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Inhalt

Vorwort: Glück ist Leben

Nicole Niquille: Nur wer vorausgeht, bahnt sich einen Weg

Paul Richener: Gegen jede Wahrscheinlichkeit

Bo Katzmann: Ein Blick in die Ewigkeit

Angelika Huwyler: Als wärs der letzte Tag

Markus Bläsi: Ein Teil von mir

Manuela Dessi Schintu und Nadia: Das wertvollste Geschenk

Yosef Şimşek: Verlorene Heimat

Katharina Meredith: Verschleppt

Shlomo Graber: Der Riss

Marcel Scherrer: Babyschritte

Arno Stocker: Opa Arnold und die Musik

Markus Latscha: Das ist alles, was zählt


Glück ist Leben

Nur wer vorausgeht, bahnt sich einen Weg

Meine früheste Kindheitserinnerung ist sehr bildhaft, und es ist keine dieser Situationen, die man hinterher erzählt bekommt. Ich war etwa fünf Jahre alt und mit Großmama Marie-Adèle unterwegs, der Mutter von Papa. Wir waren im Wald von Ermitage bei Charmey, und Großmutter hielt meine Schwester Françoise an der einen und mich an der anderen Hand. Wir badeten gleichsam in einem stillen, leuchtenden Grün, einem Frühlingsgrün, und wir waren unterwegs zum Blumenpflücken – Frauenschühlein, um genau zu sein. Grand-maman liebte die Blumen sehr; sie unterhielt voller Stolz einen der schönsten Felsengärten von Charmey.

Papa war im Herzen ein Zigeuner und ging mit uns durch dick und dünn – auf seine Weise.

Mama war eine bemerkenswerte Frau. Immer zuversichtlich, ohne jede Klage, weder über ein körperliches noch ein moralisches Leiden. Sie war ganz einfach würdevoll.

Von meiner Kindheit blieben mir lauter glückliche Erinnerungen. Oder hat mein Gedächtnis nur diese Episoden bewahrt? Hatte ich bereits zu dieser Zeit jene Fähigkeit, die mich mein ganzes Leben lang begleitet hat: die schlechten Erfahrungen zu begraben, in der Gegenwart zu leben und nach vorn zu schauen?

Ich zählte 19 Jahre – genau das Alter, in dem man aus dem Fenster des Elternhauses klettert, um seinen Herzbuben zu treffen. In meinem Fall war das damals ein Bursche namens Toll, und er besaß ein Motorrad.

Es war etwa elf Uhr nachts und wir fuhren los. Wir fuhren nicht sehr schnell, aber wir waren berauscht von der Freiheit und vom Gefühl des Abends, der für uns eben erst begonnen hatte. Und dann, im winzigen Bruchteil einer Sekunde, passierte der Unfall. Ein blödsinniger Unfall, so wie immer: In einer Kurve fand sich das Motorrad plötzlich einem Auto gegenüber, das auf die linke Seite getragen worden war. Im Augenblick selbst habe ich nichts gesehen, nichts verstanden. Ich erinnere mich nur, dass auf einen Schlag alles dunkel wurde, und dann ging alles ganz schnell …

Die Ambulanz kam und ich wurde ins Kantonsspital gebracht. Die Leute vom Notfalldienst umringten mich; die Helfer schnitten meine Hose auf, übergaben sie später an Papa und Mama. Für sie war das der große Schock: Hosenbeine voller Blut, Schmutz und Fleischfetzen. Für mich war es der Anblick meines baumelnden Beins, das nur noch an einem Muskelstrang zu hängen schien. Ich begriff plötzlich, woher der Schmerz kam – ein stechender, gemeiner, klaffender Schmerz. Es galt noch eine ganze Reihe von Röntgenaufnahmen zu ertragen, über den ganzen Körper hinweg: Gab es noch weitere schwere Wunden oder Verletzungen? Alles erschien mir endlos, der Schmerz beinahe nicht zu ertragen. Ich verfluchte – ich muss es gestehen – diesen Trunkenbold von Fahrer, der uns von der Straße gefegt hatte!

Die Chirurgen versuchten, aus den Trümmern einen Knöchel zu basteln. Sie zogen die Haut gerade, sie flickten die Knochen zusammen, sie legten Platten ein … Da kleine Kiesel in die Wunde gelangt waren, entwickelte sich eine Infektion. Als wäre es heute, erinnere ich mich, wie der Arzt sagte: »Hören Sie, Nicole: Wenn wir bis morgen warten, breitet sich die Entzündung vielleicht aus und wir können dann die Beweglichkeit des Knies nicht mehr retten. Wenn wir heute amputieren, können wir Ihnen versprechen, dass das Knie beweglich bleibt.«

Es kam zu einem regelrechten Familienrat mit den Eltern, beinahe so etwas wie einem Kriegsrat. Amputieren? Nicht amputieren? Schließlich entschieden wir uns abzuwarten. Nichts zu überhasten. Die ganze Nacht lang litt ich, aber am Morgen hatte sich auf dem Knöchel eine faustgroße Geschwulst gebildet. Die Ärzte schnitten sie auf, und so war mein Bein gerettet …

Was dann folgte, war eine unendliche Reihe von Besuchen im Operationssaal, die zuerst der rekonstruktiven und dann der revitalisierenden Chirurgie galten.

Ich verließ das Spital einige Monate später mit der düsteren Prognose der Ärzte: »Die Schäden sind irreparabel. Nicole wird lange Zeit nur an Krücken gehen können und zeit ihres Lebens einen Stützapparat brauchen.«

Daran wollte und konnte ich nicht glauben, und da ich einerseits ganz einfach austesten wollte, wozu ich noch fähig wäre, und andererseits mit meinem linken Bein noch eine Rechnung offen hatte, begann ich mit dem Klettern.

Dann, eines Tages, habe ich beschlossen, in den Bergen und von den Bergen zu leben.

So kam es, dass ich mich als Bergführer-Aspirantin einschrieb. Ich reichte das obligatorische Leumundszeugnis ein, mein Tourenbuch, einen Auszug aus dem Strafregister und ein ärztliches Zeugnis. Kein Leichtes, dieses ärztliche Zeugnis! Es war schwierig, einen Mediziner zu finden, der mir eines ausstellte, natürlich wegen des Zustands des linken Beins. Schließlich war es ein befreundeter Höhenmediziner, dem ich erklärte, ich bräuchte dieses Zeugnis unbedingt; meine kleine Lähmung stelle für das Leben meiner zukünftigen Kunden nicht das geringste Risiko dar. Er stellte das Zertifikat aus und blendete darin alles aus, was mit den unteren Gliedmaßen zu tun hatte. Also meldete ich mich für die Bergführerprüfung an und hütete mich davor, mit irgendjemandem auf gesundheitliche Details einzugehen.

Als ich mich im Jahre 1984 beim Aspirantenkurs einschrieb, wusste ich noch nicht, dass ich die erste Frau in der Schweiz sein würde, die das wagte. Es waren 85 Kandidaten – 84 Männer und ich! Man traf sich in St. Moritz in der Lobby eines Hotels; ich war ziemlich angespannt. Sogenannte »Kollegen« wollten wissen, wer der Freund sei, den ich begleitete, oder ob sich mein Bruder eingeschrieben habe … Ich muss anfügen, dass ich mit meinem einen Meter sechzig und einem Gewicht von 45 Kilo kaum dem Standardmaß eines Bergführers entsprach. Kam hinzu, dass ich als »Herr Niquille« eingetragen wurde, als ich mit den verlangten Papieren vortrat.

Als ich erfuhr, ich sei die erste Frau, die das Diplom anstrebte, war mir sogleich bewusst, dass ich auf keinen Fall mittelmäßig sein durfte. Ich habe also wochenlang wie verrückt trainiert, ein Gewicht von 20 Kilo auf dem Rücken zu tragen, was der gängigen Last entsprach, und dies über größere Distanzen. Ich wusste, man würde mir nicht den kleinsten Ausrutscher, nicht die kleinste Schwäche verzeihen, aber ich war unglaublich motiviert und voller Begeisterung.

Frauen haben weniger physische Kraft als Männer, aber das, was wahrscheinlich vor allem als Bergführerin zählt, sind die menschlichen Qualitäten, die den Mangel an physischer Kraft kompensieren: die Konzentration, das eingehende Studieren der gewählten Route, präzise Kenntnisse des Berges, des Wetters – kurz, eine solide psychologische Grundlage, zu der Ausgeglichenheit und gute Laune gehören, dazu ein starkes Durchhaltevermögen (eine typisch weibliche Eigenschaft, wie ich meine) und ein eiserner Wille. Alles Dinge, die eigentlich jeder Mensch lernen kann.

Beim Schlussexamen des Aspirantenkurses musste ich einen Kollegen aus Zermatt, der über hundert Kilo wog, aus einer Spalte ziehen. Er simulierte einen Ausrutscher und einen Sturz in ebendiese Spalte, und meine Aufgabe war es, das Seil zu sichern und ihn her­auszuholen. Wir beide bildeten auf dem Schnee eine schöne italienische Flagge: Er war grün und ich purpurrot. Er steckte da unten und ich klammerte mich an meinen Eispickel, fünf Meter vom Rand der Spalte entfernt – und dann zog ich mit aller Kraft.

Nachdem ich den Kurs im September 1986 bestanden hatte, begann ich sofort damit, Kunden auf die Berge zu führen, Themenwanderungen zu organisieren, Trekkings im Himalaja zu leiten.

8. Mai 1994. Sonntag, Muttertag.

Wir hatten Besuch von einem Freund aus Mazedonien und zusammen beschlossen wir, Morcheln suchen zu gehen.

Es war nichts als ein Steinchen, so groß wie eine Nuss, aber nach dem Fall aus einer Höhe von hundert Metern – er muss direkt von der Krete heruntergefallen sein, wo ihn wahrscheinlich eine Gämse losgetreten hat – wog er so schwer wie das Äquivalent einer Tonne. Und dieses Steinchen, das nach seinem Flug fast so schwer wie ein Automobil war, landete direkt auf meinem Schädel!

Als ich die Augen aufschlug, stand niemand an meinem Bett. Aber ich erinnere mich sehr genau, dass ich mir sagte: ›Oh, là, là! Nicole, das ist viel schlimmer als das letzte Mal!‹

Was ich noch nicht wusste: Ich hatte drei Tage in einem künstlichen Koma verbracht.

Als man mich aufweckte, konnte ich nicht mehr sprechen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich mich auch nicht bewegen konnte. Ich hatte eine Infusion, die mich ernährte, eine Sonde zum Urinieren, einen Luftröhrenschnitt, um atmen zu können, kurz: Ich war überall festgepikt. Einzig den Kopf konnte ich etwas nach links drehen, ganz langsam und mit unsäglicher Mühe.

Am 13. Mai, meinem Geburtstag, brachte ich voller Stolz und nach harter Arbeit mein erstes Wort hervor: »Salut!«

Noch schaffte ich es nicht, ganze Sätze zu formulieren, aber das »Salut« war doch ein Anfang, und dieser kleine Fortschritt genügte, mir den unbändigen Willen zu kämpfen einzuflößen. Es ist wahr, dass ich anfänglich an Selbstmord dachte. Aber dann stellte ich fest, dass ich den linken Daumen bewegen konnte, und fasste neuen Mut. In manchen Augenblicken war ich sogar überzeugt, ich würde meine ganze Beweglichkeit wiedergewinnen.

Ich blieb drei Wochen in der Lausanner Klinik. Keiner tat den Mund auf, man sagte mir nichts über meinen Zustand, außer dass mir ein Stein auf den Kopf gefallen sei. Man erklärte mir nur, es handle sich um einen schweren Unfall, aber keiner der Ärzte wollte sich auf eine Prognose für die Zukunft einlassen. Dann wurde ich ins Rehabilitationszentrum für craniozerebrale Traumata in Basel überführt. Das war zu dieser Zeit das beste Zentrum seiner Art in der Schweiz.

Schrecklich! Die ersten Monate in Basel waren fürchterlich. Natürlich, es ging mir schlecht, aber ich war ja nicht auf einen Schlag verblödet, ich war kein ahnungsloses Opfer … Im Gegenteil, ich realisierte sehr wohl, dass man mich nach Basel gebracht hatte, weil die Ärzte eine vollständige Rehabilitation für unmöglich hielten. Auf einmal fand ich mich in der Welt der Leute wieder, die man »Behinderte« nennt; im medizinischen Jargon war ich eine CZT, eine »craniozerebral Traumatisierte«. Konkret bedeutete das für mich, dass man mir den Schädel rasierte, dass ich durch eine Sonde urinierte, dass ich mich dem Ritual beugen musste, alle zwei Stunden umgelagert zu werden, damit keine wunden Stellen entstanden, und herunterzuschlucken, was immer man mir durch den Mund einflößte … Ganz zu schweigen von den Nächten, in denen man zum Ticktack des Uhrzeigers Hunderte und Tausende Sekunden zählt, die einen vom nächsten Tag trennen, der aufs Neue unsägliche physische Leiden bringen wird.

Die ersten zwei oder drei Tage verbrachte ich auf der Intensivstation, wo Tag und Nacht ein Pfleger an meinem Bett stand. Schon bald stellten sich zwei Physiotherapeuten ein, die mein Bett senkrecht aufrichteten. Das war super! Nachdem ich während Wochen nur die Nasenlöcher der Leute gesehen hatte, konnte ich endlich ihre Gesichter betrachten. Obwohl auch ziemlich viel abläuft, wenn man liegt. Wenn man zum Beispiel im Sommer einen Blumenstrauß geschenkt bekommt, tummeln sich die Bienen rund ums Kopfende. Und da ich ganze Berge von Blumen erhielt, leisteten mir ganze Bienenschwärme Gesellschaft. Man wird verstehen, dass ich manchmal wünschte, ab und zu würde einmal jemand eine Flasche Wein mitbringen 

Trotzdem, es ging weiter mit den kleinen Erfolgserlebnissen. Nach dem Daumen nahmen auch die Finger der linken Hand den Dienst wieder auf. Im Kopf ging ich meinen ganzen Körper durch und sagte mir immer vor, wie in einer Endlosschleife: »Nicole, du wirst wieder gehen.« Dann setzte ich in Gedanken einen Fuß vor den anderen, ließ den Arm baumeln; ich stellte mir meine Glieder in Bewegung vor. So füllte ich meine Tage zwischen den Pflegeeinheiten aus. Dazu gehörte, neben anderen Schrecknissen, die morgendliche Dusche. Mir war immer so kalt und ich verstand nicht, warum man mich dieser Eiseskälte aussetzen musste. Ich war vollständig nackt, und manchmal war es ein Pfleger, der mich zwischen den Beinen wusch. Ich unterwarf mich dieser Dusche wie einer Demütigung. Auch wenn dieser Pfleger ein ausgesprochener Profi war und ein wunderbarer Bursche dazu – aber nicht ich hatte ihn ausgewählt. Ich machte Krisen mit stechenden Schmerzen durch, wahrscheinlich, weil meine Nervenbahnen völlig überreizt waren … Ich spürte, wie sich diese Krisen ankündigten, mit einer Art Ameisenlaufen … Und von Beginn weg litt ich unter einer Überempfindlichkeit des ganzen Körpers, konnte wegen einer Falte im Leinentuch nicht schlafen; eine Fliege, die sich auf meinen Vorderarm setzte, tat bereits weh. Mehrere Male täglich schrie und heulte ich vor Schmerz. Man gab mir Morphin, auf dem oralen Weg, nachdem ich bereits drei Spritzen mit Beruhigungsmitteln erhalten hatte; ja, es kam vor, dass man mich mit zusätzlichen Medikamenten total stilllegte.

Auch hatte ich schreckliche Angstzustände, eine unvernünftige Furcht davor, ich hätte nicht nur zerebrale Verletzungen davongetragen, sondern auch meine Psyche habe Schaden gelitten. Ich hatte höllische Albträume und sah immer wieder die gleichen Bilder aus diesem Film mit Jack Nicholson, »Einer flog über das Kuckucksnest«; ich träumte von diesem großen Indianer, der seinen Mitpatienten mit einem Kopfkissen erstickt. Zwischendurch litt ich unter der Vorstellung, ich sei in einem Irrenhaus, mitten zwischen Patienten, denen es überhaupt nicht gut ging.

Nachts spielte ich im Kopf die unterschiedlichsten Szenarien durch – ein Fach, das mir übrigens entschieden liegt. Ich inszenierte kleine Abschnitte des täglichen Lebens, ich drehte ganze Kurzfilme, manche lustig, manche überhaupt nicht lustig, so vor allem zu Beginn meines Aufenthalts, als ich häufig wiederkehrende Selbstmordszenen entwickelte. Da ich einige motorische Funktionen wiedererlangt hatte, stellte ich mir zum Beispiel vor, man würde mich mit Seilrolle und -klemme irgendwie auf den Gipfel eines Berges hochhieven. Ich würde meine Freunde davon überzeugen, mich allein auf dem Gipfel biwakieren zu lassen, und würde mich dann in meinem Schlafsack hinunterrollen lassen, über die Felswand stürzen – am Fuß der Berge sterben, die ich so sehr liebte 

Dann wechselte ich über zum Szenario »Nose«, das im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien spielte. Die »Nose« ist die höchste senkrechte Wand der Welt, und ich würde mich ebenfalls mit Klemmen und Rollen irgendwie hochhieven – ziemlich mühsam für den Aufstieg, aber umso leichter für den Sturz ins Leere. All dies würde stattfinden, wenn ich weitere Fortschritte gemacht hätte, wenn es dem rechten Arm und dem rechten Bein besser ging.

In meinem Kopf waren alle Vorstellungen von Glück immer noch stark mit der Mobilität verbunden. Aber als ich mithilfe meiner Physiotherapeuten Ingrid und Norbert dann das Treppensteigen lernte … An dem Tag, als ich erstmals zwei Stockwerke schaffte – mein Rekord! –, sagte ich mir ganz einfach: jedem sein eigener Mount Everest!

Während dieser Zeit, während Monaten, während einer Ewigkeit, hatte ich genügend Zeit und Muße, um nachzudenken. Eigentlich war mir ja nur das geblieben, die Zeit. Gott … Gibt es einen Gott? Oder eine andere Kraft, die stärker ist als wir? Was habe ich aus meinem Leben gemacht, was habe ich verpasst, verfehlt? Was taugen all meine Projekte, meine geheimen Wünsche, was bedeuten Liebe, Güte, Mitleid, Mitgefühl?

Ich musste mehrere Dinge nebeneinander vorantreiben. Zuerst an die Familie denken, an die Nächsten, die es zu beschwichtigen galt. Da lächelst du die ganze Zeit und betonst, wie wunderbar alles sei, weil du bald wieder nach Hause kommst; und du weißt, wenn es dir nicht gut geht, dann geht es der ganzen Familie nicht gut, also täuschst du halt etwas vor. Du lernst, positiv zu lügen. Und dann stand mir auch die Trennung von meinem Mann bevor. Auf meinen Wunsch hin; er liebte mich noch immer.

Es hieß für mich auch, ein für alle Mal auf das Muttersein zu verzichten. Glücklicherweise war da Mama, meine Mama, bei der ich immer wieder Zuflucht fand, Mama in der Mitte des Tipis, dort, wo die Wärme ist, wohin man sich flüchtet, wenn der Sturm so heftig weht, dass man es nicht mehr aushält, dort, wo man geborgen ist … Mama hat uns neben vielen anderen Dingen gelehrt, nie zu flüchten, allen Widrigkeiten die Stirn zu bieten. Über meinem Bett hatte ich diesen Spruch von Edmond Rostand aufgehängt: »In der Nacht ist es schön, an die Sonne zu glauben.«

Im Spital empfahl man mir, Wirtin zu werden. ›Warum eigentlich nicht?‹, dachte ich mir und begann einen Lehrgang für Gastronomen. Vier Monate lang stopfte ich mein Hirn mit Unmengen von Daten voll. Man musste die Rebsorten der ganzen Welt kennenlernen, musste vierhundert Küchenrezepte hersagen können, die gesetzlichen Vorschriften und die Hygienevorschriften beherrschen, Buchhaltung und Betriebsführung pauken … Vom Service war ich natürlich befreit, musste aber trotzdem wissen, wo man eine Schneckengabel platzierte, und wie! Unglücklicherweise erlitt ich nach dem ersten Kursmonat eine Hirnblutung. Der rechte Arm war vollkommen gelähmt, und man musste mich erneut operieren – was mich jedoch nicht daran hindern konnte, den Wirtekurs einige Monate später zu absolvieren und ein Gasthaus im Wallis zu übernehmen.

In jener Zeit traf ich Marco – und für ihn war es Liebe auf den ersten Blick! Nie hätte ich mir vorgestellt, dass man sich in mich verlieben könnte. Marco wusste nicht einmal, welcher Unterschied zwischen Tetraplegie und einer craniozerebralen Schädigung bestand, er hatte keine Ahnung, was ich physisch empfinden konnte, und das berührte mich sehr. Für Marco war dies eine tief gefühlte Liebe, nicht irgendein Abenteuer, denn für ein Abenteuer wählt man nicht jemanden in einem Rollstuhl aus. Ein paar Jahre später heirateten wir. Noch etwas später gründeten wir eine Stiftung und bauten ein Spital in Nepal. Die wichtigste Aufgabe, die wir uns mit diesem Spital setzten, war es, die Kindersterblichkeit in Nepal zu verringern.

Ja, ich bin gelähmt, an einen Rollstuhl gebunden und mein rechter Arm funktioniert kaum noch. Und dennoch wurde ich Wirtin, fand meine große Liebe, habe geheiratet und besagtes Spital in Nepal gegründet, das ich mindestens einmal pro Jahr besuche.

Manche Menschen werden nun vielleicht denken, dass dies alles unmöglich ist. Aber nichts ist einfach unmöglich; erst muss man den Versuch wagen, bevor man behauptet, etwas sei unmöglich. »Yes, I can« war bereits damals meine Devise, und ich glaube von ganzem Herzen, dass jeder Mensch versuchen sollte, das »Unmögliche« zu wagen – man kann nur gewinnen.

Was ist Glück für mich?

Was ich gelernt habe, ist, nach einem Schicksalsschlag wieder auf den Füßen zu landen. Man kann diese Einstellung auch Zähigkeit nennen, oder Widerstandsfähigkeit. Jedenfalls hat sie mir im Leben geholfen. Und noch besser: Sie dauert an. Solange man am Leben ist, hat man die Möglichkeit zu staunen, und damit die Freiheit, etwas zu lernen und zu verstehen. Es ist klar, dass wir alle unsere angeborenen Veranlagungen haben, dazu unsere eigenen Lebenserfahrungen, die sie formen und umformen. Wir alle haben die Wahl, etwas Gutes aus unserem Dasein abzuleiten oder, anders gesagt, so viel wie möglich dazu beizutragen.

Ich bin eine Kämpferin. Ich glaube, dass der Berg mich nicht zufälligerweise ausgewählt hat; er hat mich viel gelehrt. Zu einer Bergtour gehört das langfristige Engagement; das Bergsteigen ist kein Hundertmetersprint, sondern ein Marathon. Diesen Marathon habe ich verinnerlicht und auf mein Alltagsleben übertragen. Ich bin überzeugt, wenn mir heute irgendetwas zustoßen würde, selbst eine so schwere Prüfung wie der Verlust eines geliebten Menschen – ich würde meinen Schmerz und meine Trauer fruchtbar zu machen versuchen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die vor Kummer sterben wollen. Ich trauerte über meine verlorene Beweglichkeit und ich habe aus dieser Trauer etwas Neues geschöpft. Entweder man wendet einen Schicksalsschlag ins Positive oder man kanalisiert seine Energie im Negativen; ich jedenfalls habe mich eindeutig für aufbauende statt destruktive Lösungen entschieden.

Ich glaube an eine höhere Macht; ich glaube, dass sie in uns allen wohnt. So wie Einstein glaube ich »an den Gott Spinozas, der sich in der Harmonie alles Bestehenden zeigt, aber nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und den Handlungen der Menschen beschäftigt«. Wir selbst sind es, die uns unseren Gott schaffen, unseren Allah oder Buddha … Alle Religionen der Welt haben eins gemeinsam: dass wir für unsere Nächsten das Schöne und Gute anstreben müssen, das Glück, das Positive, das Angenehme. Alle Erkenntnisse zielen in die gleiche Richtung, ob wir nun von Religion, Gott, höherer Macht oder Philosophie sprechen. Wovon ich wirklich überzeugt bin, ist, dass es dem Menschen unentbehrlich ist, an etwas zu glauben. Wenn man betet oder meditiert oder Mantras hersagt, ob laut oder in seinem Innern – immer ist es ein Mittel, zu sich selbst zu finden, in seiner fuchtelnden Geschäftigkeit innezuhalten und einen bestimmten Seelenzustand zu schaffen und beizubehalten. Jeder einzelne Mensch braucht dieses »Finden zu sich selbst«. Wenn alle Religionen übereinstimmend seit Jahrtausenden zum Gebet aufrufen, so zeigt sich doch, dass sich seine Nützlichkeit bewiesen hat! Die wichtigste Funktion des Gebets ist jene, einen Augenblick mit sich selbst zu verbringen, mit seinem tiefsten und echtesten Innern.

Ich anerkenne, dass es einen Gott braucht. Und damit einen Ort, an dem er wohnt! Ob in einer Kapelle, einer Kirche oder einem buddhistischen Tempel – überall fühle ich mich wohl. Kommt hinzu, dass dieser Ort vielfach aufgrund positiver tellurischer Kraftlinien gefunden wurde, als besonderer Platz, der zur Spiritualität verhilft.

Genauso liebe ich den Schnee, den Wind, die Stürme … Ich liebe es, auch im Rollstuhl, draußen den Regen zu spüren, auch wenn dies nicht gerade praktisch ist, weil ich schnell nasse Knie oder einen nassen Rücken bekomme. Im Winter trägt mich Marco, mein geliebter Ehemann, manchmal mitten in die freie Natur, macht mir eine kleine Schneebank zurecht und lässt mich zurück mit einem guten Buch, unter der strahlenden Sonne … Er weiß, dass ich diesen Kontakt liebe, dass ich auf diese Weise Kraft aus der Natur schöpfe.

Während der Zeit, die ich nach meinem Unfall in Basel in der Rehabilitationsklinik verbrachte, vermisste ich den Berg sehr, und dies im physischen Sinn. Das zwang mich zum Nachdenken, was mir der Berg denn gebracht hatte – vorher. In der Klinik gab es manche Phasen der Einsamkeit, zwischen all den Therapiesitzungen und natürlich nachts. Wenn man nicht schlafen kann, hat man mehr als genug Zeit zum Nachdenken, zum Grübeln. Was habe ich vorher getan? Was waren meine Ziele? Man denkt unvermeidlich an die Wertmaßstäbe von einst. Aber jetzt? Welches Ziel soll ich meinem Leben geben? Was habe ich mitgebracht von meiner Expedition auf den Mount Everest, diesen Berg, den ich so sehr bewunderte und immer noch bewundere? Ändert sich meine Liebe zu ihm, liebe ich ihn mit meinen heutigen Möglichkeiten, mit allem, was mir der Berg gegeben hat? Auch wenn ich keinen sinnlichen Kontakt mehr mit ihm haben kann, den von der Sonne erwärmten Granit nicht mehr spüre, den Geruch des Windes nicht mehr einsauge, die Spur eines aufgeschreckten Hasen nicht mehr verfolgen kann? Ich liebe den Geruch von frisch gemähtem Gras oder von fallendem Schnee. Ich habe Schneestürme miterlebt, und ich weiß, was es heißt, diesen Geruch einzuatmen.

Dass ich meiner Mobilität beraubt wurde, hat mich ermutigt, andere Sinneswahrnehmungen zu entwickeln, das Glück in anderen Bereichen als nur der Bewegung zu suchen. Der Sinn des Lebens, meines Lebens, ist die Suche nach dem Glück. Es ist letztendlich das Ziel, so glaube ich, nach dem wir alle streben! Vor meinem Unfall war ich überzeugt davon, dass das Glück in der Bewegung liegt. Seither habe ich festgestellt, dass man das wahre Glück auch findet, wenn man unbeweglich bleibt, oder beinahe. Im Basler Wiedereingliederungszentrum hat man einmal mein Bett unter einen Baum gerollt, und ich spürte ein Blatt, das auf meinen Kopf fiel, die Pollen, die durch die Luft stäubten … Dieser einfache Kontakt mit der Natur machte mich glücklich.

Ich fragte mich, woher denn das Glück kommt. Ich fragte mich, weshalb es Leute gab, die durchwegs glücklich waren, und andere, die nur das Unglück kannten. Also suchte ich eine Zauberformel, um mich immer glücklich zu fühlen, und ich fand sie … wenigstens in der Theorie! Dieses Rezept ist an sich recht einfach. Es liegt an jedem Einzelnen, sich das Glück zu erschaffen, es zu erfinden, und es besteht unter anderem in all dem, was man den anderen zuliebe tut. Das gehörte zu einer Einsicht, die sich nach meiner erzwungenen Immobilität einstellte: Wenn ich es schaffe, eine andere Person dank meinem Unfall glücklich zu machen, dann war dieser zu etwas gut.

Die drei Pfeiler meines Lebens heißen, so glaube ich: sich begeistern zu können, schöpferisch zu sein und zu lieben. Was mir mein Unfall gebracht hat, selbst wenn ich rein physisch nichts mehr aufbauen kann: den Willen und vor allem die Lust dazu, ein Projekt in meinem Kopf auszuarbeiten. Ein solches Projekt erlaubt einem, sich zu freuen. Man muss sich immer Ziele setzen, auch kleine, selbst wenn man daneben davon träumt, den Tadsch Mahal oder eine Ranch in den Rocky Mountains zu kaufen!

Ein kurzer Ausritt im Wald, ein Augenblick einfacher Freude – das ist das Glück, ein Moment, den man dem »Feind« abgerungen hat. Vielleicht bin ich auf etwas naive Weise optimistisch, aber alles, was ich auf diese Weise der Traurigkeit oder der Langeweile entreiße, ist jedes Mal ein Stück Glück. Ich liebe es, mich am Kleinen zu erfreuen; ich träume davon, eine Kathedrale zu bauen, und schaffe es schließlich, ein bescheidenes Spital in einem abgelegenen Tal von Nepal zu errichten. Man darf sich nicht vor den großen Träumen fürchten; sie sind es, welche die kleineren Träume wahr werden lassen. Man soll im Leben seine Straße nicht noch freiwillig mit Hindernissen blockieren; die Hindernisse stellen sich von allein ein. Und es sind ebendiese Hindernisse, die das Vorwärtskommen überhaupt erst ermöglichen. Ich weiß schon, dass manche Leute sagen: »Alles, was diese Nicole anpackt, gelingt ihr.« Aber sie täuschen sich. Sie wissen ja nicht, was mir alles missglückte, und sie wissen nicht, wovon ich träume!

Das Stillliegen im Spital erlaubte mir auch, viel zu lesen, und es ist eine Erfahrung von vielen, die mich weitergebracht hat. Im Hinduismus glaubt man, dass es eine unwahrscheinliche Anzahl von Reinkarnationen braucht, um vorwärtszukommen, eine unglaubliche Menge an Karma, um besser zu werden. Und selbst wenn es mit der Wiedergeburt nichts auf sich haben sollte, die Idee hat doch den Vorteil, dass sie mir eine Leitlinie des Betragens zeigt.

Wie Sie sich mich heute vorstellen sollten?

Denken Sie an Sisyphus am Fuß seines Berges, so wie ihn Albert Camus schildert: »Sisyphus verkörpert die höchste Art Treue, die Berge versetzt und die der Götter spottet. Auch ist er der Ansicht, alles sei gut. Dieses Universum, das fortan ohne Herr bleibt, erscheint ihm weder steril noch unbedeutend. Jedes Körnchen dieses Steins, jedes mineralische Glitzern dieses von Nacht erfüllten Felsens, macht eine Welt für sich aus. Allein schon der Kampf um den Gipfel genügt, ein Menschenherz zu erfüllen. Man muss sich Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen.«

Stellen Sie sich mich glücklich vor.


Nicole Niquille

Nicole Niquille

Gegen jede Wahrscheinlichkeit