TAD WILLIAMS

Die Hexenholzkrone Teil 2

Der letzte König von Osten Ard 1

Aus dem Amerikanischen von
Cornelia Holfelder-von der Tann
und Wolfram Ströle

Klett-Cotta

Wegen des großen Textumfangs erscheint Die Hexenholzkrone. Der letzte König von Osten Ard 1 in zwei Teilbänden.

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Witchwood Crown. The Last King of Osten Ard Volume 1« im Verlag DAW Books, New York

© 2017 by Tad Williams

© Karten by Isaac Stewart. Dragonsteel

Für die deutsche Ausgabe

© 2017, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg

Illustration: Melanie Korte, Inkcraft

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98478-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10085-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Das letzte Kapitel von Teil 1 endete mit den Abschnitten:

Morgan belastete die Kuppel vorsichtig mit seinem Gewicht. Sie wirkte stabiler als die Wände. Trotz der Nacht war der Stein noch von der Hitze des Tages warm. Morgan kletterte auf die offene Luke zu. Warum sollte Snenneq sie aufbrechen und in den berüchtigten Turm eindringen? Hat der Troll wirklich so wenig Angst vor den Gespenstern anderer Leute?

Und wenn er sie gar nicht geöffnet hat?, dachte Morgan plötzlich. Wenn es jemand anderes gewesen war? Wenn er dagestanden hatte und sie hinter ihm aufgegangen war wie der Deckel eines Höllenschlunds … und jemand herausgekommen war und ihn gepackt hatte?

Das Grauen dieser Vorstellung war unerträglich. Morgan schob sich weiter hinauf, den Bauch an das Blei gedrückt wie zuvor an die Turmmauer, ohne dass es ihm bewusst war. Er erreichte die offene Luke. Aber nach drinnen sehen wollte er nun wirklich auf gar keinen Fall.

Er ist wegen dir hier, sagte eine Stimme, als spreche ihm jemand ins Ohr – jemand anders, ein ehrenhafter Mensch. Er ist wegen dir hier. Wenn er hier drin ist, musst du ihn suchen.

Aber Morgan wollte nicht durch die Luke blicken und erst recht nicht hindurchsteigen. Wer wusste schon, was für ein gefährliches Chaos dahinter lauerte? Schließlich war der Turm über zwanzig Jahre abgeschlossen gewesen und hatte leer gestanden.

Und wenn er gar nicht leer ist? Wieder stellte Morgan sich vor, wie die Luke lautlos hinter dem Troll aufging und eine schattenhafte Gestalt daraus auftauchte …

Er streckte den Kopf über den Rand der Luke. Das oberste Zimmer des Turms war mit Steinschutt angefüllt, wie er es erwartet hatte. Allerdings entdeckte er zwischen den Steinen dunkle Stellen, die aussahen, als hätte ein riesiger Maulwurf oder eine Ratte Tunnel durch das Geröll gegraben. Morgan wünschte sich stärker als je in seinem Leben, dass er eine Fackel mitgenommen hätte, nein, eine Fackel und ein Schwert und drei oder vier kräftige Freunde. Im selben Moment sah er eine Bewegung. In dem Raum unter ihm, im dunklen obersten Geschoss des Turms, bewegte sich etwas Lebendiges.

»Snenneq?«, rief er leise. Das Blut rauschte ihm in den Ohren und die Stimme, die aus seinem Mund kam, klang nicht wie seine eigene. Da drehte sich die schattenhafte Gestalt um und blickte zu ihm auf. Nur einen kurzen Augenblick fiel das Mondlicht auf ein unbehaartes Gesicht, zwei leere schwarze Augen und eine zerlumpte Kapuze, die einmal rot gewesen sein mochte. Sein Puls dröhnte wie mit Hammerschlägen durch seinen Kopf und er wich entsetzt von der Luke zurück. Hastig sprang er auf, stolperte dabei, fiel nach vorn und schlug mit dem Kinn auf den Rand der Luke. Ein Regen von Sternen leuchtete vor ihm auf, dann wurde es Nacht um ihn.

32

Rosenwasser und Balsam

Die Kanzlei war in einem langgestreckten Gebäude im Mittleren Zwinger untergebracht. Unter König Johan hatten sich dort die Stallungen befunden, doch die waren beim Einsturz des Engelsturms zerstört worden und man hatte die neuen Stallungen im Äußeren Zwinger errichtet. Was nicht bedeutete, dass Pferde und Kutschen unwichtiger geworden wären, dachte Pasevalles. Vielmehr hatten Buchhaltung und die Aufbewahrung des Geldes an Bedeutung gewonnen.

Das Kanzleigebäude war wie ein langgezogener Knochen geformt, ein Knochen, um den sich zwei Hunde streiten mochten, die jeder an einem Ende zogen. Was auch insofern ein passender Vergleich war, als das eine Ende Pasevalles als dem Großkanzler gehörte und das andere Erzbischof Gervis, dem Schatzkämmerer. Das Verhältnis der beiden erinnerte manchmal tatsächlich an zwei sich unter der königlichen Abendtafel streitende Doggen.

Und doch war es eine Erleichterung für den Großkanzler, sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren zu können, ohne auch noch die wichtigen Aufgaben Graf Eolairs wahrnehmen zu müssen. Viele Dinge, die ihm besonders am Herzen lagen, waren während der Reise des königlichen Paars mehr oder weniger liegengeblieben, und jetzt war er damit beschäftigt, Versäumtes nachzuholen.

Kanzleibedienstete eilten emsig wie Bienen in einem Kleefeld die langen Gänge auf und ab, in den Händen Stapel von Dokumenten, jedes mit einer eigenen, komplizierten Vorgeschichte – Schriftrollen der Buchhaltung, Bittbriefe und Steuerunterlagen. Die falsche Vorstellung, die die meisten Untertanen des Königreichs von der Macht hatten, rang Pasevalles nur ein müdes Lächeln ab – dass nämlich der König und die Königin nur auf ihren Thronen saßen und bestimmten, was als Nächstes zu tun sei, und ihre Helfer sich dann eifrig bemühten, ihre Launen in die Tat umzusetzen. In Wirklichkeit musste jeder Herrscher, vom Herrscher über das größte Königreich der Geschichte Osten Ards ganz zu schweigen, sich ständig mit Hunderten von Problemen herumschlagen, und das so lange, bis sie gelöst oder wenigstens auf ein erträgliches Maß reduziert waren. Denn einige Probleme hatten, wenn man sie nicht löste, die Eigenschaft, sich rasch zu größeren Problemen auszuwachsen. Und zur Lösung eines Problems standen dem Herrscher auch nicht Scharen treuergebener Untertanen zur Verfügung, die nur darauf warteten, zu tun, was man ihnen sagte, sondern Tausende von Individuen mit eigenen Plänen und Wünschen, zu deren Erfüllung die meisten davon durchaus bereit waren, gegen Gesetze zu verstoßen, solange sie dies ungestraft tun konnten, während sie zugleich hell empört waren bei der leisesten Andeutung, ihre eigenen Rechte könnten in irgendeiner Weise beschnitten werden. Und von diesen rechthaberischen Menschen waren die Adligen mit ihrer Empfindlichkeit und Selbstgerechtigkeit die Schlimmsten.

Pasevalles war der Neffe eines wichtigen nabbanaischen Grenzfürsten, des Barons Seriddan von Metessa, und hatte seine Kindheit in der Burg des Barons verbracht. Damals war er noch mit seinem Schicksal zufrieden gewesen. Während sein Vater Brindalles eher das zurückgezogene Leben eines Gelehrten führte, gelüstete es den jungen Pasevalles nach Heldentum. Er nahm sich sogar der familieneigenen Sammlung von Waffen und Rüstungen an, weil sich niemand sonst in Metessa für die Größe der Vergangenheit zu interessieren schien – oder wenigstens nicht so, wie Pasevalles es für angemessen hielt. In den Jahren seiner Kindheit waren der große Waffensaal und die Gießerei, in der Rüstungen angefertigt und repariert wurden, sein eigentliches Zuhause. In der Studierstube seines Vaters fühlte er sich dagegen eher fremd. Natürlich lernte er Lesen, Schreiben und Rechnen, wie es von einem jungen Mann aus adligem Hause erwartet wurde, doch jede Stunde unter dem wachsamen Blick seiner Lehrer war für ihn verschwendete Zeit, in der er lieber den Soldaten bei ihren Übungen zugesehen oder im Waffensaal einer selbsterteilten Aufgabe nachgegangen wäre. Schließlich musste das Andenken an die kriegerischen Heldentaten der Vorfahren erhalten werden und er selbst träumte davon, dass auch ihm eines Tages ein solcher Ruhm zuteilwürde.

Aber Träume ändern sich, dachte er. Vor allem die von Kindern.

Seine Träume hatten sich an dem Tag einschneidend geändert, an dem Prinz Josua, der Bruder von König Elias und Sohn des Priesters Johan, nach Metessa gekommen war, um dort Hilfe für den Kampf gegen seinen Bruder und dessen schrecklichen Verbündeten, den Sturmkönig Ineluki, zu finden. Pasevalles war damals natürlich noch zu klein gewesen, um die Zusammenhänge zu begreifen – er war ja erst acht –, aber er hatte es mit Begeisterung aufgenommen, als er erfuhr, dass der legendäre Ritter Camaris, der größte Krieger seiner Zeit, noch lebte und für Josua kämpfte. Und als Josua den Hochhorst belagerte, hatte sogar sein gelehrter Vater an den Kämpfen teilgenommen, was Pasevalles noch mehr begeistert hatte. Brindalles hatte sich freiwillig als Doppelgänger Josuas zur Verfügung gestellt, während der Prinz mit einer Gruppe von Männern und Sithi auf anderem Weg in die Burg eindrang.

Doch Pasevalles war nicht dabei gewesen. Er hatte nicht miterlebt, wie sein Vater auf dem Pferd des Prinzen den glorreichen Angriff geführt und durch das Tor des Hochhorst gesprengt war. Auch das schreckliche Ende hatte er nicht mitbekommen, als König Elias’ List aufgedeckt und sein Vater von den Verteidigern im Burghof niedergeschlagen und in Stücke gehackt wurde.

Pasevalles hatte das alles nur von Boten erfahren, die zwei Wochen später in Metessa eingetroffen waren, nur einen Tag vor den Leichen seines Vaters und seines Onkels Seriddan, der seinen Wunden wenige Tage nach der Schlacht erlegen war.

An die Wochen und Monate danach erinnerte er sich kaum noch, an die endlose Folge von Tagen und Nächten, in denen er nur Schmerz und Verzweiflung empfunden hatte. Die Zeit hatte den schwarzen Mantel des Vergessens darüber gebreitet. Erst als im Jahr darauf seine Tante beschlossen hatte, erneut zu heiraten, hatte Pasevalles angefangen, seine Umgebung wieder wahrzunehmen.

Zum Tod des Vaters kamen weitere Schicksalsschläge. Seine Mutter starb an einem Fieber, das nach dem Sturmkönigskrieg in Nabban wütete. Auch seine Tante, die den verwitweten Besitzer des benachbarten Landguts geheiratet hatte, starb an diesem Fieber. Und ihr neuer Mann setzte Pasevalles prompt vor die Tür und schickte ihn zu armen Verwandten an der Nordküste Nabbans, deren Haus so kalt und feucht war, dass er genauso gut in den Sümpfen hätte leben können. Es war eine bittere Zeit gewesen …

Nein, Zorn lenkt nur ab, ermahnte er sich. Der Zorn ist der Feind des Erfolgs. Er, Pasevalles, hatte Pläne, Ziele, Verantwortung und durfte sich nicht von bösen Erinnerungen lähmen lassen. In diesem Moment wartete ein ganzer Stapel von Rechnungen darauf, genehmigt und dem Königspaar vorgelegt zu werden. Dazu kamen Dutzende weiterer Zahlungen an die verschiedenen Gläubiger der Krone, die er ein letztes Mal prüfen musste, bevor sie getätigt wurden. Der Wiederaufbau der Burgen war teuer. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, zahlte Erkynland immer noch für die Folgen des Sturmkönigskriegs. Und da kam auch noch Vater Wibert mit einem weiteren Stapel von Bittschriften, ein Grund mehr, nicht in Erinnerungen an die Vergangenheit zu versinken.

»Wo soll ich die ablegen?«, fragte Wibert. »Auf dem Boden? Auf Eurem Schoß?« Sein Sekretär war nicht mehr jung und wurde mit zunehmendem Alter statt dicker immer dünner. Er hatte Anflüge von Humor, aber nicht mehr – Anflüge eben. Sein herausragendster Charakterzug war sein ausschließliches Interesse für sich selbst. Für Pasevalles war er äußerst nützlich, bei den anderen Bewohnern der Burg eher unbeliebt.

»Am besten wohl auf dem Boden.« Auf dem Stapel lag ein Brief, der sich im Aussehen von den anderen Dokumenten unterschied. »Was liegt da obendrauf?«

»Ein Brief von Prinzessin Idela«, sagte Wibert mit einem freudlosen Grinsen. »Parfümiert. Bestimmt bittet sie um einen Gefallen.« Er setzte den Stapel ab, der zu kippen drohte, begradigte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung, nahm das zusammengefaltete oberste Blatt und reichte es Pasevalles. »Der Herr gebe uns Geduld. Warum er Frauen erschaffen hat, übersteigt mein Verständnis.«

Daran habe ich keinen Zweifel, dachte Pasevalles. Von den Bewohnern des Hochhorst war manchmal zu hören, Wibert sei als Priester geboren worden. Was auch fast stimmte, wie Pasevalles wusste: Wibert war schon als kleiner Junge aus dem Waisenhaus von St. Sutrin als Novize an die Kathedrale gekommen. Der Großkanzler bezweifelte stark, dass es im Leben des Mönchs überhaupt einen Moment gegeben hatte, in dem Mutter Kirche ihm nicht über die Schulter geblickt hatte.

»Werdet Ihr ihn gleich öffnen?«

Pasevalles wollte Wibert schon zurechtweisen, aber er beherrschte sich. Sein Sekretär benahm sich zwar manchmal wie ein Ackergaul in der königlichen Kapelle, aber er war ein nützlicher Mensch, arbeitsam, nicht neugierig und vor allem vollkommen vorhersehbar.

»Ich sehe ihn mir später an, danke. Legt ihn da auf den Tisch.«

Vater Wibert blieb noch einige Augenblicke stehen, ganz offensichtlich in der Hoffnung, der Großkanzler würde es sich anders überlegen und den Brief der Prinzessinwitwe doch gleich lesen – Pasevalles hatte festgestellt, dass Wibert wie so viele Geistliche vom Klatsch lebte –, doch schließlich gab er auf und ging. Pasevalles fand, dass sein Sekretär mit den knochigen Ellbogen und Knien eher aussah wie eine Marionette als ein Gottesmann.

Genau das ist mein Fluch, dachte er. Dass ich sehe, was da wirklich ist, und nicht, was ich nach der Meinung anderer sehen soll. Es war zweifellos ein Fluch, aber manchmal erschien es ihm auch als Gnade, nicht so blind zu sein wie andere, die vor dem, was sie nicht wissen wollten, die Augen verschlossen.

Er nahm den Brief der Prinzessin vorsichtig in die Hände, als könnte das zusammengefaltete Blatt messerscharfe Ränder haben. Daran dachte er manchmal, wenn er die Prinzessin sah – an ein Messer, das lange Zeit unbenutzt und unbemerkt irgendwo lag, um dann plötzlich aufzutauchen und in einem schrecklichen Moment alles zu verändern. Er fragte sich allerdings, ob der Vergleich mit einem Messer wirklich zutraf oder ob er sich ausnahmsweise einmal selbst zum Narren hielt. Jedenfalls fürchtete er die Schwierigkeiten, in die die Prinzessin ihn bringen konnte, war aber auch nicht blind für die Vorteile, die ihre Freundschaft ihm bot. Er schnupperte an dem Brief. Parfümiert, wie Wibert bemerkt hatte, mit Rosenwasser und Balsam, einer Mischung von Weltlichem und Heiligem, Erde und Geist. Eine Botschaft? Oder der Duft, den sie immer verwendete? Pasevalles betrachtete das Siegel und vergewisserte sich, dass es intakt war. Erst dann öffnete er es und faltete den Brief auf.

Liebster Fürst,

ich weiß, dass Ihr aufgrund der Abwesenheit unseres geliebten Königspaars in den vergangenen Monaten überaus beschäftigt wart. Wir sind Euch für Eure unermüdliche, selbstlose Arbeit wirklich alle zu Dank verpflichtet. Ich glaube fest, dass das, was Ihr für das Königreich leistet, eines Tages anerkannt werden wird und Ihr Euren verdienten Lohn erhaltet.

So feinsinnig wie der Hammer eines Schlachters, dachte er. Nein, werte Herrin, das könnt Ihr besser.

Trotzdem muss ich Euch ein wenig schelten, lieber Pasevalles. Es war zwar überaus freundlich von Euch, mir zur Durchsicht der Bücher des armen Johan Josua den lieben Bruder Etan zu schicken, doch muss ich ehrlicherweise gestehen, dass ich gehofft hatte, Ihr würdet selbst kommen, nicht nur weil ich Euch und Eurem Urteil vertraue, sondern weil ich selbstsüchtig gehofft hatte, ein wenig Zeit in Eurer Gesellschaft verbringen zu können.

Auch noch »lieber Pasevalles«. Die Prinzessin kam recht unvermittelt zur Sache. Er fragte sich, warum sie ihn so unbedingt zu ihrem Verbündeten machen wollte. War auf der königlichen Reise nach Norden etwas vorgefallen, von dem er nichts wusste und das sie um ihre Stellung bei Hof fürchten ließ? Allerdings war das nur schwer vorstellbar. Immerhin war sie die Witwe des Prinzen und die Mutter des Thronfolgers. Diese beiden Tatsachen standen doch gewiss unverrückbar fest.

Vielleicht könnten wir uns zu diesem Zweck einen Abend nach dem Essen vornehmen, an dem Ihr die schwere Bürde Eures hohen Amtes beiseitelegt und mir auf ein Glas Comis Gesellschaft leistet. Meine Zofen werden anwesend sein, Ihr braucht also weder um Euren Ruf noch um meinen zu fürchten.

Er musste unwillkürlich lächeln. Sie war eine kluge Frau, die Prinzessin. Ganz anders als ihr polternder, pragmatischer Vater.

Es gibt vieles, über das ich mit Euch reden möchte, darunter natürlich auch die Bibliothek, die den Namen meines Mannes tragen wird, und diejenigen seiner Bücher, die noch in meinem Besitz sind. Vielleicht können wir uns nach dem Gottesdienst am Sankt-Dinanstag treffen. Sagt, dass Ihr kommen werdet.

Ein bloßer Großkanzler konnte eine solche Bitte natürlich nicht abschlagen, und das wäre Pasevalles auch gar nicht eingefallen. Er war der Prinzessin so lange wie möglich aus dem Weg gegangen, weil er dringlichere Dinge zu tun gehabt hatte und überzeugt war, dass sie vor allem seine Zeit und Aufmerksamkeit wollte. Doch die Beharrlichkeit, mit der sie ihn drängte, weckte allmählich seine Neugier. Was wollte sie wirklich? Doch bestimmt nicht etwas so Banales wie die Aufmerksamkeit eines ledigen Mannes? Für so einfach gestrickt hatte er Prinzessin Idela noch nie gehalten.

Er schrieb eine angemessen schmeichelhafte Antwort, bestreute sie mit Löschsand, faltete das Blatt und drückte sein Siegel darauf – sein privates Siegel, nicht das Siegel des Hochthrons, das er als Großkanzler führen durfte, wenn er im Namen des Königs und der Königin schrieb. Was auch immer Idela von ihm wollte, er würde alle Sorgfalt darauf verwenden, es so lange wie möglich von seiner hart erarbeiteten Stellung getrennt zu halten. Denn im Unterschied zu denen, die in eine solche Stellung hineingeboren wurden oder einheirateten, hatte er sich seine Erfolge ausschließlich durch harte Arbeit und kluge Entscheidungen erworben. Das bedeutete freilich auch, dass er ohne Familie oder adlige Frau wenige Mittel hatte, seine Stellung zu sichern. Das Glück war ein Rad, wie er besser als viele wusste, das sich jederzeit ohne Vorwarnung drehen konnte. Die einen hob es empor, die anderen warf es in den Staub.

Die Bienen, die Bruder Etan durch seine Arbeit zwischen den Rosmarinsträuchern vertrieben hatte, kehrten zufrieden summend zurück. Der junge Mönch machte dagegen einen weniger glücklichen Eindruck, dachte Tiamak. Er sah aus, als habe er am Morgen beim Aufwachen festgestellt, dass der Himmel sich unter ihm befand und die Erde über ihm. »Ihr seid so bleich«, sagte er. »Geht es Euch nicht gut, Bruder? Habe ich Euch nicht eine gute Nachricht überbracht?«

»Eine gute Nachricht?« Etan starrte ihn an, als hätte er ihn nicht verstanden. »Ich bitte um Verzeihung, Herr – aber wie könnte das eine gute Nachricht sein? Ich soll mein Zuhause und meine Arbeit aufgeben und in die Welt hinausziehen – in fremde Länder, zu Barbaren! Und nach Kindern suchen, die seit mehr als zwanzig Jahren vermisst sind. Das ist doch gewiss eine vergebliche Mühe.«

Tiamak schürzte die Lippen, unzufrieden mit sich selbst. »Ah, jetzt verstehe ich. Er-der-stets-auf-Sand-tritt verzeihe mir, ich bin zu überstürzt vorgegangen.« Er legte seine schlanke Hand auf Etans Ärmel. »Kommt, setzt Euch zu mir und lasst mich alles erklären.«

Etan folgte ihm aus dem Kräutergarten der Kathedrale zu einer Bank an dem Weg, der daneben verlief. Abwesend wischte er die Hände an seiner Kutte ab, doch statt das Rosmarinöl loszuwerden, bewirkte er nur, dass die Fusseln des Stoffs an seinen Handflächen und Fingern kleben blieben.

»Ich wurde im Sumpf geboren, müsst Ihr wissen«, begann Tiamak. »Als Kind des Wran hatte ich keine Vorstellung davon, dass es überhaupt noch andere Orte gab, ganz zu schweigen davon, wie verschieden sie sind. Als ich zum ersten Mal nach Kwanitupul am Meer kam, konnte ich nicht fassen, dass ein solcher Ort existierte. Mit so vielen Menschen! Von denen keiner festen Boden unter den Füßen hatte. Denn fast ganz Kwanitupul steht auf Plattformen.«

»Das weiß ich, Fürst Tiamak. Ihr habt es mir schon erzählt.«

Tiamak lächelte. »Ja, aber jetzt spreche ich nicht über Kwanitupul, sondern darüber, wie es ist, wenn man sein Zuhause und seine vertraute Umgebung verlässt. Denn Kwanitupul hat mich nur kurze Zeit so überwältigt und eingeschüchtert. Anschließend bin ich nach Perdruin gereist, eine Insel, die mir so groß vorkam wie das ganze Wran, und deren größter Teil von einer lebhaften Stadt eingenommen wurde. Und dann lernte ich erst Nabban kennen …!« Tiamak schüttelte den Kopf. »Ich bin froh, dass ich nach meinem Aufbruch aus dem Sumpf nicht gleich nach Nabban kam. Angesichts seiner Größe und des vielen Lärms und hektischen Treibens wäre mir wahrscheinlich das Herz stehengeblieben.«

»Aber mit Verlaub, Herr, ich bin kein Wranna«, sagte Etan. »Ich lebe in einer der größten Städte Osten Ards und kenne hier Leute aus aller Welt. Das ist nicht dasselbe wie … also, wie in einem Sumpf zu leben.«

»Nein, natürlich nicht. Ich weise Euch ja auch nur darauf hin, dass nichts den Horizont so sehr erweitert, wie Neues zu sehen.« Langsam, ermahnte Tiamak sich, langsam, damit du ihn nur lockst, nicht überwältigst. »Ihr seid ein gescheiter junger Mann, Etan, aber auch sehr behütet aufgewachsen. Jetzt eröffnet sich Euch die Gelegenheit, Gegenden der Welt kennenzulernen, die nicht einmal Erzbischof Gervis kennt oder je kennenlernen wird.«

»Aber warum? Das frage ich mich. Und warum ich? Warum diese sonderbare Aufgabe, wenn ich mich doch bei so vielen anderen Dingen nützlich machen könnte?«

»Vor allem, weil ich glaube, dass Ihr dafür die beste Wahl seid.« Tiamak gab seiner Stimme einen etwas entschiedeneren Klang. »Ich verfüge über einige Menschenkenntnis und auch sonstiges Wissen, und ich sage nicht oft: ›Hier ist ein Mensch, der zwar schon klug ist, aber noch klüger werden kann, ein wahrhaftiger Denker, wie es sie nur selten gibt.‹ Aber Euch halte ich für so jemanden.«

Etan war ganz offensichtlich wieder verwirrt. »Aber wäre nicht jemand anderes besser dafür geeignet als ich, Herr? Ein Ritter, oder noch besser ein Adliger, der die Menschen zwingen kann, seine Fragen zu beantworten?«

»Gegen Lügen wäre auch er nicht gefeit, Bruder. Die Leute sagen den Mächtigen, was die ihrer Meinung nach hören wollen. Oder sie sagen ihnen gar nichts, weil sie vor ihnen Angst haben. Wenn wir im Namen des Königs eine große Gruppe mit Ritter Zakiel oder Graf Eolair an der Spitze entsenden, werden die Menschen Schlange stehen, um ihnen in der Hoffnung auf ihre Gunst Halbwahrheiten und Gerüchte zu erzählen, von deren Richtigkeit sie überzeugt sind. Auf diese Weise erfährt man nichts wirklich Nützliches – während umgekehrt alle Welt erfährt, was man wissen will.«

»Es soll geheim bleiben?«

»Natürlich. Sollen wir in einer Zeit, in der ein Krieg mit den Nornen wieder eine furchtbare Möglichkeit zu sein scheint, hinausposaunen, dass König Johans einziger Sohn, der nach Ansicht der meisten in der letzten Schlacht gegen den Sturmkönig gefallen ist, in Wahrheit noch lebt, aber dass wir ihn mitsamt seiner Frau und seinen beiden Kindern aus den Augen verloren haben? Wir wären jahrelang damit beschäftigt, die wahren und falschen Geschichten voneinander zu trennen, die man uns auf diese Enthüllung hin erzählen würde, ganz zu schweigen von den vielen Hochstaplern, die Anspruch auf den Thron erheben würden, weil sie angeblich die verschollenen Kinder Josuas sind. Und meint Ihr nicht, die Nachricht seines Verschwindens würde auch in der Sturmspitze mit größter Aufmerksamkeit aufgenommen werden? Wir müssten Josua dann nicht nur suchen, sondern auch möglichst noch vor den Nornen finden.«

»Ich verstehe allmählich, was Ihr meint.« Etan überlegte mit gerunzelter Stirn. »Aber warum ausgerechnet jetzt? Wie Ihr sagt, gibt es vielleicht bald Krieg – obwohl ich gestehen muss, dass ich die Lage nicht für so ernst gehalten habe. Warum jetzt diese Angelegenheit ausgraben, nachdem sie zwanzig Jahre und länger geruht hat?«

Tiamak musste unwillkürlich seufzen. »Weil sie eben nicht zwanzig Jahre lang geruht hat. Nein, wir haben bei verschiedenen Gelegenheiten Nachforschungen nach dem Verbleib Josuas angestellt, aber immer vergeblich. Doch aus zwei Gründen ist das Problem jetzt besonders dringend. Einmal haben unser König und die Königin Herzog Isgrimnur auf dem Totenbett versprochen, die Suche nach Josuas Kindern wieder aufzunehmen – also nach Isgrimnurs Patenkindern. Der Seelenfrieden dieses braven Mannes wäre allein schon Grund genug, glaubt mir. Aber es gibt einen weiteren Grund, den noch nicht einmal der König und die Königin in vollem Umfang erkannt haben.« Er hob die Hand, um Etans Frage zuvorzukommen. »Nein, fragt mich nicht, alles zu seiner Zeit. Lass uns in meine Gemächer gehen. Meine Frau ist mit der Pflege der vergifteten Sitha beschäftigt, deshalb sind wir dort eine Weile ungestört wie nirgends sonst in dieser lärmenden Stadt oder auch der Burg. Kommt.«

Bruder Etan wirkte immer noch niedergedrückt und Tiamak war voller Mitgefühl. Er hatte ihm sehr viel auf einmal zugemutet. »Wie seid Ihr zu Eurer Arbeit in der Burg gekommen?«, fragte er, während er ihnen Wein einschenkte.

»In der Burg? Fürst Pasevalles hat mich angefordert und der Erzbischof meinte, ich solle ihm in der Kanzlei helfen.«

Tiamak musste lächeln. »Na, ganz so war es nicht. Ich hatte ein Auge auf Euch geworfen, und als Pasevalles nach Hilfe suchte, schlug ich Euch vor. Offenbar fand er meinen Vorschlag nützlich. Und ich war so egoistisch, Euch selbst für einige Aufgaben anzustellen, wie Ihr wisst. Aber das braucht Euch nicht weiter zu interessieren. Warum, glaubt Ihr, seid Ihr mir aufgefallen?«

Etan breitete ein wenig ungeduldig die Hände aus. »Ich habe keine Ahnung, Fürst Tiamak. Und Eure Fragen zu beantworten ermüdet mich offen gesagt ein wenig, da sowieso alles falsch zu sein scheint, was ich weiß.«

»Sehr gut. Es gefällt mir, dass Ihr Eure Gedanken so offen aussprecht. Jemand, der viel denkt, muss auf seine Gedanken vertrauen, zumindest so weit, dass er ihnen folgt, um zu sehen, wohin sie führen. Ihr seid mir aufgefallen, weil Ihr ehrgeizig wart.« Er hob die Hand. »Nein, nein, ich meine das überhaupt nicht als Vorwurf. Ihr strebt nicht nach Ruhm oder Belohnung. Aber Ihr habt einen ruhelosen Geist, wie ich es nennen würde. Ihr gebt Euch nicht damit zufrieden, Dinge auf althergebrachte Weise zu tun, nur weil man sie immer so getan hat. Für Euch ist ein Problem etwas, das man lösen muss, nicht etwas, dem man am besten ausweicht. Das ist eine Art Ehrgeiz. Und Ihr habt Ideen. Auch das hängt mit Eurem Ehrgeiz zusammen. Erinnert Ihr Euch, wie Ihr Pasevalles vorgeschlagen habt, Dokumente und andere Dinge in Körben an Seilen zwischen Schatzkammer und Kanzlei hin- und herzubefördern, weil das schneller geht als mit Boten?«

»Jetzt, wo Ihr es erwähnt, erinnere ich mich«, sagte Etan. »Aber woher wisst Ihr davon?«

»Weil ich mir vorgenommen habe, Euch im Auge zu behalten, Bruder. Ich interessiere mich für Menschen, die selbständig denken, denen Wissen um seiner selbst willen wichtig ist, aber auch wegen des Nutzens für ihre Mitmenschen.« Tiamak nippte an seinem Becher. »Der Wein schmeckt leider nicht besonders gut. Thelía und ich trinken nur selten welchen, deshalb wissen wir auch nicht, was wir unseren Gästen vorsetzen sollen.«

Etan machte eine Handbewegung zum Zeichen, dass es ihm nichts ausmachte.

»Also«, fuhr Tiamak fort, »hört mir gut zu, denn was ich Euch jetzt sage, hat direkt mit Eurer Aufgabe zu tun. Einer Aufgabe, die Ihr übrigens auch jederzeit ablehnen könnt, wie ich gleich am Anfang hätte klarstellen sollen.«

Der Mönch sah ihn mit vor Überraschung großen Augen an. »Das kann ich? Ich muss gestehen, das war mir nicht klar.«

»Aber natürlich. Solange es nicht um Leben oder Tod geht, zwinge ich niemanden gegen seinen Willen dazu, sein Zuhause und seine Arbeit aufzugeben, wie Ihr es ausdrückt. Doch werdet Ihr, wenn unser Gespräch zu Ende ist, vermutlich erkennen, wie vorteilhaft dieser Auftrag für Euch ist, und nicht zögern, ihn anzunehmen.«

Etan sah ihn mit neuerwachtem Interesse an. »Wirklich? Ihr lasst es darauf ankommen, Herr?«

»Gewissermaßen. Lasst es mich so sagen – wenn Ihr nach unserem Gespräch immer noch meint, dass der Auftrag Euch keine Vorteile bringt, und Ihr ihn deshalb nicht freiwillig übernehmen wollt, seid Ihr entschuldigt und wir werden nie wieder davon sprechen. Ihr werdet keinen Makel davontragen und Euer Ruf wird nicht darunter leiden. Seid Ihr damit einverstanden?«

»Mehr als das.«

»Gut, dann hört mir zu. Ich beginne mit Ealhstan, dem Fischerkönig, wie viele ihn nennen, dem ersten eigentlichen König von Erkynland. Er war übrigens auch König Simons Vorfahre.«

»Davon habe ich gehört.«

»Aber vermutlich nichts Genaues. Der König schämt sich seines Blutes – nein, nicht seines Blutes, sondern des Rechts zu herrschen, das ihm aufgrund seines Blutes zufiel. Aber dem werdet Ihr im weiteren Verlauf unseres Gesprächs noch oft begegnen – dass große Männer und Frauen in mancher Hinsicht genauso unnötig kompliziert sind wie wir anderen Menschen.«

»Also gut.« Etan gab Wasser in seinen dritten Becher Wein, denn er hatte Durst, wollte aber einen klaren Kopf behalten. »Dann fasse ich noch einmal zusammen, wie ich es verstanden habe.« Die Liste der Namen und Ereignisse hatte im Lauf des Nachmittags schwindelnde Ausmaße angenommen, obwohl Tiamak immer wieder geduldig die Zusammenhänge erklärt hatte. »Der Bund der Schriftrolle wurde hier auf dem Hochhorst von König Ealhstan gegründet, um das Wissen zu bewahren und zu mehren. Er hatte über die Jahre viele Mitglieder, meist sieben gleichzeitig, doch in der jüngeren Vergangenheit wurden es weniger.«

»Was daran lag«, sagte Tiamak, »dass wir die Mitglieder nicht ersetzt haben, die im Krieg ums Leben gekommen sind oder … Ihr wisst selbst, was mit Pryrates geschehen ist.«

Etan nickte. Vom roten Priester wurde in der Mutter Kirche offiziell zwar nicht gesprochen, doch privat waren die Gottesmänner durchaus willens, von ihm zu erzählen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Pryrates war ein Dämon, der immer noch entsetzte und faszinierte. »Ich verstehe. Aber auch Prinz Josua war ein Schriftrollenträger! Das wusste ich nicht.«

»Nach dem Einsturz des Turms und nachdem der Krieg vorbei war, ja«, sagte Tiamak. »Es war die ideale Aufgabe für jemanden mit einem wachen, auf das Nützliche gerichteten Geist wie Josua, dem das Königreich seines Vaters zwar sehr am Herzen lag, der aber nicht darüber herrschen wollte. Leider war er nur einige wenige Jahre bei uns im Bund, dann verschwand er.«

»Und ließ seine Kinder bei ihrer Mutter zurück … wie hieß sie noch gleich? Varsa?«

»Vara, die Tochter eines Clanführers der Thrithinge. Ja, die Zwillinge Derra und Deornoth. Aber ob er verschwand und seine Frau allein ließ, wissen wir nicht.«

»Weil nach seinen letzten Briefen niemand mehr von ihnen hörte.«

»Richtig. Ich zeige Euch diese Briefe später noch, weil sie der Ausgangspunkt jeder Suche sind. Aber missversteht mich nicht, Bruder. Der König und die Königin haben die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen – Josua war schließlich der Onkel der Königin und hat Simon zum Ritter geschlagen, als der noch ein Küchenjunge war. Er bedeutete ihnen beiden sehr viel.«

»Verstehe. Verzeiht mir, wenn ich die Reihenfolge durcheinanderbringe, Herr, aber Herzog Isgrimnur und Graf Eolair reisten also beide in den Süden nach Kwanitupul, um Josua und die Kinder zu suchen. Und Ihr habt sie begleitet.«

»Ich habe Eolair begleitet, als wir sie zum ersten Mal suchten.« Tiamak lächelte. »Damals kannte ich ihn noch nicht so gut. Ich bin dankbar für die gemeinsame Reise.«

»Aber Ihr sagtet, Ihr hättet nichts gefunden. Das Wirtshaus, dessen Besitzer Josua war, sei verkauft worden und die neuen Eigentümer hätten nicht gewusst, wohin die Familie gegangen sei. Wer hat es verkauft? Josua oder seine Frau?«

»Das Geld wurde an eine schwarzhaarige Frau gezahlt, bei der es sich womöglich um Vara gehandelt hat. Der Preis war nicht hoch, offenbar wollte sie aus irgendeinem Grund nicht auf ein besseres Angebot warten.«

»Und Vara kehrte in ihre Heimat zurück? Ihr sagtet, sie stamme aus dem Hoch-Thrithing.«

»Sie verabscheute das Grasland und sie verabscheute ihren Vater, einen Clanführer. Das ist alles, was ich sicher weiß. Selbst wenn sie zurückkehrte, Eolair konnte unter den Thrithingleuten niemanden finden, der etwas über sie wusste. Mit ihrem Vater haben wir nicht gesprochen, aber jemand anderes hat es für uns getan und er sagte offenbar, wenn seine Tochter mit Josuas Kindern zurückgekehrt wäre, hätte er sie allesamt getötet.«

»Was für ein Barbar und Ungeheuer.«

»Ja, aber solche Leute gibt es nicht nur im Grasland und in den Sümpfen von Osten Ard, sondern überall. Sogar in der Kirche.«

Etan wollte protestieren, beherrschte sich aber. Fürst Tiamak mochte als Heide seine Vorurteile haben, aber er war ein ehrlicher Mann, der es gut meinte, und das war entscheidend. »Sie blieben also spurlos verschwunden. Hat denn ein anderer Schriftrollenträger vor Josuas Verschwinden noch von ihm gehört? Was ist mit dieser Frau in Perdruin?«

»Faiera. Wir wissen nichts mit Sicherheit, weil sie um etwa dieselbe Zeit verschwand oder zumindest aufhörte, die Briefe anderer Schriftrollenträger zu beantworten.«

»Könnte ihr Verschwinden mit dem von Josua zusammenhängen?«, fragte Etan. »Ich möchte nichts Ungebührliches unterstellen, aber könnte es nicht sein, dass Prinz Josua und diese Frau … also …«

»Miteinander durchgebrannt sind? Fragt nur ohne Angst, Bruder. Ich bin froh, dass Ihr diese Frage gestellt habt, denn natürlich kam uns dieser Gedanke auch. Eolair und ich haben Faiera gesucht. Habe ich Euch nicht gesagt, was wir fanden?«

»Nein. Es sei denn, ich hätte es in der Fülle von Namen und anderen Dingen überhört.«

Tiamak lächelte. »Möglich, aber wahrscheinlich habe ich es vergessen. Eolair und ich wollten sie in Perdruin aufsuchen und befragen, weil Josua in einem seiner letzten Briefe schrieb, er hätte selbst Fragen an sie – wichtige Fragen, wie er meinte.« Tiamak schüttelte den Kopf. »Doch stellt Euch vor, was wir entdeckten: Nicht nur war sie verschwunden, auch ihr Haus war abgebrannt.«

»Abgebrannt? War sie keine Adlige?«

»Von ihrer Abstammung her ja, aber nicht von ihren Lebensumständen. Sie wohnte in einem Haus in einer besonders dicht bevölkerten Gegend von Perdruin, einem ›Kessel‹ genannten Viertel unten am Hafen im ältesten Teil der Stadt. Ihr Haus gehörte zu einer Reihe von Häusern, die alle so alt und heruntergekommen waren wie das ganze Viertel. Es sieht dort mehr aus wie in Kwanitupul als in Perdruin. Aber Kwanitupul kennt Ihr ja auch nicht. Jedenfalls war ein Jahr vor unserem Eintreffen, etwa zu der Zeit von Josuas Verschwinden, in dieser Häuserreihe ein Feuer ausgebrochen. Die Häuser in der Mitte waren vollkommen ausgebrannt und auch einige Häuser in angrenzenden Straßen wurden vom Feuer erfasst. Es gab viele Tote, von denen allerdings nur verkohlte Knochen übrig blieben. Wir wissen nicht, ob auch Faiera unter ihnen war. Oder Josua.«

»Aber es könnte das Ende gewesen sein? Ein schreckliches Feuer, in dem der Prinz und diese Faiera umkamen?«

»Es könnte natürlich der Grund sein, warum wir von beiden nie wieder gehört haben. Aber selbst dann wüssten wir immer noch nicht, wohin Vara mit den Kindern gegangen ist, nach denen wir eigentlich suchen.« Er legte Etan die Hand auf den Arm. »Wohin sind die Kinder verschwunden?«

Etan lehnte sich zurück, überwältigt von der Zahl der Probleme. »Ich muss das alles erst verarbeiten, Herr. Was macht Euch glauben, ich hätte Lust auf ein so schwieriges oder gar hoffnungsloses Unternehmen, das zwanzig Jahre zu spät kommt? Ihr meintet doch, ich würde mich freiwillig dazu bereit erklären.«

»Weil es nicht nur dem König und der Königin am Herzen liegt – sie stehen mit ihrem Versprechen bei einem Freund in der Pflicht –, sondern auch eine Gelegenheit ist, wie Ihr sie vielleicht nie wieder geboten bekommt. Eine wunderbare Gelegenheit.«

»Nach Leuten zu suchen, die seit zwanzig Jahren vermisst werden?«

Der kleine Wranna drückte Etans Hand. »Ich sagte doch, dass Ihr Euch freiwillig dafür entscheiden sollt, Bruder, und ich meinte es ernst. Aber zieht noch einen letzten wichtigen Grund in Betracht.« Tiamak senkte die Stimme ein wenig. »Ihr seid ein Mann mit einem tiefverwurzelten Bedürfnis nach Wissen, ob es Euch bewusst ist oder nicht. Was für eine bessere Gelegenheit werdet Ihr je finden, etwas von der Welt zu sehen, als diese Reise in den Süden im Auftrag des Hochthrons mit allen damit verbundenen Privilegien? Wolltet Ihr nie die Sancellanische Ädonitis sehen, den Sitz Eurer Kirche? Oder die Ruinen der alten Städte, die einst die Inseln im Süden bedeckten? Und Perdruin, auf dem jede Brise mit dem Duft von Waren aus ganz Osten Ard gewürzt ist? Wie könnt Ihr eine solche Gelegenheit ablehnen, zumal wenn Ihr wisst, dass auch der König und die Königin Euch dankbar wären?«

Etan kam sich vor wie der heilige Sutrin, der von dem verkleideten Engel versucht wurde. »Ihr führt starke Gründe an, Herr. Ich darf mich wirklich frei entscheiden?«

»Ja, natürlich. Und wenn Ihr Euch zu diesem Unternehmen bereit erklärt, gebe ich Euch alle Briefe Josuas, die ich habe, und auch die von Faiera. Ihr werdet Dinge über den Bund der Schriftrolle erfahren, die sonst nur die Schriftrollenträger wissen. Was meint Ihr, Bruder? Braucht Ihr noch Bedenkzeit?«

Bevor Etan antworten konnte, näherten sich draußen im Gang hastige Schritte. Etan hob erschrocken den Kopf. Übersättigt mit Geheimnissen, wie er war, erwartete er schon fast, dass gleich jemand hereinstürmen und ihn verhaften würde.

Tiamak ging hinkend zur Tür, noch bevor es klopfte. Er machte auf, und davor stand keuchend und schweißüberströmt ein korpulenter Priester, Tiamaks Sekretär.

»Vater Avner!«, rief Tiamak. »Ist etwas passiert?«

»Fürst Tiamak, Eure Frau Thelía bittet Euch, sofort zu kommen! In die königliche Kapelle! So schnell wie möglich!«

»Kommt erst einmal wieder zu Atem, Vater«, sagte Tiamak. Etan mochte nicht glauben, dass er wirklich so ruhig war, wie er klang. »Und dann erzählt alles der Reihe nach. Natürlich komme ich. Was ist passiert? Etwas mit der Sitha-Frau?«

Vater Avner schüttelte wie betäubt den geschorenen Schädel. »Sitha-Frau? Davon weiß ich nichts, Herr. Aber der Prinz ist vom Turm gestürzt.«

Bruder Etan schlug erschrocken das Zeichen des Baums. »Gott schütze ihn!«, rief er. »Und uns!«

»Ist Prinz Morgan schwer verletzt?«, fragte Tiamak. »Tot?«

»Ich weiß es nicht – Eure Frau hat nur gesagt, ich solle Euch holen«, antwortete Avner. »Aber er ist angeblich vom Hjeldinsturm gefallen, und der ist wirklich sehr hoch …«

Tiamak eilte hinaus. Etan sprang auf und folgte ihm. Tiamaks Sekretär, der seinen Auftrag ausgeführt hatte, beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und rang nach Luft.

33

Geheimnisse und Versprechen

Jedes Mal, wenn die Königin sich Morgan auf dem provisorischen Lager nähern wollte, das man ihm eilig in der königlichen Kapelle bereitet hatte, runzelte Thelía die Stirn und bat sie höflich, wieder zurückzutreten. Weggescheucht zu werden wie ein Kind, passte Miriamel zwar gar nicht, aber sie versuchte sich zu beherrschen.

Endlich richtete Thelía sich auf. »Jetzt könnt Ihr zu ihm, Majestät. Ich kann Euch beruhigen – er ist nur auf dem Turm gestürzt, nicht vom Turm, dem Herrn sei Dank. Abgesehen von einer mächtigen Beule am Kinn und einem blutigen Fuß habe ich nichts Schlimmeres gefunden als ein paar Schnitte und Schürfwunden und Prellungen.«

»Elysia sei gepriesen!« Miri kniete sich neben Morgan und betupfte seine Stirn mit einem feuchten Tuch. »Dank dem Allmächtigen bist du nicht schlimmer verletzt. Mein armer Junge!«