Titelbild
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Lesen was ich will!

www.lesen-was-ich-will.de

ISBN 978-3-492-97858-3

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Elena Schweitzer / Trevillion Images; Sarah Ann Loreth / Trevillion Images; FinePic®, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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DAS GESETZ DES PHÖNIX

1

Der Phönix beobachtet dich.
Er weiß alles.

2

Maschinen bringen Tod und Leid.
Niemals darfst du sie bauen.

3

Dunkelheit ist dein Feind.
Niemals darfst du dein Dorf bei Nacht verlassen.

Prolog

Da war das Dorf.

Und da war der Wald.

Etwas anderes gab es nicht.

Keine Welt außerhalb des Waldes.

Nur eine Welt innerhalb.

Der Wald war die Welt.

So waren wir aufgewachsen, so wurde es uns gesagt, wir hatten keinen Grund, an der Lehre des Phönix zu zweifeln.

Der Wald war die Welt.

Für jeden von uns.

Für jene, die auf den Feldern arbeiteten.

Für jene, die ein Handwerk ausübten.

Für jene, die auf die Jagd gingen.

Hier waren wir geboren worden, hier lebten wir, und hier würden wir auch sterben, so wie unsere Väter und Mütter vor uns und ihre Väter und Mütter vor ihnen.

Es war das Gesetz, und niemand durfte es ändern.

Denn dieses Gesetz hatte der Phönix erlassen.

Und der Phönix war über uns.

Und sah alles.

Novize Caleb Sully

Anwärter im Tempel des Feuers

BUCH I

DAS DORF

1

Sterne.

Solange sie zurückdenken konnte, hatten die glitzernden Lichter am Himmel Callista in ihren Bann gezogen.

Schon als kleines Mädchen hatte sie in klaren Winternächten hinaufgestarrt und sich gefragt, was jene winzigen, funkelnden Augen im Antlitz der Nacht bedeuten mochten. Und auch später, nachdem sie längst erfahren hatte, dass die Sterne nicht mehr waren als kleine Feuer am Firmament, hatten sie nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Callista liebte die Sterne – darum hatte sie sie als Motiv gewählt.

Ein um das andere Mal steckte sie die Nadel mit dem wollweißen Garn in das Leinengewebe, und wieder kam ein weiterer Stich hinzu. Jeweils vierundsechzig solcher in Kreuzform geführten Stiche formten einen Stern – und weit über einhundert Sterne hatte Callista bereits gestickt. Natürlich nicht nur an diesem Tag, sondern an ungezählten weiteren. Seit fast einem Jahr waren die Mädchen und Frauen von Moonvale mit der Herstellung des Wandteppichs befasst, der, wenn er einmal fertig sein würde, die Rückkehr des Phönix zeigte: Auf einer Fläche, die fünf Ellen lang war und ebenso breit, war zu sehen, wie der Phönix dem Großen Feuer entstieg und das von Sternen übersäte Firmament erklomm – jenen Sternen, an denen Callista arbeitete.

Tag für Tag.

Woche für Woche.

Mond für Mond.

Und sie konnte es nicht leiden.

Kreuzstiche, Plattstiche, Stielstiche und Spaltstiche – all das hatte Callista schon früh gelernt. Trotzdem fand sie es stumpfsinnig und eintönig, die Nadel wieder und wieder ins Leinen zu senken, nur um sie auf der anderen Seite wieder herauszuziehen. Zumal es im Dorf so viele andere Dinge zu tun gab, die Callista für weitaus wichtiger und sinnvoller hielt – Dinge freilich, die anderen vorbehalten waren, während Callista das tun und werden sollte, was auch ihre Mutter war und deren Mutter vor ihr: eine Bildwirkerin.

»Callista!«

Nicht die Stimme selbst, sondern das darauf folgende Kichern riss Callista aus ihren Gedanken.

Sie sah von ihrer Arbeit auf und blickte in das strenge Gesicht ihrer Mutter und der anderen Frauen, die um den langen Tisch versammelt saßen. Offenbar war sie schon mehrmals angesprochen worden, aber Callista hatte nicht reagiert. Wie so oft, wenn sie in ihren Gedanken versunken war …

»Wo hast du nur wieder deinen Kopf? Wir sprachen darüber, dass der Wandbehang in diesem Jahr ganz besonders schön werden wird – und Rohesia meinte, dass das ganz besonders dein Verdienst sei!«

»Deine Sterne«, fügte Rohesia Payne, die Frau des Dorfvorstehers Everard Payne, erklärend hinzu. Sie war nur wenig älter als Callistas Mutter, doch ihr Haar war bereits von Grau durchzogen. Rohesia war ebenso bekannt wie berüchtigt für ihre spitze Zunge und ihren Klatsch. Wollte man eine Neuigkeit in Moonvale verbreiten, brauchte man es nur Rohesia zu sagen – alles Weitere erledigte sich von selbst. »Sie sind wunderschön, Kind.«

»Da-danke«, erwiderte Callista ein wenig verdutzt. Es kam nicht so oft vor, dass sie ihrer Arbeit wegen gelobt wurde. Meistens hieß es, sie hätte schlampig oder zu hastig gestickt und ihre Stiche seien entsprechend unregelmäßig.

»Freust du dich, wenn der Graf uns besuchen kommt?«, erkundigte sich Margery, Rohesias jüngste Tochter, die erst vierzehn war, aber kaum weniger mitteilsam. Außerdem sah sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich: die rundliche Miene, die rosigen Wangen, die schmalen, listig funkelnden Augen. Sogar in der Haarfarbe schien Margery ihrer Mutter nachzueifern – ein blasses, fast weißes Blond lugte unter ihrer Haube hervor.

»Warum sollte ich?«, fragte Callista dagegen.

»Na ja, weil …«, begann Margery, unterbrach sich dann aber und wurde rot.

»Was Margery meint«, half Rohesia aus, nicht ohne ihrer vorlauten Tochter einen tadelnden Blick zuzuwerfen, »ist, dass du langsam das Alter erreicht hast, meine Liebe.«

»Das Alter?« Callista warf ihrer Mutter einen fragenden Blick zu. Deren Kopfschütteln sollte wohl bedeuten, dass sie nicht gewusst hatte, dass dieses Thema zur Sprache kommen würde …

»Nun – um verheiratet zu werden«, erläuterte Rohesia überflüssigerweise.

»Callista wird erst im kommenden Winter sechzehn«, stellte ihre Mutter klar.

»Und damit wird sie alt genug sein, um zu wählen«, beharrte Rohesia und wandte sich wieder Callista zu, ein tantenhaftes Lächeln im runden Gesicht. »Hast du denn schon einen Blick auf einen jungen Mann geworfen, meine Liebe?«, fragte sie unverblümt. »Ben etwa, der Sohn des Tischlers, ist zu einem stattlichen Burschen herangewachsen – und er ist genau in deinem Alter. Und auch mein Diggory freut sich sehr, wann immer er dich sieht …«

»Wie schön für ihn.« Callista rang sich ein Lächeln ab.

Das fehlt gerade noch, sagte sie sich. Diggory Payne ist ein Trottel, wie er im Buche steht. Er hat den Verstand einer Ameise und das Gemüt einer Spaltaxt. Wenn ich irgendwann heirate, dann ganz bestimmt nicht ihn …

»Natürlich möchte dich niemand drängen«, fuhr Rohesia unbeirrt fort. »Doch wenn du dich für Diggory entscheiden solltest, wäre es gewiss nicht zu deinem Schaden – und auch nicht zu dem deiner Familie«, fügte sie mit einem bedeutsamen Blick in Richtung von Callistas Mutter hinzu. »Unsere Familie verfügt über großen Einfluss im Dorf. Eine Verbindung mit ihr …«

»Wir wollen nichts überstürzen«, wandte Callistas Mutter ein, als sie die wachsende Panik in den Augen ihrer Tochter sah.

»Gewiss, meine Liebe.« Rohesia nickte. »Doch wir sollten nicht aus dem Blick verlieren, dass der Graf unser schönes Moonvale bereits sehr bald besuchen kommt – und was für eine Freude wäre es für ihn, wenn er in diesem Jahr zum Erntefest wieder Zeuge einer Vermählung werden dürfte!«

»In der Tat, das wäre es«, stimmten die anderen Frauen zu und nickten beifällig, was Callista dazu nötigte, ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick zuzuwerfen.

»Nun – kommt Zeit, kommt Rat«, sagte diese mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch zuließ, worauf die zwölf Frauen, die alle zugleich an dem Wandteppich arbeiteten, zustimmend nickten. Callista bedankte sich mit einem Lächeln.

Das Thema schien vorerst vom Tisch zu sein, trotzdem hatte Callista von Rohesias Reden genug, ebenso wie vom Sticken. Immer wieder blickte sie verstohlen zum Fenster und sehnte den Augenblick herbei, da die Sonne endlich hinter dem First des benachbarten Hauses versinken würde. So hoch wie im Sommer stand sie ohnehin nicht mehr, die Tage wurden bereits kürzer. Dennoch konnte Callista es kaum erwarten, bis die Glocke im Wachturm endlich schlug und das Ende des Tages einläutete. Alle, die außerhalb der Dorfmauern arbeiteten, würden dann zurückkehren – die Bauern und Feldarbeiter, die Schäfer und auch die Jäger …

Aber noch war es nicht so weit.

»Ich bin froh, dass das Bild rechtzeitig zur Erntefeier fertig wird«, begann Callistas Mutter wieder, wohl um das Thema zu wechseln. »Zwar ist es nur noch ein halber Mond, aber wir liegen gut in der Zeit. Der Graf wird sich über das Geschenk sicher freuen.«

»Sicher«, versetzte Rohesia Payne säuerlich. »Wenn es schon sonst nichts gibt, worüber er sich freuen kann.«

Das Schweigen, das daraufhin einsetzte, lastete schwer auf Callista. Denn was Rohesia tatsächlich meinte, war klar: Ganz egal, wie sehr sie sich bemühen mochten – im Vergleich mit einer Eheschließung, aus der neue Kinder und damit neue Arbeiter hervorgehen würden, war ein Wandbehang nur ein Trostpreis, der den Grafen erfreuen, aber nicht zufriedenstellen würde.

Und ich bin schuld daran, sagte sich Callista.

Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gefühl hatte – dabei gab sie sich wirklich Mühe! Sie hatte nicht widersprochen, als ihr Vater bestimmt hatte, dass sie wie ihre Mutter Bildwirkerin werden sollte, und obwohl sie es sterbenslangweilig fand, den ganzen Tag auf dem Stuhl zu sitzen und zu sticken, und es leid war, sich ständig mit der Nadel in den Finger zu stechen, tat sie von morgens bis abends nichts anderes, Tag für Tag. Und doch hatte sie immer den Eindruck, dass es nicht genügte.

Schon mein ganzes Leben lang …

Als die Glocke endlich zum Feierabend schlug, gab es kein Halten mehr. Callista legte Nadel und Garn beiseite und schickte sich an aufzustehen.

»Nanu?«, machte ihre Mutter und sah sie fragend an. »Wo wollen wir denn hin?«

»Hinaus zu den anderen«, gab Callista knapp bekannt. »Es ist Feierabend.«

»Wir sind noch nicht fertig.«

»Aber die Glocke schlägt!«

»Mein Kind.« Rohesia Payne lächelte in schlecht gespielter Nachsicht. »Die Arbeit ist nicht beendet, wenn die Glocke schlägt, sondern wenn sie getan ist.«

»Ich weiß, tut mir leid.« Callista hielt es kaum noch aus. Sie hatte das Gefühl, gleich zu platzen. »Darf ich trotzdem gehen? Bitte, Mutter …«

In den sanften Zügen ihrer Mutter war beides zu lesen – Unmut über Callistas Ungeduld, aber auch Verständnis. »Also gut«, erklärte sie sich schließlich einverstanden. »Aber sei vorsichtig, hörst du?«

»Ja, Kind«, stimmte Geva Fletcher, die Frau des Pfeilmachers, mit besorgter Miene zu. »Bleib bei den anderen und geh nicht in den Wald. Sei bei Anbruch der Dunkelheit zurück.«

»Natürlich, wie immer«, versicherte Callista – dann war sie schon auf dem Weg nach draußen.

Dass sie Rohesia Payne noch etwas von Disziplin sagen hörte und davon, dass einer jungen Frau ihres Alters bessere Manieren zu Gesicht stünden – geschenkt. Unter dem niederen Türsturz des Hauses, das sie zusammen mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder bewohnte, trat Callista nach draußen – und atmete zum ersten Mal an diesem Tag freie, frische Luft!

Gut, so ganz frisch war sie nicht – der Gerber hatte neues Leder hergestellt und zum Trocknen aufgehängt, und da seine Hütte genau wie die von Callistas Eltern am Dorfrand stand, drang der beißende Gestank direkt herüber. Und doch war alles besser, als weiter den Mief von Rohesia Payne ertragen zu müssen.

Wie kommt sie dazu, mich derart in Verlegenheit zu bringen? Mich vor allen zu fragen, ob ich ihren Sohn heiraten möchte, diesen groben, ungehobelten Klotz …

Zwar war es üblich, dass Hochzeiten von den Eltern arrangiert wurden. Und auch, dass Mütter dies untereinander regelten oder die Verbindung zumindest anbahnten, war nicht weiter ungewöhnlich; die Väter kamen meist erst dann ins Spiel, wenn es um das Geschäftliche ging und darum, die Mitgift auszuhandeln. Doch obwohl Callista wusste, dass sie das entsprechende Alter tatsächlich bald erreichen würde, konnte und wollte sie sich nicht vorstellen, jemanden zu heiraten, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten und für den sie noch nicht einmal etwas empfand. Außer einer gewissen Verachtung vielleicht …

»Cally«, sagte plötzlich jemand hinter ihr.

Callista, die darauf nicht gefasst gewesen war, fuhr herum. Ein zehnjähriger Junge mit flachsblondem Haar und Sommersprossen im Gesicht kauerte auf dem Boden und stocherte mit einem Ast in einem Kuhfladen.

»Na, Nervensäge?«, fragte Callista. Dies war Jona, ihr kleiner Bruder. Und obwohl sie ihn wirklich lieb hatte, war er manchmal genau das: eine Nervensäge …

»Wo gehst du hin?«, wollte er wissen.

»Hinaus aufs Feld. Zu Vater und den anderen.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Jungen. »Ich will mit«, erklärte er.

»Kann ich mir denken.« Sie nickte, während sie innerlich den Kopf schüttelte. Ihr kleiner Bruder war so ziemlich der Letzte, den sie im Wald brauchen konnte. »Aber das kommt nicht infrage. Mutter hat es nicht erlaubt.«

»Aber …«

»Tut mir leid«, lehnte Callista ab.

»Das ist gemein«, erklärte Jona. Er ließ den Kopf hängen und schmollte. Dabei verzog er das Gesicht, sodass sie schon fürchtete, er würde wieder in jenes fürchterliche Geschrei ausbrechen, das ihn manchmal überkam … Doch er schien sich im Griff zu haben und beließ es dabei, ihr die Zunge herauszustrecken, was sie kurzerhand erwiderte, ehe sie sich auf den Weg machte.

Auch wenn ihr Bruder aussehen mochte wie andere Zehnjährige – er war es nicht.

Schon als er noch sehr klein gewesen war, war offenbar geworden, dass Jona anders war. Anders als die übrigen Jungen und auch anders, als Callista in seinem Alter gewesen war.

Statt mit den anderen Kindern zu spielen, blieb er stets abseits und für sich; statt mit den anderen zu lachen, versank er lieber in stille Gedanken; statt mit anderen zu reden, sprach er lieber zu sich selbst; er blieb lieber zu Hause und malte Bilder oder bastelte kleine Gegenstände.

Und manchmal begann er ohne ersichtlichen Grund aus Leibeskräften zu schreien …

Lange hatten Callistas Eltern versucht, all dies vor dem Dorf geheim zu halten und so zu tun, als ob Jona ein Kind wie jedes andere wäre – bis vor zwei Wintern das Gegenteil offenkundig geworden war.

Denn in diesem Winter – Callista war damals dreizehn gewesen – hatte der kleine Jona ihnen allen das Dach über dem Kopf angezündet.

2

Dass sich das Haus, das Callista mit ihrer Familie bewohnte, am Rand des Dorfes befand, hatte einen guten Grund. Denn hier durchbrach ein Bach den hohen Palisadenzaun, der Moonvale umgab. Und da Callistas Vater Arnet der Schmied des Dorfes war und jederzeit in der Lage sein musste, einen Brand in der Schmiede zu löschen, ehe er auf andere Gebäude übergriff, hatte er sein Haus genau hier errichtet.

Heute allerdings arbeitete Callistas Vater nicht in seiner Werkstatt, ebenso wenig wie der Pfeilmacher, dem das nächste Haus an der Straße gehörte. Denn es war Erntezeit, und wer nicht dringend anderswo gebraucht wurde, der half draußen auf dem Feld dabei, das Getreide für den Winter einzubringen.

Zu gerne hätte auch Callista geholfen – wenigstens hätte sie dann das Gefühl gehabt, etwas Sinnvolles zu tun und einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten. Doch ihre Mutter bestand darauf, dass die Herstellung eines neuen Wandteppichs für den Grafen nicht minder wichtig wäre als das Einbringen der Ernte – auch wenn Callista dies stark bezweifelte.

Vorbei an den niedrigen, aus Holzbohlen errichteten Häusern ging sie zum Dorfplatz hinauf, wo der Hort des Feuers stand und der Turm, dessen Glocke noch immer läutete. Am Haus des Dorfvorstehers vorbei überquerte sie den kleinen Platz und verließ Moonvale durch das einzige Tor im Palisadenzaun. Es führte nach Südwesten, und so schienen die Strahlen der bereits tief stehenden Sonne geradewegs hindurch.

Die Dorfwiese und das Gemüsebeet ließ Callista hinter sich. Als sie sich den Feldern näherte, kamen ihr bereits die ersten Heimkehrer entgegen – Männer, Frauen und Kinder, die müde wirkten und gebeugt von den Mühen des Tages, aber auch zufrieden. Callista tat noch eine Weile lang so, als würde sie dem Pfad folgen, der am Brachland vorbei zu den Roggenfeldern führte – dann allerdings bog sie nach rechts in den Hohlweg ab, dem nahen Wald entgegen, der Moonvale und seine Felder wie ein dunkelgrüner Wall umgab. Wie immer, wenn sie sich den mächtigen Eiben und knorrigen Eichen näherte, beschleunigte sich ihr Herzschlag. An dem kleinen Teich, der sich auf halber Strecke befand, blieb sie kurz stehen und warf einen Blick auf die spiegelnde Oberfläche.

Die Gestalt, die in einem einfachen Kleid aus dunkelgrüner Wolle steckte, gefiel ihr nicht besonders. Es hatte bei Callista ohnehin ein wenig länger gedauert als bei den anderen Mädchen, bis sich die weiblichen Rundungen eingestellt hatten, und auch jetzt hielten sie sich in Grenzen. Sie kniff sich in die Wangen, um ein wenig mehr Farbe in ihr blasses Gesicht zu zaubern, und fuhr sich durch das gelockte kastanienbraune Haar, das offen über ihre Schultern fiel. Kritisch beäugte sie ihre Züge: die nunmehr geröteten Wangen, die kecke, vielleicht etwas zu spitze Nase, den kleinen Mund und die großen Augen.

Sah sie auch hübsch genug aus?

Nimm dich zusammen, sagte sie sich, und hör auf, dich wie ein aufgeschrecktes Huhn zu benehmen. Das ist unter deiner Würde!

Stattdessen warf sie ihrem Spiegelbild im Wasser des Weihers einen entschlossenen Blick zu und wollte ihren Weg fortsetzen – als jemand ihren Namen rief.

»Callista?«

Callista seufzte – Caleb Sully kam den Hohlweg herab auf sie zu. Novize Caleb, wie er hieß, seit er bei Meister Osgood in die Lehre ging, um wie er der Bruderschaft des Tempels beizutreten.

»Tut mir leid, Caleb«, rief Callista ihm schon von Weitem zu. »Ich habe keine Zeit für dich.«

»Musst du … auch nicht«, stieß Caleb hervor, während er eilig zu ihr aufschloss. Die Verpflegung bei Meister Osgood schien ihm gut zu munden – unter seiner wollenen Kutte, die noch immer seltsam fremd an ihm wirkte, zeichnete sich ein ziemliches Bäuchlein ab. Auch sonst hatte Caleb sich verändert – von seinem einstmals langen blonden Haar war nur ein bescheidener Zopf an seinem Hinterkopf geblieben, und sein Gesicht hatte eine Strenge angenommen, die für einen Jungen seines Alters unpassend schien. »Ich wollte dir nur sagen, dass … dass …«

»Dass was?«, verlangte Callista ungeduldig zu wissen, als er endlich keuchend bei ihr anlangte.

»Dass du dich vorsehen sollst«, brachte er endlich heraus.

»Ich weiß.« Callista winkte ab. »Ich werde nicht weit in den Wald gehen, nur ein kurzes Stück.«

»Das meine ich nicht … der Weiher«, ächzte Caleb.

»Was ist mit ihm?«

»Ich habe gesehen, wie du dein Spiegelbild betrachtet hast.«

»Und?«

»Du weißt doch, Eitelkeit ist eine Sünde«, erklärte Caleb und gab sich Mühe, dabei zu klingen wie Meister Osgood. »Der Phönix lehrt uns, dass wir uns nicht von äußerlichen Dingen blenden lassen sollen. Es kommt auf die inneren Werte an, auf die Kraft des Geistes.«

»Und?«, fragte Callista noch einmal.

»Und du solltest dich besser vorsehen.«

»Ich weiß schon. Der Phönix weiß alles. Und er bestraft jene, die sich nicht an die Gesetze halten und an die äußere Form klammern, an den schönen Schein. Denn er bedeutet nichts.«

Caleb lächelte. »So ist es.«

Callista legte den Kopf schief. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Du findest mich also schön?«

»Ja … das heißt nein«, erklärte Caleb stammelnd – seine gravitätische Würde war dahin. Er errötete und starrte zu Boden. »Ich meine, ich …«

Callista musste lachen – auch wenn Novize Caleb sich alle Mühe gab, ein guter Diener des Phönix zu werden, steckte doch noch viel vom alten Caleb Sully in ihm …

»Das war ein Scherz«, klärte sie ihn auf.

»Wirklich?« Er schien erleichtert.

»Aber ja. Ich weiß, dass du es gut meinst, Caleb, deshalb danke ich dir für deinen Rat. Und jetzt muss ich gehen.«

»Soll ich dich begleiten?«

Callista schnaubte – das fehlte noch!

»Nicht nötig«, versicherte sie deshalb schnell und hob abwehrend die Hände.

»Aber …«

»Ich bleibe am Waldrand, versprochen«, versicherte sie. »Ich will nur ein paar Kräuter sammeln, das ist keine Aufgabe für einen Novizen. Meister Osgood braucht dich sicher.«

»Ja«, erwiderte der bleiche Junge in der Ordenskutte zögernd. »Du hast wohl recht.«

»Leb wohl, Caleb!« Sie wollte weiter.

»Novize Caleb«, verbesserte er. »Und denke daran, Callista …«

»Der Phönix weiß alles.« Sie nickte, dann ging sie weiter.

Ob Caleb etwas ahnt?, fragte sie sich dabei. Nein, sicher nicht … Aber warum hat er dann so ausdrücklich gesagt, dass ich mich vorsehen soll?

Der Gedanke bedrückte Callista, den Sonnenstrahlen zum Trotz, die den Waldrand in goldenes Licht tauchten.

Vom Wohlwollen des Phönix hing alles ab. Seine Schwingen beschützten das Dorf, hielten Feinde und Unheil fern; anders als weiter entfernt gelegene Dörfer war Moonvale nicht von Krieg betroffen, und die Pest hatte schon viele Winter nicht mehr gewütet; auch die letzte Hungersnot lag lange zurück, und der Graf herrschte mit gerechter Hand. Moonvale war großes Glück beschieden, und es gab keinen Zweifel, dass dies einzig und allein dem Phönix zu verdanken war – und Callista wollte gewiss nicht schuld daran sein, dass er dem Dorf sein Wohlwollen entzog.

Furcht überkam sie, aber sie war nicht groß genug, um sie von ihrem Vorhaben abzuhalten. Da sie schon Zeit verloren hatte, nahm sie den Saum ihres Kleides in die Hand und begann zu laufen, hinein in das dunkle Grün des Waldes, dem geheimen Treffpunkt entgegen.

Und sie hoffte inständig, dass er dort auf sie warten würde.

3

Zielen …

Ganz ruhig hielt Lukans linke Hand den Bogen, während seine Rechte die Sehne langsam zurückzog, Stück für Stück im Bemühen, das Eibenholz nicht knarren zu lassen.

Die Hasenkatze, die vor ihm auf der von Abendlicht durchfluteten Lichtung kauerte, war rein zufällig aufgetaucht. Lukan hatte dort nur gewartet und eigentlich gar nicht vorgehabt, nochmals auf die Pirsch zu gehen. Aber eine Gelegenheit wie diese wollte er auch nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Sorgfältig visierte er das Tier an, das aufrecht im frischen Laub saß, die spitzen Lauscher aufgestellt, und schnüffelte. Die Entfernung betrug nur an die zehn Schritte, der Pfeil konnte gar nicht fehlgehen. Lukan triumphierte innerlich, und sein Magen freute sich schon auf den Braten, der ihm und dem alten Warden sicher munden würde – als es plötzlich im Gebüsch raschelte.

Die Hasenkatze schreckte auf und sprang davon, und der Pfeil, den Lukan noch auf den Weg brachte, ging fehl und bohrte sich mit dumpfem Schlag in eine abgestorbene Wurzel.

Lukan wollte eine Verwünschung ausstoßen, als er ein helles Kichern hörte. Und aus dem Gebüsch, in dem es zuvor geraschelt hatte, tauschte ein hübsches, lachendes Gesicht mit einem wirren kastanienbraunen Schopf darüber auf.

»Callista!«, ächzte er. »Warum hast du das getan?«

Callista lachte ausgelassen – teils über das dumme Gesicht, das Lukan machte. Aber auch vor Stolz darüber, dass es ihr gelungen war, sich so lautlos anzuschleichen, dass weder die Hasenkatze noch ihr Jäger es bemerkt hatte.

»Vielleicht, um dir zu beweisen, was ich schon alles gelernt habe?«, fragte sie keck dagegen.

»Das wäre mein Abendessen gewesen!«, beschwerte er sich.

»Dann iss was anderes. Gönn dem armen Kätzchen sein Leben!«

»Na schön.« Lukan nickte.

»Können wir dann?«, fragte Callista. Sie hielt es kaum noch aus vor Ungeduld.

»Na klar.« Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, den er auf dem Rücken trug, legte ihn auf die Sehne des Bogens und hielt ihr beides hin. »Bereit, wenn du es bist.«

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Hastig stieg sie aus dem Busch, in dem sie sich versteckt hatte, wobei einige Blätter an ihren Haaren und ihrem Kleid hängen blieben, und nahm den Bogen entgegen. Darauf hatte sie sich den ganzen Tag gefreut, während sie die Nadel ein um das andere Mal in den Stoff gesenkt hatte. Mit geübtem Griff legte sie den ledernen Armschutz an, den Lukan ihr reichte. Dann nahm sie breitbeinig Aufstellung, wie er es ihr gezeigt hatte, legte zwei Finger an die Sehne und hob dann den Bogen, wobei sie das glatte Eibenholz nach vorn drückte. Anfangs war sie zu schwach gewesen, um den Bogen zu spannen, der auf Lukans Kraft und Größe ausgerichtet war, aber inzwischen gelang es ihr, und sie liebte es, den Bogen in der Hand zu halten, die Kraft zu fühlen, die von Holz und Sehne ausging. So wie sie die tiefe Ruhe liebte, die sie dabei fühlte.

»Worauf zielst du?«, wollte Lukan wissen.

»Das Astloch dort oben, siehst du es?«

»Das kleine dort?«

»Genau das«, versicherte Callista grimmig, während sie weiter zielte – und den Pfeil von der Sehne schnellen ließ.

Im Bruchteil eines Augenblicks zuckte er durch die Luft – und bohrte sich mit lauten Pochen in das bezeichnete Astloch, wo er bebend stecken blieb.

»Na?«, fragte Callista lächelnd, während sie den Bogen wieder sinken ließ.

»Das war gut«, gab Lukan zu. »Aber triffst du auch ein Ziel, das ich bestimme?«

»Jedes«, versicherte sie.

»Da nimmt jemand den Mund aber ziemlich voll.«

»Du hast selbst gesagt, dass ich gut bin.«

»So gut nun auch wieder nicht«, versetzte er grinsend und sah sich auf der Waldlichtung um. »Der dünne Ast dort«, meinte er, während er einen weiteren Pfeil aus dem Köcher zog und ihn ihr reichte. »Wie wäre es damit?«

Statt etwas zu erwidern, nahm sie den Pfeil nur, legte ihn auf die Sehne und fasste das Ziel ins Auge. Es war listig gewählt, denn es befand sich weit über dem Boden, sodass sie steil hinauf zielen musste und dabei gleichzeitig die Flugbahn abschätzen, die der Pfeil nehmen würde – doch sie war sich sicher, dass sie es schaffen konnte.

Warte, Lukan, dachte sie. Gleich wirst du staunen …

Sie konzentrierte sich und zielte sorgfältig, hielt den Atem an – als es im Gebüsch neben ihr plötzlich raschelte. Der Pfeil, den sie trotzdem noch von der Sehne ließ, verfehlte den Ast und verschwand im grünen Nirgendwo.

»Oh«, machte Lukan. »Das war wohl nichts.«

Sie fuhr herum und sah das breite Grinsen in seinem Gesicht. »Du!«, platzte sie heraus. »Du hast mich abgelenkt! Absichtlich!«

»Nur ein bisschen«, wehrte er grinsend ab. »Im Wald raschelt es pausenlos irgendwo. Ein guter Bogenschütze muss immer die Ruhe bewahren, ganz gleich, was …«

»Na warte!« In gespieltem Zorn warf sie den Bogen weg und setzte auf ihn zu, und als hätte er schon damit gerechnet, fuhr er herum und ergriff die Flucht. In seinem Rock aus dunkelgrün gefärbtem Leder setzte er zwischen zwei Büschen hindurch. Callista folgte ihm auf dem Fuß – nur um verblüfft festzustellen, dass er verschwunden war. Vor ihr lag eine Lichtung, die von hohem Farn überwuchert war.

Von Lukan jedoch fehlte jede Spur.

»Lukan?«, fragte sie, während sie langsam weiterging. Der Farn, der sich sanft im Abendwind wiegte, reichte ihr bis zu den Hüften. »Ich weiß genau, dass du hier bist. Versuch gar nicht erst, dich zu verstecken.«

Sie sah sich um, aber alles blieb ruhig.

Kein Lukan – nur die grüne, dumpfe Stille des Waldes.

»Lukan?«, fragte sie noch einmal.

Sie bekam keine Antwort – und leise Furcht ergriff von ihr Besitz. All die Geschichten, die man über den Wald erzählte und mit denen man die kleinen Kinder davon abhielt, sich auch nur in seine Nähe zu wagen, waren plötzlich wieder gegenwärtig.

Geschichten von riesigen Schlangen.

Von hungrigen Wolfsbären.

Von giftigen Spinnen.

Vor allem aber von …

Callista zuckte zusammen, als sie im dichten Farn gegen etwas stieß. Und plötzlich – sie wusste nicht, wie ihr geschah – wurde sie von etwas gepackt und zu Boden gerissen.

Ein spitzer Schrei entfuhr ihr noch, dann lag sie schon im dichten Farn – und über ihr erschien das lachende, von dunkelblondem Haar umrahmte Gesicht, das sie so gut leiden mochte …

»Lukan Tallamach!«, sagte sie trotzdem streng. »Du bist der hinterhältigste, gemeinste …«

»Du hast geschrien«, fiel er ihr ins Wort.

»Natürlich, du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Tut mir leid«, erwiderte er, und obwohl er noch immer lächelte, klang es ehrlich. »Ich konnte nicht widerstehen.«

»Trottel«, zischte Callista – und musste dabei selbst lachen. Die Furcht, die sie eben noch verspürt hatte, kam ihr jetzt albern vor, und es war ihr peinlich.

Lukan entgegnete nichts, sondern schaute sie nur an. Sie erwiderte seinen Blick, sah in sein ebenmäßiges, vom langen Sommer gebräuntes Gesicht und in die eisengrauen Augen, die sie daraus betrachteten. Sie kannte jede Einzelheit darin – die Grübchen um seinen Mund, wenn er so lachte wie jetzt, und die kleine Narbe an seinem Kinn. Sie konnte seinen Atem spüren und seine Nähe, und als stünden sie beide unter einem magischen Bann, bewegten sich ihre Münder aufeinander zu …

»Lukan, ich …«, flüsterte Callista.

»Ich weiß«, erwiderte er.

»Wir dürfen nicht …«

Ihre Lippen begegneten sich. Es war kein Kuss, nur ein sanftes, zaghaftes Berühren, als würde man von einem verbotenen Getränk nippen. Aber es genügte, um Callista wohlig erschauern zu lassen. Und sie wollte mehr.

Im hohen Farn liegend, der sie wie ein dichter Wald umgab, sahen sie einander an. Zu sprechen brauchten sie nicht, um einander zu verstehen, das war schon immer so gewesen – und vielleicht wäre im nächsten Moment geschehen, was sie einander bislang stets versagt hatten – wäre nicht eine raue Stimme zu vernehmen gewesen, die den Zauber jäh beendete.

»Lukan? Bist du da? Verdammt, Junge, wo steckst du?«

»Warden«, zischte Lukan erschrocken. Mit einem warnenden Blick gab er Callista zu verstehen, sich still zu verhalten – dann stand er auf.

»Ich bin hier, Meister«, rief er.

»Verdammt Junge, was treibst du dich da im Farn herum?«

»Ich habe beim Üben einen Pfeil verloren, aber ich kann ihn nicht mehr finden«, erwiderte Lukan und verließ das Farnmeer. Dadurch bewegten sich die großen Blätter ein wenig, sodass Callista einen Blick auf den Mann erheischen konnte, der am Rand der Lichtung aufgetaucht war.

Er war kräftig und an die fünfzig Winter alt. Wie Lukan trug auch er grünes Jagdzeug und einen Köcher, und in seinen groben, behaarten Händen lag ein Bogen. Sein Gesicht war wettergegerbt, das graue Haar und der Bart kurz geschnitten. Seine Nase hatte etwas von einem Falkenschnabel, und sein Blick war wach und stechend – dies war Warden, der Jäger des Dorfes. Lukan ging bei ihm in die Lehre, aber eigentlich war der alte Waidmann noch sehr viel mehr für ihn. Denn nach dem Tod von Lukans Eltern, die einem Rudel Wolfsbären zum Opfer gefallen waren, hatte Warden ihn in sein Haus aufgenommen und ihn an Vaters statt erzogen. Und eines Tages würde Lukan wohl der neue Jäger von Moonvale werden …

»Wo hast du deinen Bogen?«, wollte Warden wissen.

»Dort drüben.« Lukan eilte zu der Stelle, wo Callista den Bogen hatte fallen lassen.

»Und?«, hörte sie Warden fragen. »Hattest du Glück?«

»Nein«, musste Lukan zugeben. »Da war eine Hasenkatze, aber ich habe sie verfehlt.«

»Verfehlt? Du?«

»Ein Versehen«, erklärte Lukan verlegen.

»Verstehe. Jetzt komm, ehe es dunkel wird. Sie läuten die Glocke schon zum zweiten Mal. Bald schließen sie das Tor.«

»Ja, Meister.«

Damit entfernten sie sich.

Callista blieb noch lange genug in ihrem Versteck, um ganz sicherzugehen, dass der alte Jäger sie nicht sehen konnte. Dann sprang sie rasch auf und trat eilig den Weg nach Hause an. Die Dämmerung hatte inzwischen eingesetzt, und die Dunkelheit brach über den Wald herein.

Und in der Nacht, das wusste jedes Kind in Moonvale, durfte sich niemand im Wald aufhalten.

Denn die Dunkelheit war der Feind.

4

Als das letzte Licht des Tages erlosch, verstummte die Glocke im Turm. Das Tor wurde geschlossen und der schwere Riegel vorgeschoben, und während in den Hütten von Moonvale Feuer entfacht und Talgkerzen entzündet wurden, um die Dunkelheit zu vertreiben, versanken der Wald und das Umland in finsterer Nacht.

Zum Nachtmahl versammelte sich Callistas Familie um den großen Tisch, der im Wohnraum des Hauses stand und den Tag über als Arbeitsplatz für das Stickwerk diente. Es gab Brot und Käse, dazu frische Milch von der Ziege, die auf der kleinen Wiese neben dem Haus graste.

»Möge der Phönix stets seine Schwingen über dieses Dorf Moonvale und seine Bewohner breiten und sie vor Krieg, Seuche und Hunger bewahren«, sprach ihr Vater den Segen, dann schnitt er ein Stück Brot ab und warf es in die Flammen, die in der Feuerstelle züngelten – das traditionelle Opfer für den Phönix.

Unwillkürlich musste Callista an Caleb denken. Wenn der Phönix tatsächlich alles sah, was sich unter den Sterblichen ereignete, dann war er wohl nicht sehr erfreut gewesen über das, was Lukan und sie heute getan hatten. Zwar war eigentlich gar nichts geschehen – doch wäre in jenem Moment nicht der alte Warden aufgetaucht, wäre es geschehen. Und dieser Gedanke bedrückte Callista.

Sie kannte Lukan, solange sie zurückdenken konnte. In der ältesten Erinnerung, die sie an ihn hatte, zog er sie an den Zöpfen. Das lag, so schien es, eine Ewigkeit zurück. In den Jahren darauf waren sie einander immer wieder über den Weg gelaufen, was sich in einem Dorf, in dem gerade einmal zweihundert Menschen lebten, nicht vermeiden ließ. Und dann, während des Erntefests vor einem Jahr, hatte sie ihn plötzlich mit anderen Augen gesehen.

»Und?«, fragte ihr Vater, ein großer, breitschultriger Mann mit gutmütigem Gesicht und pechschwarzem Haar und Bart, während er das Brot aufschnitt und jedem eine Scheibe reichte. »Wie war dein Tag, Callista?«

»Ganz gut.« Sie nickte, doch der skeptische Blick im bärtigen Gesicht ihres Vaters sagte ihr, dass er sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben würde.

Vermutlich hat er bereits mit Mutter gesprochen – und sie hat ihm wohl von Rohesia Payne und ihren Plänen erzählt …

Ihr Vater schien hungrig zu sein von der Arbeit auf dem Feld, deshalb aß er zunächst und holte sich noch eine zweite Portion Brot und Käse. Dann allerdings schien sein Appetit gestillt, und der Blick seiner dunklen Augen ruhte wieder auf Callista. »Deine Mutter erzählte mir etwas von einer Unterhaltung, die ihr heute geführt habt …«

Callista nickte.

Nun ist es so weit …

»Es war Rohesia«, rückte sie zögernd heraus. »Sie meinte, ich solle mir langsam Gedanken über meine Zukunft machen.«

»Hm«, machte ihr Vater zwischen zwei Schlucken Milch. Mit dem Handrücken wischte er sich den Bart. »Und tust du das?«

»Es ist noch zu früh dafür«, sprang ihre Mutter ihr von der anderen Seite des Tisches bei. »Callista ist erst fünfzehn.«

»Doch nicht mehr lange, und sie wird im heiratsfähigen Alter sein«, hielt ihr Vater dagegen. »Ich kann Rohesias Ansinnen durchaus verstehen. Zumal wenn sie dabei an ihren Sohn denkt.«

»Diggory ist ein Trottel«, platzte Callista heraus – worauf Jona, der ebenfalls mit am Tisch saß, in schallendes Gelächter ausbrach. Von ihrer Mutter kam ein tadelnder Blick. »Entschuldigt«, sagte Callista daraufhin und blickte schuldbewusst auf das Brot, das sie vor sich liegen und erst zur Hälfte aufgegessen hatte. Sie hatte keinen Appetit mehr.

»Es muss ja nicht Diggory sein, wenn du ihn absolut nicht leiden magst«, räumte ihr Vater ein. »Obwohl eine Verbindung mit der Familie von Everard Payne …«

»Nun klingst du wie Rohesia«, warf ihre Mutter ein. Callista verspürte tiefe Dankbarkeit.

»Ich meine ja nur«, verteidigte sich ihr Vater. Trotz seiner hünenhaften Statur und der kräftigen Muskeln an seinen Oberarmen wirkte der Schmied von Moonvale plötzlich eher hilflos. »Es wird Zeit, dass Callista sich Gedanken über diese Dinge macht. Darüber, wie sie sich in das Gemeinwesen einbringen will.«

Ich werde Jägerin, dachte Callista in einem Reflex – laut auszusprechen wagte sie es nicht.

Das Leben in Moonvale war nicht zuletzt deshalb so friedlich, weil es für alles Regeln gab. Und eine dieser Regeln besagte, dass es Arbeiten für Frauen gab und solche für Männer. Einem Mann wäre es niemals in den Sinn gekommen, die Arbeit einer Frau zu verrichten, und umgekehrt. Der Phönix selbst hatte diese Regel erlassen, was bedeutete, dass sie in Stein gemeißelt war …

»Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte ihre Mutter, und Callista erwiderte das wohlwollende Lächeln, das sie ihr schenkte. Wohl war ihr dabei dennoch nicht. Zwar hatte sie keine Vorstellung davon, wie sie ihre Zukunft gestalten wollte, aber dafür eine ziemlich genaue davon, was sie nicht wollte: ihr Leben lang Sterne sticken und die Frau eines Dummkopfs sein …

»Trottel«, echote Callistas Bruder und grinste breit vor sich hin. Das Wort schien ihm zu gefallen, denn im Handumdrehen machte er einen Gesang daraus: »Trottel Trottel Trottel …«

Ihr Vater seufzte. »Da siehst du, was du angerichtet hast«, stöhnte er. »So geht es nun die ganze Zeit.«

»Trottel Trottel Trottel«, echote Jona wie zur Bestätigung. Callista musste lachen und ihre Mutter ebenfalls.

»Ihr haltet das für komisch?«, fragte ihr Vater entnervt.

»Tro-Tro-Trottel.«

»Hör auf damit, Jonathan«, verlangte ihr Vater.

»Trooottel. Trooo…«

»Ich sagte, du sollst aufhören!« Die mächtige Rechte, die es gewohnt war, den schweren Schmiedehammer zu führen, schlug zur Faust geballt auf den Tisch. Es krachte so laut, dass Callista und ihre Mutter zusammenzuckten – noch schlimmer war es für Jona. Der Junge erschrak so sehr, dass er schlagartig erbleichte. Die blauen Augen weit aufgerissen, starrte er seinen Vater an – um im nächsten Moment die Hände auf die Ohren zu pressen und in gellendes Geschrei auszubrechen.

»Hör auf!«, schrie der Vater mit Donnerstimme – doch Jona schrie weiter. Mehr noch, er schien seinen Vater gar nicht mehr wahrzunehmen. Der Blick seiner Augen schien geradewegs durch ihn hindurchzugehen, als befände er sich in seiner ganz eigenen Welt und sähe Dinge, die nur dort existierten.

Callista kannte diesen Blick nur zu gut.

Es war derselbe Blick, den Jona immer hatte, wenn er wie von Sinnen schrie. Derselbe Blick, den er auch gehabt hatte, als er vor zwei Wintern das Haus angezündet hatte, vermutlich mit Feuer aus der noch glühenden Esse.

Derselbe Blick.

Derselbe Irrsinn …

Auch ihr Vater schien es zu bemerken, denn er sprang auf und packte den Jungen an der Schulter, schüttelte ihn, während Jona immer weiterschrie. »Hör auf! Hör endlich auf!«

Aber Jona hörte nicht auf. Er konnte es wohl auch gar nicht, denn er war jetzt ganz in seiner Welt gefangen.

Entsetzt sah Callista, wie ihr Vater ausholte, um ihn zu schlagen – dass es nicht dazu kam, war ihrer Mutter zu verdanken. »Nein!«, rief sie entschieden und fiel ihm in den Arm, und indem sie Jona packte und ihn schützend an sich zog, versuchte sie gleichzeitig, sein Geschrei zu dämpfen.

»Aber er … er …«

»Er kann nichts dafür«, versicherte ihre Mutter, während sie dem Jungen tröstend über das blonde Haar strich. »Es ist nicht seine Schuld.«

»Ich weiß das«, erwiderte ihr Vater hilflos. Trotz seiner ganzen respektgebietenden Gestalt erschien er plötzlich klein und hilflos. »Es ist nur …« Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf und strich sich über das bärtige Kinn. »Es muss aufhören, verstehst du? Er muss damit aufhören, oder …«

Wieder verstummte er und sprach nicht weiter.

»Ich muss noch nach den Tieren sehen«, erklärte er plötzlich und ging hinaus – Callista war klar, dass dies nicht der wahre Grund war. Vermutlich, dachte sie, hielt er das Geschrei einfach nicht mehr aus. Oder er schämte sich einfach zu sehr dafür, dass er einen wehrlosen Jungen hatte schlagen wollen.

Gewöhnlich war ihr Vater nicht so … Trotz seiner Größe und seiner Kraft war er ein sanftmütiger Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tat. So aufgebracht hatte Callista ihn noch selten erlebt, und sie konnte sich nicht entsinnen, dass er jemals zuvor derart die Beherrschung verloren hätte.

Jona war bereits leiser geworden. Wie ein Kleinkind klammerte er sich an seine Mutter, die beschwichtigend auf ihn einsprach. Und endlich beruhigte der Junge sich wieder. Er schmiegte sich an sie, und nichts deutete mehr darauf hin, dass er eben noch wie von Sinnen geschrien hatte. Irgendwann machte er sich von ihr los, griff unter sein wollendes Hemd und zog etwas hervor, das er ihr reichte.

»Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Geschenk«, verriet er stolz.

»Für mich?«

Er nickte, und sie betrachtete es näher.

Es war ein kleines Stück Holz, an dem mit ungelenker Hand geschnitzt worden war. Ein Schnabel war zu erkennen und mit etwas gutem Willen noch Flügel, die wie zum Flug gespreizt waren – was genau es sein sollte, konnte Callista jedoch nicht erkennen, und auch ihre Mutter hatte damit wohl einige Schwierigkeiten. Dennoch schloss sie den Jungen abermals in ihre Arme und küsste ihn auf die Stirn.

»Ich danke dir«, sagte sie. »Das ist ein schönes Geschenk.«

»Erkennst du es?«, fragte er.

»Nun – es ist ein Tier, nicht wahr?«

Jona nickte.

»Ein Vogel?«

Er schüttelte den Kopf.

»Eine Kuh vielleicht?«

Er kicherte. »Nein.«

»Oder eine Ziege? Eine Schlange womöglich?«

Er warf den Kopf zurück und schien sich ausschütten zu wollen vor Lachen. »Aber nein«, prustete er. »Du sagst alles falsch.«

»Dann sag mir, was es ist.«

»Siehst du das denn nicht?« Aus seinen leuchtend blauen Augen blickte er sie lange und durchdringend an. Dann lachte er abermals. »Das ist doch der Phönix!«