In der Absicht, nach einem »alltäglichen Fall« »ein Stück gegen die bürokratisch-verantwortungslose Anwendung kleiner Paragraphen zu schreiben«, um »wiedermal den gigantischen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft zeigen zu können«, verfaßte Ödön von Horváth 1932, zusammen mit dem damals 29jährigen Lukas Kristl, den »kleinen Totentanz« Glaube Liebe Hoffnung.

Friedrich Torberg nannte Glaube Liebe Hoffnung »ein böses, ein genialisch böses Stück«. Friedrich Luft schrieb: »Horváth war gegeben, Sprache als Mittel der Entlarvung und Offenlegung zu nutzen. Nicht was in seinen Stücken passiert, ist eigentlich wichtig. Wie die Leute auf der Bühne darüber reden, macht die Verdeutlichung, macht den Spaß, macht den Schrecken seiner Dramen aus.«

Ödön von Horváth, geboren am 9. Dezember 1901 in Fiume, starb am 1. Juni 1938 in Paris. Sein Werk erscheint im Suhrkamp Verlag.

Ödön von Horváth

Glaube Liebe Hoffnung

Ein kleiner Totentanz

Suhrkamp

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe: Ödön von Horváth, Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz, in: Ödön von Horváth, Gesammelte Werke. Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden. Herausgegeben von Traugott Krischke unter Mitarbeit von Susanna Foral-Krischke, Band 6. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001, S. 9–69 und S. 134–141.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4021.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2001

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Umschlagfoto: ullstein bild

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74366-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Ödön von Horváth, Glaube Liebe Hoffnung.
Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern

Lukas Kristl, »Vor Gericht ist das Betrug«

Anklageschrift vor dem Amtsgericht in München am 4. 4. 1929

Protokoll der Verhandlung

Thomas Fischer,
Über das Leben der Klara Gramm (1900–1979)

Ödön von Horváth, Gebrauchsanweisung

Zeittafel

Glaube Liebe Hoffnung

Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern

Dieses Theaterstück wurde unter Mitarbeit
von Lukas Kristl verfaßt.

Randbemerkung

Februar 1932 traf ich auf der Durchreise in München einen Bekannten namens Lukas Kristl, der schon seit einigen Jahren Gerichtssaalberichterstatter ist. Er sagte mir damals ungefähr folgendes: ich (Kristl) verstehe die Dramatiker nicht, warum nämlich diese Dramatiker, wenn sie Tatbestand und Folgen eines Verbrechens dramatisch bearbeiten, fast immer nur sogenannte Kapitalverbrechen bevorzugen, die doch relativ selten begangen werden – und warum sich also diese Dramatiker fast niemals um die kleinen Verbrechen kümmern, denen wir doch landauf-landab tausendfach und tausendmal begegnen, und deren Tatbestände ungemein häufig nur auf Unwissenheit basieren und deren Folgen aber trotzdem fast ebenso häufig denen des lebenslänglichen Zuchthauses mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, ja selbst der Todesstrafe ähneln.

Und Kristl erzählte mir einen Fall aus seiner Praxis – – und aus diesem alltäglichen Fall entstand der kleine Totentanz Glaube Liebe Hoffnung. Die Personen Elisabeth, den Schupo (Alfons Klostermeyer), die Frau Amtsgerichtsrat und den Oberinspektor hat Kristl persönlich gekannt. Es ist mir ein Bedürfnis, ihm auch an dieser Stelle für die Mitteilung seiner Materialkenntnisse und für manche Anregung zu danken.

Kristls Absicht war, ein Stück gegen die bürokratisch-verantwortungslose Anwendung kleiner Paragraphen zu schreiben – – aber natürlich in der Erkenntnis, daß es kleine Paragraphen immer geben wird, weil es sie in jeder wie auch immer gearteten sozialen Gemeinschaft geben muß. Zu guter Letzt war also Kristls Absicht die Hoffnung, daß man jene kleinen Paragraphen vielleicht (verzeihen Sie bitte das harte Wort!) humaner anwenden könnte.

Und dies war auch meine Absicht, allerdings war ich mir jedoch dabei im klaren, daß dieses »gegen kleine Paragraphen« eben nur das Material darstellt, um wiedermal den gigantischen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft zeigen zu können, dieses ewige Schlachten, bei dem es zu keinem Frieden kommen soll – – höchstens, daß mal ein Individuum für einige Momente die Illusion des Waffenstillstandes genießt.

Wie bei allen meinen Stücken habe ich mich auch bei diesem kleinen Totentanz befleißigt, es nicht zu vergessen, daß dieser aussichtslose Kampf des Individuums auf bestialischen Trieben basiert, und daß also die heroische und feige Art des Kampfes nur als ein Formproblem der Bestialität, die bekanntlich weder gut ist noch böse, betrachtet werden darf.

Wie in allen meinen Stücken habe ich auch diesmal nichts beschönigt und nichts verhäßlicht. Wer wachsam den Versuch unternimmt, uns Menschen zu gestalten, muß zweifellos (falls er die Menschen nicht indirekt kennen gelernt hat) feststellen, daß ihre Gefühlsäußerungen verkitscht sind, das heißt: verfälscht, verniedlicht und nach masochistischer Manier geil auf Mitleid, wahrscheinlich infolge geltungsbedürftiger Bequemlichkeit – – wer also ehrlich Menschen zu gestalten versucht, wird wohl immer nur Spiegelbilder gestalten können, und hier möchte ich mir erlauben, rasch folgendes zu betonen: ich habe und werde niemals Juxspiegelbilder gestalten, denn ich lehne alles Parodistische ab.

Wie in allen meinen Stücken versuchte ich auch diesmal, möglichst rücksichtslos gegen Dummheit und Lüge zu sein, denn diese Rücksichtslosigkeit dürfte wohl die vornehmste Aufgabe eines schöngeistigen Schriftstellers darstellen, der es sich manchmal einbildet, nur deshalb zu schreiben, damit die Leut sich selbst erkennen. Erkenne dich bitte selbst! Auf daß du dir jene Heiterkeit erwirbst, die dir deinen Lebens- und Todeskampf erleichtert, indem dich nämlich die liebe Ehrlichkeit gewiß nicht über dich (denn das wäre Einbildung), doch neben und unter dich stellt, so daß du dich immerhin nicht von droben, aber von vorne, hinten, seitwärts und von drunten betrachten kannst! – –

Glaube Liebe Hoffnung könnte jedes meiner Stücke heißen. Und jedem meiner Stücke hätte ich auch folgende Bibelstelle als Motto voraussetzen können, nämlich:

Und der HERR roch den lieblichen Geruch und sprach in seinem Herzen: Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles was da lebet, wie ich getan habe. So lange die Erde stehet, soll nicht aufhören Samen und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Mos. I. 8,21.

Personen: ELISABETH · Ein Schupo (Alfons Klostermeyer) · Oberpräparator · Präparator · Vizepräparator · Der Baron mit dem Trauerflor · IRENE PRANTL · Frau Amtsgerichtsrat · Er selbst, der Herr Amtsgerichtsrat · Ein Invalider · Eine Arbeiterfrau · Ein Buchhalter · MARIA · Ein Kriminaler · Der Oberinspektor · Ein zweiter Schupo · Ein dritter Schupo · JOACHIM, der tollkühne Lebensretter

Erstes Bild

Szene Nummer 1

Schauplatz: Vor dem Anatomischen Institut mit Milchglasfenstern.

Elisabeth will es betreten und sieht sich noch einmal fragend um, aber es ist nirgends eine Seele zu sehen.

In der Ferne intoniert ein Orchester den beliebten Trauermarsch von Chopin und nun geht ein junger Schupo (Alfons Klostermeyer) langsam an Elisabeth vorbei und beachtet sie scheinbar kaum.

Es ist Frühling.

Szene Nummer 2

ELISABETH  spricht den Schupo plötzlich an, während der Trauermarsch in der Ferne verhallt: Entschuldigens bitte – – aber ich suche nämlich die Anatomie.

SCHUPO  Das Anatomische Institut?

ELISABETH  Dort wo man halt die Leichen zersägt.

SCHUPO  Das dort ist das hier.

ELISABETH  Dann ist es schon gut.

Stille.

SCHUPO  lächelt: Gebens nur acht, Fräulein – – da drinnen stehen die Köpf in Reih und Glied.

ELISABETH  Ich habe keine Angst vor den Toten.

SCHUPO  Ich auch nicht.

ELISABETH  Mir graust es noch lange vor nichts.

SCHUPO  In diesem Sinne – Er salutiert legere und ab.

Szene Nummer 3

Elisabeth sieht dem Schupo spöttisch nach – – dann faßt sie sich ein Herz und drückt auf den Klingelknopf des Anatomischen Instituts. Man hört es drinnen klingeln und schon erscheint der Präparator in weißem Mantel. Er steht in der Türe und fixiert die anscheinend unschlüssige Elisabeth.

Szene Nummer 4

PRÄPARATOR  Sie wünschen?

ELISABETH  Ich möchte hier jemand Zuständigen sprechen.

PRÄPARATOR  In was für einer Angelegenheit?

ELISABETH  In einer dringenden Angelegenheit.

PRÄPARATOR  Haben Sie einen angehörigen Toten bei uns?

ELISABETH  Es dreht sich um keinen angehörigen Toten, es dreht sich um mich selbst persönlich.

PRÄPARATOR  Wieso denn das hernach?

ELISABETH  Sind der Herr hier eine zuständige Instanz?

PRÄPARATOR  Ich bin der Präparator. Sie können sich mir ruhig anvertraun.

Stille

ELISABETH  Man hat mich nämlich extra darauf aufmerksam gemacht, daß man hier seinen Körper verkaufen kann – – das heißt: wenn ich einmal gestorben sein werde, daß dann die Herren da drinnen mit meiner Leiche im Dienste der Wissenschaft machen können, was die Herren nur wollen – – daß ich aber dabei das Honorar gleich ausbezahlt bekomme. Schon jetzt.

PRÄPARATOR  Das ist mir neu.

ELISABETH  Man hat mich aber extra darauf aufmerksam gemacht.

PRÄPARATOR  Wer denn?

ELISABETH  Eine Kollegin.

PRÄPARATOR  Was sind Sie denn von Beruf?

ELISABETH  Jetzt habe ich eigentlich nichts. Es soll ja noch schlechter werden. Aber ich lasse den Kopf nicht hängen.

Stille.

PRÄPARATOR  Seine eigene Leiche verkaufen – – auf was die Leut noch alles kommen werden?

ELISABETH  Man möchte doch nicht immer so weiter.

PRÄPARATOR  Ein krasser Irrtum – – Er holt aus seiner Tasche eine Tüte Vogelfutter und füttert damit die Tauben, die vom Dache des Anatomischen Instituts herabfliegen – – die Tauben kennen den Präparator gut und setzen sich auf seine Schulter und fressen ihm aus der Hand.

Szene Nummer 5

Jetzt begleitet der Oberpräparator einen Baron mit Trauerflor aus dem Anatomischen Institut in das Freie.

OBERPRÄPARATOR  Wird prompt erledigt, Herr Baron, und abermals mein innigstes Beileid.

BARON  Danke, Herr Oberpräparator. Ich mache mir die heftigsten Vorwürfe.

OBERPRÄPARATOR  Aber die staatsanwaltschaftlichen Erhebungen haben doch die völlige Haltlosigkeit der gegen Herrn Baron erhobenen etwaigen Beschuldigungen ergeben! Wir alle sind in Gottes Hand.