Aiken, G. A. Call of Crows - Enthüllt

PIPER

PIPER

 

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

 

ISBN 978-3-492-97800-2

© Shelly Laurenston 2017

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Unyielding« bei Kensington, New York 2017

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2018

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Sabine Dunst, Guter Punkt, unter Verwendung von Motiven von Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Prolog

»Steh auf. Sofort.«

Harvold war schlagartig wach, als er die Worte seiner Mutter hörte. Sie hielt bereits das Baby im Arm – seine Schwester, die gerade erst laufen konnte. Und seinen jüngeren Bruder weckte sie mit den gleichen Worten.

Sie führte seinen Bruder und ihn zu dem geheimen Ausgang hinten im Haus. Er diente zur Flucht bei einem Überfall. Es war mitten im Winter. Wer würde sie jetzt überfallen?

»Geht«, befahl sie und drückte ihm seine Schwester in die Arme. »Geht und schaut nicht zurück.«

»Aber …«

»Stell keine Fragen!« Darüber beschwerte sie sich bei ihm immer am meisten. Er stellte zu viele Fragen. Er wollte »zu viel« wissen.

Aber er war fast dreizehn Jahre alt. Er war beinahe ein Mann. Es war Zeit, dass er Antworten bekam.

»Geh einfach.« Sie umarmte ihn plötzlich fest, seine Schwester zwischen ihnen gefangen.

Es war eine innige, furchterfüllte Umarmung. Dann umarmte sie seinen Bruder genauso.

»Geh, Harvold. Beschütz deinen Bruder und deine Schwester. Und schau nicht zurück.«

Der Riegel wurde angehoben, und Harvold und sein Bruder schlüpften aus dem Haus und liefen durch den Wald und den Hügel hinauf, ihre Schwester in Harvolds Armen. Aber Harvold blieb stehen. Er würde zurückschauen. Er schaute immer zurück.

»Harvold!«, flüsterte sein Bruder.

Harvold ignorierte das verzweifelte Flehen und suchte stattdessen nach einem Platz, an dem er seine Geschwister sicher verstecken konnte. Ein großer Felsbrocken würde den Zweck erfüllen, und er verfrachtete sie dorthin.

Das Versteck war perfekt. Groß genug, dass man sie nicht sah, aber so gelegen, dass er eine gute Sicht auf das Dorf hatte.

Nachdem er ihre Schwester an seinen jüngeren Bruder weitergereicht hatte, schob Harvold sich um den Felsbrocken herum und blickte auf das Dorf hinab, das sein Zuhause gewesen war, das Zuhause seines Vaters und das des Vaters seines Vaters und zahlloser Generationen vor ihnen.

Die Menschen, die er sein Leben lang gekannt hatte, wurden grob zur Mitte des Dorfplatzes getrieben, die Ältesten und Krieger zu Boden gestoßen, von Männern, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Es waren massige Männer. Harvold hatte nie zuvor so große Menschen gesehen. Die Frauen und Kinder wurden daran gehindert, fortzugehen, und die riesigen, Furcht einflößenden Männer hatten das ganze Dorf umstellt.

Einer dieser Furcht einflößenden Männer trat vor und blickte auf Eindride den Geduldigen hinab. Der Fremde hatte langes Haar und einen üppigen Bart, sodass Harvold selbst aus dieser sicheren Entfernung nur seine grimmigen Augen sehen konnte.

»Sag es mir«, knurrte der riesige Mann. Seine Worte wurden, obwohl er sie leise gesprochen hatte, von dem frischen winterlichen Wind fortgetragen, sodass es so klang, als würde Harvold neben ihnen stehen. »Wo ist es?«

»Ich habe es dir bereits gesagt … wir wissen nicht, wovon du redest!«

Der massige Mann ging vor Eindride in die Hocke, einen Arm auf sein Knie gelegt. »Weißt du, wer ich bin?«, fragte er.

Eindride schaute zornig zu dem Mann auf, denn selbst in der Hocke überragte er ihn immer noch. »Du bist Holfi Rundstöm.«

Bei dem Namen keuchte Harvolds Bruder und Harvold hielt dem Jungen schnell mit einer Hand den Mund zu.

Obwohl sein Bruder erst neun Jahre alt war, hatte er von den Rundstöms gehört. Alle hatten von ihnen gehört. Ihr Ruf reichte Generationen zurück und man fürchtete sie aus gutem Grund.

»Ja, ich bin Holfi Rundstöm.« Der große Mann stand auf, hob seine Klinge und ließ sie in einem brutalen Winkel niedersausen. Nicht auf Eindride, sondern auf den Hals seiner ältesten Tochter.

Der arme Eindride schrie vor Zorn auf. Er hatte sieben Töchter und er liebte sie alle. Rundstöm musste das gewusst haben. Harvold vermutete, dass es kein Versehen war, dass er Eindrides Älteste getötet hatte.

Rundstöm packte das Nächstälteste von Eindrides Mädchen und presste ihm seine blutverschmierte Klinge an die Kehle. »Ich frage noch ein letztes Mal, alter Mann«, knurrte er. »Sag mir, wo – Auuuuu!«

Der Hammer schien aus dem Nichts gekommen zu sein, traf Rundstöms riesigen Kopf und zwang ihn, Eindrides Tochter loszulassen und mehrere Schritte rückwärtszutaumeln.

Es erschreckte Harvold, dass Rundstöm nicht tot zu Boden fiel. Denn das war kein normaler Kriegshammer. Sein Kopf war tausendmal größer als alles, was Harvold je zuvor bei irgendeinem Schmied gesehen hatte. Wer hatte so viel Eisen zur Verfügung und benutzte es für eine einzige Waffe?

Rundstöms Männer, die unbewaffnet zu sein schienen, schnappten sich Waffen aus der Schmiede des Dorfes und klaubten alles auf, das zur Verfügung stand. Wie zum Beispiel eine Fällaxt.

»Du wagst es, hierherzukommen, Holfi Rundstöm?«, verlangte ein barbrüstiger Mann zu wissen, als er aus dem Wald trat. Er trug Fellhosen und Stiefel, aber kein Hemd. Das Abbild des großen Hammers, den er schwang, war auf seine Brust gebrannt, und er trug einen goldenen Reif um seinen massigen Hals. »Dieses Dorf steht unter dem Schutz meines Gottes.«

»Scheiß auf deinen Gott«, knurrte Rundstöm. »Scheiß auf dich.«

Jemand warf dem Anführer einen weiteren Hammer zu und er schwang ihn beim Gehen einige Male herum. Der Kopf der Waffe war so riesig, dass Harvold keine Ahnung hatte, wie er es schaffte, ihn sich nicht aus Versehen selbst ins Gesicht zu schlagen.

Während die Gestalten mit den Hämmern sich näherten, rissen Rundstöm und seine Männer die Schultern zurück, und schwarze Flügel explodierten aus ihren Rücken. Wie die Flügel von Odins Raben, Hugin und Munin, nur viel größer.

»Es ist wahr«, flüsterte Harvold über die panischen Schreie seiner Nachbarn. »Es ist alles wahr.«

»Was ist wahr?«, fragte sein Bruder. »Was geschieht dort?«

Harvold bedeutete seinem Bruder zu bleiben, wo er war, während er selbst weiter zuschaute.

Er hatte die alten Frauen seines Dorfes darüber reden hören, aber kaum jemand hatte ihnen geglaubt. Die Geschichten von Kriegern, die von einem bestimmten Gott dazu auserwählt worden waren, ihn oder sie in dieser Welt zu vertreten. Seinen oder ihren Willen zu tun. Seine Eltern huldigten jedem Gott, den sie gerade brauchten, aber diese Männer hörten nur auf einen einzigen Gott, dessen Befehle sie befolgten und dessen Macht sie anbeteten.

Jene mit den Hämmern mussten zu Thor gehören. Und die Männer mit den Flügeln … ihr Gott musste Odin sein.

Harvold spürte mit einem Mal eine Kälte bis in die Knochen. Odin. Der Gott wurde so sehr gefürchtet, dass Harvolds Eltern ihn nur selten für irgendetwas anriefen, außer zu Zeiten eines Krieges. Und irgendetwas sagte Harvold, dass die Männer, die Odin dafür auswählte, seine Flügel zu tragen, nicht besser sein würden. Vernunft und Reden würden denen, die die blutbesudelten Füße Odins anbeteten, nichts bedeuten.

»Lasst eure Waffen stecken, ihr lächerlichen Männer«, rief eine Frau. Sie trug lange Roben und eine Kapuze verdeckte ihr Gesicht. Es waren noch andere bei ihr, allesamt Frauen, dachte Harvold, nach der Art zu schließen, wie sie sich bewegten. Sie kamen von Osten. Sie hatten, soweit er sehen konnte, keine eigenen Waffen, aber sie zeigten auch keine Furcht, als sie auf die männlichen Krieger zuschritten.

»Holde Maiden«, knurrte der Hammerschwinger. »Was macht ihr abscheulichen Miststücke hier?«

»Hüte deine Zunge, Riesentöter, sonst reiße ich sie dir mit meinen Zähnen aus dem Mund.«

»Er hat recht, Alvilda«, warf Rundstöm ein. »Warum bist du hier?«

Die Frau mit der Kapuze hielt inne und schaute an den Männern vorbei zum See des Dorfes. »Vielleicht ist das eine Frage, die wir uns alle stellen sollten«, bemerkte sie und wedelte mit der Hand in Richtung des Wassers.

Aus den kalten Tiefen des Sees tauchten sie auf, nackt und wunderschön. Männer und Frauen, und sie alle hielten Schwerter bereit.

Eine Frau führte sie an, ihr Haar zu dicken Zöpfen geflochten, die ihr über den Rücken fielen. Sie betrachtete die verschiedenen Gruppen und blinzelte dabei langsam mit ihren großen blauen Augen. Obwohl sie nackt und tropfnass war, mit Schnee unter den Füßen, schien sie nicht im Mindesten zu frieren.

»Was geht hier vor?«, fragte die nackte Frau.

Zwei männliche Anführer begannen zu sprechen, aber die Frau mit der Kapuze schnitt ihnen mit einer schnellen Bewegung beider Arme das Wort ab. »Warum bist du hier, Eerika?«, fragte sie.

»Uns ist zu Ohren gekommen, dass ihr und die Ravens einen Angriff auf den Tempel unseres Gottes plant, nicht allzu weit von hier entfernt.«

»Warum sollten wir uns jemals die Mühe machen, den fischbedeckten Tempel eures Gottes anzugreifen?«

Von Norden stürmte von dem nahen Berg eine weitere Gruppe heran. Diese Gruppe bestand ebenfalls nur aus Frauen. Sie pflügten mühelos durch den Schnee, da sie lange Stöcke an ihren Füßen befestigt hatten, und sich mit langen Stangen in den Händen vorwärtsschoben.

Sie sprangen allesamt von einem hohen Felsvorsprung, und einige von ihnen machten eine Rolle mitten in der Luft, bevor sie in der Nähe der anderen Gruppen landeten.

Dann sprang aus dem Wald im Norden noch ein Rudel weißer Wölfe herbei. Sie knurrten und fletschten die Zähne und bissen einander, bis sie in der Nähe der anderen stehen blieben und sich von Tieren in Menschen verwandelten. Ganz einfach, mit lediglich einem Gedanken.

Die sechs Gruppen sahen einander für mehrere lange Augenblicke an.

»Ich verstehe nicht«, sagte Holfi Rundstöm zu ihnen. »Warum sind wir alle hier? Zur gleichen Zeit?«

»Man hat uns hierhergelockt, du Idiot«, blaffte die Holde Maid unter ihrer Kapuze hervor.

»Wer würde so etwas tun?«

»Die Stillen sind nicht hier«, kam es von einem der geflügelten Krieger.

Holfi lachte höhnisch. »Das würden sie nicht wagen.«

»Und Lokis Wölfe gehören nicht mehr zu den Neun«, bemerkte eine der Maiden.

»Aber das sollten wir«, warf ein Mann, der ein Wolf gewesen war, lachend ein.

»Aber ihr tut es nicht.«

Die Anführerin der Maiden hob die Hände, um alle zum Schweigen zu bringen, und brüllte dann: »Warum sind wir dann hier?«

Harvold fragte sich das Gleiche, als eine andere Frau – eine ganz andere Frau – lautlos auf dem Felsbrocken landete, hinter dem er und seine Geschwister sich versteckten.

Er schaute zu ihr auf und wusste sofort, dass sie nicht in dieser Gegend geboren worden war. Ihre Haut war braun, als wäre sie tausend Jahre lang in der Sonne gewesen, ihre Augen fast schwarz. Sie trug noch immer das Brandmal ihres Herrn auf dem Arm. Harvold erinnerte sich an sie. Ihr Herr hatte sie an einem Baum gehenkt, weil sie versucht hatte zu fliehen. Sie war eine Sklavin gewesen. Sie hatte noch immer die Narben dort, wo ihr Herr sie geschlagen hatte. Er hatte ihren noch blutenden Leichnam in dem Baum in der Nähe seiner Halle hängen lassen, aber dann war der Leichnam plötzlich verschwunden gewesen.

Die meisten Dorfbewohner hatten angenommen, dass ein Nekromant sie für seine dunklen Machenschaften mitgenommen hatte. Aber wenn ein Nekromant sie nun zurückgeholt hätte, wäre sie ein Leichnam gewesen, der immer weiter verwest wäre, während er durch die Gegend wanderte.

Doch die Frau, die vor ihm und seinen Geschwistern stand … sie war jung, gesund und gut bewaffnet.

Sie war lebendig.

Sie sah auf Harvold hinab und betrachtete ihn eingehend. Sie taxierte ihn, beurteilte, ob er eine Bedrohung für sie darstellte. Zu seiner großen Erleichterung hob sie schließlich einen Finger und drückte ihn sich auf die Lippen. »Scht.«

Harvold wich zurück und nickte.

Lächelnd hob sie ihren Bogen, spannte einen Pfeil und zielte. Nach einigen Sekunden schoss sie den Pfeil ab. Er durchbohrte Rundstöms Hals, und der riesige Mann sah schockiert aus, bevor er zu Boden fiel.

Weitere Pfeile flogen von den Bäumen und Felsen rund um Harvolds Dorf und durchbohrten Krieger und Dörfler gleichermaßen. Sobald der Hagel der Pfeile versiegte, warf die Frau auf dem Felsbrocken den Kopf in den Nacken und stieß einen Kriegsschrei aus, der über das Land hallte.

»Crows!«, brüllte einer der Krieger der Götter warnend, und die Sklavinnen schienen von überall her aufzutauchen. Frauen, die nicht in diesen Ländern geboren waren, die zum Teil noch die Brandmale ihrer Herren auf den Armen oder den Gesichtern trugen, stürmten zwischen den Bäumen hervor, sprangen von Felsvorsprüngen oder ließen sich einfach mitten ins Dorf fallen.

Frauen mit großen schwarzen Flügeln und einer Rune, die auf ihren Hals oder die rechte Seite ihres Gesichts gebrannt worden war.

Harvold erkannte diese Rune. Sie repräsentierte Skuld, eine der Nornen, von denen seine Großmutter in letzter Zeit gesprochen hatte.

»Behandle deine Sklavinnen gut, mein kleiner Harvold«, sagte seine Großmutter oft, »denn wenn sie von deiner Hand einen schlimmen Tod sterben, könnte Skuld sie zurückschicken, um dich in Stücke zu reißen.«

Er hatte gedacht, sie hätte von etwas gesprochen, das aus dem Grab auferstand. Etwas Verwestem und Verzweifeltem, das Rache suchte, bevor es wieder von dem Loch geschluckt wurde, aus dem es herausgesprungen war.

Aber er hatte sich geirrt.

Diese blühenden, zornigen fremden Frauen griffen ohne Zögern an. Einige schlugen mit langen, dünnen Klingen um sich, die sie in Hälse, Oberschenkel und Wirbelsäulen stachen. Andere kämpften mit Schwertern und Schilden und verteilten lähmende Hiebe, um zu enthaupten und zu zerstückeln. Sie kämpften gegen jeden, der ihre Herausforderung annahm.

Viele der Dorfbewohner wurden niedergestreckt, als sie zu fliehen versuchten, außerstande, der Schlacht auszuweichen, die um sie herum explodiert war.

Es war eine brutale Angelegenheit und niemand wurde verschont. Selbst die geflügelten Frauen erlitten schwere Verluste. Aber jene, die noch atmeten, kannten kein Mitleid. Sie gingen zwischen den Leibern umher und töteten diejenigen – ob Gotteskrieger oder unschuldige Dorfbewohner –, von denen sie das Gefühl hatten, sie würden vielleicht überleben, und schlitzten mit ihren dünnen Waffen deren Kehlen auf.

Eine große dunkelbraune, geflügelte Frau packte einen von Odins Kriegern am Nacken und zog ihn hoch, sodass er sich ein wenig aufrichtete. Er hatte während der Schlacht einen seiner Flügel und ein Bein unterhalb des Knies verloren, aber er atmete noch.

»Warum?«, fragte er die Frau. »Warum habt ihr das getan?«

»Hast du gedacht, die Crows würden jemals vergessen, was du und die anderen getan habt? Dass ihr unsere Schwestern getötet habt? Ihr habt sie im Schlaf niedergemetzelt. Ihr habt alle gleichzeitig angegriffen.«

»Das war …«

»Vor zehn Wintern. Ja. Und wir haben es nicht vergessen, Raven.« Sie beugte sich vor. »Wir vergessen niemals

Sie rammte dem Krieger ihre dünne, aber scharfkantige Waffe ins Auge, bohrte es tief hinein und brüllte über seinen Schrei hinweg: »Und jetzt kannst du so sein wie dein Gott!«

Als die Schreie des Mannes erstarben, hoben die Sklavinnen ihre blutbefleckten Waffen und brüllten ihren Triumph heraus.

Harvold war sich nicht bewusst, dass er weinte, bis er gezwungen war, sich das Gesicht abzuwischen. Das ganze Dorf war fort … auch seine Eltern.

Sein Bruder saß mit ihm auf dem Felsbrocken und schaute zu. Weinte ebenfalls. Harvold zwang ihn nicht, wegzuschauen. Es hatte keinen Sinn, ihn noch länger davor zu schützen. Dann fiel Harvold ihre Schwester ein.

»Wo ist sie?«, fragte er und schaute dorthin, wo sie hätte liegen sollen, es aber nicht tat.

Die Brüder hasteten von dem Felsen und drehten sich um, blieben beide überrascht stehen.

Hinter ihnen standen Männer. Männer mit Flügeln. Nicht mit den schwarzen Flügeln von Odins Kriegern, sondern großen weißen Flügeln. Und die Rune Tyrs war in ihre Bizepse eingebrannt. Sie schauten auf Harvolds Schwester hinab, als sie ihnen ihre dicken Ärmchen entgegenstreckte.

»Nein!«, bellte sein Bruder, aber Harvold hielt dem Jungen den Mund zu, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Die Männer sahen ihn alle gleichzeitig an. Sie hatten große Augen, die sich nicht bewegten. Nur ihre Köpfe bewegten sich und sie blinzelten Harvold an. Wie Eulen. Ihre Köpfe und Augen bewegten sich wie die von Eulen.

Harvold stieß seinen Bruder nach vorn, und der Junge beeilte sich, ihre Schwester hochzuheben. Er kehrte schnell an Harvolds Seite zurück, das Baby fest im Arm.

Nachdem die Männer sie eine weitere Minute lang angestarrt hatten, gingen sie in zwei getrennten Reihen um sie herum, bevor sie sich in den Himmel erhoben und die verbliebenen Sklavinnen angriffen.

»Protectors!«, schrie eine der Sklavinnen. »Haltet euch bereit, Schwestern!«

Harvold beschloss, nicht hinzuschauen. Er hatte an diesem Tag mehr als genug gesehen.

Er schob seinen Bruder mit ihrer Schwester vor sich her, und sie machten sich zu der Hütte ihrer Großmutter auf, die tief im Wald versteckt lag, wo sie hoffentlich sicher sein würden.

Unterwegs fragte sein Bruder schließlich: »Warum, glaubst du, haben sie einander alle getötet, Harvold? Warum töten sie immer noch?«

Harvold antwortete schulterzuckend: »Ich schätze, sie haben sich nicht besonders gut verstanden …«

Jahrhunderte später …

Hel, Göttin der Unterwelt, ging vor der dunklen, feuchten Höhle auf und ab, in die ihr Vater vor so langer Zeit verbannt worden war.

Die Höhle war der eine Ort, den sie weder betreten konnte, noch konnte sie ihre Aasfresser hineinschicken. Die anderen Asengötter wussten genau, dass sie, wenn sie eintreten könnte, ihren Gefangenen befreien würde. Wie hätte sie das auch nicht tun können? Er war der große Loki, Betrüger-Gott und ihr Vater.

Aber sie hatte die eine Göttin gefunden, die ihn freilassen konnte – Gullveig.

Sie war kein Sproß aus dem Stamm der Asen, sondern aus dem der Wanen, und sie war an nichts gebunden, das sie daran hindern würde, die Höhle zu betreten.

Hel hörte Schritte und wandte sich schnell dem Höhleneingang zu, die Hände fest verschränkt, die Lippen zusammengepresst, während sie darauf wartete, den Vater wiederzusehen, den sie so sehr liebte.

Gullveig kam als Erste heraus. Sie steckte nicht mehr in dem schwachen menschlichen Körper fest, den sie gewählt hatte, um erneut die menschliche Welt zu betreten. Sie glänzte wie das Rheingold. Haare, Augen, Haut – alles war aus Gold und schimmerte selbst in dieser Dunkelheit.

Gullveig blieb vor dem Höhleneingang stehen und lehnte sich an die linke Seite der Steinöffnung.

»Nun?«, drängte Hel, als sie ihren Vater nicht sah.

»Er ist nicht da.«

Hel versteifte sich. »Was? Was hast du … was?«

Gullveig zuckte die Achseln, bereits gelangweilt von dem ganzen Gespräch. »Er ist nicht da. Nicht in dieser Höhle.«

»Das … das ist nicht möglich.«

Gullveig drehte sich um und ging zurück in die Höhle. Als sie wiederkam, hielt sie schwere Ketten in den Händen und warf sie Hel vor die Füße.

Hel kannte diese Ketten. Sie waren aus den Gedärmen ihres Halbbruders Narfi gemacht. Eine zusätzliche Strafe für Loki, für die Dinge, die er jedermanns Lieblingsgott angetan hatte, Baldur. Die Götter hatten Lokis Sohn Vali in einen Wolf verwandelt, der in dieser Gestalt seinen Bruder Narfi getötet hatte. Dann hatten sie Loki mit den Gedärmen seines Sohnes gefesselt, die sich in Eisen verwandelt hatten.

Warum das alles? Weil Odin ein kranker, rachsüchtiger Mistkerl war, und Hel hatte es immer erstaunt, dass so wenige Sterbliche sich an diese Eigenschaft des Allvaters erinnerten.

»Was ist mit Sigyn?«, fragte Hel verzweifelt.

»Mit wem?«

»Seiner Frau! Ist sie da drin?«

»Niemand ist da drin. Die Höhle ist leer bis auf eine ekelhafte Schlange, die mich angezischt hat. Und als ich ihr den Kopf abreißen wollte, hat sie versucht, mich zu beißen! Mich! Weiß sie denn nicht, wer ich bin?«

Hel wandte sich von Gullveigs Klagen ab. Zum ersten Mal seit Äonen empfand sie etwas. Tief, tief in ihren Eingeweiden. Panik. Bei allem, das Hel selbst war, sie geriet in Panik! Und sie wusste, warum.

Hel zeigte auf einen ihrer Aasfresser.

»Macht hier alles dicht. Und bringt uns zurück nach Eljudnir. Sofort.«

»Was ist los?«, fragte Gullveig und entriss dem Aasfresser ihren Arm, den er gepackt hatte, um sie zurück nach Eljudnir zu bringen, Hels Hallen. »Warum hast du solche Angst?«

»Loki ist frei.«

»Na und? Du wolltest ihn doch gerade selbst befreien.«

»Wollte ich. Und dann wäre ich es gewesen. Er hätte in meiner Schuld gestanden. Wenn schon nichts anderes, wäre ich wenigstens vor seinem Zorn sicher gewesen. Aber jetzt …«

»Und was hat irgendetwas von alledem mit mir und meinen Plänen zu tun?«

»Es dreht sich nicht immer alles um dich, weißt du?«

»Nein. Das weiß ich nicht. Meine Pläne sind bereits in der Ausführung begriffen. Willst du mir erzählen, dass du alles änderst, weil dein Daddy vielleicht sauer sein könnte?«

Hel trat dicht an Gullveig heran und zeigte mit einem Finger auf ihr Gesicht. »Du weißt nicht, wovon du redest.«

»Und du solltest mal dafür sorgen, dass du einen Arsch in der Hose hast, und deine Verpflichtung mir gegenüber einhalten!«, knurrte Gullveig zurück und schlug Hels Hand vor ihrem Gesicht weg. Hel streckte beide Hände nach Gullveigs Kehle aus, aber einer der Aasfresser zog Gullveig schnell aus ihrer Reichweite, und ein anderer sagte sanft zu Hel: »Mylady, wir sollten Euch in Sicherheit bringen. Zumindest bis wir wissen, wo Euer Vater ist.«

Hel ballte die Hände zu Fäusten und ließ sie dann sinken. Sie knirschte mit den Zähnen, die sich kurz in Reißzähne verwandelten.

Sie nahm sich einen Moment Zeit, um ihren Zorn unter Kontrolle zu bekommen. »Na schön«, sagte sie endlich und hielt die Augen auf ihren treuen Soldaten gerichtet. Nach so viel gemeinsamer Zeit wusste der Aasfresser, wie er seine Herrscherin beruhigen konnte.

Der Aasfresser lächelte und seine ledernen Flügel bewegten sich langsam hinter ihm. Das Geräusch besänftigte Hels zorniges, verfaulendes Herz.

Bis sie die Worte hörte: »Und was ist mit mir?«

Ihr Aasfresser verzog die Lippen und biss die Zähne zusammen.

Gullveig vergaß immer wieder, dass die Aasfresser Hel ergeben waren und niemandem sonst. Nicht Odin. Nicht Thor. Nicht einmal der schönen Freya, die nur mit einem charmanten Blick leicht die Herzen – und die Schwänze – von willensschwachen Männern eroberte.

Hel brauchte nur mit dem Finger zu schnippen, und ihre Männer würden sich auf Gullveig stürzen und sie in Stücke reißen.

Aber wie sie es schon früher getan hatte, würde Gullveig einfach wieder zurückkommen, und es war das Beste, die Idiotin nicht daran zu erinnern, dass sie in diesem Universum im Grunde unzerstörbar war.

Also fragte Hel, statt mit dem Finger zu schnippen: »Wo ist Önd?« Sie beobachtete – erheitert –, wie das Wenige an Farbe in den toten Wangen ihres Soldaten verblasste und seine Augen sich ein wenig weiteten.

»Er ist … er ist nicht hier, Mylady.«

»Wo ist er dann?«

»Er befindet sich in den Kreisen der christlichen Hölle … und peinigt die Dämonen.«

Hel lächelte. »Ruf ihn. Sag ihm, dass ich ihn hier an meiner Seite brauche.«

»Aber, Mylady …«

»Tu es. Sofort.«

Der Soldat neigte kurz den Kopf. »Selbstverständlich, Mylady.«

Hel spähte um den Aasfresser herum zu Gullveig. »Ich habe jemanden, liebste Freundin, der dir mit Freuden bei allem helfen wird, das du brauchst. Wenn du willst, dass die menschliche Welt zerstört wird, um Odin und den anderen Schmerz zu bereiten … dann ist Önd dein Mann.«

»Gut«, antwortete Gullveig, wunderbar ahnungslos wie immer. Und sie übersah vollkommen die Tatsache, dass die anderen Aasfresser sich bei der bloßen Erwähnung von Önds Namen äußerst unbehaglich zu fühlen schienen. »Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen. Ich bin des Wartens so furchtbar müde.«

Kapitel 1

»Warum bist du nicht tot?«

Während Erin Amsel langsam erwachte und ihr Kopf, ihr Gesicht und ihr Hals dabei an den Stellen pochten, auf die wiederholt eingeschlagen worden war, begriff sie, dass sie die Situation erheblich schneller hätte erfassen müssen, als man ihr diese Frage ursprünglich früher am Abend entgegengeschleudert hatte.

Vor allem, da es keine gewöhnliche Frage war, definitiv nicht die Art von Anmache, die man in einem heißen Club in L. A. zu hören bekam. Aber sie war beschäftigt gewesen. Hatte etwas getan, das sie wahrscheinlich nicht hätte tun sollen. Pech nur, dass es nun für Reue zu spät war. Da sie in der zweiten Sitzreihe eines großen SUV saß, je einen großen Mann links und rechts neben sich. Drei Männer in der Reihe hinter ihr. Und zwei vorn.

Sie konnte beinahe hören, wie ihr Vater sie scherzhaft ermahnte: »Du passt nie richtig auf!«

Und sie hatte nicht aufgepasst. Dass ein x-beliebiger Mann sie angesprochen hatte, war in jedem Club oder jeder Bar das Gleiche. Einem Stück Fleisch hinterherzujagen, das sie vögeln konnten, war eben das, was Männer so taten. Also hatte sie nicht wirklich auf seine tatsächliche Frage geachtet. Sie hatte nur gewusst, dass er ihr im Weg stand. Den Weg zu ihrem Zielobjekt blockiert hatte.

Denn während alle anderen in dem überteuerten Schuppen dabei gewesen waren, zu trinken, high zu werden und gesehen zu werden – in der Hoffnung, ein Foto von sich in eine Klatschzeitung zu bekommen oder die Aufmerksamkeit eines Talentscouts zu erregen –, hatte Erin ein ganz konkretes Ziel gehabt: zu beweisen, dass die Frau, auf die sie einen genaueren Blick zu werfen versuchte, die Hohepriesterin einer Göttin war, die vorhatte die Welt zu zerstören. Das Wikinger-Ende aller Tage herbeizuführen – Ragnarök. Die Göttin Gullveig.

Als Erin und ihre Schwestern das erste Mal mit Gullveig zu tun gehabt hatten, waren sie in dem Glauben gewesen, sie daran gehindert zu haben, diese Welt zu betreten. Sie hatten sich geirrt.

Bei ihrer zweiten Begegnung waren sie gezwungen gewesen, sie in irgendeine ferne Existenzebene zu stoßen, nur um Zeit für einen Plan zu schinden, wie sie sie endgültig loswerden konnten.

Dieses bevorstehende dritte Mal … würde das letzte Mal sein.

Ganz gleich, wie alles ausging.

Auch jetzt arbeiteten ihre Schwestern daran, Ragnarök zu verhindern.

Ihre Schwestern. Die mächtigen Crows. Der menschliche Kriegerinnen-Clan der Göttin Skuld. Schon vor den Tagen, da Wikinger Europa von ihren Langbooten aus terrorisierten, hatte Skuld unter den Sterbenden die ausgewählt, die sie für würdig befand, in ihrem Namen zu kämpfen. Sie wählte nicht nur aus reinem nordischen Geblüt aus, so wie die anderen Götter es taten. Nein. Sie wählte unter denen aus, die in Ketten an die nördlichen Gestade verschleppt worden waren. Immer Frauen. Immer Sklavinnen. Und immer zornerfüllt.

Jetzt, in diesen Tagen und diesem Zeitalter, wählte Skuld unter den Nachfahrinnen dieser Frauen. Oder unter denen, die in dieser Zeit misshandelt wurden.

Nach ihrem Tod gab sie ihnen eine Wahlmöglichkeit. Zu dem Gott zu gehen, den anzubeten sie erzogen worden waren, oder sich ihr anzuschließen. Eine Chance auf ein zweites Leben zu bekommen und eine Gelegenheit, all diesen Zorn und dieses Verlangen nach Rache, das sie in ihren Seelen speicherten, zu benutzen, um Ragnarök zu verhindern.

Es gab jene, die sich weigerten, das Angebot anzunehmen, aber viele andere taten es. Und diese Frauen waren nun Erins Crow-Schwestern.

Frauen, für die sie lebte und starb, und die im Moment keine Ahnung hatten, dass Erin in üblen Schwierigkeiten steckte.

Es war ihre eigene Schuld. In den Wochen, seit sie Gullveig aus ihrer Welt gestoßen hatten, war Erin klar geworden, dass es irgendwo in Los Angeles eine Priesterin gab, die das verrückte Miststück anbetete. Es musste eine geben. Gullveig zehrte wie alle Götter und Göttinnen von der Huldigung durch Menschen.

Während also der Rest der Crow-Schwestern und die Mitglieder der anderen Wikinger-Clans – die Neun, wie sie genannt wurden – verzweifelt nach einem Weg suchten, Gullveig aufzuhalten, stellte Erin ihre eigenen Nachforschungen an. Sie las jedes billige Klatschblättchen. Vertiefte sich in jede Website, die Tratsch verbreitete. Lauschte dem unablässigen Geplapper ihrer Crow-Schwestern, die davon träumten, eines Tages ein »Star« zu sein. Sie hörte zu und sie recherchierte, und sie war davon besessen, bis nur noch eine infrage kam.

Jourdan Ambrosio.

Als heißestes »It-Girl« an beiden Küsten und in Europa war Jourdan der Inbegriff des »Megastars für nichts und wieder nichts«.

Sie war attraktiv – obwohl es schwer zu erkennen war mit all dem Make-up, das sie trug, ganz gleich zu welcher Uhrzeit, wo sie gerade war oder was sie tat – Single, reich und mit jeder Menge berühmter Freunde gesegnet. Ihr Vater war ein berühmt-berüchtigter italienischer Regisseur, dessen Werke einmal zu Erins Rausschmiss aus einem Filmkurs am College geführt hatten, weil sie den Großteil der anfänglichen Filmvorführung damit verbracht hatte, sich über ihn lustig zu machen. Der Mann war affektiert – ihr Film-Professor hätte damit einfach klarkommen müssen.

Jetzt tat seine Tochter, statt Schauspielerin zu werden wie ihre gleichermaßen berühmte belgische Mutter, oder Regisseurin wie ihr Vater und ihr älterer Halbbruder, nichts als für alle anderen »den Stil vorzugeben« und Unmengen von Geld auszugeben.

Als Erin sie entdeckte, saß sie in der VIP-Lounge des Clubs, mit obszönen Mengen an Gold- und Diamantenschmuck behängt und umringt von verzweifelten Speichelleckern.

Wenn sie nicht bereits Gullveigs Priesterin war – ein Name, der sich mit »goldenes Getränk«, »goldene Macht« oder »goldene Trance« übersetzen ließ, je nachdem, wo man nachlas – sollte sie es unbedingt werden. Sie war alles, was Gullveig zu lieben schien. Schönheit und Geschmacklosigkeit in einem einzigen schlanken, sexy Paket.

Am Ende war Erin sich so sicher gewesen, dass sie in Bezug auf Ambrosio recht hatte, so besessen … dass ihr der muskulöse Mann, der sie anmachte, gar nicht richtig aufgefallen war.

Natürlich hatte er sie nicht wirklich angemacht. Eine Frau anzumachen bedeutete nämlich normalerweise nicht, sie zu fragen, warum sie nicht tot sei.

Jetzt saß Erin hier in der Falle, ihre Handgelenke mit Kabelbindern gefesselt, ihr Körper pochte von der Prügel, die sie bezogen hatte, als man sie mit Gewalt in den SUV verfrachtet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, aber sie bogen jetzt auf eine unbefestigte Straße ab.

Nein, das konnte nichts Gutes bedeuten.

Die Kombination von unbefestigten Straßen und Frauen, mit Kabelbindern gefesselt, ging nie gut aus.

Der SUV hielt an und die Männer stiegen aus und zogen Erin mit sich. Sie wehrte sich, versuchte, sich loszureißen, aber zwei der Männer hielten sie mühelos fest.

Also stieß sie, wie sie es bei jenem ersten Mal vor all den Jahren getan hatte, den Ellbogen nach oben und nach hinten. Nur dass sie dem Mann diesmal nicht nur die Nase brach – sie zertrümmerte ihm das Gesicht und schlug ihm Nase und Wangenknochen ein.

Blut spritzte Erin ins Gesicht, und das war der Moment, in dem es ihr wieder einfiel. Das war der Moment, in dem ihr klar wurde: Dies war keine Neuauflage des letzten Mals, als sie getötet worden war. Das ging gar nicht. Sie war nicht dieselbe Frau, die damals gefangen genommen worden war.

Sie war nicht mehr das Großmaul aus Staten Island und die Tätowiererin, die den Mafiosi auf den Schlips getreten war. Die den ach so Erin-typischen Fehler gemacht hatte, mit den Bundesbehörden zu reden, als wäre das kein großes Ding. Denn sie war doch bloß eine Tätowiererin gewesen. Ein Niemand. Und Erin hatte das auch weiterhin geglaubt – zumindest unbewusst –, bis zu dem Tag, an dem diese Mafiosi ihr das Gehirn aus dem Kopf gepustet hatten.

Aber jetzt war sie eine Crow, ein Mitglied der neun anerkannten menschlichen Clans, die die nordischen Götter in dieser Existenzebene repräsentierten.

Sie hatte gegen Wikinger gekämpft, gegen Dämonen und gegen Helheims Aasfresser. Odin hatte sie angebaggert und Thor hatte sie angegriffen. Einmal hatte Idun einen ganzen Korb ihrer goldenen Äpfel nach ihr geworfen, und ein andermal hatte Bragi – der Gott der Poesie und der Eloquenz – sie als eine »verkorkste kleine Fotze« bezeichnet, der er mit seiner »Harfe gern mal den Hintern versohlt« hätte.

Und nach alledem hatte eines überdauert: sie. Erin Amsel hatte alles überlebt. Also würde sie irgendwelchem Gangsterpack wohl kaum erlauben …

Eine Kugel schlug in Erins Stirn ein und sie fiel rückwärts auf den harten Boden.

 

Stieg Engstrom dachte, sein Freund und Raven-Bruder Vig Rundstöm wäre einfach ein Arschloch gewesen, als er darauf bestanden hatte, dass Stieg »heute Nacht auf Erin Amsel aufpassen« solle. »Stell fest, wohin sie geht. Was sie tut. Pass auf, dass sie nicht in Schwierigkeiten gerät.«

Er hatte wirklich gedacht, Vig führe sich bloß wie ein gewaltiges Arschloch auf. Warum sonst zwang er von allen Menschen im Universum ausgerechnet Stieg dazu, Erin »ich bringe jeden auf die Palme!« Amsel durch Los Angeles hinterherzudackeln?

Als er sie in einen Club hatte gehen sehen, einen dieser »neuesten Szene-Schuppen im Raum L. A.«, wie man sie in den Regionalnachrichten nannte, hatte er gedacht, die gesamte Raven-Bruderschaft wäre nur darauf aus, ihn zu quälen.

Sie alle wussten, dass er die Club-Szene von L. A. hasste; Schauspieler und Models und reiche Leute hasste, die dachten, sie wären allein ihres Geldes wegen wichtig. Er hasste Hollywood-Arschlöcher, die dachten, ihre Fähigkeit, einen Film auf den Weg zu bringen, mache sie zu Königen der Welt und den Rest der Menschheit zu ihren Stiefelleckern. Er verabscheute diese Leute wie die Pest, und wenn er seinen Brüdern nicht so treu ergeben gewesen wäre, hätte er sich den Ravens in Colorado angeschlossen, nur um nicht mehr in Los Angeles leben zu müssen.

Aber was er am meisten von allem verabscheute, war Erin Amsel. Die nervigste, frustrierendste, unhöflichste, lächerlichste Frau, die die Götter je auf die Erde geschickt hatten.

Ihr zu folgen war, wie es schien, komplette Zeitverschwendung. Denn wie viel Ärger konnte sich Stiegs Meinung nach ein einzelner Rotschopf mit einem Ego von der Größe Norwegens schon in einem langweiligen Club einhandeln?

Anscheinend jede Menge.

In der einen Sekunde stalkte sie offensichtlich dieses Model, das er im Badezimmer der Ravens auf dem Cover einer Männerzeitschrift gesehen hatte – warum Erin das tat, war ihm unbegreiflich –, und in der nächsten Sekunde schleppte irgendein Berg von einem Mann sie in einen abgelegenen Korridor.

Normalerweise hätte Stieg Erin allein mit einem aufdringlichen Typen fertigwerden lassen. Es war nicht so, als hätte sie nicht die Fähigkeiten dazu. Er hatte die Frau einmal eine ganze Reihe von Dämonen ausmerzen sehen. Buchstäblich. Sie war einfach an der Reihe entlanggegangen, hatte Kehlen aufgeschlitzt und einige von ihnen in Brand gesteckt, bis nichts mehr übrig geblieben war als Knochen und Dämonenblut.

Und doch …

Also war Stieg ihr gefolgt – durch den Korridor, durch die Hintertür hinaus und zu dem SUV. Das war der Punkt gewesen, an dem er seine Flügel entfesselt hatte und ihr von oben gefolgt war, bis sie den Freeway 101 verlassen hatten und auf irgendeiner Schotterstraße gelandet waren.

Als sie den schwarzen Escalade parkten, schwebte Stieg in der Luft über ihnen. Er wusste nicht wirklich, was er erwartet hatte. Vielleicht einen verbalen Schlagabtausch. Vielleicht ein paar Drohungen.

Leute liebten es, Erin Amsel zu drohen, er wusste nur nicht, warum. Denn ihr zu drohen war die sicherste Methode, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sich zu einem Teil ihres Lebenswerks zu machen, das darin bestand, Leute über jedes vernünftige Maß hinaus zu quälen.

Darauf verstand Erin Amsel sich gut.

Aber diese Männer machten sich keine Mühe mit toughen Worten. Sie zerrten sie aus dem SUV, ihre Hände mit Kabelbindern vor dem Bauch gefesselt, stellten sie auf die Füße – an dem Punkt zerschmetterte sie einem der Männer mit dem Ellbogen das Gesicht – und traten zurück. Ein Mann zog eine Waffe und schoss Erin in den Kopf.

Ohne ein Wort. Sie schienen nicht einmal wütend zu sein, dass ihr Kumpel vor ihren Füßen verblutete.

Scheiße, wer tat so etwas?

Himmel, vielleicht müsste diese Welt doch brennen. An manchen Tagen fragte er sich, ob Ragnarök wirklich so eine schlechte Sache wäre.

Doch Stieg musste diesen Arschlöchern gegenüber nicht den »Zerstörer-Raven« raushängen lassen, denn diese Männer hatten keine Ahnung, womit sie es zu tun hatten.

 

Tommy zielte mit seiner Waffe auf Erin Amsels Brust. Als er das letzte Mal gedacht hatte, dass er sie getötet hätte, hatte er sich nicht davon überzeugt, dass sie auch tatsächlich tot war. Zwei Kugeln in den Hinterkopf. Was hätte er sonst denken sollen? Aber diesmal würde er es beenden. Eine in den Kopf und zwei in die Brust. Das war immer die beste Methode, eine Person zu erledigen und dafür zu sorgen, dass sie erledigt blieb.

Aber bevor er erneut abdrücken konnte, erzitterte der Boden unter seinen Füßen, und er drehte sich um, die Waffe instinktiv erhoben.

Überrascht gaffte er den Mann an, der halb in Dunkelheit gehüllt hinter ihnen stand. Die Scheinwerfer ihres Wagens zeigten nur einen kleinen Teil seines Gesichts … und seiner Größe.

»Verdammt, wer bist du?«, fragte Tommy scharf, unsicher, wie dumm dieser Mann wohl war.

Der Mann sagte nichts. Er zeigte nur auf etwas.

Hinter Tommy.

Tommy schaute sich um und seine Augen weiteten sich. Entsetzen erfasste ihn, als er beobachtete, wie Erin Amsel aufstand. In ihrer Stirn herumpulte, bis sie die Kugel herauszog.

»Ich habe«, knurrte sie, »es so satt, in den Kopf geschossen zu werden

Ihr Schrei brachte Tommy zur Besinnung. »Tötet sie!«

Die Männer hoben ihre Waffen, aber der SUV wirbelte plötzlich zur Seite, und Tommy fragte sich kurz, ob dieser Mann ihn bewegt hatte. Mit bloßen Händen.

Niemand war so stark.

Sie waren beide verschwunden. Amsel und dieser Mann.

Tommy und seine Kumpel sahen sich um und versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Scheinwerfer beleuchteten einen anderen Teil ihrer Umgebung.

»Wo sind sie?«, bellte Tommy. »Scheiße, wo sind sie?«

Tommy bekam von oben einen Tritt gegen den Kopf, während er registrierte, dass Tesco in den Himmel hinauf verschwand.

Sie hörten Big Tessys Schreie, bevor er wieder herunterkam und brutal auf dem Gesicht landete. Blut quoll nicht nur aus der Stelle hervor, auf der er gelandet war, sondern auch aus seinem Rücken und den Innenseiten seiner Oberschenkel. Verletzungen, die er von einem einfachen Sturz zu Boden nicht hätte erleiden können.

Der SUV wirbelte herum, pflügte durch Tommys Männer und schleuderte sie in die Dunkelheit. Tommy hörte Knochen brechen und Stöhnen.

Aber hinter dem Lenkrad des SUV saß niemand. Es war, als hätte jemand den Wagen gestoßen. Schon wieder.

Er wich zurück und spürte zum ersten Mal seit Jahrzehnten Todesangst, als er die Waffe vor sich hielt, flankiert von seinen beiden letzten Männern.

Bis auch sie fort waren, weggeschleppt in die Nacht.

Ihre Schreie … Gott, ihre Schreie.

»Hey, Tommy.«

Beim Klang von Amsels Stimme wirbelte er herum, bereit zu feuern, aber ihre Hände – inzwischen befreit – hielten die Waffe fest und drehten sie weg. Dann holte sie mit der rechten Hand aus und rammte sie ihm gegen den Unterarm, und er spürte von diesem einen Schlag seinen Knochen brechen.

Tommy ließ die Waffe los und fiel auf die Knie in den Dreck.

Amsel trat die Waffe weg und stemmte die Hände in die Hüften. »Tommy, Tommy, Tommy«, sagte sie und lächelte trotz der Prellungen und des Blutes in ihrem Gesicht von den Schlägen, die sie kassiert hatte. Und von dem Schuss in den Kopf. »Dir ist schon klar, dass ich dich ganz vergessen hatte, oder?«

»Du kennst ihn?«, erklang eine weitere Stimme. Der große Mann von vorhin.

Er trat aus der Dunkelheit hervor und wirkte ausgesprochen sauer. Er hatte die letzten beiden von Tommys Männern um die Kehle gepackt. Er warf sie beiseite, als wären sie nur Puppen.

»Ja. Von vor langer Zeit. Das ist der Mann, der mich getötet hat.«

»Meinst du nicht, der Mann, der versucht hat, dich zu töten?«, fragte Tommy und hielt seinen gebrochenen Arm schützend nah am Körper.

Amsel hockte sich vor ihn hin und streichelte mit einem Finger seine Wange. »Nein, nein. Du hast mich tatsächlich getötet. Aber vor meinem letzten Atemzug ist sie zu mir gekommen. Eine Göttin namens Skuld. Und sie hat mir ein Angebot gemacht. Mir eine Chance auf ein neues Leben gegeben. Ein Zweites Leben.«

Die Frau war wahnsinnig. Das wusste Tommy jetzt. Aber er konnte mitspielen. »Du musstest ihr bloß deine Seele geben, richtig?«

»Aaah. Es ist süß, dass du denkst, ich hätte tatsächlich eine. Aber nein.« Sie zeichnete die Kontur seines Kinns nach, und es fühlte sich für ihn seltsam an.

Er schaute hinab und sah, dass die Spitze ihres Fingers nicht mehr wie ein Finger aussah. Nicht wie ein menschlicher jedenfalls. Schwarz und gefährlich scharf, erinnerte er ihn an … eine Vogelkralle?

Warum hatte diese Frau eine Vogelkralle?

»Sie hat mir versprochen«, fuhr Amsel fort, »dass Arschlöcher wie du mir nie wieder Angst machen würden. Und sie hat mich nicht belogen.« Sie stieß mit der Kralle zu und brennende Schmerzen versengten ihm die Wange. Blut troff von seinem Kiefer.

»Wenn du mich nur in Ruhe gelassen hättest, Tommy, würde das hier nicht geschehen.«

Der Mann in Amsels Begleitung kniete sich hinter Tommy hin, packte eine Handvoll von seinem Haar und riss Tommys Kopf zurück. »Warum lebt er noch?«

»Hast du es eilig?«, fragte Amsel mit einem kleinen Lachen. »Hast du noch irgendwas anderes zu tun?«

»Er hat dir in den Kopf geschossen.«

»Wieder.«

»Und doch hast du ihn nicht umgelegt.«

»Der Tod ist so endgültig.« Sie sah Tommy an und fügte hinzu: »Normalerweise.«

Der Mann knurrte etwas Unverständliches, und sie warf resigniert die Hände hoch und offenbarte dabei, dass alle ihre Finger schwarze Krallen waren.

»Was?«, schimpfte Amsel. »Was passt dir nicht?«

»Ich verstehe nicht, warum du ihn am Leben lässt.«

»Ich verstehe nicht, warum du das so eng siehst. Mein Gott, Mann, mach dich mal locker.«

»Er hat dich in den Kopf geschossen. Ich hätte gedacht, du würdest etwas wütender sein.«

Amsel zog die Schultern hoch. »Ich lasse mich von solchen Kleinigkeiten nicht beeindrucken.«

»Er hat dir in den Kopf geschossen«, wiederholte der Mann. »Wie kann das eine Kleinigkeit sein? Und dann hat er es noch mal getan!«

»Du machst dir hier keine Freunde, Tommy. Er will dich ganz dringend töten«, sagte sie in einem gespielten Flüsterton.

»Das will ich wirklich.«

»Aber ich werde dich nicht töten.« Sie packte Tommy mit beiden Händen um die Kehle, stand auf und nahm ihn mit sich, sodass der Mann gezwungen war, Tommys Haar loszulassen. »Das wäre zu einfach. Weil du den schnellen Ausweg eines ehrenhaften Todes nicht verdienst. Du verdienst es zu leiden.« Sie lächelte. »Und ich bin diejenige, die dafür sorgt, dass du das tust.«

 

Stieg wartete darauf, dass Erin tat, worauf sie sich immer so gut verstanden hatte. Jemandem das Leben zur Hölle zu machen.

Aber während sie den Mann, der ihr schon wieder in den Kopf geschossen hatte, an der Kehle festhielt, schaute sie plötzlich zu Stieg und fragte: »Wie sieht mein Gesicht aus?«

Schockiert über die Frage und ihr Timing antwortete Stieg: »Was?«

»Ich habe gefragt, wie mein Gesicht aussieht?«

»Warum?«

»Ist es voller blauer Flecken?«

»Natürlich ist es voller blauer Flecken.«

»Dann muss ich heute Nacht bei dir pennen.«

»Kannst du dir kein Hotel leisten?«

»Wow, Alter. Man hat mir in den Kopf geschossen, und du willst, dass ich in einem Hotel absteige … allein? Ganz allein?«

»Ach komm«, höhnte Stieg, angewidert, dass sie versuchte, sich zum Weinen zu zwingen. »Und warum gehst du nicht einfach nach Hause?«

»So, wie ich aussehe?«

»Es wäre nicht das erste Mal, dass du so ins Bird House zurückkehrst, also, warum spielt es jetzt eine Rolle?«

Erin setzte zu einer Antwort an, aber dann brach sie ab, hob die Schultern und sagte stattdessen: »Du hast recht. Ich werde einfach … einfach … du hast recht.«

Erin Amsel sagte Stieg sonst nie, dass er recht habe. Bei rein gar nichts. Sie riss sich ein Bein aus, um ihm niemals zu sagen, dass er in Bezug auf irgendetwas recht habe, weil es ihr Spaß machte, ihn zu quälen.

Quälen war das, worauf sie sich gut verstand.

»Die Crows wissen nicht, was du tust, oder?«, klagte Stieg sie an.

»Was tue ich denn?«

»Das weiß ich nicht, aber es ist irgendwas. Du führst irgendwas im Schilde!«

»Was kümmert es dich? Warum bist du überhaupt hier?« Sie sah ihn einen Moment lang an und wiederholte dann: »Warum bist du hier?«

»Ich dachte, du würdest diesen Burschen töten?«

»Versuch nicht, mich mit diesem Idioten abzulenken. Sag mir einfach, was du hier machst.«

»Sag du es mir!«

Sie starrten einander einen Moment lang an, bis Erin den Kopf schüttelte und meinte: »Wie wäre es, wenn wir das beiseiteließen … und du mir erlaubst, bei dir zu pennen, denn ich habe gehört, dass du jetzt eine Wohnung hast.«

»Und das Hotel kommt nicht infrage, weil …?«

»Betty hat Spione in allen Hotels.«

Betty Lieberman, eine Crow-Älteste und Vollzeit-Hollywood-Agentin, war seltsam, aber so seltsam schien sie eigentlich nicht zu sein.

»Warum zum Teufel hat Betty Spione in allen Hotels?«

»Was? Denkst du, sie würde die ganzen Film-Mogule nur mit ihrem Charme unter Kontrolle halten?«

»Oh. Oh.«

»Und wenn sie herausfindet, dass ich dort war, findet es seinen Weg durch die Telefonkette der Crows.«

Eine Telefonkette, von der Stieg aus Erfahrung wusste, dass sie die Schnellste auf dem Planeten war. »Und du willst das nicht, weil …?«

»Ich werde dir keine Fragen stellen, wenn du mir keine stellst.«

Stieg kam zu dem Schluss, dass es so am besten war. Es musste einen Grund haben, warum seine Raven-Brüder das Bedürfnis verspürten, der Frau zu folgen. Wahrscheinlich. Vielleicht.

Wer zum Teufel weiß schon, was diese Idioten aushecken?

»Schön.«

»Schön.«

Stieg deutete auf Erins gegenwärtiges Opfer. »Und was ist mit dem da?«

Sie feixte. »Du hast gedacht, wir hätten dich vergessen, nicht wahr, Tommy?« Sie stieß ihn in Stiegs Arme. »Aber das haben wir nicht.«