, Torwald«, sprach sie mit einem Lächeln weiter. »Es gibt wieder eine Hohepriesterin der Göttin in Lytar, der Fluch ist von der alten Stadt und den gesamten Greifenlanden genommen. Das dritte Zeitalter, Torwald, es beginnt heute, jetzt, in dem Moment, in dem du dein Knie vor ihr beugst. Und falls du noch Zweifel hast …« Sie hob ihr Symbol hoch, sodass es jeder sehen konnte, und in ihrer Hand begann es hell zu leuchten. »Dies ist Ihr Wunsch, Ihr Wille und es geschieht mit Ihrem Segen!«

Der alte Graf schaute zu dem gleißenden Licht in ihrer Hand, dann zu Meliande, die nicht weniger überrascht von alldem erschien als er selbst, nickte dann entschlossen und ging vor der Hüterin auf ein Knie herab.

»Ich, Graf Torwald zu Berendall«, rief er mit tönender Stimme, »schwöre hiermit, vor dem Auge von Mistral, der Göttin der Welten, Euch treu und redlich zu dienen, die Gesetze zu achten, meine Pflichten treu zu erfüllen und dem Greifen mein Land, mein Leben, meine Ehre und der Göttin meine Seele zu Füßen zu legen! Euch, Meliande, Prinzessin von Lytar, schwöre ich den Eid des Greifen, auf dass wir leben im Schutz seiner Schwingen!«

»Danke, Graf«, sagte Meliande einfach, auch wenn ihre Stimme belegt klang. »Ich nehme Euren Treueeid an und verspreche Euch den Schutz des Greifen für Euch und die Euren.«

»Hört, hört!«, rief jemand, es mag sein, dass es Garrets Stimme gewesen war, doch so gut war das nicht auszumachen, da alle Anwesenden in den Ruf einstimmten und manche im Überschwang sogar ihre Hüte in die Luft warfen.

»Gut«, meinte Knorre zufrieden. »Das wäre getan.« Er blinzelte zu Leonora hin. »Muss es so hell sein?«

»Nein«, lächelte sie und das Licht, das ihr Symbol so strahlend hell einhüllte, schwand. »Das muss es nicht.«

»Sehr schön«, meinte er mit einem breiten Grinsen. »Dann können wir jetzt trinken.«

4 Der Lauscher hinter dem Teppich

»Das nenne ich ein Gelage«, lachte Argor wenig später und füllte sich seinen Bierhumpen mit Dunkelbier aus einem Fässchen auf, das auf einem der vielen Tische stand. Mit der anderen Hand hielt er einen Knochen, den er mit kräftigen grauen Zähnen abnagte und dann nachlässig unter den Tisch warf, wo sich die Hunde des Grafen darauf stürzten. »Ich habe das Gefühl, als wäre es ein Leben her, dass ich zum letzten Mal satt gewesen bin!« Er rülpste zufrieden. »Jedenfalls danke ich dem Stein, dass es ausgestanden ist.« Er schaute zu Garret hin, der neben ihm am Tisch stand, einen leeren Humpen in der Hand. »Ich verstehe nicht, warum manche nach Abenteuern suchen, ich bin zweimal fast ersoffen und ich sage dir, dass ich nichts daran finde, das ich wiederholen will! Ich …« Er musterte seinen großen Freund. »Sag, hörst du mir überhaupt zu?«

»Nein«, antwortete Garret abwesend.

»Nein?«, fragte Argor ungläubig. »Wir haben einander für tot gehalten, jetzt sind wir hier und leben, können genau dies feiern und du hörst mir nicht zu?«

»Siehst du dort drüben den Wandteppich?«, fragte Garret. »Hinter dem Thron des Grafen? Den, auf dem eine Mühle abgebildet ist?«

Argor schaute hin. »Ja. Was ist mit ihm?«

»Dahinter muss es eine Tür geben.«

»Woher willst du das wissen?«

»Knorre hob eben den Wandteppich an, verschwand dahinter und kam nicht wieder.«

»Und?«

»Zuvor ist die Sera Leonora hinter dem gleichen Wandteppich verschwunden. Und vor ihr der alte Graf. Und da kommen Sina und Meliande.« Beide sahen zu, wie Sina und die Hüterin hinter dem Thron verschwanden. Garret lachte verhalten. »Ist es nicht erstaunlich, dass es niemandem aufzufallen scheint, dass sich keiner von denen, die wichtig sind, noch im Raum befindet?«

Argor schaute sich um und nickte. »Ich denke, es liegt daran, dass jeder andere hier sich selbst für wichtig hält.«

»Damit könntest du recht haben«, grinste Garret und stellte seinen leeren Humpen auf dem Biertisch ab, um Argor freundlich auf die Schulter zu klopfen. »Sag du den anderen Bescheid und kommt dann nach.« Er wandte sich ab.

»Warte«, bat Argor und hielt seinen schlaksigen Freund mit überraschender Stärke fest. »Wo willst du hin?«

»Ihnen folgen.«

»Warum?«

Jetzt war es Garret, der den jungen Zwerg ungläubig anschaute. »Willst du nicht wissen, was sie besprechen?«

»Nein.«

»Nein?«

Argor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nur noch nach Hause und meinen Vater wiedersehen. Für uns ist es ausgestanden.«

Garret seufzte und legte seine eigene Hand auf die Hand seines Freundes, der ihn noch immer am Arm hielt.