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IGNAZ HOLD

MISTRALMORDE

Buch

Eigentlich wollte der Pariser Kommissar Jean-Luc Papperin in der provenzalischen Ölmühle seiner Familie nur seinen Sonderurlaub genießen und sich von einer Schussverletzung erholen. Statt der Ruhe, die er sich erhofft, findet er eine rivalisierende Meute erhitzter Gemüter vor, die sich wilde Wortgefechte und sogar Handgreiflichkeiten auf offener Straße liefern. Der idyllische provenzalische Ort Cabanosque ist in Aufruhr, weil ein weltweit operierender Baulöwe dort eine Golf- und Wellness-Hotelanlage für den internationalen Jetset errichten will. Die Befürworter – der Bürgermeister und viele Geschäftsleute – sehen sich einer breiten Protestbewegung gegenüber, die das Projekt mit allen Mitteln zu Fall bringen will. Ein Hauch von Gefahr liegt in der lavendelschwangeren Luft, denn die Gegner des Projekts sind bewaffnet. Es handelt sich um die Mitglieder der örtlichen Jägervereinigung Association des chasseurs de Cabanosque.

Die Stimmung heizt sich mehr und mehr auf – schließlich geschehen zwei Morde. Papperins Urlaub ist endgültig vorbei, als ihm seine Vorgesetzten in Paris befehlen, die kommissarische Leitung der Dienststelle in Aix en Provence zu übernehmen und den brisanten Doppelmord möglichst geräuschlos und im Sinne der Obrigkeit aufzuklären. Doch commissaire Papperin hat seine eigenen Vorstellungen, wie dieser Fall zu lösen ist.

 

 

Autor

Ignaz Hold, reiselustiger Wissenschaftler, hat seit 25 Jahren in der Provence eine zweite Heimat gefunden und kennt diesen Fleck Europas wie seine Westentasche. Er erholt sich, wann immer sein Beruf es ihm erlaubt, vom Stress des Universitätsalltags in seinem Haus in der Haute Provence. Dorthin, in die ländliche Idylle eines provenzalischen Dorfes, zieht er sich – begleitet von seiner Frau – zurück, um zu schreiben. Neben nüchternen Fachbüchern entstehen dort seine Provencekrimis, in denen er den ganzen provenzalischen Mikrokosmos mit all seinen Problemen, Charakteren und landschaftlichen Reizen einfängt und in spannende Krimis einfließen lässt.

 

 

Ignaz Hold

 

 

MISTRALMORDE

Commissaire Papperins erster Fall

 

 

Ein Provencekrimi

 

 

 

 

 

 

 

ambiente-krimis

 

 

 

“Vous n’avez rien entendu, cette nuit?“
„Non, le mistral seulement, et le chant de la chouette …“

 

“Sie haben nichts gehört, heute Nacht?“
„Nein, nur den Mistral und das Lied der Eule …“

 

Frédéric Mistral, Mes Origines

In der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag:
Nur der Mistral ist Zeuge

Hell schien der Vollmond über den Hügeln um Cabanosque. Pinien warfen ihre langen Schatten. Sie schwankten leicht im sanft einsetzenden Mistral – dem wegen seiner Kraft und seiner Kälte gefürchteten Wind der Provence. Es würde nicht lange dauern bis er seine volle Stärke erreicht hätte, die Bäume sich unter seiner Wucht biegen und die Mülltonnen an den Straßenrändern von ihm mühelos umgeworfen würden. Noch blies er nur leicht. Die Blüten des Ginsters leuchteten blassgelb im fahlen Licht und gaben der Landschaft das Aussehen eines sanft wogenden Meeres, durchsetzt mit hellgelben Schaumkronen. Die Grillen zirpten laut und wehmütig. Ihr hoher, monotoner Gesang durchdrang mühelos das noch leise Rauschen des Windes und schwebte über der silbrighellen Landschaft.

Ganz oben, auf der flachen Kuppe des Hügels, stand, inmitten des Brombeergestrüpps und der Ginsterbüsche, ein großes Ungetüm aus Stahl. Es wirkte dort völlig fehl am Platz, wie ein gestrandetes U-Boot. Dunkel ragten seine gewölbten Stahlwände in den Sternenhimmel. Selbst der helle Mondschein konnte seine Farbe nicht enthüllen – ein dunkler Fremdkörper in der südlichen Landschaft. Nur die großen Buchstaben CSQ – 03 auf dem Stahlkoloss reflektierten grellweiß das fahle Licht. Es war einsam dort oben, keine Menschenseele weit und breit. Kein Hirte mit seiner Schafherde kam in diese mit dürren und harten Kräutern, mit stachligen Büschen und harzigen Pinien bewachsene Höhe. Auch die Jäger waren nicht mehr unterwegs, denn die Jagdsaison war längst vorüber. Selbst untertags verirrte sich kaum je ein Mensch hierher, gelegentlich ein paar Touristen, die in Cabanosque ihren Urlaub verbrachten und die Gegend auf dem schmalen Weg, der sich, vom Dorf kommend, durch die collines windet, durchwanderten. Jetzt, kurz vor dem Morgengrauen, war alles ruhig und leer. Auch das Wild, Fasane, Wachteln, Bartavellen und Wildschweine, das während der Jagdsaison zahllose Hobbyjäger, darunter fast alle männlichen Dorfbewohner, anlockt und jeden Spaziergang zu einem gefährlichen Unternehmen werden lässt – häufig schon wurden Wanderer versehentlich angeschossen – war zu dieser Stunde nicht mehr unterwegs.

Weiter unten kam ein Auto ohne Beleuchtung langsam das schmale Schottersträßchen herauf gefahren. Immer wieder wurde es unsichtbar, wenn der Weg durch dichteren Pinienwald führte. Bei einer Gabelung nahm es nicht die breitere Straße nach Salernes, sondern fuhr weiter die Hügel hinauf. Man hätte es nicht bemerkt, wenn sich nicht das Mondlicht ab und zu in der Windschutzscheibe gespiegelt hätte. Unhörbar auch das Motorengeräusch – übertönt vom Rauschen des Windes und dem durchdringenden Gesang der Grillen. Jetzt erreichte es die Höhe. Es hielt im schwarzen Schatten des Stahlkolosses. Die Fahrertüre öffnete sich und eine Person stieg aus. Man konnte nicht erkennen ob Mann oder Frau. Sie ging um das Auto und öffnete die Hecktüre. Mühsam hob sie eine zweite Person aus dem Laderaum des Van, lud sie sich wie ein schweres, langes Paket auf die Schulter und stieg über eine kleine Eisenleiter auf den Koloss. Nur leise drang das Kreischen der verrosteten Scharniere durch das Brausen des immer stärker wehenden Windes, als sie den Stahldeckel öffnete. Vorsichtig ließ sie ihre Last in die dunkle Öffnung gleiten. Ein Stück Stoff  verfing sich an einem Stahlstift und zerriss. Ein Fuß verklemmte sich unter dem verrosteten Handrad. Sie ließ mit einer Hand los, um den Fuß aus dem Handrad zu befreien. Es gelang ihr nicht. Mit leisem Knack brachen Schien- und Wadenbein. Nun war das Paket gänzlich in der dunklen Öffnung verschwunden. Sie klappte den Stahldeckel wieder zu und drehte das Handrad, bis der Deckel wieder fest verschraubt war.

Leise und fast unsichtbar fuhr der Van wieder den Weg nach Cabanosque hinab. Der Stahlkoloss stand groß und dunkel mit einem Toten in seinem Inneren auf der Kuppe des Hügels. Der Mistral brauste jetzt mit voller Wucht und das helle Licht des Mondes überflutete das weite hügelige Land. Die Grillen hatten aufgehört zu singen.

Rückblick: Vor Ostern in Paris, als commissaire Papperins Urlaubspläne zerplatzten

Papperin griff nach den beiden Zeitungen, die auf seinem Schreibtisch lagen und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Er überflog die Titelseite des Figaro: „Vernichtender Schlag gegen das organisierte Verbrechen – PJ zerschlägt Mädchenhändlersyndikat“. Auch Le Monde – wie stets etwas dezenter und zurückhaltender in ihrem Aufmacher – berichtete auf der ersten Seite: „Der police judiciaire gelang es gestern unter der Leitung von commissaire Jean-Luc Papperin eine international agierende und von Paris aus gelenkte Menschenhändlerorganisation zu sprengen.  Commissaire Papperin und sein Team konnten nach monatelangen und schwierigsten Recherchen den Zeitpunkt und den Ort ermitteln, an dem sich der Kopf des Syndikats zur Vorstandssitzung treffen wollte. In einem spektakulären Einsatz wurde die gesamte Organisationsstruktur zerschlagen. Alle führenden Köpfe des Verbrecherrings konnten inhaftiert werden. Wie aus dem Polizeipräsidium mitgeteilt wurde, lief die Operation unter strengster Geheimhaltung. Offensichtlich waren nicht einmal die Vorgesetzten von commissaire Papperin informiert. Papperin sagte kurz nach dem erfolgreichen Zugriff dem Korrespondenten unserer Zeitung, man habe hundertprozentig sicher sein wollen, dass die Pläne seines fünfköpfigen Teams nicht nach außen dringen und den erhofften Erfolg gefährden würden. Dies entspräche zwar nicht den Dienstvorschriften, aber der Erfolg gebe ihm und seinem Team wohl Recht. Dennoch fürchte er etwas die Reaktion seiner Chefs. Nach diesem kurzen Interview wurde er vom Polizeiarzt und den Sanitätern unserem Korrespondenten entrissen, die ihn in das Rettungsfahrzeug führten, um dort seine Schussverletzung zu behandeln.“

Papperin betrachtete den Verband an seinem linken Arm. Der Schmerz war eigentlich ganz gut zu ertragen – ob das von den Schmerzmitteln kam, die ihm der Polizeiarzt verabreicht hatte? Vielleicht hatte deren Wirkung aber auch schon nachgelassen, und das war der beim Heilen einer Wunde normale Schmerz? Zum Glück waren die Bodyguards so überrascht gewesen, dass sie kaum Zeit gehabt hatten, ihre Waffen zu ziehen und schon gar nicht, präzise zu zielen. So hatte ihn nur ein Schuss leicht am linken Arm gestreift. „Na ja – jetzt kommen bald die Osterfeiertage, und mit den zusätzlichen vier Urlaubstagen, die ich genommen habe, können Nia und ich mal wieder so richtig ausspannen“. Er freute sich auf die geplante Reise in die Karibik nach Martinique zu den Eltern seiner Lebensgefährtin.

Er nahm – mehr im Unterbewusstsein – das Blinken des kleinen roten Lämpchens an seinem Diensttelefon wahr, dann gellte auch schon der penetrante Computerton in seinen Ohren. „Telefone klingeln heutzutage nicht mehr so schön wie früher“, dachte er wehmütig und schaltete den Lautsprecher ein. „Oui“, gähnte er müde. „Jean-Luc, komm in mein Büro – s’il te plaît!“ Das war die Stimme seines Chefs, Dr. Malleraux, Präsident der police judiciaire von Paris, der ihn in sein Allerheiligstes zitierte.

* * *

Papperin klopfte und trat ein. Dr. Malleraux kam hinter seinem großen Schreibtisch hervor. „Mein lieber Jean-Luc, das habt ihr großartig gemacht, ich gratuliere dir und deinen Leuten!“, begrüßte ihn sein Chef. „Ich wurde auch schon aus dem Innenministerium angerufen. Der Minister ist sehr zufrieden mit dem effizienten und erfolgreichen Vorgehen seiner Polizei.“ Dr. Malleraux ging mit gewichtigen Schritten wieder hinter seinen Louis XVI-Schreibtisch zurück und nahm in seinem ledernen Chefsessel Platz. Er lächelte in der ihm eigenen Art, mehr mit dem Mund als mit den Augen. Langsam zogen auf seiner Stirne kleine Sorgenfältchen auf, die sich peu à peu vertieften, bis sein Gesicht zweigeteilt erschien: Unten ein freundlich lächelnder Mund und nach oben zu ein strenger und sorgenvoller Blick. Papperin kannte dieses Mienenspiel von früher und ihm war klar, die freundlich lächelnden Lippen waren nur die äußere Fassade. Innerlich kochte sein Chef. „Allerdings war monsieur le Ministre etwas ungehalten, dass er bei einer so wichtigen Aktion nicht in die Planung einbezogen, ja nicht einmal informiert worden ist. Nun aber wirklich, monsieur le commissaire“, verschärfte Malleraux den Ton. „Sie hätten wenigstens mich vorher unterrichten müssen. In Ihrem Interview mit Le Monde wird mein Name überhaupt nicht erwähnt. Wie stehe ich denn vor dem Minister und dem Staatssekretär da – ganz zu schweigen von der Presse?“

Papperin registrierte den Wechsel vom freundschaftlich- kollegialen tu zum amtlichen vous, auch dass er jetzt nicht mehr ‚mein lieber Jean-Luc’, sondern ‚monsieur le commissaire’ war. All das versetzte ihn in leichte Unruhe. Papperins Gesichtsaudruck jedoch blieb unbewegt: Freundlich, amtlich und ein bisschen unterwürfig. In ihm aber arbeitete es. Was würde sein Chef jetzt tun? Ihm eine offizielle Rüge erteilen? Das war eher unwahrscheinlich – bei dem Erfolg – und würde Dr. Malleraux auch nicht aus seinem Dilemma retten, als Chef der Polizeibehörde nicht informiert gewesen zu sein. Aber offensichtlich widerstrebte es ihm auch, Papperins Leistung in aller Öffentlichkeit anzuerkennen. Andererseits konnte er den Erfolg auch nicht mehr auf seine eigenen Fahnen schreiben nach dem ersten kurzen Interview von Papperin. Und selbst wenn er sich in den Vordergrund schieben würde, er konnte ja nicht wissen, was er, Papperin, den Reportern erzählen würde, wenn sie sich wieder auf ihn stürzten. Dr. Malleraux war ein Karrierebeamter, der – so wurde er von seinen Untergebenen eingeschätzt – weniger durch eigene Leistungen, als vielmehr durch geschicktes Taktieren und gute Beziehungen auf der Erfolgsleiter nach oben geklettert war. Als Absolvent der ENA, der Ecole Nationale d’Administration, der Elitekaderschmiede Frankreichs schlechthin, hatte er einen weiten und einflussreichen Bekanntenkreis. Er konnte natürlich nicht zugeben, dass er nichts von dieser spektakulären Polizeiaktion gewusst hatte. Die Lage war mehr als schwierig. Ausgeschlossen war, seinem Chef zu gestehen, man habe ihn bewusst nicht informiert, weil man befürchtet hatte, er würde sich bei seinen vielen hochkarätigen Freunden im Golfclub oder im Rotary-Club damit hervortun, welch wichtigen Einsatz er plane. Natürlich hätte er hinzugefügt: „… aber das muss unter uns bleiben, das ist ein hochbrisanter top-secret-Plan. Streng vertraulich! Aber ich weiß, dass ich dir vertrauen kann“. So oder so ähnlich war das schon gelegentlich geschehen, und das hatte einige Erfolg versprechende Einsätze behindert oder sogar vereitelt.

Dr. Malleraux schaute Papperin mit ungeduldiger, etwas ungehaltener Miene an, gerade so, als warte er darauf, dass Papperin eine Lösung aus diesem Dilemma fände. Einige ungemütliche Sekunden lang herrschte Schweigen. „Monsieur le Président – Chef – das war ein Riesenproblem für uns, wir waren in einer verzweifelten Lage: Die Zeit drängte so sehr. Ihr Handy war offensichtlich ausgeschaltet – wir hatten mehrmals versucht Sie anzurufen. Bis wir Sie an diesem Wochenende in Ihrer Hütte in den Bergen endlich erreicht hätten, wäre möglicherweise die günstige Gelegenheit vorüber gewesen.“ Papperin wusste genau, dass das eine Notlüge und Dr. Malleraux am fraglichen Abend zu Hause und erreichbar gewesen wäre.

„Wenn wir Sie erreicht hätten“, fuhr Papperin schon etwas selbstsicherer fort, „dann hätten Sie natürlich von Ihrem Wochenenddomizil aus die Aktion per Handy geleitet.“

An Malleraux’ Gesichtsausdruck konnte Papperin verfolgen, wie sein Chef den ihm zugespielten Ball langsam erkannte und aufzufangen begann. Seine Stirnfalten entkräuselten sich mehr und mehr, der unfreundliche Blick wurde zunehmend entspannter. Man spürte förmlich, wie sich Erleichterung im Polizeipräsidenten ausbreitete. „Jean-Luc, das ist die Lösung! Ihr konntet mich zunächst nicht erreichen, weil ich auf einer wichtigen dienstlichen Besprechung war und deshalb mein Handy nicht eingeschaltet hatte. In einer Besprechungspause habe ich dich angerufen, ihr hattet gerade mit der Aktion begonnen. Und ab da habe ich den Einsatz per Handy aus der Ferne persönlich geleitet. Die ad-hoc-Entscheidungen vor Ort hat mein bewährter Mitarbeiter commissaire Papperin getroffen. Nur durch diese langjährig eingespielte Zusammenarbeit konnte es gelingen, diesen großartigen Erfolg zu erzielen.“ Papperin registrierte mit innerlichem Schmunzeln, wie sein Chef bereits in die Diktion einer Presseverlautbarung hinüber glitt. Auch entging ihm nicht, dass er jetzt nicht mehr monsieur le commissaire war, sondern wieder mit dem kollegial-freundschaftlichen du und mit seinem Vornamen Jean-Luc angesprochen wurde.

Dr. Malleraux bedeutete ihm mit einer lässigen Handbewegung, doch auf dem Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. „Mein lieber Jean-Luc, als erstes solltest du deine Verletzung vollständig auskurieren“, schlug er einen väterlichen Ton an. „Hierzu und natürlich auch als Anerkennung für deine Leistung bekommst du ab sofort drei Wochen Sonderurlaub – natürlich nicht zusätzlich zu den vier Tagen, die du bereits beantragt und bewilligt bekommen hast.“

Über die Gegensprechanlage gab er seiner Sekretärin Jaqueline die Daten durch, die sie für den formellen Urlaubsantrag benötigte. Nach wenigen Minuten kam sie in das Zimmer des Präsidenten und legte ihm das ausgefüllte Formular zur Unterschrift vor. Schwungvoll setzte dieser seinen Namenszug unter das Dokument – seiner Position entsprechend war dieser nicht nur unleserlich, sondern durch einen weit ausholenden Anstrich zum D des Dr. und einem kunstvoll verschnörkeltem Auslaufen des x am Ende des Namens umspielt. Daneben machte sich die einfache, aber nicht minder unleserliche Unterschrift von commissaire Papperin bescheiden aus – Vorgesetzter und Untergebener eben.

* * *

Jean Luc Papperin warf die mit braunem Leder überzogene schallisolierte Tür zum „Allerheiligsten“ des Chefs mit sanftem Schwung hinter sich zu. Sie fiel mit einem dezenten „Plopp“ ins Schloss. Lässig legte er das Urlaubsformular auf den Schreibtisch von Jaqueline, die ihn mit hoffnungsvollem Blick ansah, gerade so, als erwarte sie, wieder einmal zum Essen eingeladen zu werden. Schon öfters hatte er dies getan, vor allem nach einer der häufigen dienstlichen Auseinandersetzungen mit Dr. Malleraux, meistens nur zu einem café in der Kantine, gelegentlich auch zu einem apéritif, manchmal aber auch zu einem ausführlicheren déjeuner in der nahe gelegenen Brasserie Licorne. Dort gab es für 12,90 Euro ein Mittagsmenu, das herausragend gut schmeckte. Sollte er sie wieder einmal …, er dachte an die pétoncles farcis, die mit viel Butter, Petersilie und Knoblauch überbackenen Mini-Jakobsmuscheln, als hors d’œuvre … . So wichtig es war, zur Sekretärin des Chefs einen persönlichen Draht zu haben und gemeinsam mit ihr über die Schrullen, das autoritäre Gehabe und den Charakter des Amtsleiters im Allgemeinen zu reden – heute wollte er so schnell wie möglich nach Hause und sich ungestört auf die Karibikreise freuen. Außerdem musste er noch kurz im Krankenhaus vorbeischauen. Der Verband musste gewechselt werden, und der Oberarzt sollte ihm noch Medikamente verschreiben, damit er den Sonderurlaub schmerzfrei genießen konnte. Mit einem „heute nicht, chérie“, warf er Jaqueline eine Kusshand zu und verließ das Vorzimmer. Zur Feier des Tages ging er nicht über die Treppen, sondern benutzte den Aufzug, den er mit seinem badge, der kleinen Magnetkarte – die nur höheren Beamten vom commissaire an aufwärts zustand – herbei rief. Er fuhr hinab in die erste Etage, ging in sein kleines Büro und packte einige Papiere und seinen PC in die Umhängetasche. Er rief die Abteilungssekretärin an und bat sie, auf seinem E-Mail-Account einen automatischen Antwortservice einzurichten, der besagte, dass er für drei Wochen nicht im Dienst sei, und man sich an seinen Vertreter inspécteur Roux wenden solle.

* * *

Im 22. Stock des Bürohochhauses im 17. Arrondissement legte Célestine Griffon den Telefonhörer auf. Sie hatte fast eine Stunde lang mit John Mc Clullan, Wirtschaftsprüfer in der New Yorker Schwestergesellschaft von ECI-Enterprise-Consultant-International über strittige Steuerfragen eines gemeinsamen Mandanten beraten. Jetzt war sie  erschöpft. Nachdenklich ließ sie ihren Blick über das Häusermeer der Hauptstadt schweifen. Erst seit etwa einem Monat hatte sie dieses tolle Büro in einem der obersten Stockwerke des ECI-Hochhauses in Paris bezogen. Mit knapp 35 Jahren war sie zur Leiterin der Abteilung Wealth-Management-France für die Beratung von vermögenden Privatkunden befördert worden und Chefin von 15 Mitarbeitern. Wie stets hatte sie auch in dieser Woche weit mehr als die gesetzlich festgelegten 35 Stunden gearbeitet. Es ging auf 20 Uhr zu, und draußen wurde es schon langsam dunkel. In immer mehr Häusern gingen die Lichter an, und bald würde die Stadtverwaltung auch die Straßenbeleuchtung anschalten. Bis sie zuhause war, würde es dunkel sein. Jean-Luc wartete sicher schon auf sie. Hoffentlich hatte er etwas zu Essen eingekauft. Kochen wollte sie heute nicht mehr, dazu war sie zu erschöpft. Vielleicht hatte er ja auch etwas vorbereitet. Denn das konnte er, es war seine Leidenschaft. Eigentlich hätte es besser zu ihm gepasst, wenn er Küchenchef geworden wäre statt commissaire bei der police judiciaire. Als sie ihn kennen gelernt hatte, hatte sie tatsächlich geglaubt, er sei Koch. Das war auf einer Gartenparty bei Pierre, einem alten Studienfreund in der Provinz, in einem Dorf in der Nähe von Versailles. Es wurde lange politisiert und diskutiert, viel Rotwein getrunken und keiner der Gäste hatte bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Nur dass sie langsam Hunger bekamen, das spürten sie irgendwann, als es schon weit nach Mitternacht war. Die Crèperie und die Pizzeria am Ort hatten längst geschlossen, sie konnten sich nichts mehr ins Haus liefern lassen. „Sag mal, Pierre, hast du gar nichts im Kühlschrank?“, hatte einer der Partygäste gefragt. Sie hatte ihn nicht gekannt, denn er war nicht von ihrer Fakultät. „Sieh halt nach“, hatte Pierre geantwortet, und der ihr unbekannte Student war in der Küche verschwunden. Nach einiger Zeit hatte er gerufen: „Kann mir mal jemand tragen helfen?“, und als sie in die Küche kamen, schlug ihnen ein unglaublich würziger Duft nach Knoblauch, Rosmarin und Thymian in die Nase. „Viel hab ich nicht im Kühlschrank und der Gefriertruhe gefunden“, hatte der Koch gesagt, „aber vielleicht reicht es trotzdem. Das sind Lammkoteletts, ratatouille provençale und gratinierte Rosmarinkartoffeln“. Es hatte herrlich geschmeckt. Sie hatte sich mit ihm in dieser Nacht lange unterhalten und dabei erfahren, dass er aus der Provence stammte. Sie trafen sich dann öfter, manchmal bei ihm zuhause. Und da hatte er immer etwas besonders Gutes aus seiner provenzalischen Heimat gekocht. Seit einem Jahr lebten sie nun zusammen in einer 3-Zimmerwohnung im vierten Stock eines Bürgerhauses aus dem 19. Jahrhundert, in einer engen Gasse mitten im Quartier Latin.

Da es schon spät war, kam sie nahezu ohne Verkehrsstau ins Quartier Latin. Parkplatzprobleme hatte sie keine mehr, seit sie vor kurzem einen kleinen Stellplatz in einem engen Hinterhof nicht weit von ihrer Wohnung hatte mieten können. Eine Rarität in diesem Viertel, die sie entsprechend teuer bezahlen musste. Der Stellplatz neben ihr war immer noch frei – wohl wegen der hohen Miete. Schon mehrfach hatte sie versucht, Jean-Luc zu überreden, ihn für seinen Peugeot 405 zu mieten. Aber er hatte sich stets kategorisch geweigert, gerade so, als ob das Parkplatzsuchen mit dem oft endlosen Herumkurven in den engen Seitenstraßen des Boulevard Saint Michel ihm Spaß machte. „Lieber gehe ich mit dir öfter schön zum Essen aus, als so viel Geld für meinen alten 405-er aus dem Fenster zu werfen“, war seine stereotype Antwort auf ihre Überzeugungsversuche. Schnell ging sie die wenigen hundert Meter bis zu ihrer Wohnung. Von Weitem schon sah sie die erleuchteten Fenster im vierten Stock – Jean-Luc war also bereits zuhause. Sie fuhr mit dem für diese alten Pariser Stadthäuser so typischen altmodischen Lift, der wie ein vergitterter Käfig aussah, ruckelnd nach oben und schloss die Türe zu ihrer gemeinsamen Wohnung auf. Auf ihr fröhliches „Hallo, Jean-Luc, ich bin wieder da! Wie war dein Tag?“, kam nur ein Grummeln aus seinem Arbeitszimmer als Antwort.

Er saß an seinem Schreibtisch, den rechten Ellenbogen aufgestützt. Sein Kinn ruhte in der rechten Hand. Vor ihm lag ein Papier, ein Brief, mit fast schulmeisterlich gestochener Handschrift geschrieben. Ohne seinen Kopf aus der stützenden Hand zu nehmen, drehte er sich um und blickte zu ihr auf. „Hier lies, das ist heute mit der Post gekommen. Das durchkreuzt alle unsere Pläne, da werde ich wohl hin müssen.“ Mit der verbundenen linken Hand schob er ihr den Brief hin. Sie nahm ihn und während sie ihn las, bildete sich erst eine kleine senkrechte Unmutsfalte zwischen ihren Augenbrauen, die sich langsam zu einer regelrechten Zornesfalte vergrößerte und vertiefte, bis sie fast bis zu ihrem Haaransatz reichte. Normalerweise liebte er sie besonders, wenn sie ihre Wutausbrüche bekam und mit ihren funkelnden schwarzen Augen ihrem Zorn freien Lauf ließ.

Sonst richtete sich das immer gegen andere. Jetzt aber war er selbst das Opfer.

„Sag, dass das nicht wahr ist! Du willst unseren Urlaub auf Martinique, alles was wir geplant haben, jetzt plötzlich nicht mehr? Und das nur, weil du glaubst, deiner Mutter helfen zu müssen? Was ist mit meinen Eltern? Sie warten schon lange auf unseren Besuch und freuen sich so, dass es jetzt endlich einmal klappt.“

„Aber Nia …“

Seit ihrem Urlaub an den Niagarafällen und einem heftigen Wutausbruch, den seine Freundin dort bei einem Streit hatte, der selbst das Tosen des Wasserfalls übertönt hatte, nannte Papperin sie nur noch liebevoll Nia.

„Nein, das geht nicht, wir fahren hin, und zwar wir beide!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen – Tränen des Zorns.

Er erhob sich. „Schau, Nia, das ist doch ein Unterschied, du weißt doch, dass meine Mutter den Betrieb ganz allein aufrechterhält, und nur Alphonse hat, ihren einzigen Angestellten.“

„Na und …?“

„Und der hatte letzte Woche einen Autounfall, liegt im Krankenhaus und fällt für Wochen aus – und das gerade jetzt, wo es ohnehin schon fast zu spät ist für die taille.

Natürlich wusste Célestine, wie schwer es Odile Papperin, die Mutter von Jean-Luc, hatte. Seit ihr Mann vor drei Jahren bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen war, hatte sie alle Hände voll zu tun, die Ölmühle und die kleine Olivenplantage in Cabanosque, einem Dorf in der Haute Provence, zu bewirtschaften. Aber es war anders ausgemacht – Célestine wollte und würde mit Jean-Luc zu ihren Eltern in die Karibik fahren. Schließlich kannten diese ihn noch gar nicht. Sie hatte ihn bisher nur in ihren Briefen beschrieben und ein paar Fotos geschickt. Außerdem war nicht abzusehen, wann sie beide sich das nächste Mal gleichzeitig frei nehmen könnten.

„Jean-Luc, du weißt, dass meine Eltern schon alles vorbereitet haben, und wie sie sich auf mich freuen, nach all den Jahren – und wie neugierig sie auf dich sind. Zu deiner Mutter kannst du immer wieder mal schnell hinfahren, Cabanosque ist nicht so weit weg wie Fort de France. Außerdem warst du schon oft bei ihr, bei meinen Eltern aber noch nie.“

„Du hast doch den Brief gelesen. Meine Mutter ist wirklich in einer Zwickmühle, vielleicht steht sie sogar vor einer wirtschaftlichen Katastrophe.“

Er wusste aus früheren Briefen, dass sie nach dem Tod ihres Mannes den kleinen Familienbetrieb mehr schlecht als recht weitergeführt hatte. Er selbst, Jean-Luc, hatte sie in langen Telefonaten im letzten Herbst dazu gebracht, die Ölmühle zu renovieren und in moderne Maschinen zu investieren. Die Bank hatte alles finanziert. Sie hatte seinen Rat befolgt, weniger weil er sie überzeugt hatte, sondern wohl eher, weil er ihr Sohn war, der im geschäftigen Paris eine wichtige Position innehatte und der sich, wie sie annahm, in solchen Dingen auskannte. Jetzt hing alles davon ab, dass die nächsten Olivenernten gut wurden, und sie genug von dem in der Region geschätzten, und von den Touristen gerne gekauften Olivenöl produzieren konnte. Und das wiederum war nur gewährleistet, wenn die taille, das dringend nötige Beschneiden der Olivenbäume, so schnell wie möglich stattfand.

„Aber meine Eltern erwarten uns und …“

„Jetzt hör mal zu, Nia, deinen Eltern geht es hervorragend. Dein Vater als ehemals hoher Regierungsbeamter bekommt eine stattliche Pension. Deine Eltern stehen nicht vor einer finanziellen Krise. Sie brauchen keine Hilfe und werden es sicher verstehen, wenn sie noch etwas auf unseren Besuch warten müssen. Mutter schreibt, dass sie zur Zeit nicht das Geld hat, um einen professionellen tailleur d’oliviers zu beauftragen. Die sind sehr gefragt und wahnsinnig teuer. Ihr Bankkonto ist heillos überzogen und sie kann – oder will – es nicht noch weiter belasten. Ich habe dir ja mal erzählt, ich bin dort unten aufgewachsen und habe das Oliven beschneiden von der Pike auf gelernt – bei meinem Vater.“

Célestine legte ihre Hand auf Papperins Schulter. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen – jetzt aber eher Tränen der Resignation als Tränen des Zorns.

„Ich weiß, wenn du dich jemandem gegenüber in der Pflicht fühlst, dann kann dich nichts davon abbringen, ihm zu helfen“, sagte sie. „Nicht einmal ich“, setzte sie in Gedanken hinzu. Insgeheim gestand sie sich aber ein, dass sie ihn nicht zuletzt wegen dieses Charakterzugs so liebte.

Karfreitag, 10. April,
der Tag, an dem commissaire Papperin mit großer Verspätung in Cabanosque ankommt

Seit Stunden schon war Papperin mit seinem etwas betagten Peugeot 405 auf der Autobahn unterwegs, der Autoroute du Soleil, die von Paris in den Süden führt. Der Osterverkehr war beträchtlich. An diesem Karfreitag, dem vendredi saint, schien ganz Paris sich auf den Weg in den Süden gemacht zu haben, um dem laut Wettervorhersage verregneten Ostern in der Metropole zu entkommen.

Tags zuvor, am Gründonnerstag, hatte er Nia zum Aéroport Charles de Gaulle gebracht. Sie war nach Martinique zu ihren Eltern geflogen – alleine. Nur ungern erinnerte er sich an den Streit, den sie ein paar Tage davor hatten. Es war schon sehr heftig und tränenreich zugegangen, bis am Ende sogar die Grundlagen ihres gemeinsamen Lebens in Frage gestellt worden waren: „Du liebst mich eben nicht“, oder: „Wenn dir deine Familie wichtiger ist als ich, dann trennen wir uns besser gleich“, oder: „Ach hau doch ab zu deiner maman, ich komme auch ohne dich gut zurecht“. In dieser Woge von Emotionen gingen seine vernünftigen Gründe und seine Beschwichtigungsversuche einfach unter. Auch er hätte sich gerne an einen weißen Sandstrand gelegt, sich von der karibischen Sonne bräunen und von Nias Eltern kulinarisch – und natürlich auch von Nia selbst – verwöhnen lassen. Nach langen und sehr temperamentvollen Wortwechseln hatten sie sich auf diese Lösung geeinigt: Sie flog zu ihren Eltern, um diese nicht ganz zu enttäuschen, und er fuhr in die Provence und kümmerte sich um die Olivenbäume seiner Mutter.

* * *

Langsam brach die Nacht an. Papperin, der so lange wie möglich nur mit Standlicht gefahren war, überlegte, ob er jetzt schon das Abblendlicht einschalten sollte. Da man noch einigermaßen sah, ließ er es bleiben. Die enge Straße wand sich an den Hügeln entlang durch kleinere und größere Täler. Wenige Kilometer vor seinem Ziel nahm er eine Abkürzung und verließ die route départementale Nr. 31, die den vor ihm liegenden petit mont weitläufig umfuhr. Er bog auf die kleine Gemeindestraße ab, die quer über den Berg führte und kurz vor Cabanosque wieder in die breitere RD 31 mündete. Nur selten begegnete ihm ein Auto. Dann mussten beide Fahrzeuge fast stehen bleiben um sich vorsichtig aneinander vorbei zu schieben. Rechts kratzten die stacheligen Büsche am Seitenfenster entlang und links musste man aufpassen, dass die Rückspiegel nicht aneinander stießen. Wenn sein Gegenüber auch das Fenster offen hatte, wechselten die beiden Fahrer meist ein paar Worte wie: „Oui, oui, ça va bien. Alors – bonne route!“ …  „Merci, au revoir!“

Im Tal des Argent lag leichter Nebel. Papperin überquerte das Flüsschen auf der schmalen Eisenbrücke, von der aus er als kleiner Bub geangelt hatte. Hinter der Brücke machte das Sträßchen eine leichte Linkskurve. Etwas weiter vorne, rechts am Straßenrand, schemenhaft im Nebel, erblickte Papperin zwei Gestalten, die miteinander zu tanzen schienen. Plötzlich stürzte eine zu Boden. Ihm wurde schlagartig klar, dass das kein Tanz, sondern bitterer Ernst war. Die andere Gestalt schlug jetzt mit einer Stange auf die auf der Erde liegende Person ein. Sie holte weit über ihren Kopf aus und hieb den Stock mit Wucht auf den gestürzten und sich krümmenden Menschen. Dann stieß sie wie mit einer Lanze auf ihn ein. Papperin konnte wegen der Dunkelheit und des Nebels nicht deutlich sehen, weder ob es sich um Männer oder Frauen handelte, geschweige denn ihre Gesichter. Reflexartig schaltete er das Fernlicht ein. Wie auf einer Theaterbühne lag die Szene jetzt hell erleuchtet vor ihm. Die stehende Gestalt erstarrte mitten in der Bewegung mit hoch erhobenem Schlagstock. Sie war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet und kehrte Papperin den Rücken zu. Es wirkte wie ein Scherenschnitt aus schwarzem Papier vor dem grauen Hintergrund des Nebels. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann warf sie den Stock weg, sprang zur Seite und war hinter den Ginsterbüschen verschwunden. Papperin trat mit aller Kraft auf die Bremse, das Auto schleuderte leicht, rutschte mit quietschenden Reifen und kam schließlich zum Stehen, die Scheinwerfer direkt auf den Ort des Kampfes gerichtet. Zunächst blieb er im Auto sitzen und musterte den Schauplatz mit scharfem, polizeilich geschultem Blick. Die am Boden liegende Person – ein Mann, wie Papperin im Licht erkannte – bewegte sich nicht, starre Augen blickten aus einem bleichen, von den Halogenlampen grell-weiß angestrahlten Gesicht. Von der anderen Person war nichts zu sehen. Der dichte Ginster und der leichte Nebel machten es unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Vorsichtshalber nahm  Papperin seine Dienstwaffe aus dem Handschuhfach und entsicherte sie bevor er ausstieg. Gespannt auf jedes Geräusch achtend näherte er sich dem merkwürdig verkrümmt am Boden Liegenden. Außer einer blutenden Oberlippe schien er keine Verletzungen zu haben. Aber mehr als sein Gesicht konnte man wegen der Kleidung nicht sehen. Der Mann trug eine beige Hose, braune modische Schuhe und braune Socken. Das linke Hosenbein war am Knie zerrissen. Jetzt sah Papperin, dass der Stoff dort blutdurchtränkt war. Sakko und Weste waren dunkel, schwarz oder blau, das konnte man im künstlichen Licht nicht richtig sehen. Der dunkelgraue kurze Übermantel aus Leder oder Kunstleder war an mehreren Stellen zerrissen. Wachsam die Umgebung beobachtend ließ sich Papperin neben dem reglos daliegenden Mann auf die Knie nieder. Die Pistole in der rechten Hand auf den Ginsterbusch gerichtet, hinter dem der Unbekannte verschwunden war, behielt Papperin die nähere Umgebung aufmerksam im Blick. Mit der Linken tastete er nach der Halsschlagader des Verletzten. Immer wieder wandte er seine Augen kurz dem Opfer zu, um dann sofort wieder den Ginsterbusch zu fixieren. Konnte der Unbekannte noch irgendwo im Gestrüpp lauern und möglicherweise zurückkommen? Oder hatte er bereits das Weite gesucht? Gerade spürte er schwach den Pulsschlag, als der Mann leise stöhnte.

„Hallo – wie geht es Ihnen? Was ist passiert?“, fragte Papperin, bekam aber keine Antwort. Der Mann hatte entweder einen schweren Schock erlitten, oder er war von den Stockschlägen und dem Schmerz ohnmächtig geworden.

Die rechte Hand mit der Pistole immer noch auf den Ginsterbusch gerichtet, suchte Papperin mit der anderen Hand in seinen verschiedenen Hosen-, Hemd- und Jackentaschen nach seinem Handy. Verdammt – wo war das Ding jetzt schon wieder? Natürlich, auf dem Beifahrersitz. Er stellte zu seiner Bestürzung fest, dass er ziemliche Angst hatte – die Pistole in seiner Hand zitterte leicht. Mit etwas weichen Knien ging er rückwärts, sich immer wieder umdrehend, auf sein Auto zu. Endlich hatte er das Handy gefunden und tippte mit nervösen Fingern die 17 ein. Nach einigem Knacken in der Verbindung meldete sich eine amtliche Stimme:

„Gendarmerie Brignoles.“

Allô! Mein Name ist Papperin, Jean-Luc Papperin. Hier hat ein Überfall stattgefunden. Es gibt einen Verletzten, wie schwer, kann ich nicht feststellen. Der Täter ist verschwunden.“

„Geben Sie den genauen Ort und den Zeitpunkt des Überfalls an und ihre Personalien!“

„Hab ich doch schon gesagt: Jean-Luc Papperin aus Paris, Rue de la Harpe 17. Zeitpunkt: Vor ca. 5 Minuten. Ort: Die kleine Straße über den petit mont, kurz vor der Einmündung in die route départementale Nr. 31.“

„Verstanden, wir schicken einen Streifenwagen.“

Bien – aber schicken Sie auch einen Notarzt vom SAMU.“

„Wird erledigt. Bleiben Sie vom Tatort fern, rühren Sie nichts an, vernichten Sie keine Spuren. Aber bleiben Sie in der Nähe und warten Sie auf uns. Wenn Sie sich auskennen, dann leisten Sie Erste Hilfe für den Verletzten.“

Trotz des Ernstes der Lage musste Papperin etwas schmunzeln: Vom Tatort fernbleiben und Erste Hilfe leisten, das widersprach sich so offensichtlich. Der Gendarm musste noch ganz jung und unerfahren sein. Vorsichtig und auf mögliche Spuren achtend ging er wieder zum Verletzten zurück. Er war noch immer ohne Bewusstsein. Mit der linken Hand knöpfte Papperin das Jackett und die Weste auf. Das weiße Hemd darunter war voller Blut. Als er auch die Hemdenknöpfe behutsam geöffnet hatte, sah er, dass es von mehreren Platzwunden kam. Außerdem hatte der Mann zahlreiche Blutergüsse, vor allem im Bereich des Bauches. Richtig schwere Wunden konnte Papperin nicht entdecken – aber vielleicht lagen innere Verletzungen vor. Er tastete den Brustkorb ab, um festzustellen, ob Rippen gebrochen waren, die die Lunge oder das Herz verletzt haben könnten. Soweit er das beurteilen konnte, war das aber nicht der Fall. Endlich – er fühlte gerade wieder den Puls des Mannes – vernahm er die Sirene. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern und rotierendem Blaulicht hielt der Streifenwagen der gendarmerie, ein blauer Renault Traffic, hinter seinem 405-er. Vier Gendarmen sprangen aus dem Kleinbus und schon gellte die Stimme in seinen Ohren: „Hände hoch  – lass die Waffe fallen, keine Bewegung!“ Papperin hatte völlig vergessen, dass er seine Pistole noch immer in der Hand hielt. Er wollte die Gendarmen gerade aufklären, dass er von der Konkurrenz, der police judiciaire sei, als er schon fühlte, wie sich der kalte Stahl von Handschellen um seine Handgelenke schloss und ihm die Pistole entrissen wurde.

„Wenn ich der Täter wäre, haltet ihr mich für so dumm, dass ich mit der Waffe in der Hand beim Opfer auf euch warten würde, obwohl ich eure Sirene schon seit längerem gehört habe?“

Der offensichtlich ranghöchste der Gendarmen raunzte ihn an: „Nur nicht frech werden. Außerdem hast du uns nicht zu duzen! Jacques, schaff ihn in den Bus. André, du suchst den Tatort ab und sicherst Spuren. Guy, du kümmerst dich um den Verletzten!“

„He, Kollegen, ich bin von der police judiciaire und bin zu diesem Überfall zufällig dazugekommen. Das war doch ich, der euch angerufen hat.“

„Kniet mit der Waffe in der Hand vor dem Opfer, um es auszuplündern und will sich jetzt so rausreden. Nichts da, wir führen ihn dem Untersuchungsrichter vor, und dann kommt er in U-Haft.“

Im Kleinbus der gendarmerie saß Papperin in Handschellen dem den Einsatz leitenden Gendarmen gegenüber. An seiner Uniform erkannte er seinen Rang, er war sous-officier der gendarmerie nationale.

„Name!“, baffte der Gendarm.

„Ich heiße Jean-Luc Papperin und bin commissaire der police judiciaire in Paris.“

Er sah, wie sein Gegenüber einen verzweifelten Blick gegen das Autodach richtete und mit einem Seufzer die Schultern hob, als wollte er sagen „Jetzt kommt der schon wieder mit dieser Geschichte.“ Der zweite Gendarm im Wagen, offensichtlich von niedrigerem Rang, schaute erst Papperin und dann seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an.  Papperin fand die Situation durchaus amüsant. Er überlegte, was in dem Einsatzleiter jetzt wohl vorginge. Einerseits würde er sich vor seinem Untergebenen keine Blöße geben wollen und weiter den überlegenen und harten Gesetzeshüter spielen, der einen Verbrecher auf frischer Tat ertappt hat. Andererseits dürfte ihm aber auch bewusst sein, dass er – wenn vor ihm wirklich ein im Rang wesentlich höherer Beamter saß – einen völlig anderen Ton anschlagen müsste. Er zögerte kaum und hatte sich offensichtlich für die erste Variante entschieden. Seine Faust knallte auf den kleinen Behelfstisch, der ihn von Papperin trennte, und er brüllte:

„Fang nicht schon wieder mit dieser Affengeschichte an. Die glaubt dir keiner von uns! Also: Name, Adresse, Papiere!“ Dabei fixierte er Papperin mit zornigem Blick und beugte sich weit nach vorne. Papperin konnte seinen Atem spüren – er hatte sicher ein deftiges provenzalisches Abendessen hinter sich, denn er roch stark nach Knoblauch und auch ein klein wenig nach Rotwein. Dabei musste Papperin an das Empfangsessen denken, mit dem seine Mutter sicher schon seit längerem auf ihn wartete, und er merkte plötzlich, dass er richtig Hunger hatte. Er beschloss, diese Komödie auf die sanfte Tour, aber zügig zu beenden.

„Mon cher collègue“, begann er, „ich verstehe ja, dass die Situation missverständlich ist, aber glaube mir, ich bin der, für den ich mich ausgebe. Ihr könnt das ja leicht nachprüfen. Ruft bei der direction centrale de la police judiciaire  an und lasst euch das bestätigen. Oder ihr informiert euch in der nationalen Datenbank der Polizei. Dort bin ich ebenfalls mit allen meinen Erkennungsdaten gespeichert – Foto, Dienstgrad, Dienstnummer usw. Oder noch viel einfacher: Wie wäre es, wenn ihr einen Blick auf meinen Dienstausweis werfen würdet?“

Sein Gegenüber war jetzt doch leicht verunsichert und forderte schon wesentlich weniger barsch:

„Papiere … bitte!“

Aber das stellte sich als etwas schwierig heraus, denn mit den Handschellen konnte Papperin nicht in die Brusttasche seines Jacketts greifen. Nach ein paar vergeblichen Versuchen mit durchaus komisch wirkenden Verrenkungen erteilte der brigadier seinem Assistenten mit einer ungeduldigen Kopfbewegung den Befehl, die Brieftasche aus der Jacke zu ziehen. Als erstes sah er das Foto von Célestine, das zuoberst unter der Klarsichtfolie steckte. Er nahm es mit einem fachmännischen Blick und einem anerkennenden Schnalzen der Zunge zur Kenntnis und schaute Papperin mit einem durchaus achtungsvollen Blick an, gerade so, als wollte er sagen: „Die hätte ich auch gerne“. Als nächstes fischte er den Führerschein heraus, dann ein paar Kreditkarten und schließlich die carte d’identité und den Dienstausweis von Papperin. Er schaute ihn lange an und verglich immer wieder das Foto mit dem vor ihm sitzenden Original. „Da warst du noch viel jünger – auf dem Photo“, begann er. Dann zögerte er etwas, „Je m’excuse, mais …“. „Ist schon ok, die Situation war ja auch zu eindeutig“, entgegnete Papperin. „Ich heiße Jean-Luc.“ „Und ich Robert“, sagte der Gendarm und reichte ihm über den Tisch die Hand. Papperin ergriff sie – mit beiden Händen – denn seine Hände waren noch immer aneinander gefesselt.

Während sich diese Episode im Einsatzwagen der gendarmerie abspielte, war der Rettungswagen mit dem Notarzt angekommen. Als Papperin und der Einsatzleiter das Polizeifahrzeug verließen, sahen sie gerade noch, wie die Trage mit dem Verletzten in den Krankenwagen geschoben wurde. Der Notarzt kam zu ihnen und sagte kurz angebunden: „Nicht lebensgefährlich. Genaueres erst im Krankenhaus nach Röntgen und Ultraschall. Bringen ihn ins centre hospitalier de Brignoles“. Ohne Gruß drehte er sich um und stieg in das Rettungsauto, das mit Blaulicht, aber ohne Sirene abfuhr.

„Guy, hast du eine Aussage vom Opfer bekommen?“

Non, Chef, er war die ganze Zeit ohne Bewusstsein und hat nur ab und zu gestöhnt.“

„Und du, André, hast du was gefunden? Fußabdrücke? Andere Spuren? Die Tatwaffe?“

„Nein, noch nichts!“

„Gut, dann sehen wir uns noch einmal gründlich um. Jacques, hol die Stablampen aus dem Wagen.“

Ausgerüstet mit starken Handlampen suchten die drei Gendarmen das Gelände Meter für Meter ab, während Papperin und der Einsatzleiter ihnen an den Wagen gelehnt zuschauten. Nach etwa zehn Minuten kamen sie zum Wagen zurück. Einer von ihnen trug eine Eisenstange. Er hielt sie vorsichtig mit beiden Händen und mit zwei Papiertaschentüchern, um mögliche Spuren nicht zu zerstören.

„Die lag dort neben dem Ginsterbusch. Sonst haben wir nichts gefunden. Der Boden ist knochentrocken, da gibt es keine Spuren.“

„Kein Wunder, seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. Und dazu der Mistral!“

Es handelte sich um einen Metallpfosten, wie er zum Befestigen von Drahtzäunen verwendet wird, etwa 1 Meter 20 lang. Die grüne Farbe war schon stark verblasst und dort, wo sie abgeblättert war, kam brauner Rost zum Vorschein. Robert, der Chef der Brigade, hielt sie ins helle Licht der Autoscheinwerfer. „Das da ist Rost, eindeutig! Aber das hier, das könnte Blut sein.“

„Nur, hilft uns das weiter?“, warf Papperin ein. „Wenn das Blut ist, und ich glaube, da hast du recht, dann gibt es keinen Zweifel, es stammt vom Opfer – und das kennen wir ja – bzw. wir werden es im Krankenhaus kennen lernen. Über den Täter sagt es uns nichts.“

„Klugscheißer!“, dachte der Einsatzleiter. „Das weiß ich selber.“ Laut sagte er: „Wir werden das morgen von der Spurensicherung untersuchen lassen. Vielleicht finden die noch was Brauchbares, Fingerabdrücke, Hautschuppen, Textilfasern, was weiß ich. Jetzt sollten wir noch kurz ins Krankenhaus fahren und die Personalien des Mannes aufnehmen. Vielleicht ist er ja auch schon wieder bei Bewusstsein und wir können ihm ein paar Fragen stellen. Jacques und André, ihr sichert vorher noch den Tatort.“

Die beiden Gendarmen holten aus dem Polizeibus eine Rolle mit breitem Plastikband in den Farben der tricolore und der Aufschrift gendarmerie nationale. Sie rammten einige dünne Metallstangen in den trockenen Boden und umzäunten die Stelle, an der das Opfer gelegen hatte.

„Morgen früh sollen sich die Kollegen von der Spurensicherung hier noch mal umschauen, ich glaube aber nicht, dass sie etwas finden werden. So, und jetzt fahren wir. Kommst du mit?“, fragte er zu Papperin gewandt. Offensichtlich war ihm sein ruppiges Verhalten von vorhin doch etwas peinlich und er wollte es mit diesem Angebot etwas abschwächen. An sich widersprach es den polizeilichen Grundregeln, eine Privatperson in die Ermittlungen mit einzubeziehen. Papperin war für ihn lediglich Zeuge, der in keiner Weise einen Anspruch auf Mitarbeit bei der Polizeiarbeit hatte, auch wenn er tausendmal commissaire war. Außerdem war er von der anderen Truppe, der police judiciaire, und das hier war eindeutig ein Fall für die gendarmerie nationale. Aber trotzdem – irgendwie hatte er das Gefühl, dass es seiner Karriere nicht schaden könnte, wenn er dem fremden commissaire das Mitkommen anbot – allerdings tat er es mit einigem innerlichem Widerwillen.

* * *

Auf dem Weg zurück nach Brignoles, der souspréfecture im Haut Var, war Papperin in seinem Peugeot hinter dem Minibus der gendarmerie hergefahren. Sie parkten kurz nach 22 Uhr direkt vor der Notaufnahme des Krankenhauses. Eine Krankenschwester an der Rezeption, nach der Gesichtsform und der Hautfarbe offensichtlich aus dem Maghreb im nördlichen Afrika stammend, wollte gerade zu protestieren anfangen und sie lautstark belehren, dass man dort nicht parken dürfe. Durch den hohen Tresen des Empfangspultes war ihr der Blick auf die Auffahrt versperrt, so dass sie das Polizeiauto nur hören, aber nicht sehen konnte. Als sie die vier hereinstürmenden uniformierten Gendarmen erblickte, war ihr klar, dass bei so viel geballter Ordnungsmacht jeder Protest nutzlos sein würde. Trotzdem sagte sie höflich und in dem harten Dialekt der Maghrebiner: „Bitte parrken Sie etwas weiterr …“.

Mit herablassendem Blick und harschem Tonfall fiel ihr der brigadier ins Wort:

„Hier ist vor kurzem ein Verletzter vom SAMU eingeliefert worden. Wo ist er und wer ist der diensthabende Arzt?“ Nach einigem Hin und Her begriff die Schwester, wer gemeint war und schickte die Gendarmen in den dritten Stock zu Dr. Fouchue von der Unfallchirurgie. Dieser entpuppte sich als junger, redseliger Assistenzarzt. Er sprudelte sogleich los, dass er den Fall, der Patient hieß übrigens Ernst Manner und war deutscher Staatsangehöriger, sofort untersucht, die Wunden vorläufig versorgt und ihn in die Radiologie geschickt habe. Er sei gerade zurückgebracht worden und liege in einem Abstellraum, da das Haus völlig überfüllt sei, und sie keine regulären Betten mehr frei hätten. Jetzt warte er, Dr. Fouchue, auf den Bericht der radiologischen Abteilung. Er führte die Polizeibeamten in einen größeren Abstellraum, in dem in Wandregalen medizinische Geräte, Infusionsflaschen, Verbandmaterial, Bettflaschen und Bettpfannen und allerlei sonstige Dinge gelagert waren. Neben mehreren Rollstühlen und etlichen noch nicht ausgepackten Kartons lag in einem weiß lackierten Bettgestell der Verletzte. Er trug mehrere frische Verbände und war offensichtlich bei Bewusstsein, da er seinen Kopf zur sich öffnenden Tür drehte und die Hereinkommenden erstaunt anblickte. Neben ihm lagen auf einem Holzstuhl seine ordentlich zusammengelegten Kleider.

„Können wir mit ihm sprechen?“, fragte der sous-officier sous-officiergendarmerie