Für C. – für immer

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Es war einmal ein blauer Planet, den die Menschen Erde nannten. Dort war es wunderbar, denn es gab alles, was das Herz begehrte: Wasser im Überfluss, das die Bewohner trinken konnten, weite Felder, auf denen sie Weizen anbauen konnten, Flüsse, aus denen sie Fische fangen konnten, hohe Berge, schneebedeckte sogar, und viele grüne Wälder. Und so lebten dort immer mehr Menschen, sämtlich verschiedene: dunkle und helle Menschen, kleine und große Menschen, schöne und weniger schöne Menschen und auch junge und alte Menschen.

Die Erde war ein Paradies.

Indes nicht für alle. Ob es von Anfang an so gewesen oder erst so gekommen war – selbst die Alten erinnerten sich nicht mehr. Aber die Menschen auf der hellen Seite des blauen Planeten hatten alles: warme Häuser zum Wohnen; sie konnten essen und trinken, so viel sie wollten; und oft machten die Menschen auf der hellen Seite etwas nur so zum Spaß, waren lustig und glücklich. Hingegen den Menschen auf der dunklen Seite fehlte das Nötigste, und es waren ihrer viele.

Die kleine Marie war eine dieser vielen. Denn Marie wohnte an einem Ort, wo es nicht genug zu essen gab, einem Ort, wo man vom Wassertrinken krank wurde und die Luft so schlecht roch, dass sie einem den Atem raubte.

Marie war acht Jahre alt, als die bösen Geister sie besuchten. Die Dorfbewohner erklärten es zumindest so, doch Marie selbst hatte niemanden gesehen, auch keine Geister. Aber sie wurde sehr krank. Alle wussten, dass es keine Heilung gab und dass ein jeder, der diese Krankheit bekam, sterben musste.

Auch Marie wusste das.

Maries Eltern und Geschwister waren schon an der Böse-Geister-Krankheit gestorben, und so hatte sie bloß noch ihren alten Großvater. Maries Großvater war der älteste Mann im Dorf und sehr weise. Er hieß Matimba, doch alle Kinder nannten ihn bloß Großvater. Matimba lachte oft und gerne. Für ihn war Marie seine »kleine Prinzessin«, wie er immer sagte.

Doch heute lachte er nicht, als er neben dem schmalen Bett saß, auf dem Marie lag.

Maries Haut, die zuvor die Farbe dunkler Schokolade hatte, war nun ganz blass und übersät mit unzähligen Wunden, die bluteten und grauenvoll juckten. Die ehemals vollen schwarzen Haare, das schöne runde, kleine Gesicht, die strahlend blauen Augen und die kleinen, roten Lippen – all dies war welk und schlaff. Dabei hatte Marie ihr dunkelblaues Lieblingskleidchen an. Doch es schien nun viel zu groß, so stark hatte sie in den letzten Tagen an Gewicht verloren. Ihre Arme und Beine sahen aus wie die dünnen Äste eines alten Baumes, die dürr und krank aus dem Kleidchen herauslugten. Und obwohl es sehr warm in der Hütte ihres Großvaters war, fröstelte sie. Doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und lächelte ihren Großvater tapfer an. Dieser tupfte ihr mit einem Tuch behutsam die kleine Stirn und gab Marie ein Lächeln zurück.

»Wie fühlst du dich heute, Marie?«

»Schon etwas besser, Großvater«, log das kleine Mädchen.

Matimba wusste, dass es so weit war. Und er wusste, dass Marie große Schmerzen hatte, es sich aber nicht anmerken lassen wollte, um ihm keine Sorgen zu bereiten. Er beugte sich über Maries Gesicht; sein Herz war schwer und leicht zugleich – denn er wusste, dass er die Frage stellen musste: Es war Gesetz – seit er sich erinnern konnte, war es Gesetz, die eine Frage zu stellen.

»Marie?«, fragte er sanft.

»Ja, Großvater?« Ihre Stimme war sehr schwach.

Matimba beugte sich noch näher zu Marie und flüsterte in ihr Ohr.

Sie schaute ihren Großvater mit großen, glänzenden Augen an, doch antwortete, ohne zu zögern, reinen Herzens und mit fester Stimme. Eine glitzernde Träne lief ihr über die Wange.

Seine Augen lächelten. Er strich ihr über das schwarze Haar.

»Schlaf jetzt, meine kleine Prinzessin«, flüsterte er. »Du hast noch eine lange Reise vor dir.«

Draußen ging die Sonne langsam unter und ein kühler Abendwind blies durch die Ritzen der Hüttenwände aus Bambusstäben. Maries kleine Hand suchte sachte die Hand ihres Großvaters, ihr Atem ging schwer und rasselnd, und sie musste husten. Die letzten Sonnenstrahlen drangen gelbrot, wie tausend goldfarbene Finger, durch die Ritzen der Hüttenwand und ließen alles in einem schimmernden Licht leuchten, sodass das Innere der Hütte – einen ganz kurzen Augenblick nur – wie der Palast einer Prinzessin erstrahlte.

Dann wurde es dunkel.

Matimba hielt Maries Hand auch noch, als das Mädchen schon längst nicht mehr atmete. Bis zum nächsten Morgen hielt er Maries Hand in der seinen.