Estep, Jennifer Bitterfrost

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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

 

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

 

© Jennifer Estep 2017

Titel des amerikanischen Originalmanuskripts: »Bitterfrost«

© ivi.jpg, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Arcangel/Diana Festa

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1

Der erste Schultag ist immer der schlimmste.

Ein neues Schuljahr bedeutet neue Unterrichtsfächer, neue Bücher, neue Lehrer, neue Projekte, die es vorzubereiten, und neue Arbeiten, die es zu schreiben gilt. Außerdem muss man entscheiden, was man anziehen und wie man sich aufführen will, welche Art Mensch man sein und wie man wahrgenommen werden will, bis nach vielen langen, fernen, trostlosen Monaten die Schulferien anstehen. Vom allerersten Tag an gibt es so viel verdammten Druck, jede noch so winzige Kleinigkeit richtig hinzubekommen. Und das gilt schon für ganz gewöhnliche Jugendliche.

An der Mythos Academy nimmt dieser Druck extreme Ausmaße an.

»Freust du dich auf den ersten Schultag?«, ertönte eine unbeschwerte fröhliche Stimme.

Ich stopfte ein letztes Lehrbuch in meine dunkelgrüne Umhängetasche, dann schob ich sie auf dem Küchentisch zur Seite. Ich blickte auf und sah, wie Rachel Maddox, meine Tante, mich anlächelte. »Eigentlich nicht.«

Statt sich von meinem unwirschen, mürrischen Tonfall abschrecken zu lassen, wurde Tante Rachels Lächeln nur noch breiter. »Na ja, du solltest dich aber freuen. Es ist ein neues Schuljahr und ein neuer Start für uns. Alles wird wunderbar, Rory. Du wirst schon sehen.«

»Du meinst, all die anderen Schüler, Professoren und Angestellten werden plötzlich vergessen, dass meine Eltern Schnitter des Chaos waren und so viele schreckliche Dinge getan haben?« Ich schnaubte. »Verdammt unwahrscheinlich.«

Tante Rachels warmes Lächeln erlosch wie eine Kerze, die von einem kalten Wind ausgeblasen wurde. Sie senkte den Blick, drehte sich wieder zum Herd um und wendete die Brombeerpfannkuchen, die sie eigens für meinen ersten Schultag machte. Zugleich war es auch ihr erster Schultag, da sie im Speisesaal der Mythos Academy als Köchin arbeitete.

Ich zuckte zusammen und Schuldgefühle überkamen mich. Tante Rachel war siebenundzwanzig, nur zehn Jahre älter als ich, die vor wenigen Tagen siebzehn geworden war. Sie war für mich immer eher eine große Schwester gewesen als eine Tante – zumindest bis im vergangenen Jahr meine Eltern ermordet worden waren.

Meine Mom und mein Dad, Rebecca und Tyson Forseti, waren nicht die mutigen, starken, edelmütigen Spartanerkrieger gewesen, für die ich sie gehalten hatte. Die beiden waren insgeheim Schnitter gewesen und hatten mit anderen darauf hingearbeitet, Loki, den bösen nordischen Gott des Chaos, zurück ins Reich der Sterblichen zu bringen. Und meine Eltern waren nicht einfach irgendwelche Allerwelts-Schnitter gewesen. O nein. Sie waren Schnitter-Assassinen gewesen, die Schlimmsten der Schlimmen, verantwortlich für den Tod Dutzender und Aberdutzender unschuldiger Menschen.

Ich war absolut entsetzt gewesen, als ich die Wahrheit über sie erfahren hatte, vor allem da ich meine ganze Kindheit und Jugend hindurch nicht begriffen hatte, was für böse Krieger – was für böse Menschen – sie in Wirklichkeit waren.

Meine Eltern hatten mich genauso mühelos täuschen können wie alle anderen und eine üble, tiefe Wunde hinterlassen, die einfach nicht heilen wollte. Selbst jetzt, ein Jahr nach ihrem Tod, überzog ihr Verrat mein Herz noch immer wie eine Schicht aus bitterkaltem Frost und ließ all meine frühere Liebe zu ihnen erfrieren.

Manchmal spürte ich nichts anderes als diesen Frost, der mich von innen nach außen taub machte. Dann wieder war ich auf meine Eltern wegen all ihrer Lügen so wütend, dass ich halb erwartete, mir würde glühend heißer Dampf aus den Ohren quellen wie bei einer Comicfigur. In solchen Augenblicken hätte ich am liebsten nach allem und jedem um mich herum geschlagen. Ich wollte einfach irgendjemandem oder irgendetwas wehtun, auf die gleiche Weise, wie meine Eltern mir wehgetan hatten – zumal ich noch immer unter den Folgen ihrer bösen Taten litt. Vielleicht wollte ich aber auch nur um mich schlagen, weil ich Spartanerin war und wir von Natur aus zum Kämpfen neigten. Wenn es nur so leicht wäre, mit meinen Gefühlen fertigzuwerden, wie mit Schnittern zu kämpfen.

Ich weiß nicht, was schlimmer war – nichts zu fühlen oder viel zu viel zu fühlen. Oder vielleicht war es das Hin und Her zwischen den beiden Extremen. Wie auch immer, die kalte Taubheit und der heiße Zorn waren seit dem Tag, an dem ich die Sache mit meinen Eltern erfahren hatte, meine ständigen Begleiter.

Aber ich war nicht die Einzige, die die Wahrheit über meine Eltern am Boden zerstört hatte. Das Gleiche galt für Tante Rachel, die immer zu ihrer großen Schwester Rebecca aufgesehen hatte. Tante Rachel hatte das alles genauso schlimm verletzt wie mich, aber sie war dennoch zur Stelle gewesen und hatte mich aufgenommen – trotz all der schrecklichen Dinge, die meine Eltern getan hatten. Sie hatte sogar ihren Traum, eine Kochschule in Paris zu besuchen, zurückgestellt, sodass sie hier in Colorado bleiben und sich um mich kümmern konnte. Tante Rachel war im vergangenen Jahr so gut zu mir gewesen und sie tat ihr Allerbestes, um mich zu beschützen.

Ich hatte sie nicht anblaffen wollen. Wirklich nicht. Das war mein heißer Zorn gewesen, der durch die eisige Taubheit emporkochte und die Oberhand über mich gewann. Manchmal war es schwer, sie auch nur anzusehen, da sie das gleiche lange, glänzend schwarze Haar hatte, die gleichen grünen Augen und die gleichen hübschen Gesichtszüge wie meine Mom. Das schwarze Haar und die grünen Augen hatte auch ich, ebenso die Gesichtszüge, die mich jedes Mal peinigten, wenn ich in den Spiegel schaute.

Mehr als einmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, mein Haar neonpink zu färben oder violette Kontaktlinsen zu tragen, damit die Ähnlichkeit mit meiner Mom nicht mehr so groß war. Wer wollte schon die Tochter berüchtigter Schnitter-Assassinen sein? Geschweige denn, genau wie eine von ihnen aussehen? Richtig, absolut niemand.

Aber das war nun mal ich, Rory Forseti, und das war mein Leben, ob es mir gefiel oder nicht.

Doch ich wollte nicht wie meine Eltern sein, und das bedeutete wiederum, Tante Rachel nicht so anzufahren, wie meine Mom es im Laufe der Jahre so viele Male getan hatte, besonders in den Wochen unmittelbar vor ihrem Tod. Oder zumindest sollte ich versuchen, es wieder geradezubiegen, wenn ich Tante Rachel doch einmal angefahren hatte. Daher zwang ich mich in eine aufrechte Sitzposition und versuchte zu lächeln.

»Entschuldige«, sagte ich. »Ich bin einfach ein wenig … nervös. Du hast bestimmt recht. Es ist mein zweites Jahr auf der Akademie, also muss es jetzt einfacher werden. Außerdem ist Loki besiegt und alle können sich endlich entspannen und ihr Leben weiterleben, ohne sich Sorgen um ihn oder die Schnitter oder mythologische Ungeheuer machen zu müssen.«

Tante Rachel drehte sich wieder zu mir um und wieder breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Genau! Und alle wissen, wie sehr du Gwen und ihren Freunden dabei geholfen hast, Loki in der Schlacht auf der Mythos Academy zu besiegen. Sie wissen, dass du ein guter Mensch bist, Rory. Eine Heldin, genau wie Gwen.«

Mein Dad, Tyson, und Gwens Dad, Tyr, waren Brüder gewesen, was Gwen Frost zu meiner Cousine ersten Grades machte. Gwen war in der Welt der Mythos Academy in letzter Zeit eine richtig große Nummer. Okay, okay, eigentlich war sie sogar mehr als nur eine große Nummer. Sie war jetzt so etwas wie eine verdammte Prinzessin. Weil sie nämlich eine Möglichkeit gefunden hatte, Loki in die Falle zu locken und alle für immer vor dem bösen Gott in Sicherheit zu bringen.

Vor einigen Monaten hatten Loki und seine Schnitter des Chaos den Campus der Mythos Academy in Cypress Mountain in North Carolina gestürmt. Es war ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, ein uraltes Artefakt in die Hände zu bekommen, das Lokis Gesundheit vollständig wiederhergestellt hätte, sodass er in der Lage gewesen wäre, uns alle zu versklaven. Aber Gwen hatte den Gott besiegt, hatte ihn überlistet, sie um ein Haar zu töten, sodass sie ihn mit der Macht ihres selbstlosen Opfers bannen konnte, um uns alle zu retten.

Wenn ich die Augen schloss, sah ich Gwen immer noch auf dem Boden der Bibliothek der Altertümer liegen, totenbleich und aus der Stichwunde blutend, die sie sich mit Vic, ihrem sprechenden Schwert, selbst zugefügt hatte. Auf diese Weise hatte sie Loki daran gehindert, die Kontrolle über ihren Körper, ihren Geist und ihre mächtige psychometrische Magie zu übernehmen. Aber Gwen hatte es überstanden, dank der Hilfe ihrer Freunde und dank Nike, der griechischen Göttin des Sieges. Gwen war wirklich und wahrhaftig Nikes Champion, die Person, die im Reich der Sterblichen für die Göttin arbeitete.

Und jetzt war sie auch der Champion aller anderen – die Heldin aller Helden.

Von einem Augenblick auf den anderen war aus Gwen, einem einfachen Gypsymädchen, eine regelrechte Berühmtheit geworden. Wann immer sie über den Campus lief, ihren Job in der Bibliothek der Altertümer erledigte, selbst wenn sie nur mit ihrem Freund Logan Quinn einen Kaffee trinken ging, starrten die Leute sie an und tuschelten über sie, hatte sie mir erzählt. Ich hatte es selbst erlebt, als ich sie im Sommer besucht hatte. Momentan behandelten alle Gwen so, als entstamme sie einer königlichen Familie, statt einfach eine gewöhnliche Schülerin zu sein. Einige der anderen Jugendlichen – und auch etliche Erwachsene – sprachen sie sogar an und baten um ein Autogramm und um Fotos mit ihr. Gwen hasste all die Aufmerksamkeit und wollte einfach ihr Leben weiterleben.

Ich kannte das Gefühl, selbst wenn mein eigenes Leben so finster war wie ihres hell.

Das falsche Lächeln entglitt meinem Gesicht, und ich sackte auf meinem Stuhl in mich zusammen.

Tante Rachel schob einen Stapel Pfannkuchen auf einen Teller und stellte ihn vor mich auf den Tisch. »Rory? Woran denkst du?«

Ich griff nach meiner Gabel und zwang mich, sie wieder anzulächeln. »Daran, wie großartig diese Pfannkuchen doch aussehen und riechen.«

Sie grinste zurück und setzte sich mit ihrem eigenen Teller mit Pfannkuchen an den Tisch. »Danke. Ich habe die wilden Brombeeren genommen, die wir gepflückt haben, als wir vor einigen Tagen die Greife in den Ruinen besucht haben.«

Ich nickte. Die Eir-Ruinen lagen auf dem Gipfel des Berges, der über Snowline Ridge aufragte. Sie waren nach Eir, der nordischen Göttin der Heilung, benannt und ein magischer Ort, immer voller blühender Wildblumen und grüner Kräuter, ganz gleich, wie kalt und schneereich das Wetter in Colorado war. Und was noch besser war: Die Ruinen waren die Heimat der Eir-Greife, mit denen sich Tante Rachel und ich vor einigen Monaten angefreundet hatten.

Ich liebte es, mit den Greifen herumzuhängen, die wie die Haustiere waren, die ich niemals gehabt hatte. Nun ja, sofern man riesige mythologische Kreaturen, die einen fressen konnten, falls sie das wirklich wollten, als Haustiere bezeichnen konnte. Und ganz besonders liebte ich es, auf dem Rücken der Greife zu fliegen, wenn sie über die Berggipfel und die immergrünen Wälder unter ihnen schwebten.

»Vielleicht können wir am Wochenende zu den Ruinen gehen«, schlug Tante Rachel vor. »Nachdem wir uns beide in unseren Alltag für das neue Schuljahr eingelebt haben.«

Als ich sie diesmal anlächelte, war mein Lächeln echt. »Das wäre toll.«

Sie beugte sich vor, nahm meine Hand und drückte sie sanft. »Ich habe ein gutes Gefühl, was den heutigen Tag betrifft. Du wirst schon sehen, Rory. Alles wird einfach wunderbar. Für uns beide.«

Ich war mir da nicht so sicher, aber ihre fröhliche Stimme und ihr glücklicher Gesichtsausdruck ließen einen winzigen Funken Hoffnung in meiner Brust aufglimmen. Ich erwiderte den Druck ihrer Hand. »Natürlich wird es das.«

 

Wir aßen unsere Pfannkuchen mit dem Speck, Rührei und den Käse-Kartoffelpuffern, die Rachel ebenfalls zum Frühstück gezaubert hatte. Sie war eine fantastische Köchin, und alles war köstlich, vor allem die locker-leichten, goldenen Pfannkuchen. Tante Rachel hatte außerdem Brombeersirup gemacht, der den Pfannkuchen ein noch süßeres und zugleich säuerliches Aroma verlieh.

Das gute Essen hob meine Laune, und als wir das Frühstück beendeten, sah ich dem Beginn des neuen Schuljahrs wirklich voller Hoffnung entgegen. Also schnappte ich mir meine Umhängetasche, schlang mir den Riemen über die Schulter und brach auf.

Tante Rachel und ich lebten in einem kleinen steinernen Cottage, das sich an ein Kiefernwäldchen am Rand der Akademie schmiegte. Ich trat auf den aschgrauen Pflastersteinweg hinaus und ging durch die saftig grünen, gut gepflegten Rasenflächen, an den Schülerwohnheimen vorbei und den Hang hinauf zum Hauptbereich des Campus.

Es war noch nicht ganz acht Uhr, aber die Sonne leuchtete hell am klaren, blauen Septemberhimmel, was meine Stimmung weiter hob. Wir befanden uns so hoch auf dem Berg, dass die Luft immer noch kühl war, und ich schob die Hände in die Taschen meiner waldgrünen Lederjacke, um sie warm zu halten. Ich brauchte nicht lange, um den letzten und steilsten Hügel zu erklimmen und den oberen Hof zu erreichen.

Mythos Academys gab es überall auf der Welt, von der Akademie hier in Snowline Ridge, Colorado, über Cypress Mountain, North Carolina, bis London in England, Frankfurt in Deutschland, Sankt Petersburg in Russland und so weiter. Aber jeder Campus sah mehr oder weniger aus wie der andere und hatte einen Hof als Herz der jeweiligen Akademie.

Fünf Gebäude aus dunklem, beinahe schwarzem Stein säumten den grasbewachsenen Hof vor mir – das mathematisch-naturwissenschaftliche Gebäude, das für Sprachen und Geschichte, der Speisesaal, die Turnhalle und die Bibliothek. Diese fünf Gebäude waren an jeder Mythos Academy in dem gleichen Sternenmuster angeordnet, auch auf dem Campus in North Carolina, wo Gwen zur Schule ging und wo die letzte Schlacht mit Loki stattgefunden hatte.

Aber es gab auch jede Menge Unterschiede zwischen den verschiedenen Akademien. Die Gebäude in Gwens Schule ähnelten alten, unheimlichen gotischen Burgen, während die Häuser hier wie riesige Hütten geformt waren, erbaut aus ineinandergefügten schweren Steinblöcken und dicken Baumstämmen. In alle Gebäude waren breite Fenster eingelassen, um die spektakuläre Aussicht auf die ringsum wachsenden Kiefern und auf den über dem Campus aufragenden hohen, zerklüfteten Berg zu zeigen.

Aber was mir an dem Hof am besten gefiel, waren die Statuen mythologischer Wesen auf den Dächern und rings um all die Gebäude. Nemeische Pirscher, Fenriswölfe, Eir-Greife. All diese Kreaturen und mehr schauten über den Hof, und die Blicke ihrer grauen Steinaugen schienen den Schülern zu folgen, wenn sie die Gebäude betraten oder verließen.

Die meisten anderen Jugendlichen kümmerten sich nicht darum, wie die Gebäude aussahen, und den Statuen schenkten sie überhaupt keine Beachtung, aber ich liebte das rustikale Ambiente und ganz besonders liebte ich es, all die mythologischen Wesen zu betrachten. Sie mochten starr und reglos sein, aber ich wusste, dass sie nur Sekunden plus ein kleines bisschen Magie davon entfernt waren, sich aus ihren steinernen Verankerungen loszureißen und herabzuspringen, um die Schüler zu beschützen, genau wie sie das während der Schlacht an der Akademie in North Carolina getan hatten.

Ich nickte der Statue des Fenriswolfs auf der Treppe zu, die mir am nächsten war. Der Wolf betrachtete mich einen Moment lang, bevor sich eines seiner steinernen Augen zu einem langsamen, verschmitzten Zwinkern schloss. Ich antwortete mit einem Grinsen, dann holte ich tief Atem und füllte die Lungen mit kühler Luft.

Für alle anderen war dies einfach nur irgendeine Mythos Academy, aber ich spürte hier eine Form von Wildheit und Freiheit, wie ich sie bei meinen Besuchen anderer Akademien nie erlebt hatte. Ich sah sie in den Schatten, die sich um die Statuen legten, roch sie in der frischen, sauberen Luft und hörte sie in dem rauen, pfeifenden Wind, der meinen Pferdeschwanz zerzauste.

Für mich war es mein Zuhause.

Da es der erste Schultag war, war der Hof gerammelt voll und praktisch alle hatten einen Kaffee in einer Hand und ihr Handy in der anderen. Alle möglichen mythologischen Krieger besuchten die Mythos Academy, aber die Mehrheit der Jungen waren Römer oder Wikinger, während die Mädchen größtenteils Amazonen oder Walküren waren. Leuchtend bunte Magiefunken blitzten in der Luft um viele der Jugendlichen herum, vor allem um die Walküren. Aus irgendeinem Grund verströmten Walküren beinahe ständig Magie und mit jeder Geste, die sie vollführten, und jeder Textnachricht, die sie verschickten, strömten Funkenschauer aus ihren Fingerspitzen.

Jeder Jugendliche, jeder Krieger hatte seine eigenen Fähigkeiten, Kräfte und magischen Anlagen – von besonders geschärften Sinnen bis hin zu der Befähigung, Blitze herabzurufen oder andere zu heilen. Aber im Allgemeinen waren Römer und Amazonen superschnell, während Wikinger und Walküren superstark waren.

Ich war nichts von alledem.

Ich war Spartaner wie meine Eltern und das war ein weiterer Punkt, in dem ich nicht zu den anderen passte, denn Spartaner waren selten – und sehr, sehr gefährlich. Fast alle anderen Schüler trugen mindestens eine Waffe bei sich, sei es ein Schwert oder ein Dolch an ihrer Hüfte, ein Kampfstab, den sie neben sich an die Bank lehnten, oder sogar ein Bogen und ein Köcher voller Pfeile, die aus ihren Sporttaschen lugten.

Aber ich hatte keine Waffen. Ich brauchte keine, da ich jeden Gegenstand nur in die Hand zu nehmen brauchte und automatisch wusste, wie man jemanden damit töten konnte.

Im Ernst, wenn ich wollte, könnte ich jemanden mit einem Zahnstocher töten. Mit einer Plastikgabel, einer Büroklammer, einem Füller. Was gerade greifbar war. Nicht, dass ich das jemals wirklich tun würde. Selbst für mich wäre so was schwierig, insbesondere wenn es doch so viel einfacher war, meinem Feind sein Schwert wegzunehmen und seine eigene Waffe gegen ihn einzusetzen. Aber wenn es sein musste, konnte ich mich mit allem verteidigen, was herumlag, ganz gleich, wie klein und harmlos es sein mochte.

Ich wusste nicht, wie das bei anderen Spartanern funktionierte, wie sich ihre Magie äußerte, aber wann immer ich in einen Kampf verwickelt wurde, sah ich, was die andere Person tun würde, noch bevor sie es wirklich tat. Wie sie die Füße bewegen, wie sie ihr Gewicht verlagern würde, sogar wie kräftig sie das Schwert nach mir schwingen würde. Es war, als wären wir beide Teil desselben Films, nur dass ich meinem Gegner um drei Schritte voraus war.

Und das Gleiche war der Fall, wenn es um Waffen ging, sei es ein traditionelles Schwert oder etwas so Kleines wie ein Zahnstocher. Sobald ich ein Schwert berührte, konnte ich erkennen, wie gut es gemacht war, wie gleichmäßig und wie scharf und kräftig die Klinge war, und ich passte intuitiv die Stellung meiner Füße, meinen Griff und meine Hiebe genau richtig an, um mit der Waffe den größtmöglichen Schaden anrichten zu können. Das Gleiche galt für den Zahnstocher, die Plastikgabel, die Büroklammer, den Füller und alles andere, was ich in die Hände bekommen konnte.

Und es war nicht einfach nur so, dass ich instinktiv wusste, wie man Menschen verletzen konnte. Etwas in meinem Spartanerblut sorgte dafür, dass es für mich etwas ganz Natürliches war, als sei ich dafür gemacht. Ein Schwert oder einen Kampfstab zu halten oder eine Bogensehne zu spannen fühlte sich für mich so richtig und so einfach an wie das Atmen.

Manchmal machte mir das ein wenig Angst.

Ich wollte nicht so sein wie meine Eltern. Ich wollte keine unschuldigen Leute verletzen. Ich wollte kein schlechter Mensch sein.

Ich wollte kein Schnitter sein.

Ich wollte … nun, ich war mir noch nicht ganz sicher, was ich sein wollte. Ich wollte irgendetwas mit meinem Leben anfangen, so wie Gwen es getan hatte. Ich wollte etwas Wichtiges tun. Etwas, das zählte. Etwas, das anderen Menschen helfen würde.

Und vielleicht, wirklich nur vielleicht, etwas, das helfen würde, die Fehler meiner Eltern wiedergutzumachen.

Aber nichts von alledem konnte ich tun, indem ich hier herumstand, daher atmete ich tief durch, straffte die Schultern und betrat den oberen Hof.

»Wird schon schiefgehen«, murmelte ich.

Ich nahm einen der gepflasterten Wege, der sich zum Gebäude für Englisch und Geschichte hinüberschlängelte. Dort fand meine erste Unterrichtsstunde des Tages statt, Mythengeschichte. Ich liebte Mythengeschichte, liebte es, von all den Göttern, Göttinnen, Kriegern und Kreaturen zu hören, und ich fragte mich, über welchen neuen Themen der Professor in diesem Jahr sprechen würde, besonders jetzt, nach der jüngsten Schlacht und Lokis Gefangenschaft …

»Sieh mal!«, zischte eine Stimme. »Da ist Rory Forseti!«

Ich hatte den Hof bereits halb überquert, als ich meinen Namen hörte.

Ich erstarrte und schaute nach rechts und mir graute vor dem, was ich sehen würde. Und tatsächlich, eine Gruppe von Walküren in Designerstiefeln, Jeans und dazu passenden karierten Jacken scharte sich um eine der schmiedeeisernen Bänke, die überall auf dem Hof standen. Sie waren alle ziemlich hübsch, mit perfekter Frisur und perfektem Make-up, und ihre Handys und Handtaschen waren sogar noch teurer als ihre Kleider.

Dezi, Harley, Kylie … ich erkannte mehrere der Mädchen, da sie alle wie ich im zweiten Schuljahr waren. Keine von ihnen hatte mich gemocht, als wir im vergangenen Herbst mit der Schule begonnen hatten, und sobald herausgekommen war, dass meine Eltern Schnitter gewesen waren, hatten sie mich offen gehasst.

Die Walküren bemerkten, dass ich sie anstarrte. Aber statt sich abzuwenden und so zu tun, als hätten sie nicht soeben meinen Namen genannt, zeigten sie alle auf mich und ließen rosa, grüne und blaue Magiefunken in der Luft um sich herum knistern. Mir wurde schwer ums Herz. Ich wusste, was als Nächstes kam.

»Ich kann nicht glauben, dass sie dieses Jahr hierher zurückgekehrt ist.«

»Hat sie wirklich gedacht, nur weil sie in North Carolina geholfen hat, würden wir vergessen, was ihre Eltern getan haben? Oder was sie gewesen sind?«

»Sie waren Schnitter, durch und durch, verdorben bis ins Mark. Und sie ist wahrscheinlich noch schlimmer …«

Die boshaften Bemerkungen gingen weiter und weiter, eine jede schneidender, grausamer und gemeiner als die zuvor. Schlimmer noch, die lauten Stimmen der Walküren übertönten die Gespräche aller anderen, bis sich die übrigen Schüler ebenfalls umdrehten und mich anstarrten. In weniger als einer Minute stand ich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit und alle redeten und tuschelten über mich und tippten in ihre Handys.

Ich konnte nur starr und mit offenem Mund dastehen und aussehen wie ein ahnungsloser Schwachkopf. Ich hatte mir tatsächlich Hoffnungen gemacht. Ich hatte tatsächlich gedacht, dass dieses Jahr anders sein würde, besser, normaler. Dass ich genug Gutes getan hätte, um die Meinung der anderen über mich zu ändern. Aber ich hatte mich geirrt – total geirrt.

Ich war so eine verdammte Idiotin.

Natürlich würden die anderen Schüler nicht vergessen, dass meine Eltern Schnitter gewesen waren – nicht eine einzige lausige Sekunde lang. Wie hätten sie es auch vergessen können, nachdem die Schnitter uns so lange terrorisiert hatten? Nachdem sie ihr ganzes Leben in Angst vor den Schnittern verbracht hatten? Nachdem Schnitter Generation um Generation ihre Freunde und Verwandten getötet hatten? Eine einzige Schlacht vermochte an dieser ganzen Geschichte nichts zu ändern, an all dem bösen Blut, all der Angst, dem Zorn und dem Hass.

Nichts konnte daran jemals etwas ändern.

Aber das Schlimmste war, dass ich gehofft hatte, es hätte sich etwas geändert. Ich hatte auf den Neuanfang gehofft, von dem Tante Rachel so zuversichtlich gesprochen hatte. Nichts hatte ich mir mehr gewünscht als das.

Meine erste Unterrichtsstunde hatte noch nicht einmal angefangen und mein Schuljahr war bereits ruiniert, durch die bösen Taten meiner Eltern mit Blut getränkt und zu Asche verbrannt wie so viele andere Dinge in meinem Leben.

In vielfacher Hinsicht spiegelten meine Gefühle bezüglich der Mythos Academy meine Gefühle für meine Eltern wider. Ich liebte so vieles an der Akademie – die Landschaft, die Statuen, das Gefühl, zu Hause zu sein –, genauso wie ich die stille Kraft meiner Mom geliebt hatte und die unendliche Geduld meines Dads. Ein Teil von mir hasste die Akademie auch, insbesondere all die anderen Schüler, die über meine Schnittereltern Bescheid wussten. Manchmal hatte ich das Gefühl, als hätte ich ein großes rotes Fadenkreuz auf meiner Brust, das allen anderen Schülern die Erlaubnis gab, mich ins Visier zu nehmen.

Die grausamen Bemerkungen, das abfällige Getuschel und die hasserfüllten Blicke hielten an. Eine heiße, verlegene Röte überzog meine Wangen und meine Wut kochte wieder zur Oberfläche empor. Aber ich wusste aus der Erfahrung der Vergangenheit, dass es keinen Sinn hatte, gegen die anderen Jugendlichen anzukämpfen. Es würde mich nur noch mehr zur Zielscheibe ihres Hasses machen, als ich es bereits war. Außerdem hatten sie genauso viel Recht auf ihren Zorn wie ich auf meinen. Also knirschte ich mit den Zähnen, zog den Kopf ein und eilte weiter, entschlossen, so schnell wie möglich in das Gebäude für Englisch und Geschichte zu gelangen …

Eine Schulter rammte mich und ließ mich an den Rand des gepflasterten Weges taumeln.

»Pass doch auf!«, blaffte ich.

»Warum passt du nicht selbst auf?«, knurrte eine leise Stimme zurück.

Normalerweise wäre ich weitergegangen, da es nicht das erste Mal war, dass mich jemand beim Überqueren des Hofs »aus Versehen« absichtlich rammte und es ungeheuer witzig fand, das Mädchen mit den toten Schnittereltern zu piesacken. All die Spötteleien, das Getuschel und die Blicke hatten mich mit der altvertrauten, widerlichen Mischung aus Schuld, Scham und Verlegenheit erfüllt, aber diese Gefühle verwandelten sich jetzt in kalten, harten Zorn. Abfällige Blicke und Getuschel waren das eine, aber mich anzurempeln, das war etwas ganz anderes.

Jemand wollte sich mit mir anlegen? Nun gut, ich war es leid, mir all den Mist geben zu müssen und konnte es den anderen gerne mit eigener Münze heimzahlen.

Ich wirbelte herum, um mir die Person vorzuknöpfen, die in mich hineingerannt war, und stellte fest, dass es keine der hochnäsigen Walküren war, wie ich erwartet hatte. Es war ein Junge – und er war umwerfend.

Ganz im Ernst, er war groß und muskulös und einfach nur atemberaubend in seinen schwarzen Stiefeln, seiner schwarzen Jeans, seinem dunkelgrauen kragenlosen Polohemd und der schwarzen Lederjacke. Honigfarbene Strähnchen durchzogen sein dunkelblondes Haar, das in den merkwürdigsten Richtungen von seinem Kopf abstand, als würde er sich ständig mit den Fingern hindurchfahren, aber der zerzauste Look stand ihm total. Er hatte herrlich ausgeprägte Wangenknochen, eine perfekte, gerade Nase und ein kräftiges Kinn, wie man es bei einem Filmstar erwarten würde. Aber seine Augen … seine Augen waren einfach unglaublich – sie strahlten in einem hellen, durchdringenden Grau. Ich hatte noch nie zuvor solche Augen gesehen und ich versuchte herauszufinden, woran mich ihre Farbe erinnerte. Regenschwere Wolken vielleicht oder die glänzende Schneide eines frisch geschärften Schwertes …

Der Junge warf mir einen zornigen Blick zu und riss mich aus meiner Verzauberung. Ich blinzelte und zwang mich, nicht daran zu denken, wie hübsch er war. Stattdessen musterte ich ihn erneut und stellte fest, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Letztes Jahr, nachdem der ganze Schlamassel mit meinen Eltern passiert war, hatte ich darauf geachtet, jeden einzelnen Schüler der Akademie zu kennen – vor allem diejenigen, denen ich besser aus dem Weg ging. Aber dieser Junge? Er war neu.

Oh, ich war mir sicher, dass es eine absolut logische Erklärung dafür gab. Jede Menge Schüler wechselten von einer Akademie zur nächsten, vor allem zu Beginn des Schuljahres und ganz besonders zu Beginn dieses Schuljahres, da die Akademie in North Carolina nach der Schlacht immer noch renovierungsbedürftig war.

Trotzdem musterte ich den Jungen weiter und diesmal versuchte ich herauszufinden, was für eine Art von Krieger er war. Er konnte kein Römer sein, da ihn seine Magie sonst schnell genug gemacht hätte, um mir noch rechtzeitig aus dem Weg zu gehen. Mein Blick fiel auf die schwarze Reisetasche, die an seiner Hand baumelte. Die unverkennbare längliche Form der Tasche war dazu bestimmt, eine Streitaxt zu transportieren, und an der Außenseite der Tasche waren einige weitere, kleinere Äxte befestigt. Also war er ein Wikinger. Das waren die einzigen Krieger, die mit solchen Äxten hantierten. Kein Wunder, dass er mich fast umgerannt hätte. Seine Wikingerkraft hätte mich meilenweit über den Hof fliegen lassen können, wenn er das gewollt hätte. Vielleicht hatte er mich ja doch nicht absichtlich angerempelt.

Der Junge verengte die Augen. »Was starrst du mich so an?«

Ein Gefühl der Verlegenheit überkam mich, weil er mich dabei ertappt hatte, wie ich ihn angaffte. Aber ich achtete nicht auf die neue, heiße Röte, die mir in die Wangen schoss, verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ihn nun meinerseits grimmig an.

»Was starrst du mich denn so an?«, blaffte ich. »Ich bin hier meines Weges gegangen und habe mich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert und dann, bäm!, bist du voll in mich hineingeknallt. Und jetzt entschuldigst du dich nicht einmal dafür, dass du mich beinahe umgeworfen hast.«

Ärger blitzte in seinen Augen auf und ließ sie ein dunkles Sturmwolkengrau annehmen, was ihn natürlich nur noch attraktiver machte. »Ich bin nicht in dich hineingeknallt. Du hast nicht darauf geachtet, wo du hingehst. Wenn sich hier irgendwer entschuldigen sollte, dann bist du das, Cupcake.«

Ich ließ die Arme fallen und ballte die Hände zu Fäusten. »Du hast mich doch nicht etwa gerade wirklich Cupcake genannt?«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Was? Gefällt dir der Spitzname etwa nicht? Dabei passt er doch. Schau dich nur an mit deinen Designerklamotten, der teuren Handtasche und dem kecken kleinen Pferdeschwanz. Du bist ein süßer kleiner Cupcake von Krieger, genau wie die anderen Mädchen hier.«

Neue Wut durchdrang mich und ich näherte mich ihm, bis ich nur wenige Zentimeter vor ihm stand.

»Ich bin Spartanerin«, zischte ich. »Eine, die durchaus imstande ist, dir eine satte Abreibung zu verpassen, Wikinger, gleich hier an Ort und Stelle.«

Wieder sah er mich mit hochgezogener Augenbraue an. »Eine Drohung? Ach, wie süß! Vielleicht ein andermal. Jetzt muss ich in den Unterricht und du auch. Es sei denn, du willst schon an deinem ersten Schultag zu spät kommen.«

»Ich …«

Ich wollte ihn anblaffen, aber ein Gong scholl über den Hof, schnitt mir das Wort ab und verkündete, dass wir noch fünf Minuten Zeit hatten, um unsere Unterrichtsräume zu erreichen.

»Und das ist das Signal, mich von dir zu verabschieden. Bis später, Cupcake.« Der Wikinger hob zu einem spöttischen Salut die Hand an die Stirn. Dann wuchtete er sich seine Tasche über die Schulter, sodass all die kleinen Streitäxte an der Außenseite gegeneinanderklirrten, und ging an mir vorbei.

»Aber …«

Ich wirbelte herum, doch er bewegte sich sehr schnell und schritt auf die Turnhalle am anderen Ende des Hofs zu. Er war bereits außer Hörweite, es sei denn, ich wollte ihm Beleidigungen hinterherschreien. Ich war immer noch so wütend, dass ich den Mund öffnete, um loszubrüllen, aber dann merkte ich, dass mich alle schon wieder anstarrten, einschließlich der Walküren, die mich zuvor verspottet hatten. Sämtliche Mädchen verdrehten die Augen und kicherten, was das Gefühl der Demütigung noch verstärkte. Alle hatten meine Auseinandersetzung mit dem Wikinger mitbekommen und tratschten bereits darüber.

Wunderbar. Einfach wunderbar. Ich hatte mir gewünscht, dass es dieses Jahr anders sein würde, aber ich war wieder genau dort, wo ich letztes Jahr aufgehört hatte – alle redeten über mich, das mutmaßliche Schnittermädchen in ihrer Mitte. Und das war ganz allein seine Schuld.

Wütend starrte ich dem Wikinger nach, aber es gab nichts, was ich jetzt gegen ihn tun konnte. Also seufzte ich, drehte mich um und trottete über den Hof zum Gebäude für Englisch und Geschichte.

Während ich weiterging, hatte ich nur einen Gedanken im Kopf. Ich hatte heute Morgen absolut recht gehabt.

Der erste Schultag ist immer der schlimmste.

Vor allem an der Mythos Academy.

2

Der Rest meines Tages lief nicht besser.

Während ich die Vormittagskurse durchlitt, war mir schmerzhaft bewusst, dass alle über meinen Zusammenstoß mit dem Wikinger redeten und texteten. Ich kauerte mich tief in meinen Sitz und hielt den Blick starr auf meine Bücher gerichtet, aber ich konnte die anderen Schüler trotzdem tuscheln hören. Gut, immerhin sprachen sie nicht mehr darüber, dass meine Eltern Schnitter gewesen waren. Ich wusste nicht, ob das besser oder schlechter war, aber zumindest war mein Problem nun neu und anders – jedenfalls heute. Die übrigen Schüler würden sich bald genug wieder an meine Schnittereltern erinnern.

Die Mittagspause kam und ich stiefelte zusammen mit den anderen Schülern, die alle einen gesunden Abstand zu meiner Wenigkeit hielten, zum Speisesaal hinüber. Anscheinend war es in Ordnung, hinter meinem Rücken über mich zu reden, aber neben mir über den gepflasterten Weg zu gehen war es nicht. Ich biss die Zähne zusammen und trottete weiter Richtung Speisesaal. Ich hatte keinen Hunger – nicht das geringste bisschen –, aber ich musste zum Mittagessen auftauchen, sonst würde Tante Rachel sich Sorgen machen.

Ich betrat den Speisesaal, der genauso aussah wie im vergangenen Schuljahr. Das galt sogar für den offenen Garten in der Mitte des Raums. Statt hübscher Blumen gab es dort immergrüne Bäume, die zwischen dicht gedrängten Felsformationen wuchsen und die Luft mit dem Duft ihres Harzes parfümierten. Ein schmaler Bachlauf schlängelte sich durch den Garten, hinüber zu einem Turm von Steinblöcken, wo er in einem kleinen Wasserfall hinabstürzte, um am Fuß der Felsen einen Teich zu bilden. Graue Steinstatuen von Bären, Kaninchen, Enten und anderen Tieren umringten den Teich, darunter eine Statue des indianischen Schelmengottes Coyote. Zwei weitere Statuen, beides Eir-Greife, hockten auf den Felsen am oberen Rand des Wasserfalls, als hielten sie Wache und beschützten die Tiere darunter.

Löwenkörper, Adlerköpfe, breite Flügel, lange Schwänze. Die beiden Statuen sahen so aus wie die echten Greife, die in einer Höhle in der Nähe der Eir-Ruinen lebten. Einen Moment lang ließ ich meinen Blick auf ihren steinernen Gesichtern ruhen, bis ich meine Wut wieder unter Kontrolle hatte, und schnappte mir dann ein Plastiktablett, mit dem ich mich in die Schlange reihte, um mir etwas zum Mittagessen zu holen.

Anders als bei einer normalen Schulcafeteria waren die Speisen hier durchgehend edel und hochwertig, dem Wohlstand und exklusiven Geschmack der Schüler, Professoren und anderen Angestellten angemessen. Keine gummiartigen Hähnchennuggets, keine Plastikbecher mit klumpiger Apfelsoße, keine Getränkekartons mit saurer Milch. Stattdessen hackten und grillten und kochten die Köche einfach alles – von frischem Gartensalat über mit Honig und Aprikosen glasiertem Hähnchen bis hin zu Kartoffelpüree mit Knoblauch und Parmesan.

Ich atmete ein und genoss all die köstlichen Aromen und Dämpfe, die in der Luft hingen. Vielleicht hatten mich Tante Rachels Kochkünste verwöhnt, aber ich liebte all die ausgefallenen Gerichte und ich verstand nicht, warum Gwen immer so langweiliges, herkömmliches Zeug wie Pizza und Cheeseburger futtern wollte. Gourmetküche – das war’s einfach!

Tante Rachel arbeitete heute am Ende der Essensschlange und verteilte Eisbecher mit Bourbonvanilleeis, warmer Schokoladensoße und frischen, in Scheiben geschnittenen Erdbeeren. Mein Magen knurrte erwartungsvoll. Spartaner hatten ja eigentlich keine Schwächen, aber Desserts gehörten definitiv zu meinen. Ich war verrückt nach Süßigkeiten und Eisbecher gehörten zu meinen Lieblingsnaschereien. Ich hatte zwar gerade eben noch nicht den geringsten Hunger verspürt, aber Eis passte immer.

Tante Rachel wusste über meine Naschsucht bestens Bescheid und so machte sie mir einen extra großen Eisbecher zurecht, mit Unmengen Schokoladensoße und Erdbeeren, dazu gehackte und geröstete Mandeln für den gewissen Crunch. Sie schob mir den Eisbecher auf mein Tablett und ich bewunderte ihn ehrfürchtig. Dieser Nachtisch war beinahe zu hübsch, um gegessen zu werden. Beinahe.

»Wie läuft dein erster Tag so?«, fragte sie.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Großartig. Einfach großartig. Bis auf die vielen Hausaufgaben.«

Sie runzelte die Stirn. »Jetzt schon Hausaufgaben? Gleich am ersten Tag?«

»O ja.«

Das war definitiv die Wahrheit. Mein Professor für Mythengeschichte hatte uns bereits eine lange Hausarbeit aufgegeben und wir mussten nächste Woche ein Exposé vorlegen, um es von ihm absegnen zu lassen, was bedeutete, dass ich heute Nachmittag einige Zeit in der Bibliothek verbringen würde, um die nötigen Fachbücher ausfindig zu machen.

»Und wie ist es bei dir so?«, fragte ich. »Wie läuft dein Tag?«

Tante Rachel lächelte, aber es hatte den Anschein, als beiße sie die Zähne zusammen, um ihren Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu halten. »Oh, wunderbar. Einfach wunderbar. Einfach … so allmählich kommt man wieder in den Rhythmus.«

Anders als meine Eltern war Tante Rachel eine miserable Lügnerin und ich konnte erkennen, dass ihr Tag genauso schlimm gewesen war wie meiner. Ich fragte mich, ob die anderen Köche hinter ihrem Rücken genauso über sie getratscht hatten wie all die Schüler über mich. Wahrscheinlich.

Wieder zwang ich mich zu einem Lächeln. Sie wäre enttäuscht, dass die Dinge bei mir nicht besser liefen, und ich wollte ihren Tag nicht noch schlimmer machen, als er es ohnehin schon war. »Ich muss nach dem Unterricht in die Bibliothek und mit einem Aufsatz anfangen, wir sehen uns also erst heute Abend zu Hause wieder. Okay?«

»Klar«, sagte Tante Rachel. »Klingt gut. Ich werde uns zur Feier unseres ersten Tages einen besonderen Late-Night-Snack zaubern.«

»Super.«

Ich nickte und lächelte ihr noch einmal zu, als sei alles bestens und als hätte ich wirklich einen großartigen Tag. Dann senkte ich den Kopf, ging an ihr vorbei und bezahlte mein Essen an der Kasse. Das Wechselgeld stopfte ich mir in die Jeanstasche, dann schnappte ich mir das Tablett und drehte mich um, um mich einem neuen Dilemma zu stellen.

Wo ich mich hinsetzen sollte.

Da es der erste Schultag war, war der Speisesaal gerammelt voll, genau wie zuvor der Hof am Morgen, und ich sah keine leeren Tische. Ich sah nicht einmal leere Stühle. Zumindest nicht an einem Tisch, an dem ich vielleicht hätte sitzen und in Frieden essen können, ohne dass alle anderen gehässige Bemerkungen machten. Natürlich konnte ich jederzeit nach draußen gehen und auf der Treppe essen. Das hatte ich im vergangenen Schuljahr fast jeden Tag so gehalten, egal wie kalt und verschneit es draußen gewesen war. Allein zu sein war besser, als mit Menschen zusammen zu sein, die mich hassten.

Ich machte mich daran, nach draußen zu gehen, um mir ein stilles, verlassenes Plätzchen zu suchen, aber dann wurde mir bewusst, dass mich Tante Rachel von ihrem Platz am Ende der Essensschlange immer noch beobachtete. Wenn ich den Speisesaal verließ, würde sie merken, dass etwas nicht stimmte. Also biss ich die Zähne zusammen und zwang mich, an den Tischen vorbeizugehen und nach einem Platz zu suchen – nach irgendeinem Platz, wo ich mich für einen kurzen Moment hinsetzen konnte, bis sie sich wieder an die Arbeit machte und ich aufstehen und hinausschleichen konnte …

Eine Schulter rammte die meine, sodass ich beinahe mein Tablett hätte fallen lassen. Ich wirbelte herum, bereit, die Person anzufauchen, die mich da angerempelt hatte, aber die Worte erstarben auf meinen Lippen.

Lance Fuller stand vor mir.

Der Römerkrieger war ein Meter achtzig groß und hatte breite, muskulöse Schultern. Seine Augen waren von intensivem Blau, das sich von seiner gebräunten Haut abhob, und sein gewelltes schwarzes Haar glänzte im Saallicht wie polierter Gagat. Er sah nicht nur aus wie ein Covermodel, er verströmte auch jede Menge Selbstbewusstsein, und das aus gutem Grund. Lance Fuller war schlicht und ergreifend der Typ an der Mythos Academy – klug, reich, gut aussehend, charmant, beliebt. Er war einer von diesen Jungs, dem alle anderen Jungen nacheiferten und mit dem alle Mädchen zusammen sein wollten.

Mich eingeschlossen.

Ich war gewaltig in Lance verschossen, seit ich ihn im vergangenen Jahr das erste Mal den Hof hatte überqueren sehen. Und zu meinem Erstaunen schien er mich ebenfalls zu mögen. Wir hatten im letzten Jahr einige Kurse zusammen gehabt und er hatte sich immer freiwillig bereit erklärt, in Chemie mein Laborpartner zu sein oder bei irgendwelchen anderen Projekten mit mir zusammenzuarbeiten. Er hatte schließlich sogar gefragt, welche Filme und welche Musik ich mochte, als spiele er mit dem Gedanken, mich zu fragen, ob ich mit ihm ausgehen wolle. Aber dann waren all die schlimmen Dinge mit meinen Eltern passiert und meine Träume von einem Date mit Lance hatten sich in Luft aufgelöst.

Als Lance bewusst wurde, dass er mit mir zusammengestoßen war, lächelte er doch tatsächlich, wobei er die beiden perfekten Grübchen in seinen Wangen zur Schau stellte. »Hey, Rory. Tut mir so leid, ich habe dich gar nicht gesehen. Wie läuft dein erster Schultag nach den Ferien denn so?«

Ich brauchte einen Moment, um damit aufzuhören, ihn anzustarren, und ihm zu antworten. »Ähm, alles bestens. Wie geht es dir?«

»Gut.« Sein Lächeln wurde breiter. »Jetzt sogar besonders gut.«

Mein Herz schlug schneller und begann in meiner Brust zu hämmern. Anders als all die anderen Schüler verspottete oder beschimpfte Lance mich nicht wegen dem, was meine Eltern getan hatten. Während des ganzen letzten Jahres hatte er mir auch weiterhin zugewinkt, wann immer er mich über den Hof hatte gehen sehen, und er hatte sogar einige Male mit mir gesprochen. Wegen seiner Freundlichkeit mochte ich ihn umso mehr.

»He, Lance!«, rief Kylie, eine hübsche Walküre mit glattem blondem Haar. »Hier drüben! Wir haben dir einen Platz freigehalten!«

Doch Lance hielt seinen Blick weiter auf mich gerichtet, sein Gesicht verharrte noch immer in diesem bezaubernden Lächeln. »Vielleicht sieht man sich ja irgendwann mal die Woche.«

Mein Herz schlug noch schneller. »Klar, das wäre toll.«

Lance zwinkerte mir zu, dann ging er davon, um sich zu seinen Freunden zu setzen. Ich schaute ihm nach und wünschte mir, ich könnte mich zu ihm an den Tisch setzen, aber natürlich warf Kylie mir einen hasserfüllten Blick zu, aus dem klar hervorging, dass ich dort nicht willkommen war. Also seufzte ich und ging weiter, immer noch auf der Suche nach einem freien Platz.

Und endlich fand ich einen – am Tisch des Wikingers.

Er saß an einem Tisch in der Ecke und er war nicht allein. Ein schönes Mädchen mit perfekten blonden Locken hockte neben ihm. Sie war ihm so nah, dass sie ihm ins Ohr flüstern und ihm bei allem, was er sagte, an den Lippen kleben konnte. Ich schnaubte. Natürlich hatte er eine Freundin. Gut aussehende Kerle wie er hatten immer eine Freundin. Manchmal zwei oder drei gleichzeitig.

Aber ihr Tisch war der einzige mit einem freien Stuhl und so lief ich in seine Richtung. Ich fragte nicht einmal, ob ich mich zu ihnen setzen durfte. Es hatte keinen Sinn, da sie sowieso mit Nein antworten würden. Also marschierte ich hinüber, knallte mein Tablett auf den Tisch und schob den freien Stuhl so weit von den beiden weg, wie es ging, ohne denTisch zu wechseln.

Ich ließ mich ihnen gegenüber auf den Stuhl fallen und sie sprangen beide förmlich von ihren Sitzen auf. Ich hatte sie abrupt aus einem offenbar sehr privaten, sehr intensiven Gespräch gerissen. Der Wikinger erkannte mich wieder und runzelte die Stirn, aber das Mädchen lächelte und nickte mir zu. Sie musste genau wie der Wikinger neu an der Schule sein. Kein Schüler der Mythos Academy, der etwas über mich – oder über meine Eltern – wusste, würde sich mir gegenüber jemals so freundlich verhalten.

»Hey«, sagte sie. »Wie heißt du?«

Ich seufzte, weil ich keine Lust auf Small Talk hatte, aber es wäre furchtbar unhöflich gewesen, ihr nicht zu antworten. »Rory.«

Das Mädchen lächelte mich abermals an. »Hi, Rory. Ich bin Amanda und das ist Ian.«

So hieß der Wikinger also. Ich grunzte zur Antwort und er tat das Gleiche. Amanda blickte zwischen uns beiden hin und her und fragte sich, was da wohl vor sich ging, aber ich verlor kein Wort darüber und Ian genauso wenig.

Ich senkte den Kopf und griff nach meinem Tablett. Statt mich über meinen Salat, das Hühnchen und den Kartoffelbrei herzumachen, nahm ich mir direkt meinen Eisbecher vor, schob meinen Löffel in die schmelzende Eiscreme und schaufelte sie mir in den Mund, so schnell das möglich war, ohne mich zu verschlucken. Oder Kältekopfschmerzen zu bekommen. Der Eisbecher war köstlich, eine perfekte Mischung aus Vanille, Schokolade und Erdbeere, aber ich wollte ihn trotzdem einfach nur schnell runterkriegen und so bald wie möglich wieder verschwinden.

Vor allem da es sich das glückliche Paar hier so schön gemütlich gemacht hatte.

Ian beugte sich vor und flüsterte Amanda etwas ins Ohr. Sie sah mich an und ihre blauen Augen weiteten sich vor Überraschung. Mir rutschte das Herz in die Kniekehlen. Ich kannte diesen Blick. Ich hatte ihn schon hundertmal gesehen. Ian hatte ihr von meinen Eltern erzählt, den Schnittern.

Amanda befeuchtete sich die Lippen, wandte den Blick von mir ab und rückte ihren Stuhl näher an den des Wikingers. Ich verdrehte die Augen. Als hätte ich vor, sie hier mitten im Speisesaal vor der ganzen Schule anzugreifen. Also bitte. Meine Eltern mochten Schnitter gewesen sein, aber sie waren nicht dumm gewesen – und ich war es auch nicht.

Ich hätte gedacht, dass sie jetzt vielleicht anfangen würden, über mich zu tuscheln, wie es bei einigen Schülern an den Nachbartischen der Fall war, aber die beiden ignorierten mich einfach. Das heißt, sie ignorierten mich wirklich total. Sie sahen mich nicht einmal an. Stattdessen zog Ian sein Handy aus der Tasche und scrollte über das Display, bis er fand, was er suchte. Dann beugten er und Amanda sich beide über das Handy, die Köpfe dicht nebeneinander, vollkommen versunken in was auch immer sie da anstarrten.

Einen Moment lang machte sich Enttäuschung in mir breit. Ich hatte mich darauf gefreut, dem Wikinger einige Beleidigungen an den Kopf zu werfen, da er mich an diesem Morgen auf dem Hof abserviert hatte, aber ich würde es verkraften. Ignoriert zu werden war viel besser, als wenn man über mich tratschte, und außerdem hatte ich immer noch mehr als die Hälfte meines Eisbechers übrig. Also blendete ich sie einfach aus, genauso wie sie es mit mir machten, und konzentrierte mich wieder auf meine Mahlzeit, allerdings aß ich jetzt viel langsamer und ließ mir Zeit, jeden einzelnen köstlichen Löffel Eiscreme zu genießen.

Traurigerweise war es mein schönstes und ruhigstes Mittagessen im Speisesaal seit dem Tag, an dem alle die Wahrheit über meine Eltern erfahren hatten.

3

Ian und Amanda schauten noch immer auf Ians Handy, als ich nach getaner Mahlzeit aufstand und mir mein Tablett schnappte. Ich erwartete, dass sie mich weiter ignorieren würden, aber Amanda schaute auf und winkte mir zu.