Andreas Pflüger

NIEMALS

Roman

Suhrkamp

Für die Eine

Glück macht uns blind

Aber Schmerz lässt uns sehen

ROM
vor zehn Jahren

Sie hat sich den Mann, für den sie vielleicht sterben muss, größer vorgestellt. Als sie aus dem Grand Hyatt Berlin in den Nieselregen tritt, sieht sie ihn an dem James-Dean-Porsche lehnen, im Gesicht ein Lächeln wie eine Postkarte aus dem Süden. Sie geht auf ihn zu, weiß, dass er sie küssen wird. Seine Lippen sind kühl auf ihrer Wange. Er riecht nach einer scharfen Rasur und Selbstvertrauen, das kein Aftershave braucht. Allein die Sekunde, die er sie länger als nötig im Arm hält, verrät seine Überraschung, wie schön sie ist. Das genügt ihr als Kompliment.

Lässig, dass man meinen könnte, es sei eine Spritztour, fährt er zum Flughafen, und sie reden wie zwei, die sich seit Wochen nicht gesehen haben, weil sie beide wahnsinnig beschäftigt sind und sie in Rotterdam lebt. Für einen Iren ist sein Deutsch beeindruckend. Und der Charme, mit dem er an den Umlauten scheitert, macht es perfekt. Er nennt sie Sarah, wie es ihre Legende verlangt; den Namen Jenny Aaron hat er nie gehört.

Sie wissen, dass jedes Wort aufgezeichnet wird.

Aaron erzählt von einem Businesslunch mit einer vielversprechenden Berliner Bildhauerin, die sie für ihr Internet-Auktionshaus gewinnen möchte. Als sie den Checkpoint Charlie passieren und er sie von einem Freund grüßt, Benjamin, der es schade gefunden habe, dass sie gestern Abend noch nicht in der Stadt gewesen sei, zieht sie die Lippen nach und checkt im Spiegel, ob sie verfolgt werden.

7er BMW. Zwei Männer. Ziemlich dicht dran.

Auf der Kochstraße beschleunigt der Porsche.

»Liebling, fahr bitte langsamer, ich habe Kopfschmerzen.«

»Tut mir leid, Darling.«

Beruhigt sieht sie, dass der BMW überholt.

Gähnend lässt er fallen, dass er erst um eins ins Bett kam, fünf Stunden bis zum Wecker, ein Whiskey zu viel, woran natürlich Benjamin schuld gewesen sei; heute endlose Meetings, er fühle sich wie ein Boxer in der elften Runde. Nur dass seine gletschergrauen Augen glänzen, als sei er nach fünfzig Bahnen entspannt aus einem Pool gestiegen.

Aaron könnte wetten, dass er besser geschlafen hat als sie.

Dabei hätte Leon Keyes allen Grund, Angst zu haben.

Mit Mitte dreißig war er bereits Partner in der führenden Anwaltssozietät Dublins. Er wollte mehr. Keyes ging nach Singapur und lernte, wie man Geld druckt. Als er sich mit einer Wirtschaftskanzlei in Berlin niederließ, hatte er längst ein Vermögen gemacht.

Er ist Junggeselle, joggt jeden Morgen drei Runden um den Grunewaldsee, reißt in einem Glaspalast in der Friedrichstraße achtzig Wochenstunden ab, schätzt Linguini mit Salsiccia beim besten Italiener am Gendarmenmarkt und hatte keine Ahnung, dass seine sämtlichen Telefone vom BKA abgehört wurden.

Man war dahintergekommen, dass er Schwarzgeld von Mandanten in Offshore-Gesellschaften auf Antigua versteckt hatte. In einem solchen Fall gibt es zwei Optionen – Festnahme oder das, was man auf dem Wiesbadener Neroberg unter einem soliden Investment versteht: abwarten und darauf setzen, dass ein smarter Kerl wie Keyes einen Termin mit einem der Top-Spieler in seinen Kalender einträgt.

Ende Juni war Zahltag. Er bekam einen Anruf aus Italien. Und der Name des Mannes, der sich dort mit ihm treffen wollte, war so groß, dass der BKA-Präsident sich sofort einen Termin beim Bundesinnenminister geben ließ.

Matteo Varga.

Capo dei Capi der Camorra. Auf den Fahndungslisten von einem Dutzend Länder.

Er lud Leon Keyes übers Wochenende nach Rom ein, um ein Geschäft mit ihm zu besprechen.

Näheres unter vier Augen.

Natürlich wusste Keyes, mit wem er es zu tun hatte. Es spricht für ihn, dass er sich Bedenkzeit ausbat. Wenig später kreuzten BKA-Fahnder in der Friedrichstraße auf und machten ihm klar, dass sein bisheriges Leben vorbei war. Der Bleistift, den Keyes in der Hand hielt, zerbrach. Eine größere Gefühlsregung gestattete er sich nicht.

Als sie hinter dem Platz der Luftbrücke auf die Stadtautobahn fahren, überprüft Aaron erneut das Make-up. Im Schminkspiegel sieht sie, dass ihnen kein Auto folgt. Aber das heißt nichts.

Keyes hält sich akkurat ans Tempolimit, und sie gibt sich begeistert, als er sagt: »Du wolltest doch die Rolling Stones einmal live sehen. Nächsten Freitag sind sie in der Waldbühne; ich kriege Backstage-Karten.«

Damit zeigt er, dass er ihre Beziehungslegende intus hat. Wie sie sich kennengelernt haben. (Eine Cocktailbar in Berlin, letztes Jahr.) Ob es ihn stört, dass sie raucht? (Gefällt ihm.) Welche Filme sie mögen. (Hitchcock, Scorsese, Fincher.) Wo sie die Woche Urlaub verbrachten. (Palm Island, Grenadinen.) Gemeinsame Freunde. (Drei.) Wie nah sie sich stehen. (So nah wie zwei, für die Arbeit besser als Sex ist.) Mag sie Opern? (Nein.) War sie schon einmal in Rom? (Oft; sie liebt alles, was aus Licht ist.) Wie ihr Rotterdamer Penthouse mit Blick über den Hafen eingerichtet ist. (Bauhaus.) Schläft sie nackt? (Pyjama.)

Einiges mehr; aber nicht zu viel, sonst verzettelt man sich. Das meiste ist nah an der Wahrheit. Eine komplett fiktive Legende lebt nicht, wirkt ausgedacht.

Aaron splittet ihren Arbeitsspeicher in einen Teil, der ständig die Umgebung scannt und jedes Auto analysiert, einen, der sich scheinbar entspannt mit Keyes unterhält, und einen dritten, der noch einmal sein Dossier memoriert.

Das BKA servierte ihm die Quittung für die kleinen Schweinereien auf Antigua. Entweder er würde mit ihnen zusammenarbeiten oder in U-Haft kommen.

Keyes entschied sich, seinen Porsche vorerst zu behalten.

In Rom empfing Varga ihn in seiner Stadtvilla und sagte, dass er ins deutsche Gas-Geschäft einsteigen will; ein Joint Venture mit der russischen Danilowskaja-Mafia, die es übernimmt, Manager von Gazprom gefügig zu machen. Varga benötigte einen »Priester«, der Kontakt zu den richtigen Leuten herstellt. Keyes’ Kanzlei sichert die Deutschland-Investments von Gazprom ab; er kennt jeden, der für Varga und die Danilowskaja wichtig ist.

Dreimal war er seitdem in der italienischen Hauptstadt, einmal in Neapel. Er lieferte dem BKA Informationen wie am Fließband. Zuletzt erfuhren sie, dass Varga im Oktober nach Norilsk fliegen will, um den Deal mit dem Oberhaupt der Danilowskaja zu besiegeln. Das teilten sie über ihren Moskauer Verbindungsbeamten mit dem russischen Geheimdienst FSB. Prompt wurde dort ein Haftbefehl ausgefertigt.

Alles lief wie am Schnürchen.

Bis BKA-Fahnder vor zwei Wochen einen Lolli in Keyes’ Porsche fanden, eine Wanze, die nicht von ihnen war.

Varga.

Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder hatte er sein Hündchen an der kurzen Leine. Oder er witterte etwas. Die Hündchen-Theorie gefiel Wiesbaden viel besser.

Am folgenden Tag lud Varga Keyes zum vierten Mal ein.

Wieder nach Rom. Für heute.

Aaron las die Abschrift des Telefongesprächs. »Ein zwangloses Abendessen im kleinen Kreis«, sagte Varga. »Bringen Sie Ihre Frau oder Ihre Freundin mit – wenn Sie nicht schwul sind.«

Zwar steht es nicht in der Akte, doch Aaron weiß, worüber sie sich beim BKA die Köpfe zerbrachen.

Seitdem sie die Wanze entdeckt hatten, konnten sie nicht ausschließen, dass der Capo wusste, wem das Hündchen das Stöckchen brachte. Dann wäre Rom Keyes’ Todesurteil. Aber für den Fall, dass Varga ahnungslos war, wäre eine Absage fatal. Er würde argwöhnisch werden und nicht nach Sibirien fliegen.

Sie mussten Keyes in Rom schützen. Nur wie? Ohne offizielles Ersuchen bei den Italienern konnte das BKA dort nicht hin. Und abgesehen davon, dass die Erfolgsaussicht dafür gleich null wäre, würde die Information geradewegs bei Varga landen.

Dem BKA-Präsidenten gingen die Optionen aus.

Damit kam die Abteilung ins Spiel.

Sie gehört nicht zum BKA, steht für sich; die kleinste und geheimste Organisation der Bundesrepublik. Vierzig Männer und eine Frau übernehmen Aufträge, die für alle anderen zu heikel sind. Wie Aarons Chef Lissek zu sagen pflegt: »Wir sind die Bad Bank der deutschen Polizei.«

BKA-Präsident Palmer machte mit ihm einen langen Spaziergang an der Spree. Natürlich inoffiziell, notfalls könnte Palmer sich dumm stellen.

Lissek nahm es sportlich. Aber zur Sicherheit zeichnete er das Gespräch auf, wie er später zum Besten gab.

Da Keyes vor jedem Treffen mit dem Capo nach Waffen abgetastet wird, muss ihn jemand begleiten, der selbst die Waffe ist.

Aaron.

Auf der Stadtautobahn lädt sie Vargas Dossier in ihren Arbeitsspeicher. Das Dossier, das sie auswendig kennt, weil das Leben von Leon Keyes davon abhängen kann.

Und ihr eigenes.

Varga fängt in seinem Camorra-Clan als Laufbursche an und kämpft sich aus den Quartieri Spagnoli von Neapel kaltblütig an die Spitze. Anfangs lebt er wie sein Vorgänger vom Waffenhandel. Dann spezialisiert er sich auf ein Geschäft, das noch profitabler und zudem risikoärmer ist: die Beseitigung von Giftmüll. Über Strohmänner gründet er Reedereien, deren Schiffe unter Flaggen wie Liberia, Tonga oder Tuvalu fahren. Multinationale Konzerne lassen von Varga Altpestizide, Chemieabfälle, Asbest und radioaktiven Schlamm entsorgen und wollen nicht wissen, wo der Dreck landet. Nachdem ihm sogar Operettenregime die Fracht nicht mehr abnehmen, geht Varga dazu über, zig Schiffe auf den Weltmeeren zu versenken. Er kassiert für die Passage und die fingierte Entsorgung und streicht zu guter Letzt die Versicherungssumme ein. Die Umweltkatastrophen scheren ihn einen Fliegenschiss.

Letztes Jahr gefiel es Varga, einen Frachter bei Helgoland absaufen zu lassen und dabei eine Wasserfläche zu verseuchen, die größer als Thüringen war. Dass auch die Russen ihn haben wollen, ist verständlich. Die Chemiekatastrophe in der Beringstraße, die man Varga zu verdanken hatte, ist gerade zwei Jahre her.

Es gab mehrere europäische Auslieferungsgesuche gegen ihn, doch Zeugen verschwanden auf mysteriöse Weise oder hatten tödliche Unfälle. Obwohl gemutmaßt wird, dass Varga Schiffe seiner Flotte vor der Riviera in den Grund gebohrt hat, schweigt die italienische Regierung es tot. Würde es an die Öffentlichkeit dringen, wäre das der Super-Gau für den Badetourismus einer der idyllischsten Regionen des Landes. Varga kontrolliert zwei Baukonzerne, die dort einen Hotelkomplex nach dem anderen hochziehen. Ein früherer Justizminister ist im Aufsichtsrat. Der italienische Ministerpräsident zeigt sich mit Varga beim Essen.

Varga ist unantastbar.

Sie sind auf dem Zubringer zum Flughafen. In dem silbernen, makellos restaurierten 356 Speedster riecht Aaron das Lederfett der Sitze. Sie klopft eine Marlboro aus dem Etui und entjungfert den Aschenbecher. Das ist ein Sakrileg. Aber Leon Keyes lächelt und sagt mit diesem leisen Kratzen in der Stimme, das sie so an Männern mag: »Das hat immer gefehlt.«

Sie stellt sich vor, er würde sie nach ihrer Telefonnummer fragen. Aaron wettet, dass er sie auf die schneeweiße Sonnenblende kritzeln würde.

In Schönefeld steigen sie in Vargas Jet. Zwei Stunden erzählen sie sich in cremefarbenen Sesseln aus Saffianleder Geschichten, an denen kein wahres Wort ist, und trinken stilles Wasser aus Kristallgläsern, in denen Eiswürfel klirren.

Keyes hat mit dem BKA in jeder Weise kooperiert. Er begab sich in die Hände eines Mannes, der Mordaufträge erteilt, als ob er jemanden zum Konditor schickt. Er ist ein Informant wie aus dem Lehrbuch.

Aber die ganze Zeit denkt Aaron: Was verschweigst du?

Rom-Fiumicino ist eine Dusche in gleißendem Licht. Auf dem Vorfeld sieht sie Vargas Chauffeur an einem Daimler lehnen. Sie peilt über den Daumen zwei Zentner, die gute Pflege haben. Als er Aaron die Reisetasche abnehmen will, rutscht sie ihr vermeintlich aus der Hand, und er fängt sie fünf Zentimeter über dem Boden.

Neben der Autobahn werfen Felder Falten wie hingeschmissene Badelaken von Riesen. Gras dorrt in der Sonne. Der Sommer war lang, und jetzt, Mitte September, ist jeder Stein ausgeglüht. Die Klimaanlage der Luxuslimousine kühlt Aarons erstes Adrenalin. Noch zupft es nur an den Herzwänden. Aber sie ahnt bereits, was dahinter lauert.

Manche Städte sind plötzlich da, springen in die Frontscheibe wie Hongkong oder New York. Rom tupft Villen und antike Ruinen hin, ehe Sozialsiedlungen in die Landschaft wuchern und der Wagen schließlich über Boulevards gleitet, die von schattigen Pinien gesäumt werden, Aarons Lieblingsbäumen.

Sie hört Pavliks Stimme aus dem Ohrknopf. »Hallo, Schöne.«

Fricke muss selbstverständlich seinen Senf dazugeben. »Heißer Fummel. Zwanzig Euro, dass Keyes gleich kalt duscht.«

»Euer Chauffeur wird im Zoo schon vermisst«, sagt Nowak.

Ein leises Giggeln verrät ihr, dass auch Vesper online ist. Er bleibt stumm wie meistens. Als er mal fünf Worte aneinandergereiht hatte, riefen sie ihm tagelang »Schwätzer« hinterher.

Diese Männer bilden mit Aaron das Team. Bei der Abteilung nennen sie das ein »kleines Besteck«. Die anderen sind mit zwei Autos vorab angereist; wegen der Waffen konnten sie kein Flugzeug nehmen. Pavlik ist der Präzisionsschütze und hat sich ein ruhiges Plätzchen gesucht, wo er Vargas Villa im Visier hat. Er wird längst in Stellung liegen, muss die Witterung beobachten, sich mit Windgeschwindigkeit und Thermik vertraut machen. Sie weiß, wo er ist, und lächelt unwillkürlich.

Vor drei Tagen haben sie über den hochauflösenden Bildern eines BND-Satelliten gebrütet, bis Pavlik auf einen Punkt gedeutet hat. »Hey, du bist nicht als Tourist da«, hat Fricke gefrotzelt.

Pavlik gab sich beleidigt. »Du gönnst mir auch gar nichts.«

Knapp dreihundert Meter sind es von dort bis zur Villa. Keine Spanne für ihn. Sie hatten eine Drohne erwogen, um den Garten im Auge zu haben. Aber das Risiko, dass sie entdeckt wird, ist zu groß. Außerdem wird das Essen im Haus stattfinden. Keyes zufolge hasst Varga Hitze und hält sich fast immer drinnen auf, wo die Temperatur konstant zwanzig Grad beträgt.

In einem Nebengebäude sind vermutlich acht Sherpas. Vielleicht zehn. Varga will seine Ruhe haben und legt Wert darauf, dass die Bodyguards unsichtbar bleiben.

Kein Grund, sich zu entspannen. Zwei oder drei seiner besten Männer werden heute Abend in Schlagdistanz sein.

»Wir machen es Old School«, sagte Pavlik.

Das Esszimmer befindet sich an der Straßenseite. Zwei Fenster liegen in der offenen Schussbahn, die anderen werden von Zypressen verdeckt. Aber das können sie vernachlässigen, denn von Keyes wissen sie, dass Varga stets am linken Stirnende der großen Tafel sitzt, wo Pavlik ihn problemlos ausmachen kann. Er verwendet selbstgegossene Spezialmunition mit einem Kern aus Wolframcarbid, um zur Not durchs Panzerglas zu schießen und Varga zu eliminieren. Diese alte Regel kannte bereits Mark Aurel: Wenn du eine Armee besiegen willst, töte den Anführer.

Der Rest ist Aarons Sache.

Links wuchtet sich der Petersdom in ihr Blickfeld, wie immer unerwartet, obwohl ihre Augen ihn gesucht haben. An dem Palast, der nur gebaut wurde, um den Menschen einzuschüchtern und kleinzumachen, ist nichts verspielt, die Kuppel wie aus einer anderen Welt; ein vor fünfhundert Jahren gelandetes Ufo, das jeden Moment abheben könnte.

Die Via del Gianicolo schmiegt sich an die alte Aurelianische Stadtmauer. Sie fahren durch den antiken Torbogen des Hotels Gran Sasso Rome und sind in einer Oase, wo selbst die knallgelben Blüten der Mahonien, die von Sprinklern befeuchtet werden, nach Geld riechen.

Varga erwartet sie um acht. Sie haben noch zwei Stunden, ihr Chauffeur wird sie wieder abholen. Der Manager bringt sie persönlich zu der Suite im zweiten Stock. Aaron lässt sich alle Räume zeigen und aktiviert unbemerkt den Funksensor unter ihrer Gürtelschnalle. Sollten irgendwo Kameras versteckt sein, wird er das Transmittersignal orten und vibrieren.

Nichts.

Als der Manager gegangen ist, klagt sie, dass die Kopfschmerzen sie umbringen und sie sich hinlegen möchte. Aaron nimmt den Bug-Detector aus der Reisetasche. Schweigend sieht Keyes zu, wie sie Wände und Möbel scannt.

Unter einem Beistelltisch im Living Room registriert das Gerät eine schwache Energiequelle.

Ein Lolli.

Verdammt.

Aaron überprüft beide Schlafzimmer und die Bäder.

Zwei weitere Lollis.

Verdammt, verdammt.

Sie wechselt auf die riesige Terrasse.

Clean.

Aaron gibt Keyes einen Wink. Er kommt zu ihr raus und zieht die Schiebetür leise zu.

»Das muss nichts zu bedeuten haben«, sagt er.

»Ja, wie ein geplatzter Motorradreifen bei Tempo zweihundert oder eine scharfe Atombombe.«

»Er ist vorsichtig.«

»Ich auch.«

»Wollen Sie abbrechen?«

»Aber sicher.«

»Varga hätte mich in Berlin töten lassen können. Dafür muss er mich nicht nach Rom einfliegen.«

»Vielleicht macht es ihm Spaß, dabei zuzusehen.«

»So einer ist er nicht.«

»Was wissen Sie schon von ihm.«

»Menschenkenntnis.«

»Das letzte Wort eines Missionars in Papua-Neuguinea.«

Er zuckt die Achseln. »Meine Mutter hat immer gesagt: ›Why is six scared of seven? Because seven ate nine.‹«

Aaron mustert Keyes. Es geht um sein Leben. Sie serviert ihm einen Ausstieg auf dem Silbertablett. Und er ist bereit, ein solches Wagnis einzugehen?

»Varga hat mir eine Geschichte erzählt«, sagt er, »über seinen Bruder und ihn. Sie sind sehr eng, obwohl der Bruder nichts mit seinen Geschäften zu tun haben will. Er ist Arzt in Neapel. Sie telefonieren jede Woche und sehen sich oft. Varga ist der Pate seiner beiden Töchter. Trotzdem lässt er die Telefone des Bruders seit Jahren abhören. Er meinte: ›Es tut ihm nicht weh, wenn ich ruhig schlafe.‹«

Keyes geht zu der kleinen Terrassenbar, schraubt einen zwanzig Jahre alten Whiskey auf und schaut sie an. Sie schüttelt den Kopf. Während er sich einschenkt, geht ihr Blick hinunter zum Pool, wo Kinder juchzend versuchen, die Sonne nasszuspritzen. Aaron greift in die Tasche ihres Kleides und nimmt ein winziges braunes Pflaster aus einer Plastikschatulle, ein künstliches Muttermal. Sie klebt das Mikro unters Kinn und entfernt sich einige Schritte, so dass Keyes nicht mithören kann.

»Bin online.«

»Gefolgt ist euch keiner«, murmelt Pavlik. »Aber war ja klar.«

»Wo ist der Fahrer?«

»Dreht Däumchen in der Tiefgarage«, meldet Vesper.

»Schwätzer«, sagt Nowak wie aus der Pistole geschossen.

Ohne den Kopf zu bewegen, gestattet Aaron ihren Augen einen Ausflug zu einem Apartmentkomplex aus den Sechzigern, der hinter der Aurelianischen Mauer hochragt.

Der Logistiker der Abteilung wollte das Team neben der Suite unterbringen, die Varga im Gran Sasso für seine Gäste reservieren ließ. Doch das Hotel ist ausgebucht, darum mussten sie mit dieser Lösung vorliebnehmen. Nur Vesper ist im Haus, unten in dem Transporter mit den schwarzen Scheiben.

»Der Leberfleck macht mich ganz wuschig«, sagt Fricke.

»Sind die Zimmer gecheckt?« will Pavlik wissen.

»Ja.«

»Und?«

Keyes nippt an seinem Drink und beobachtet sie. Aaron sieht über ziegelrote Dächer zum Petersdom. Das Kuppelkreuz flimmert wie eine Luftspiegelung.

Pavlik würde sofort den Rückzug befehlen, wenn sie ihm von den Lollis erzählte. Sie weiß nicht, was sie davon abhält. Aber sie hat gelernt, ihrem Instinkt zu vertrauen.

Sagt: »Clean.«

Fühlt sich elend bei dieser Lüge.

»Gut«, hört sie seine tiefe Stimme, »wir ziehen es durch.«

»Bin off.« Sie legt das Mikro wieder in die Schatulle.

Keyes geht zu ihr. »Also bleibt es dabei?«

»Ja.«

Er dreht seinen Oxford-Siegelring. Streicht sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. Für eine Sekunde denkt Aaron, er wolle sie küssen.

Stattdessen fragt Keyes: »Haben Sie schon einmal einen Menschen getötet?«

Sie schweigt. Aus der Bahn geworfen.

Aber nicht durch die Frage.

Aaron erinnert sich, was ihr Vater im alten Steinbruch sagte, als sie zwölf Jahre alt war: »Töten ist einfach.«

Das stimmt.

Sie besitzt den dritten Dan in Karate. Sie kann es mit den Händen, mit der Pistole, dem Messer, dem Bügel einer Sonnenbrille, einer Zigarettenschachtel und, falls es nötig sein sollte, mit dem hübschen Schal von Hermès, den sie nachher tragen wird; den Schal, in den eine Klaviersaite eingewebt ist.

Aber auch der Folgesatz ist wahr: »Nur leicht ist es nicht.«

»Warum interessiert Sie das?«

»Weil Sie so jung sind.« Keyes zögert. »Und mein Leben unter Umständen von Ihnen abhängt.«

»Nicht, wenn Sie mit Varga recht haben.«

»Ich könnte mich irren. So wie an dem Morgen, an dem ich in die Firma ging und dachte, meine Welt wäre in Ordnung. Dann haben sich drei Kollegen von Ihnen in meine Sessel gefläzt und mir erklärt, dass ich nur noch ein Lakai bin.«

»Soll ich pusten?«

»Würden Sie für mich sterben?«

»Ich bin im Bad.«

Was verschweigst du mir?

Ehe sie duscht, macht sie einen Spagat, legt dabei den Oberkörper flach auf die Terrakottafliesen, dehnt sich, umfasst ihre Zehenspitzen, kommt hoch, drückt sich in den einarmigen Handstand, kippt langsam den Rumpf, bis sie waagerecht über dem Boden schwebt, verdreht ihn, um mit den Fingern eine Ferse zu berühren, steigt wieder in die vertikale Position und richtet sich mit einer Brücke rückwärts auf. Das wiederholt sie fünf Mal, ohne einen Schweißtropfen zu produzieren.

Danach stellt sie sich vor den Spiegel und sagt lautlos: »Wenn du nur gelernt hast, deinen Körper zu beherrschen, hast du gar nichts gelernt.«

Um Viertel nach sieben betritt sie den Living Room. Sie trägt schwarze Leggins, darüber eine cremefarbene Bluse mit tiefem Ausschnitt, den Schal, Ballerinas und den Leberfleck.

Keyes blättert auf dem Sofa in einer Zeitschrift. Er blickt auf. »Sind deine Kopfschmerzen besser, Darling?«

»Etwas.«

»Lass uns noch einen Drink nehmen.«

Sie wechseln auf die Terrasse.

»Die Schuhe gehen nicht«, sagt er.

»Warum?«

»Varga und ich haben bei Grappa und Zigarren darüber geredet, was wir an Frauen mögen. Er ist in den Schlachthöfen von Neapel aufgewachsen. Ich habe mich seinem Geschmack angepasst, um Nähe zu erzeugen. Er denkt, dass ich auf hohe Absätze stehe, wie seiner Meinung nach jeder gesunde Mann. Sorry, mir ist klar, dass Sie in den flachen Schuhen beweglicher sind. Aber heute Abend müssen Sie die Frau sein, auf die ich in Vargas Augen scharf bin.«

Er verschwindet in seinem Schlafzimmer und kehrt zurück. »Ich habe mir erlaubt, die Hotelboutique aufzusuchen.«

Aaron mustert die knallroten High Heels, die an seinem Zeigefinger baumeln. Zanotti, Stilettos. In ihrem Ohrknopf pfeift Fricke durch die Zähne. Sie zeigt der anderen Straßenseite einen diskreten Stinkefinger und zieht die Pumps an. Keyes hat ihre Größe perfekt taxiert. Mit den zusätzlichen elf Zentimetern ist sie über eins neunzig, einen halben Kopf größer als er. Das muss ein Mann aushalten.

Doch Keyes grinst. »Sie dürften nie andere Schuhe tragen.«

Aaron bewegt die Knöchel, neigt den Oberkörper nach links, rechts, macht ein Hohlkreuz, hebt die Sohlen an, balanciert auf den Pfennigabsätzen. Das genügt.

»Ich wette, Sie könnten damit sprinten«, murmelt er.

Hoffentlich muss ich das nicht.

»Rufen Sie den Chauffeur«, versetzt sie.

»Es ist noch eine halbe Stunde Zeit.«

»Wir machen einen kleinen Abstecher.«

Vargas Villa liegt im Südosten, links des Flusses, aber sie möchte, dass sie zum Gianicolo fahren, dem Hügel, der sich diesseits über die Stadt erhebt. Fricke, Nowak und Vesper folgen ihnen. Halten Funkstille. Es gibt vieles, was Aaron an diesen Männern schätzt, nicht zuletzt, dass sie ein Gefühl dafür haben, wann sie sich konzentrieren muss, nicht abgelenkt werden darf.

Die Passeggiata del Gianicolo schlängelt sich in Serpentinen bergan. Aaron lässt ihr Fenster herunter und saugt den Duft der Pinien ein, deren Kronen über die Straße fächern.

Zum ersten Mal spürt sie, dass Keyes angespannt ist.

Weil er nicht sicher ist, ob ich die Signale verstanden habe.

Oben umrunden sie das Garibaldi-Denkmal. Aarons schwarze Haare wirbeln aus dem Fenster. Ein Schwarm weißer Vögel wechselt abrupt die Richtung wie Rauch im Wind. Das dichte Grün öffnet sich zu einem Rondell, und sie sind an der Fontana dell’Acqua Paola.

Aaron bittet den Fahrer anzuhalten und steigt mit Keyes aus. Wie immer vermeidet sie zunächst den Blick nach links, schaut stattdessen zu dem barocken Triumphbogen aus Marmor. Glitzerwasser schießt aus den Adlerköpfen ins Brunnenbecken. Ein Himmel aus ewigem Blau, das der Abend schon dunkel färbt.

Sie geht über die Straße zu der steinernen Brüstung. Unter ihr liegt die Stadt. Ockerfarbene Häuser purzeln hinab zum Tiber. Aaron sucht das Pantheon und ergötzt sich an der vollkommenen Geometrie. Sie stellt sich vor, dass sie im Innern steht, direkt unter dem großen Auge, dem Opaion, im letzten Licht badet.

Neben ihr spricht Keyes minutenlang kein Wort. Sie ist ihm dankbar, dass er es nicht versaut. Aaron blickt über die sieben Hügel bis zu den Albaner Bergen, auf deren Kamm eine schneeweiße Wolkenbank liegt wie Baiser auf einem Kuchen. Sie denkt an Keyes’ Lächeln. Die Härchen an ihren Armen kitzeln.

Aaron legt eine Hand unter das Kinn und deckt das Mikro mit dem Daumen ab. »Wir sind unter uns. Ich höre.«

»Sie sind eine gute Psychologin.«

»Menschenkenntnis.«

»Keine Angst, dass ich Kannibale bin?«

»An mir beißen Sie sich die Zähne aus.«

»Varga hat einen Tresor.«

»Wie aufregend.«

»Darin ist ein Dossier mit den Namen aller europäischer Politiker, die auf seiner Lohnliste stehen.«

Die Härchen kitzeln noch ein bisschen mehr.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil er vor meiner Nase damit herumgewedelt und geprahlt hat, dass er jeden kaufen kann.«

»Sie kennen die Kombination nicht.«

»Doch. Tu ich.«

Drei Worte. Klingen wie ein einziges: Jackpot.

»Wo im Haus?« fragt sie.

»Kommt drauf an, was Sie mir zu bieten haben.«

»Was verlangen Sie?«

»Straffreiheit. Ich will mein Leben zurück.«

»Ich bin keine Staatsanwältin.«

»Ich weiß nicht, für wen Sie tätig sind. Sicher ist es nicht das BKA, das würde sich diesen Abstecher nach Rom nicht trauen. Es muss eine Organisation sein, die noch höher angesiedelt ist. Ich bin wichtig. Und Sie auch. Sonst hätte man Ihnen den Auftrag nicht anvertraut. In meiner Lage wird man genügsam. Mir reicht Ihr Wort, sich für mich einzusetzen.«

Sie hört das Rauschen der Stadt, ein Flugzeug, das unsichtbar durch den Himmel flüstert.

Ihr Blut in den Schläfen.

»Wo seid ihr?« fragt Pavlik leise.

»Sie machen Sightseeing«, sagt Fricke.

»Es ist ein umfangreiches Dossier«, schiebt Keyes hinterher.

Aaron schaut ihn an. Seine Augen sind nicht mehr grau, sondern schwarz wie eine Winterwolke über dem Opaion des Pantheons. Das Senken ihres Kopfes um fünf Grad hält als Nicken her. »Wo?«

»Im Arbeitszimmer, hinter einer antiken Karte von Rom.«

»Wie sieht der Tresor aus?«

»Ungefähr sechzig mal vierzig Zentimeter. Beige. Ziffernfeld. Links ist ein rotes Wappen eingeprägt.«

Ein Duke & Pendleton.

»Und die Kombination?«

»Eins-neun-eins-acht-drei-null.«

»Woher kennen Sie die?«

»Ich stand in der Tür, als er sie eingab.«

»So fahrlässig wäre er nicht.«

»Varga hatte keine Ahnung, dass ich dort war. Ich bin von der Toilette gekommen, er hat mich nicht gesehen. Ich bin zurückgeschlichen und habe die Toilettentür laut geschlossen. Zu diesem lächerlichen Mann hat das BKA mich gemacht.«

»Können wir?« fragt Fricke.

Sie kreuzen den Tiber auf der Ponte Sublicio, folgen der Uferstraße in Richtung Nordosten und biegen am Circus Maximus ab. Ein Drachen hat sich losgerissen und taumelt über das große sandige Oval. Zwei Hunde jagen einen zerbissenen Ball, als Gladiatoren verkleidete Bettler zählen die Tageskasse. Der Daimler fährt an der Arena entlang, im selben Tempo wie die Wagenlenker vor zweitausend Jahren, damals ein atemberaubendes Spektakel, heute Zuckeln hinter Touristenbussen, bis sich rechts ein Tor öffnet. Die zweigeschossige Villa ist im antiken römischen Stil erbaut. Ein Haus in Mayfair wäre günstiger zu haben als diese Immobilie.

Der Chauffeur öffnet Aarons Wagenschlag. Ehe das Tor sich schließt, erhascht sie einen Blick über den Circus hoch zum Palatin mit den Ruinen der Kaiserpaläste. Dort weiß sie Pavlik. Er liegt, von Büschen geschützt, in einer Kuhle neben dem Eingang der Höhle, in der die Wölfin der Sage nach Romulus und Remus gesäugt hat. Aaron hat ihn vor Augen, lang ausgestreckt, reglos, den Schaft des Gewehrs an die Schulter gepresst, ein Puls wie ein Schlafender.

Zweihundertneunzig Meter.

Normalerweise arbeitet Pavlik auf eine solche Entfernung mit seinem alten Mauser; die panzerbrechende Munition erfordert jedoch die höhere Mündungsgeschwindigkeit des Steyr HS. Das Standardmodell ist ein Einzellader, aber er hat die Waffe modifiziert und ein Kastenmagazin eingebaut. Wenn es leer ist, kann Pavlik es in zwei Sekunden gegen ein neues austauschen. Er ist in der Lage, die Villenfenster in ein Fliegengitter zu verwandeln.

Die anderen drei postieren sich in der Nähe. Drinnen können sie nicht eingreifen. Im Ernstfall muss Aaron es mit Leon Keyes bis auf die Straße schaffen. Fricke, Nowak und Vesper sind ihr Rettungsteam.

Pavlik sieht sie im Zielfernrohr in vierundzwanzigfacher Vergrößerung. »Hab dich«, flüstert er.

Jetzt sind sie zu dritt Vargas Gäste.

Aaron, Keyes und Pavliks Gewehr.

Der Chauffeur sagt: »È permesso.«

Er tastet Keyes ab. Aaron könnte keine Waffe am Körper verstecken, dazu ist ihre Kleidung zu figurbetont. Ein kurzer Rock wäre eine Alternative zu den Leggins gewesen, eine kleine Pistole an der Innenseite ihres Oberschenkels. Doch das macht den Gang unrund, darum entschied sie sich dagegen.

Sie öffnet die Handtasche. Smartphone, Dupont, Zigarettenetui, Schminkutensilien.

»Grazie.«

Sie gehen ins Haus. Aaron ist überrascht, wie geschmackvoll das Vestibül eingerichtet ist. Heller Stein, Art-déco-Kommode, dazu passende Wandlampen. Seidentapete mit Lilienmotiv; guter Innenarchitekt.

Varga walzt die Treppe runter, ein Mann wie ein roh behauener Fels. Alles an ihm ist viereckig, sogar das Gesicht, in dessen Poren sich Ameisen verstecken könnten; ein Mund, als sei er mit dem Stemmeisen aus dem Schädel gebrochen worden.

»Leon, che bello.« Die Worte poltern heraus wie Geröll.

»Hallo, Matteo.«

Varga wendet sich Aaron zu. Er küsst ihre Hand auf die billige Weise, die fetten Lippen sind feucht. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim.«

Auf sein gutes Englisch war sie vorbereitet. Als Varga in seinem Clan zum »Kapitän« ernannt worden war, sandte ihn der Capo zur Fortbildung nach New York, wo ein Ableger der Sippe ihm zeigte, wie man Gewerkschaften kontrolliert. Später wechselte Varga nach Las Vegas ins Casinogeschäft und blieb sieben Jahre dort. Er heiratete eine Kellnerin aus Phoenix, weil die Familie erwartet, dass ein Mann sich mit vierzig ausgetobt hat. Die Frau floh nach sechs Monaten vor ihm, kam aber nur bis L.A., wo man ihre Leiche in einem Abwasserkanal fand. Varga kehrte nach Neapel zurück und blies das Gehirn des alten Capo in die Spiegel eines Bordells. Er heiratete ein weiteres Mal, eine kampanische Schönheit, doch sie verließ ihn und überlebte es, weil der Clan ihres Vaters beinahe so mächtig war wie der von Varga. Dass er als geschiedener Mann an jedem Sonntag, den er in Rom ist, in der Basilica Clemente die Sakramente empfängt, beantwortet die Frage nach seinen Beziehungen zum Vatikan.

»Entschuldigung, dürfte ich kurz – ?« fragt Aaron.

»Natürlich.« Varga deutet auf eine Tür.

Aaron geht auf die Gästetoilette. Steht still. Schließt die Augen. Fünf Räume im Erdgeschoss. Die Küche befindet sich links vom Vestibül, rechts ist der Gang zum Esszimmer. Dort gibt es drei Flügeltüren. Sie führen zur Terrasse, dem Wohn- und dem Pokerzimmer und einem Raum, in dem Keyes noch nie war. Im oberen Stockwerk sind zwei Bäder, drei Schlafzimmer sowie ein Raum, dessen Funktion Keyes ebenfalls unbekannt ist.

Und Vargas Arbeitszimmer.

Sie kann es vom Esstisch in dreißig Sekunden erreichen, ohne zu hetzen. Weitere zehn braucht sie, um die Tür, sollte sie kein Sicherheitsschloss besitzen, mit einer Haarklammer zu öffnen. Fünfzehn für den Tresor. Vierzig, bis sie wieder an der Tafel ist.

Fünfundneunzig Sekunden. Machbar.

Sie betätigt die Toilettenspülung, lässt Wasser laufen, geht zu den anderen zurück.

»Vieni qui.« Varga umfasst die Wespentaille einer bestimmt dreißig Jahre jüngeren getufften Blondine, von der Aaron flugs vermessen wird. Die Frau schmeißt ihr einen Blick vor die Füße: Meiner!

Varga stellt sie nicht vor, sie ist nur eine hübsche Tischdekoration. Die beiden Männer, die sich zu ihnen gesellen, bezeichnet er als Freunde, »Sandrone« und »Vincenzo«. Sandrone ist bullig und hat schon einiges eingesteckt, wovon die Boxerohren zeugen. Zwar lassen seine Hüften erkennen, dass er nicht austrainiert ist, doch er kann einen Kampf jederzeit mit einem einzigen Schlag beenden. Den anderen, Vincenzo, nimmt Aaron in Augenschein, während sie ins Esszimmer wechseln. Sein lässiger Gang zeigt, dass er weiß, wie gut er ist. Das offene schwarze Hemd ist tailliert, darunter bildet sich ein perfekter Latissimus ab. Sneakers mit weichen Sohlen, Filigrantechniker.

Sie betritt das Zimmer.

»Überraschung«, flüstert Pavlik. »Smile.«

Zwei Hausmädchen räumen Gedecke vom Tisch.

»Wir essen draußen«, sagt Varga.

Aaron wird kalt. Garten und Terrasse liegen an der Rückseite hinter hohen Mauern, die mit Laser gesichert sind. Während sie mit dem Zwerchfell atmet, lächelt sie. »Wie schön, im September.« Sie will den anderen folgen.

»Warten Sie, das wird Ihnen gefallen.«

Nach kurzem Zögern tritt sie neben Varga ans Fenster. Keyes wurde eingetrichtert, sich nie mehr als zwei Schritte von ihr zu entfernen. Er folgt ihr, sie schauen raus. Der Palatin schimmert im Abendrot, als sei er mit japanischem Lack überzogen. Aaron weiß, dass Pavlik sie groß im Visier hat. Auch wenn es ihr unendlich schwerfällt, gibt sie ihrem Gesicht einen bewundernd staunenden Ausdruck.

»Nimm, was du hast«, raunt er in ihr Ohr.

Vincenzo und Sandrone stehen hinter ihr in der Terrassentür; sie sieht ihr Spiegelbild im Fensterglas. Sieben Meter. Sie könnten Pistolen deponiert haben. Was hat sie? Den Schal. Auf dem Tisch einen Obstteller mit Messer.

Ich haue Keyes die Beine weg, er rutscht unter den Tisch. Vincenzo ist der Gefährlichere, das Messer ist für seinen Hals. Varga stranguliere ich mit dem Schal und drehe mich mit ihm als Schutzschild. Pavlik knackt das Panzerglas mit Punktfeuer. Er erledigt Sandrone. Gibt es irgendwo Kameras?

Wie schnell können Vargas Sherpas hier sein?

»Sie sehen direkt auf den Palast des Augustus«, sagt er neben Aaron. »Von allen Cäsaren war er der Klügste, und er hatte Humor. Ein neuer Kommandant seiner Leibgarde war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Augustus rief: ›Du, war deine Mutter Dienerin bei meinem Vater?‹ Der Mann erwiderte: ›Nein. Aber mein Vater gehörte deiner Mutter als Sklave – bis sie ihm seine Freiheit geschenkt hat.‹« Varga lacht.

»Wie zeigte sich der Humor von Augustus?« fragt Keyes.

»Er ließ ihn nicht töten, sondern als Sklave verkaufen.«

Oleander, Mimosen und Bougainvilleen sind verwelkt, doch in einem großen offenen Gewächshaus stehen Tigerlilien und fluten den Garten mit ihrem Duft. Aaron ist er so unangenehm wie ein nuttiges Parfüm. Sie weiß, warum Varga diese Blumen liebt. Die Lilie ist das Zeichen seines Clans, das Symbol seiner Macht.

»Mögen Sie Lilien?« fragt er.

»Ich muss dabei an Beerdigungen denken.«

Er lächelt. »Ich auch.«

Vincenzo und Sandrone setzen sich rechts und links an die Tafel, der Capo lässt sich gegenüber von Aaron und Keyes hinplumpsen. Ein Diener serviert Wein. Mitte fünfzig, dürr, Echsenhals. Manchmal ist ein Diener nur ein Diener.

Varga krempelt die Hemdsärmel hoch. Seine Unterarme sind dick wie Abflussrohre. Er betatscht Blondies Bein. »Was wissen Sie von meinem Geschäft, Sarah?« fragt er, zuzelt eine Olive und spuckt den Kern auf den Rasen.

»Was in der Zeitung steht.«

»Was schreibt man denn?«

»Dass man sich besser von Ihnen fernhält.«

»Reiz ihn nicht«, ermahnt Pavlik sie leise.

»Dann haben Sie Angst vor mir?«

»Angst habe ich bloß, dass meine neuen Schuhe mich killen. È permesso?« Sie streift die High Heels ab.

Sieht die Gartenschere auf dem umgedrehten Pflanzenkübel.

Varga lacht. »Sie gefallen mir.« Er wienert seine Jacketkronen mit der Zunge. »Und wissen Sie auch, wie Leon seine Brötchen verdient?«

Aaron steckt sich eine Zigarette an. »Er vermehrt das Geld anderer Leute, ohne dabei arm zu werden.«

»Ist das eine Kunst, Leon?« fragt Varga.

»Die Kunst ist das Augenmaß«, erwidert Keyes. »Was nutzt es einem, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein?«

Varga lässt sich das durch den Kopf gehen. Dann grunzt er: »Von dieser Kunst verstehe ich nichts.« Er nickt Sandrone zu. »Wie viel hast du in der Tasche?«

Sandrone fummelt eine dicke Geldrolle aus der Hose.

Varga winkt mit seinem Zeigefinger, Sandrone wirft ihm die Rolle zu. »Frag mich, ob du’s zurückkriegst.«

Sandrone grinst nur.

Varga steckt die Scheine ein. »Mehr muss man über mein Geschäft nicht wissen.« Er beißt in eine eingelegte Artischocke, Öl spritzt übers Kinn. »Wo haben Sie beide sich kennengelernt?«

»In Berlin«, kommt sie Keyes zuvor. »Ich wollte in einer Bar eine gefloppte Vernissage vergessen. Leon hat ein Glas Dom Pérignon vor mich hingestellt und gesagt: ›Sie sind viel zu schön, um so traurig auszusehen.‹ Nachdem er mich zu meinem Hotel gefahren hatte, hat er meine Telefonnummer auf seine schneeweiße Sonnenblende geschrieben.« Sie lehnt ihren Kopf gegen seinen. »Das war das Romantischste, was je ein Mann für mich getan hat.«

»Dafür sind Sonnenblenden da«, grinst Keyes.

Blondies Schmollmund lässt erahnen, dass die romantischen Geschichten, die sie zu erzählen hätte, limitiert sind. Varga säuft Barolo wie Wasser. »Ich würde eher auf meinen teuersten Teppich scheißen, als einen 356 Speedster mit roten Ledersitzen zu versauen.«

Vincenzo und Sandrone lachen. Aaron spürt, dass Keyes erstarrt. Sofort weiß sie: Er hat das Auto Varga gegenüber nicht erwähnt. Varga ließ es verwanzen. Aber er kommuniziert ausschließlich mit seinem Unterboss, der wiederum nur mit den Kapitänen und die mit den Soldaten. Am Ende wird der Auftrag bei zwei Freelancern gelandet sein, die das geräuschlos erledigten. Das »Prinzip der tausend Fremden« ist eine Grundregel in allen Mafiaorganisationen. Es garantiert, dass niedere Chargen nicht gegen den Capo aussagen können. Er hat ihnen nie einen Befehl erteilt, sie sind ihm nie begegnet.

Ein Mann wie Varga will keine Details hören. Details sind gefährlich. Details, die man nicht kennt, muss man nicht leugnen.

Dass Keyes einen Porsche fährt, würde er kaum wissen.

Welches Modell: noch unwahrscheinlicher.

Die Farbe der Sitze: unmöglich.

Außer er hätte sich detailliert informieren lassen.

Aaron spannt die Muskeln und ist entschlossen, das Blut und den Schmerz zu ignorieren, wenn sie den Kaktus neben sich aus dem Topf reißt und in Sandrones Gesicht drischt, ihn dann auf Vincenzo schleudert, um in der halben Sekunde, die er zum Ausweichen braucht, über den Tisch zu fliegen und ihm sein Weinglas ins Auge zu rammen.

Varga unterschätzt sie nicht. Er hatte morden müssen, um in seinem Clan aufzusteigen. Aber das ist lange her. Er ist zu gut im Futter, seine Reflexe sind eingerostet. Ehe er an der Terrassentür ist, steckt die Gartenschere in seinem Rücken.

Er wechselt das Thema. »Dieses Auktionshaus, für das Sie arbeiten – was müsste ich dort anlegen, sagen wir: für einen Lucas Cranach?«

Obwohl Aaron vibriert, ist sie still amüsiert. Varga lässt den Namen eines Künstlers fallen, von dem er gewiss noch nie ein Gemälde gesehen hat, es sei denn in einer Zeitschrift. In seinem Schlafzimmer hängt vermutlich die blaue Capri-Grotte. Dass er das Auktionshaus anspricht, beunruhigt sie nicht. Keyes hat es im letzten Telefonat mit ihm beiläufig erwähnt, das war so verabredet. Es existiert wirklich, die Abteilung hat ein Agreement mit der Geschäftsleitung und nutzt die Legende ab und an.

»Ich fürchte, das ist nicht unser Marktsegment«, sagt sie. »Wir vertreten nur junge lebende Künstler. Für uns wäre Jeff Koons schon ein alter Meister.«

»Produzieren nichts als Dreck, die modernen Maler«, knurrt Varga. Dann hellt sich seine Miene auf. »Na endlich, ich bin am Verhungern!«

Die Vorspeise wird aufgetragen.

Das Essen wäre eine Lust, müsste Aaron nicht dauernd ihre Optionen bedenken, die sich mit jedem der vier Gänge ändern. Die Gartenschere, der Kaktus, der Hermès-Schal und ihr Körper sind die Konstanten, die anderen Waffen wechseln. Beim antipasto, Gänseleber auf Brioche, sind die Messer abgerundet, also untauglich. Es bleiben die Teller als Wurfscheiben und ein zerbrochenes Glas als Stichwaffe. Teller und Glas sind auch die Wahl beim primo piatto, klarer Tomatensuppe, dafür schenkt ihr der secondo piatto, Entrecôte vom Kalb mit Kräutern und Fenchelgratin, ein scharfes Steakmesser.

Doch sie beenden das Dessert, Halbgefrorenes mit Limetten-Gelee, ohne dass sie weitere Signale empfängt.

Zeit für den Tresor.

Aaron greift nach ihrem Weinglas – als Varga sich den Mund abwischt. »Ich habe etwas, das Sie interessieren könnte.«

Sie folgen ihm zu dem Raum, den Keyes nicht kennt. Noch ehe Varga die Schiebetür öffnet, ziept Aarons Schlüsselbeinnarbe. Sie verzögert ihre Schritte, damit Keyes, der prompt versteht, an ihr vorbeigehen und sie sich dicht hinter ihm halten kann.

Die Vorhänge sind zu. Varga macht das Licht an, und sie ist so überrascht, dass sie für Sekunden alles um sich herum vergisst. Aaron sieht das Gemälde »Die Versuchung des heiligen Antonius« von Lucas Cranach dem Älteren. Eine perfekte Kopie. Das Original kennt sie aus den Vatikanischen Museen.

Der zerlumpte Antonius kniet in der Wüste vor dem Teufel, der seine flache Hand ausgestreckt hat. Darauf steht eine Frau, dicht vor Antonius’ Augen, die Hand an einer Wiege mit einem Kind. Ihr Blick ist sehnsuchtsvoll zum Horizont gerichtet, wo sich eine Gestalt nähert. Es ist Antonius selbst.

Sah sie in Varga bisher einen Mann, bei dem sich die Macht des Geldes mit der Ohnmacht des Geistes paart, erteilt er Aaron nun eine Lektion. »Antonius hatte allem entsagt, nie eine Frau geliebt, nie ein Kind in den Armen gehalten. Er kannte sein Leben lang nichts als nackten Stein und Gebete. Und wie versucht der Teufel ihn? Indem er ihm vor Augen führt, was er hätte haben können, und es ihm als Lohn verspricht, wenn er von Gott abfällt. Ich habe das Bild erst seit Kurzem. Es ist mein zweitkostbarster Besitz. Denn die Familie, meine Freunde, ist das Wichtigste.« Er wendet sich Aaron zu. »Könnte David Hockney ein solches Kunstwerk erschaffen? Damien Hirst, Georg Baselitz?«

Sie ist zu verblüfft, um zu antworten.

»Leon, was haben Sie ihr über mich erzählt? Dass ich bauernschlau bin, aber intellektuell ein Neandertaler?«

Keyes kontert Vargas Blick gelassen. »So in etwa. Und dass Sie Walnüsse mit den Zähnen knacken.«

Sandrone schiebt den Kiefer vor, Vincenzo verlagert sein Gewicht auf das dominante Bein. Sie warten bloß auf ein Zeichen von Varga. Doch der legt den Arm um Keyes’ Schulter. »Stiefellecker habe ich weiß Gott genug. Einen Mann zu unterschätzen, ist nicht so schlimm, wie ihn zu belügen.«

Aaron geht näher an das Bild heran. Sie sieht die feinen Risse im Firnis, die Patina von fünfhundert Jahren.

»Das ist das Original«, sagt sie tonlos.

»Aber ja«, erwidert Varga. »Ich bin dem Vatikan gelegentlich behilflich, man konnte mir die Bitte nicht ausschlagen. Die Reproduktion, die im Museum hängt, war teurer als ein Gerhard Richter. Nie habe ich mich so gern von Geld getrennt.«

Keyes tritt zu ihr. Bewundert das Gemälde.

»Es verbirgt ein Geheimnis, das es preisgegeben hat, als ich es röntgen ließ«, fährt Varga fort. »Darunter befindet sich ein anderes Werk, das übermalt wurde: Jesus und Judas. Wie scharfsinnig. Antonius hat jeder Versuchung widerstanden, während Judas ein Schwächling war. Es muss für Cranach ein ungeheures Vergnügen gewesen sein, dass außer ihm niemand diese Pointe gekannt hat.«

»Er weiß es«, wispert Pavlik. »Entweder du tötest sie sofort, oder du schnappst dir Keyes und ihr rennt. Vor dem Haus kann ich euch übernehmen.«

In einem ersten Impuls will Aaron Vincenzos Kehlkopf mit dem Ellbogen zertrümmern und Sandrone den Brieföffner, der neben ihr auf einem Vertiko liegt, in die Lunge treiben. Doch sie sieht, dass Varga in die Betrachtung seines Bildes versunken ist, mit den Gedanken weit fort.

Nein. Er ist vollkommen entspannt.

Aaron dreht sich um, stößt gegen Keyes und kippt Wein über ihre Bluse. »Wie ungeschickt. Ich gehe eben ins Bad.« Sie winkt ab, als Vincenzo sie begleiten will. »Danke, ich weiß, wo es ist.«

»Was hast du vor?« flüstert Pavlik.

Sie eilt durchs Vestibül, hört Geklapper aus der Küche, huscht die Treppe hoch. Als sie vor Vargas Arbeitszimmer steht, hat sie die Haarklammer schon in der Hand. Doch die Tür ist unverschlossen. Aaron schlüpft in den Raum, lehnt die Tür an.

Offene Vorhänge, Pavlik kann sie sehen. »Was tust du?«

»Nicht jetzt«, flüstert sie zurück. Sie klappt die antike Stadtkarte auf und steht vor dem Tresor.

Eins-neun-eins-acht-drei-null.

Aaron tippt die ersten fünf Zahlen.

Hält inne.

Sie kennt den Tresortyp. Bei der Eingabe einer falschen Kombination wird ein Alarm ausgelöst.

Und wenn Varga doch wusste, dass Keyes in der Tür stand, als er den Tresor öffnete?

Verdammt.

Dieses Bild ist mein zweitkostbarster Besitz.

Ich habe es erst seit Kurzem.

Sie langt nach ihrem Handy und verliert fünfzehn Sekunden mit dem Googeln von »Antonius«.

Geboren 251 nach Christus, gestorben 356.

Alles oder nichts.

Aaron löscht die Ziffern und ersetzt sie durch diese.

Hält die Luft an.

Der Tresor öffnet sich.

Unter einem halben Dutzend falscher Pässe liegt das Dossier. Sieben engbeschriebene Seiten mit hunderten von Namen und Kontonummern. Aarons Atem fliegt. Sie fotografiert alles mit dem Handy, legt die Papiere zurück, schließt den Tresor, klappt die Karte von Rom zu und sieht auf die Uhr.

Nur zehn Sekunden über dem Zeitlimit.

Als sie den Raum verlassen will, hört sie leise Schritte.

Sie nimmt den Schal ab und presst sich an die Wand.

Die Tür geht auf.

Es ist ein Kind.

Ein kleiner Junge im Pyjama, drei oder vier Jahre alt, Plüschgiraffe im Arm. Er tapst herein, dreht sich um und sieht sie. Seine Augen sind groß, müde, verwirrt. Aus dem Schlaf gerissen, vielleicht ein böser Traum.

Aaron ist wie erstarrt.

»Varga kommt. Er ist schon im Esszimmer«, zischt Pavlik.

Sie streckt die Hand aus. »Kannst du nicht schlafen?« fragt sie. »Warte, ich erzähle dir eine Geschichte.«

Wenn der Junge jetzt schreit, ist es vorbei.

Er versteht Aaron nicht, doch der zärtliche Klang ihrer Stimme beruhigt ihn. Er fasst ihre Hand und lässt sich von ihr in sein Zimmer bringen, das direkt gegenüber liegt.

Wo ist Varga?

Aaron deckt das Kind zu und setzt sich an sein Bett. Todmüde lauscht es ihren Worten. »Es war einmal eine kleine Träne. Sie hat einem Jungen gehört, der genau so alt war wie du. Er hat viel geweint, weil er oft allein war. Aber immer nur diese eine Träne. Sie ist über seine Wange und seine Lippen geflossen, und er hat sie verschluckt.«

Ohne hinzuschauen weiß Aaron, dass Varga in der Tür steht und sie beobachtet. Sie betet, dass er nicht merkt, wie sie bebt.