Für Anna

 

Hubertus Tigges

Der Klang des Meeres – Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit

 

Grundsätzliches und Vorbereitungen

Vorspann am See – Drei Tage zuvor

Fortgehen und Ankommen

Tag für Tag - 20. Oktober 2006 - 17. November 2006

Rio de Janeiro - Buzios

Der Klang des Meeres - 2. Dezember 2006 – 16. Dezember 2006

Nachwort

 

Der Klang des Meeres – Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit

copyright 2012/2016 Hubertus Tigges

Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin

www.epubli.de

 

 

Grundsätzliches und Vorbereitungen

 

„Aus dem Nichts bin ich gekommen,

ins Nichts kehre ich zurück,

alles, was ich dachte und tat,

war nur ein Traum in einem Traum.“ – Japanisches Sterbegebet

 

„Frei zu sein bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts und niemanden besessen zu sein.“ – Swami Sivananda Radha

 

Der Anfang der Reise ist immer schon ihr Ende.

 

Ich will etwas – und genau das ist das Problem.

Die grundlegende Lehre des Buddha, die er nach seiner Erleuchtung verkündete, bestand in der Darlegung der Vier Edlen Wahrheiten. Die erste dieser Wahrheiten besagt: Alles Leben ist Leiden. Leiden durchdringt unsere gesamte Existenz, unseren Körper, unsere Gedanken, unsere Gefühle. Die Ursache dieses Leidens, so der Buddha, ist das Wollen, das ewige Verlangen des Menschen oder konkreter: des Ego, etwas zu erreichen, der Durst nach dem Erfolg, das scheinbar nicht zu stillende Verlangen nach materiellem Reichtum, nach Genuss, aber auch der Hunger nach Erkenntnis.

Eben: nach Erkenntnis.

Mein Ich, das es nicht gibt, will etwas erkennen, das es ebenfalls nicht gibt.

Ist das absurd? Widersinnig? Verrückt?

In der Philosophie des Buddhismus ist es all das nicht. Im Gegenteil: Es ist die Quintessenz der Lehre. Dies zu verstehen, zu erleben, bedeutet das Ende der Suche, das Sich-Auflösen der Illusionen, denn von Anfang an gibt es kein Ego, existiert kein Ziel.

Es ist nichts da!

Das zu erkennen, ist das Ziel der Reise. Nein, es muss nicht nur erkannt werden – es geht darum, es zu erleben, körperlich, emotional zu erfahren. Solange diese Erkenntnis nur eine des Verstandes ist, hat sie keinen Wert. Oder: Sie ist etwa so wertvoll wie die mathematische Erkenntnis, dass die Addition von eins und eins zwei ist.

Das ständige Unbehagen am Ist-Zustand, unser Gefühl des Mangels, dem wir dadurch abzuhelfen trachten, indem wir Illusionen nachlaufen, ist scheinbar immer vorhanden: Ein neues Haus wird uns Ruhe vor den Nachbarn bringen, der Millionengewinn endlich finanzielle Freiheit, mit der neuen Freundin werden wir das ewige Glück finden, und ach ja! – eine neue Weltordnung schafft für alle Frieden, Reichtum und Wohlstand.

Aber Buddha hat in seinen Vier Edlen Wahrheiten nicht nur konstatiert, dass alles Leben Leiden ist, dass die Ursache für dieses Leiden in unserer Gier und unserem Habenwollen besteht, nein, er hat auch – glücklicherweise – festgestellt, dass das Leiden überwunden werden kann – die dritte der Edlen Wahrheiten – und den Weg gewiesen, der zur Beendigung der Ursachen von Leiden führt: Das nun ist der Edle Achtfache Pfad, der praktische Anweisungen gibt, wie dem Leiden ein Ende bereitet werden kann, oder, wenn uns das in diesem Leben nicht gelingt, wie wir es minimieren können.

Der Edle Achtfache Pfad besteht im rechten Verstehen, den rechten Gedanken, dem rechten Sprechen, der rechten Handlungsweise, dem rechten Lebensunterhalt, der rechten Bemühung, der rechten Achtsamkeit, der rechten Konzentration oder Meditation.

Gehen wir diesen Weg, erkennen wir schließlich, dass es nichts zu erreichen gibt. Denn es gibt kein Selbst, dass irgendetwas erreichen könnte. Das Selbst, auf das wir uns so viel einbilden, um das wir Tag für Tag so ein Theater machen, gibt es nicht, gab es nie, wird es nie geben.

Ist das nicht wunderbar!

Das Ziel, das der sich unablässig in Verstrickungen und Illusionen Verfangende erreichen will – es ist nur Trug, eine Vorstellung, ein Konzept, ohne Substanz. Das Ich, das uns so viele Mühen bereitet, Schmerzen verursacht, weil es alles, was geschieht, auf sich bezieht, existiert nicht.

All sein aufgeplustertes Gebaren – es ist nur ein sekundenhaft auftretendes Blendwerk aus Gedanken, Gefühlen, Verhalten, das aus dem Nichts auftaucht, erstrahlt wie ein Feuerwerkskörper, um gleich darauf wieder zu vergehen, ins Nichts zurückzufallen.

Doch Freiheit, die Erlösung von allem Leid ist, ist in jedem Augenblick. Es gibt nichts zu erreichen. Es gibt nichts zu erkennen. Alles, was ist, ist nur eine Augenblicksentfaltung im Hier und Jetzt …- und schon wieder vorbei.

Das ist das Ende der Reise.

Ich stehe erst am Anfang.

Ich will. Das ist das Problem.

Doch bei Licht betrachtet, ist dieses Problem auch wieder keins. Denn es ist ebenso ohne alle Substanz, vollkommen leer – d. h. vergänglich, abhängig, bedingt, ohne Ich – wie alles andere. Wie alles, wie All und Es, zwischen denen es auch keinen Unterschied gibt. Denn das All und das Es sind von gleicher Beschaffenheit oder Nicht-Beschaffenheit wie das tausendfältige Sein: Sie sind leer!

Das Ich, das sich in seinem unablässigem Bestreben, sich als Person zu konstituieren, abgrenzt, Mauern errichtet - es ist nicht. Es gibt lediglich eine Prozesshaftigkeit, ein Tun als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken.

Ein Ich aber, das nicht existiert, kann nicht leiden. Das leidende Ich ist immer eines, das anhaftet, sich festkrallt, sich verzehrt nach Vergangenem oder Zukünftigem, das sich aufbläst und aufbläst und leider! leider! – nie platzt!

Geschähe das doch nur!

Wie einfach ist es, loszulassen, die großen, schweren Bündel, die wir auf der Schulter tragen, fallen zu lassen – und frei zu werden. Frieden zu finden.

Loslassen! In jedem Augenblick: loslassen! Alle Konzepte, alle Vorstellungen, alle Hoffnungen, alle Träume, alle Ängste.

Es hat alles keine Substanz. Es ist nur ein Produkt des Geistes, der es hervorbringt, aber auch dieser Geist, und damit die Persönlichkeit, die sich durch des Geistes Tätigsein konstituiert, ist leer.

Leer.

Wie kann etwas sein, was nicht ist? Es ist und ist nicht, in unendlicher Prozesshaftigkeit, aber nie in einer Zuständlichkeit.

Ich will.

Und das ist das Problem.

Vor allem will ich wissen. Verstehen. Erkennen.

Ich will etwas sein, was ich schon längst bin.

Nur ist mit das zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Oder doch?

 

 

Vorspann am See – Drei Tage zuvor

 

Es sind noch drei Tage bis zu meiner Abreise in ein zenbuddhistisches Laienkloster in Brasilien. Brasilien und Zen-Buddhismus – wie passt denn das zusammen?, fragte ich mich, als ich zum ersten Mal von der Einrichtung hörte, die etwa hundertfünfzig Kilometer von Petropolis, Brasiliens alter Kaiserstadt, entfernt liegt. Brasilien verband ich nicht unbedingt mit der Strenge der zenbuddhistischen Disziplin, aber im Grunde zeigte dieser Vorbehalt nur, wie eng mein Denken war. Natürlich „passt“ Zen genauso gut nach Brasilien, wie es nach Deutschland passt. Oder nach Australien. Oder Island. Oder wohin auch immer. Außerdem leben etwa 1,2 Millionen Menschen japanischer Abstammung in Brasilien, sodass es naheliegt, dass es in diesem vom Christentum geprägten Land eine „Minderheit“ gibt, die Zen praktiziert.

Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde ich auf diese Einrichtung aufmerksam. Die Mutter meiner Freundin drückte mir einen Flyer in die Hand und meinte, das könne mich interessieren. Ich sah eine Ansammlung kleiner Häuschen, ziemlich windschief und nicht sehr vertrauenserweckend. Es waren sieben oder acht, am Rand gab es ein größeres Haus, eine Wiese, auf der Kühe weideten, über allem ein makellos wolkenloser Himmel und eine Sonne, deren Gelb geradezu in die Augen stach. Zen do Brasil las ich und sah einen ungewöhnlich großen lächelnden Mann mit europäischen Gesichtszügen, die Hände artig vor einer Robe gefaltet, unter der er, so vermutete ich, ziemlich schwitzen musste. Ich faltete den Flyer auf, las das Programm des Zen do Brasil, das im Wesentlichen aus Tag für Tag stattfindenden Zeiten für das Zazen bestand. Außerdem gab es jeden Monat ein fünf Tage dauerndes Retreat, das in Schweigen verbracht wurde. Es gab die Möglichkeit, sich für längere Zeit in dem Laienkloster aufzuhalten. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung waren nicht gerade gering. Außerdem wurde von jedem, der sich entschloss, für Wochen oder Monate am Klosterleben teilzunehmen, erwartet, dass er mehrere Stunden täglich arbeitete, um den Erhalt des Klosters zu gewährleisten.

In dieses Kloster wollte ich. Den Flyer hatte ich aufbewahrt, er war nun sieben Jahre alt, aber die Website des Klosters war aktuell, und auch der japanische Vorsteher schien sich noch bester Gesundheit zu erfreuen.

Obwohl dieses Zentrum nur knapp achtzig Kilometer von dem Haus entfernt liegt, in dem ich die Wochenenden mit meiner Freundin verbrachte, bin ich damals nicht dorthin gegangen. Ich hatte die Nase voll vom Zen. Eine unerfreuliche Begegnung mit dieser Form der buddhistischen Geistesschulung hatte ich in Japan kennen gelernt. Ich war nach Brasilien geflogen, weil ich eben nichts mit Zen zu tun haben wollte, aber irgendwie begegnete ich ihm überall.

Es ist das Jahr 2006. Meine Freundin ist vor einem Jahr zurück nach Brasilien gegangen, weil sie nicht mehr in Berlin leben wollte. Immerhin hat sie vierzehn Jahre in Deutschland verbracht, studiert, ihren Abschluss gemacht, aber irgendwann hatte sie die Nase voll von Berlin im November, wochenlangem Grau und Regen, gepaart mit der Miesepetrigkeit der hauptstädtischen Bevölkerung. Ich konnte sie verstehen. Nur fand ich es nicht so toll, dass sie die Koffer packte und verschwand, während ich zurückblieb und die Frage beantworten durfte, wie es mit uns weitergehen sollte. Es würde nicht weitergehen, wenn ich in Berlin lebte und sie in Brasilien. Das wäre dann entschieden mehr als eine Fernbeziehung. Also entschloss ich mich, all mein Hab und Gut zu veräußern, meinen Besitz zu reduzieren, bis er in wenige Taschen passte, ein Ticket zu kaufen und nach Brasilien auszuwandern.

Es ist im Augenblick einiges los in meinem Leben, und es fällt mir schwer, mit den Veränderungen Schritt zu halten.

 

Ich bin auf dem Weg zum Liepnitzsee. Seit ich dieses kleine Juwel, das inmitten eines Waldgebietes liegt, zwei Jahre zuvor entdeckt habe, bin ich immer wieder dorthin gefahren. Mit der S- und Regionalbahn bin ich eine Stunde unterwegs zum Bahnhof Wandlitzsee. Von dort gehe ich dann noch einmal fünfzehn Minuten, bis ich den Rand des Waldes erreiche.

Es ist der 6. September 2006, ein kalter, grauer Tag. Als ich in Wandlitz den Zug verlasse, bin ich froh, dass ich einen Pullover eingesteckt habe, den ich mir überziehen kann.

Als ich am Morgen dieses Tages aus dem Bett stieg, musste ich nicht lange überlegen, wie ich diesen Tag verbringen wollte. Ich schmierte mir Brote, füllte die Thermoskanne mit Tee, packte alles in meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Doch ich war etwas zu spät losgegangen, sodass mich Zweifel überkamen, ob ich die S-Bahn erreichen würde. Ja, mich ergriff eine gewisse Verzweiflung, als ich auf die Uhr schaute und feststellte, dass mir nur noch zwei Minuten blieben. Ich wollte auf jeden Fall zum Liepnitzsee und nicht zurück in die Wohnung. So lief ich die letzten Meter, hastete die Treppe zum Bahnsteig hinauf und kam gerade rechtzeitig. Der Fahrkartenautomat spuckte das Ticket aus, als die S-Bahn einfuhr. Bornholmer Straße stieg ich um, in Karow noch einmal, nun in die Regionalbahn. Trotz des trüben Wetters waren viele Menschen unterwegs, Familien, Fahrradfahrer.

Der Liepnitzsee liegt inmitten eines Waldes, zu Fuß brauche ich etwa fünf Stunden, um ihn einmal zu umrunden. Das Laub der Bäume am See beginnt, sich zu verfärben. Im Wald sieht es jedoch noch anders aus. Die Blätter an den Zweigen der mächtigen, hoch aufragenden Buchen, deren Stämme wie Säulen wirken, so grade sind sie gewachsen, sind noch grün.

Ich mache Rast an einem dem Liepnitzsee vorgelagerten kleineren Teiche, setze mich auf eine Steinbank, hole meine Thermoskanne heraus und schaue auf das Wasser, dessen Oberfläche sich kaum bewegt. Ich genieße die Stille dieses Ortes. Am Ufer hat jemand Steine, Äste und Laub so angeordnet, dass der Eindruck entsteht, vor einem Natur-Altar zu sitzen, den Geistern des Waldes – oder wem auch immer - gewidmet.

Ich gehe weiter Richtung Ützdorf. Immer wieder bleibe ich stehen, um an besonders schönen Stellen den Ausblick auf den See und den Wald zu genießen. Der Weg führt am Ufersaum entlang, manchmal ergibt sich die Möglichkeit, von einem Bootssteg aus über das Wasser zu blicken. Doch als ich in Ützdorf aus dem Wald komme, fühle ich mich so flau, dass ich ohne zu zögern in die Gaststätte dort gehe. Fast alle Tische sind besetzt, doch ich finde noch einen Platz, bestelle einen Kaffee und Toast und mache mich nach einer halben Stunde auf den Rückweg entlang des gegenüberliegenden Ufers.

Ich bin allein. Das schmerzt. Die Spaziergänger, denen ich begegne, sind fast immer als Paar oder in einer Gruppe unterwegs. Das Gefühl der Einsamkeit, das mich plötzlich überfällt, beißt in meiner Seele. Ich versuche es fortzuschieben, aber es gelingt nicht. Vielleicht mit einem Wunsch, der mich auf andere Gedanken bringt? Hätte ich doch meinen Aquarellmalkasten mitgenommen, um mich an dem einen oder anderen Motiv zu versuchen, das mir in dieser Landschaft begegnet.

Ich setze mich noch einmal auf eine Bank, die unweit des Ufers steht. Schilfhalme wiegen sich leicht im Wind, der Himmel ist regengrau. Auf der anderen Uferseite erkenne ich inmitten der starken, gerade gewachsenen Bäume ein Gerippe, kahl, grau, ohne Zweige, tot, doch immer noch von imposanter Größe. Ein Caspar-David Friedrich-Motiv.

Noch drei Tage, denke ich, und beim Nachdenken über die heutigen Stunden geht mir Buddhas Axiom vom Leiden durch den Sinn. Wie Recht er doch hatte. Hat! Ich leide unter Hunger, Schwäche, der Kälte, der Einsamkeit, unter dem Druck, wieder nach Berlin zurückfahren zu müssen, um die letzten Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Immer ist da ein Mangel, ein Unwohlsein, und obwohl es unzweifelhaft viele schöne Augenblicke an diesem Tag gegeben hat, begegne ich ständig einem Zustand, in dem etwas nicht stimmt, mir etwas fehlt, ich nach etwas strebe, das ich erledigen, erreichen muss. Es ist kein die Existenz bedrohendes Leiden, ich habe genug Geld in der Tasche, um mir etwas essen kaufen zu können. Es geht nicht um Verhungern oder Erfrieren. Aber dennoch: Leiden ist immer da.

Ich erinnere mich an das „Wunderwort“: Loslassen! und seufze, schaue auf das Wasser des Sees, blicke hinüber zu dem alten toten Baum und plötzlich, wie aus dem Nichts – natürlich: Woher auch sonst? – denke ich: Bei allem, was ich fühle, denke, erlebe – ich begegne immer nur mir selbst. Aber: Ich bin …- NICHTS. Ich habe NICHTS. Ich werde NICHTS sein. Wie kann das, was nicht ist, sich sorgen? Wie kann NICHTS leiden? Vollkommenes NICHTS aber bedeutet vollkommene Freiheit, bedeutet immer-seiendes Hier und Jetzt.

Und weiter: Dennoch ist da etwas, was mir Sorgen macht. Was ist das, was nicht NICHTS ist?

Der Geist spielt Theater. Der Geist bewegt sich. Der Geist bewegt sich nicht.

Hoppla! Was war denn das? Ein Haarriss im Universum? In meinem Geist? Ich blicke auf das Wasser des Sees, das sich leicht kräuselt. Abgefallene Blätter bewegen sich schaukelnd auf den Wellen. Eine Ente paddelt neugierig heran. Es ist ganz still. Ich bin da. Und doch nicht da. Ich blicke auf meine Füße. Die sind auch da. Aber wo bin „ich“? Ich war, so viel steht fest, wenige Augenblicke zuvor nicht da. Ich war beim Schauen nur Schauen, war das Wasser des Sees, der alte Baum …- doch all diese Worte reichen nicht, um das Erlebte auszudrücken. Ich, als der Schauende, war nicht mehr. Es war nur: Schauen.

Ich bleibe noch eine halbe Stunde sitzen, bis der Geist, mein Geist, der Geist in mir wieder anfängt, die Vorhänge zur Seite zu ziehen und Theater spielt: Wenn du jetzt nicht losgehst, dann bekommst du den Zug nach Berlin nicht mehr … Es wird dunkel … Du musst packen … Hunger …

Als ich durch den Wald zurückgehe, frage ich mich, warum dieser Tag in der Natur schon wieder vorbei sein muss. Tja – schon wieder reingefallen! Noch ein paar Gramm mehr auf der Waagschale des Leidens. Kurze Zeit zuvor habe ich mir noch klar gemacht, dass diese Stunden hier draußen am See auch von den vielfältigsten Erfahrungen des Schmerzes und des Leidens durchzogen gewesen sind. Aber offenbar habe ich das schon wieder vergessen.

Es geht zurück. Vom Bahnhof Wandlitzsee nach Karow, von dort zur Bornholmer Straße, weiter zum Treptower Park. Hier steige ich um in einen Bus und schließlich in die U-Bahn. Ich bin wieder in meiner Wohnung. Ich koche mir einen Kaffee, esse die Brote, die ich am See nicht verzehrt habe.

Nun sind es nur noch zweieinhalb Tage bis zu meinem Abflug. Die Wohnung ist gekündigt und vom Vermieter abgenommen. Es steht nichts mehr in den Räumen. Die Yogamatte, auf der ich die letzten Nächte geschlafen habe, werde ich mitnehmen. In der Woche zuvor habe ich all meine Bücher zu meinen Eltern gebracht. Es fühlt sich gut an, nichts mehr zu besitzen. Fast nichts. Etwas ist ja noch da. Das, was ich in meine Taschen gepackt habe, was mit soll nach Brasilien in ein neues Leben. Hört sich gut an: ein neues Leben. Ob es gelingt? Ich weiß es nicht.

Bin ich mir eigentlich im Klaren darüber, auf was ich mich da einlasse? Was gebe ich auf? Eine Tätigkeit als Taxifahrer, die mir das Überleben sichert, aber auch nicht mehr. Ich gehöre zum akademischen Proletariat. Ein Taxifahrer mit Doktortitel. Nach fünfeinhalb Jahren Studium plus zweieinhalb Jahre Promotionsstudiengang sitze ich hinter dem Steuer eines Mercedes und arbeite zehn bis zwölf Stunden für einen Lohn von etwa fünf Euro pro Stunde. Das lasse ich gern hinter mir, diese stressige Schinderei im Berliner Stadtverkehr, die mir die Kraft aus Körper und Geist gesaugt hat. Warum es mir nie gelungen ist, als Doktor phil. zu arbeiten? Ich weiß es nicht. Es ist mir ein Rätsel. Immerhin war ich erst 29 Jahre alt, als ich die Doktorarbeit verteidigte. Aber niemand wollte mich: keine Zeitung, keine Radio- oder Fernsehsender, keine Universität. Ja, es ist mir ein Rätsel. Das Germanistikstudium habe ich mit Freude und Leidenschaft betrieben. Die Auseinandersetzung mit den Werken Thomas Manns, Hermann Hesses und Hermann Brochs in meiner Dissertation hat mir eine große intellektuelle Befriedigung verschafft. Und Freude. Den „Faustus“ zu lesen – und alle anderen Werke Thomas Manns – den „Tod des Vergil“, das „Glasperlenspiel“, die Werke zu spüren, zu „schmecken“, ihre geistige Strahlkraft zu erleben, sie entsprechend meiner Arbeitsaufgabe in der Dissertation zu analysieren, war ein Geschenk. Gerne hätte ich literaturwissenschaftlich weitergearbeitet im universitären Rahmen. Aber das hat leider nicht geklappt.

Ich habe meinen Aufenthalt im Zen do Brasil für den Oktober geplant. Vier Wochen will ich dort bleiben. Meine Freundin ist damit einverstanden. Sie scheint froh darüber zu sein, dass ich den Entschluss gefasst habe, nach Brasilien zu kommen, um dort zu leben. Dass ich mich vier Wochen lang zurückziehen werde, macht ihr nichts aus. Das Zendo liegt ja, wie bereits erwähnt, quasi in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses ihrer Mutter. Die Entfernung zwischen uns beträgt somit nicht mehr achttausend, sondern knapp achtzig Kilometer.

Ich schlafe schlecht. Tausend Fragen gehen mir durch den Sinn. Wird dieses Unternehmen gut gehen? Auf was lasse ich mich da eigentlich ein? Irgendwann in naher Zukunft wird das ersparte Geld, das ich mit nach Brasilien nehme, aufgebraucht sein. Dann werde ich arbeiten müssen. Aber reichen meine portugiesischen Sprachkenntnisse, um das möglich werden zu lassen? Ich versuche, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, um ruhig zu werden. Warum mache ich mir Sorgen um die Zukunft? Sie ist ein Traumgebilde, bevölkert von den Gespenstern, die meinem Geist entspringen. Nichts, was ich von der Zukunft erwarte, ist real. „Wirklich“ ist lediglich dieser eine Augenblick, den ich jetzt und hier erfahre. Auf der Yogamatte liegend, den Geräuschen lauschend, die von dem Theater herüberdrängen, dessen Spielstätte unmittelbar neben meiner Wohnung liegt. Wie oft habe ich mich darüber geärgert, wenn mitten in der Nacht die Aufführung ihrem dramatischen Höhepunkt entgegeneilte, Trommeln geschlagen wurden und die Schauspieler schrien, als ob ihnen bei lebendigem Leibe das Herz aus dem Leib gerissen wurde. Ich hingegen wurde aus dem Schlaf gerissen, war hellwach, zu allem Überfluss wütend bis zur Weißglut und verfluchte diese winzige Wohnung, die ich ein Jahr zuvor angemietet hatte. Für mich würde die Nacht um fünf Uhr zu Ende sein, weil ich um sechs in mein Taxi stieg, das ich in den darauf folgenden zwölf Stunden nicht verlassen sollte. Und das an sechs Tagen in der Woche, weil ich Geld sparen musste für die Reise nach Brasilien.

Nein, auch diese Wohnung gebe ich auf, ohne dass es mich schmerzt. Vielleicht mute ich mir auch etwas zu viel zu. Es reicht doch, wenn ich versuche, erst einmal in Brasilien anzukommen, mich an den Rhythmus Rio de Janeiros zu gewöhnen. Muss ich denn noch gleich einen draufpacken und mich der zenbuddhistischen Schulung unterziehen?

Aber ich bin ja nicht das erste Mal in Brasilien. Tatsächlich wird es mein fünfter Aufenthalt dort. Im Unterschied zu meinen vorherigen Besuchen werde ich jedoch die meiste Zeit in Rio leben, da meine Freundin dort eine Wohnung angemietet hat. In den Jahren zuvor hielten wir uns mehr oder weniger ausschließlich im Haus ihrer Mutter auf, reisten ein wenig durch das Land, waren aber immer nur tageweise in Rio de Janeiro.

Wegen des Aufenthaltes im Zendo do Brasil versuche ich, mir nicht allzu viele Gedanken zu machen. In den vier Wochen werde ich mich völlig zurückziehen. Kein Telefon. Kein Fernseher, kein Radio. Keine Zeitungen. Keine E-Mails. Ich weiß, dass ich das alles nicht vermissen werde, nur der Umstand, dass ich nicht mehr Tag für Tag mit meiner Freundin sprechen kann, macht mir zu schaffen.

Neben Fragen und Zweifeln, die mich manchmal überkommen, ist Freude jedoch das vorrangige Gefühl. Ich freue mich, meine Freundin wiederzusehen, obwohl die vergangenen Jahre nicht das waren, was ich als konfliktfreie Zeit bezeichnen würde. Ich freue mich, nach Brasilien zu fliegen, und ich freue mich auf die vier Wochen im Zendo do Brasil.

Erfahrungen mit Sesshin habe ich seit einigen Jahren. Jahr für Jahr bin ich seit 1990 in ein buddhistisches Schulungscenter im Sauerland gefahren. Nach jedem Sesshin, an dem ich dort teilgenommen habe, lebte in mir der Wunsch auf, länger dort zu bleiben. Ich will etwas. Ich will dieses Koan lösen, mit dem ich mich Tag für Tag beschäftige. Ich will erkennen.

Meine ersten Sesshin-Erfahrungen waren sehr schmerzhaft. Im halben Lotus zu sitzen, also in der Sitzposition, in der der linke Fuß auf dem rechten Oberschenkel ruht oder der rechte Fuß auf dem linken Oberschenkel, brachte mich mit Muskeln und Knochen in Kontakt, von denen ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass sie überhaupt existieren. Obwohl ich mein Leben lang sportlich „unterwegs“ war und immer noch bin, hatte ich mit außergewöhnlich starken Schmerzen zu kämpfen.

Der mitteleuropäische Mensch sitzt eben nicht mit überkreuzten Beinen auf dem Fußboden, sondern auf einem Stuhl. Doch die asiatische Vorgabe war nun einmal die Lotusstellung oder der Hocksitz. Alternativ dazu auch die gemilderte Form des Sitzens auf einem Bänkchen, wobei die Unterschenkel unter den Sitz geschoben werden. Aber das widersprach wohl meinem sportlichen Anspruch, und so setzte ich mich auf mein Kissen. Tatsächlich bringt das Sitzen im halben oder vollen Lotus eine maximal stabile Haltung. Stunde um Stunde saß ich so, kämpfte mich durch den Schmerz, bis sich die Muskulatur an diese Haltung gewöhnt hatte. Das dauerte einige Zeit. Heute kann ich ausdauernder sitzen, ohne dass ich Schmerzen habe, weder in den Knien noch im Rücken. Ich genieße es.

Zu Beginn meiner „Ausbildung“ jedoch deutete nichts darauf hin. Im Verlaufe eines Sesshin wurde das Sitzen zu einer solchen Tortur, bekam ich so starke Schmerzen in den Knien, das ich, nachdem ich mich nach der letzten Runde Zazen erhoben hatte, am ganzen Körper schlotterte und befürchtete, einfach umzufallen. Während der letzten fünfundzwanzig Minuten war ich nur noch Schmerz, eine stechende, mich marternde Pein in meinen Knien, die meine Konzentration vollkommen in Beschlag nahm. Ich betete das Schlagen des Glöckchens herbei, das das Ende der Runde anzeigte, aber es kam nicht. Ich zählte immer wieder bis dreißig, sagte mir, wenn jetzt nicht bald Schluss ist, dann verändere ich meine Position, was in dieser Situation vernünftig gewesen wäre. Aber auch das tat ich nicht, weil ich zu stolz war. Ich wollte durchhalten, auch wenn ich nur noch ein Schmerz empfindendes Etwas sein sollte. Eigentlich – hah! eigentlich – ist der Schmerz ein „guter Lehrmeister“, da das Bewusstsein nur noch auf diese eine Körperempfindung fokussiert ist. Aber das lässt sich im Nachhinein immer leicht sagen. Auf dem Kissen zu sitzen und diesen Schmerz zu erleiden, ist jedoch etwas ganz anderes.

Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz begleitete mich durch viele Sesshin, wobei sich die beschriebenen Höllenqualen von Sesshin zu Sesshin zunehmend in der zweiten Hälfte der Veranstaltungswoche ereigneten. Erst waren es zwei Tage, die ich ohne Probleme überstand, dann drei, irgendwann dann alle fünf. Doch bis dahin schmierte ich meine Knie mit Wärmesalbe ein, betrieb „Sesshin-Doping“, indem ich Aspirin schluckte, die jedoch gegen diese Form der Marter überhaupt nicht halfen.

An ein schmerzhaftes Sitzen erinnere ich mich noch sehr deutlich. Die Pein hatte wieder Ausmaße erreicht, die nicht auszuhalten waren. Aber wie immer bewegte ich mich nicht. Ich konnte das nicht zulassen. Es ging nicht darum, gegenüber den anderen Teilnehmern meinen Durchhaltewillen zu beweisen. Was wussten die schon von meinen Qualen? (Nach einem der Sesshin sagte mir die Frau, die neben mir gesessen hatte: Wirklich beeindruckend, du hast gesessen wie ein Stein!, worauf ich nur lächelte und verstohlen meine Knie rieb.) Nein: Ich konnte mir gegenüber keine Schwäche zeigen. Ich durfte das nicht erlauben.

Ich zählte wieder bis dreißig, dachte: Verdammt nochmal, jetzt muss doch bald Schluss sein!, die Schmerzen hämmerten an drei oder vier verschiedenen Stellen in meinen Knien auf so intensive Weise, dass es nicht mehr zu ertragen war, aber – dann war ich weg! Das heißt, mein Bewusstsein war für Sekunden weggetreten. Ich spürte keinen Schmerz mehr, keine Knie, es gab kein Zählen, es gab mich einfach nicht mehr.

Ich war nicht verblüfft, nicht erschrocken, ich betrachtete das nicht als außergewöhnliche Bewusstseinserfahrung, nein: Ich war nur dankbar. Aber auch dieses Gefühl konnte ich in dieser Phase der gnadenvollen Schmerzpause nicht empfinden, weil sich das Ich, das zu dieser Emotion befähigt war, verflüchtigt hatte. Es hatte ganz offenbar die Nase gestrichen voll von dieser Selbstquälerei und hatte sich grußlos verabschiedet.

Dann kam ich zurück, der Schmerz hämmerte erneut in meinen Knien, bis schließlich – Kling! – das Glöckchen mich erlöste.

Was war da geschehen? Welche Droge hatte das körpereigene Chemielabor bereitgestellt, um mich für Augenblicke zu erlösen? Aber warum hatte es das nicht schon früher gemacht? Oder war „Es“ etwas „Anderes“ gewesen.

Warum setzte ich mich freiwillig einer solchen Situation aus? Warum musste ich mir auf so fundamental-körperliche Weise zu Bewusstsein bringen, dass das Leben Leiden ist?

Weil ich es wollte. Weil ich es will.

 

Ich packe. Ich wähle einen Rollenkoffer, den mir mein Bruder vor wenigen Jahren geschenkt hat. Mein Bruder lebt seit fünfzehn Jahren in den USA. Es ist dort alles etwas größer, breiter, schwerer zu sein als bei uns. Der Koffer ist so groß, dass ich ihn nur sehr selten verwende. Ab einer bestimmten Höhe mal Breite mal Tiefe werden Gepäckstücke unpraktisch. Allein schon die Frage, wie sie die Treppe hinunter und hinauf zu schaffen sind, wird zu einem Problem. Dennoch: Ich nehme ihn, dazu noch einen Rucksack, der nicht wesentlich kleiner ist als der Koffer. Du spinnst, sage ich mir selbst. Die Mönche früherer Jahrhunderte besaßen neben dem, was sie auf dem Leibe trugen, noch eine Robe zum Wechseln und ihre Bettelschalen. Ich aber bin kein Mönch, sondern ein Mann, der nach Brasilien auswandern will. Ich halte kurz inne, frage mich: Wirklich? Willst du das? Ich schüttele ungläubig den Kopf, dann stelle ich neben den Rollenkoffer und den großen Rucksack noch einen kleineren – und fülle alle drei Gepäckstücke bis oben hin.

Immer wieder sage ich mir, während ich Kleidungsstück auf Kleidungsstück lege: Wozu brauchst du das alles, wozu musst, du das alles mitnehmen? Heh, sage ich mir, das ist alles, was ich noch habe. Den Rest habe ich in Altkleidercontainer geworfen oder zu meinen Eltern gebracht. Weniger geht nicht.

Ich packe also mein Meditationskissen ein, Strümpfe, Unterhosen, T-Shirts, Sweatshirts, Pullover, Hosen, das sind: drei weite Hosen zum Sitzen, eine Alltagshose neben der, die ich trage. Ich könnte mir ja auf den Hinflug einen Kaffee über die Hosen schütten, es könnte …

Ich weiß, ich weiß: Es ist diese konjunktivische Lebenssituation, die mir zum Problem wird. Es ist unmöglich, gegen alle Wechselfälle des Lebens gewappnet zu sein. Anstatt das Leben so anzunehmen, wie es in diesem Augenblick ist, lebt der Konjunktiv-Mensch immer dort, wo der Augenblick eben nicht ist: Wenn ich endlich im Urlaub sein werde, dann werde ich 1. Gitarre spielen, 2. malen, 3. ausgedehnte Wanderungen unternehmen, 4. die Sprache des Gastlandes lernen, 5. …, 6. … Was wir für schwere Lasten auf unseren Schultern tragen! Lasten, die es überhaupt nicht gibt.

Dem will ich entkommen, doch wenn ich mir meine Gepäckstücke ansehe, frage ich mich, welch tonnenschweren Packen ich mit mir herumschleppe.

Nein, meinen Aquarellmalkasten nehme ich nicht mit. Nein, nein, nein. Aber was soll ich damit machen? Ihn wegschmeißen? Verschenken? An wen? Ich werde in den nächsten Tagen niemanden mehr treffen.

Ich weiß nicht, wie sich das Leben in Brasilien darstellen wird. Ich weiß auch nicht, wie der japanische Abt des Zendo do Brasil das Klosterleben strukturiert hat, obwohl ich es mir gut vorstellen kann. Es gibt Vorgaben für das Klosterleben, die überall auf der Welt gleich sind. Zentraler Bestandteil der Schulung ist Zazen, das Sitzen in Meditation. Morgens, mittags, nachmittags, abends. Bei Sesshin viele, viele Stunden am Tag. Aber trotz allem besitze ich nicht die Gabe, in die Zukunft zu schauen.

Aber eben das ist es: Ich lebe in der Zukunft! Blödmann!, sage ich zu mir selbst. Begreifst du es denn nicht? Und stehe ratlos vor dem Rollkoffer und dem Rucksack. Laufschuhe? Ja, die müssen mit. Laufhose, -jacke …

Konzepte, Träume, Vorstellungen …

Dieses Pack-Problem habe ich vor jeder Reise. Ich nehme immer zu viel mit: Malutensilien, die ich nicht brauche, Bücher, die ich nicht lese, Kleidungsstücke, die ich nicht anziehe. Aber das hier ist ja nicht nur eine Reise. Es ist das Projekt Auswanderung. Da kann ruhig etwas mehr in die Koffer. Obwohl: So viel darf es auch nicht sein, sonst berechnet mir die Fluggesellschaft einen satten Betrag für jedes Kilogramm mehr.

Auch unter diesem Aspekt ist diese Reise eine gute Chance, um etwas zu lernen. Der Alltag bietet ständig die Gelegenheit, zu verstehen. In diesem Fall die einfache Regel: Weniger ist mehr.

Ja, ja, immer eine Chance, etwas zu lernen – und ich packe weiter! Wärmesalbe gegen mögliches – mögliches! - Rückenleiden. Diese Mütze, diesen Spiralblock und …oh ja: das Tagebuch! Auf jeden Fall. Etwas zu schreiben.

Ich bin grimmig bemüht, mein Handeln zu rationalisieren, aber irgendwann muss ich lachen: Da stehen drei Gepäckstücke, vollgepackt bis obenhin. Ich klatsche in die Hände und lache. Es ist in Ordnung. Das bin ich. Das bin ich in diesem Augenblick, gerüstet für – fast – alles, ausgestattet mit zwei Regenjacken, Vitamin C, B gegen gerissene Mundwinkel bei vegetarischer Ernährung, Magnesium. Es ist zum Lachen. Ich fliege nach Rio de Janeiro, eine Millionenmetropole, nicht in die Sahara. Oder in die Arktis. Alles, was in diesen Koffern und Taschen steckt, kann ich mir auch dort kaufen. Aber …

…. es ist in Ordnung.

Es ist der Abend vor dem Abflug. Ich habe die Wohnung geputzt. Der Nachsendeantrag ist gestellt. Ich schlafe schlecht in dieser Nacht. Schlafe ich überhaupt? Es mag Menschen geben, die legen sich am Abend vor einer solchen Reise ins Bett, ruhen tief und fest, stehen am Morgen auf, frühstücken und gehen. Doch ich, als der Konjunktiv-Mensch, als der ich mich in den vergangenen Tagen wieder erwiesen habe, wälze mich von einer Seite der Yogamatte auf die andere und grübele …

Grübeln ist wirklich das passende Wort für das, was ich in dieser Situation anstelle. Ich stochere herum, grabe hier und da in den entfernteren Regionen meines Seelenlebens, fördere verlässlich etwas zu Tage, was zu der getroffenen Entscheidung in Widerspruch steht. Ganz besonders pikant ist dabei die „Warum“-Frage für einen Menschen, der es gewohnt ist, ein Problem nicht nur von einer Seite zu betrachten, sondern es hin- und herwendet, immer aufs Neue das Für und Wider erörtert. Für einen solchen Menschen ist die „Warum“-Frage der Schlafkiller an sich.

In Situationen wie dieser habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, dieses „Warum“ zu visualisieren – und es dann durchzustreichen, zweimal: ein Strich von unten links nach oben rechts und einer von unten rechts nach oben links. Doppelt hält besser.

Wenn sich das „Warum“ jedoch als allzu hartnäckig erwies, zeigte ich ihm auch schon einmal einen Vogel und wechselte einen Konsonanten aus: „Darum“!

„Warum“ ist ein schönes Koan.

Lös es!

Oder lass es!

 

Fortgehen und Ankommen

 

Ich stelle mein Gepäck in den Flur, und bevor ich die Wohnungstür verschließe, falte ich die Hände vor der Brust und verneige mich. Ein Zimmer, Küche, Bad. Diese Wohnung hat mir im vergangenen Jahr Obdach gegeben. Es war nicht immer schön, hier zu wohnen. Aber wo ist es das schon?

Ich lasse mich von einem Taxi zum Flughafen Tegel bringen. Der Fahrer erweist sich als nett, wir unterhalten uns ein wenig über die Situation des Gewerbes, und es stellt sich heraus, dass auch dieser Mann, wie so viele seiner Kollegen, sieben Tage die Woche fahren muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Dennoch: Es ist kein nöliges Klagen, eher ein heiteres Einverständnis. Ich gebe mich nicht als ehemaliger Taxifahrer, als der ich mich begreife, zu erkennen. Erstens bin ich müde und dankbar, dass der Mann nach einer Weile nichts mehr sagt, zweitens spüre ich jetzt doch eine erhebliche Unruhe. Ja, ich bin aufgeregt. Ich gehe weg. Ich verlasse Berlin, ich verlasse Deutschland. Alles vorbei, denke ich, auf in ein neues, ein anderes Leben! Ich setze mich auf und blicke hinaus. Wie oft bin ich mit dem Taxi diesen Weg gefahren, um Fluggäste nach Tegel zu bringen. Das ist mir alles bis zum Überdruss vertraut. Und doch versuche ich jetzt, es zu sehen, als betrachte ich es zum ersten Mal. Und zum letzten Mal. Wer weiß schon, wann ich wiederkommen werde. Wann ich das nächste Mal durch diese Straßen fahren werde. „Wo fliegen Sie hin?“, fragt mich der Taxifahrer. – „Nach Brasilien“, antworte ich. – „Ah“, erwidert der Mann. „Brasilien! Urlaub?“ – „Kann man so sagen“, antworte ich. Der Mann seufzt. Ich sehe ihm geradezu an, welche Bilder im Augenblick durch seinen Geist ziehen, aber ich sage nichts weiter. Das, was die Medien über ein Land berichten, ist nicht das Land. Brasilien ist nicht Fußball, die Copacabana, die Hinterteile von Frauen am Strand, ist nicht der Drogenkrieg und die Favelas. All das ist Teil des Landes und seiner Alltagskultur, ja, aber es ist nur ein winziger Teil. Der Teil, der sich am besten verkaufen lässt. Es ist ein großer Unterschied, eine halbstündige Reportage über den Karneval in Brasilien zu sehen oder selbst im Sambadrome zu sitzen und die Leidenschaft zu erleben, mit der die Samba-Schulen ihre Themen darbieten.

„Sie sind ein Glückspilz“, sagt der Taxifahrer, als er die Gepäckstücke aus dem Kofferraum des Mercedes wuchtet. „Brasilien, meine Güte, da wäre ich jetzt auch gern …“ – „Wären Sie auch bereit, alles aufzugeben, um dort hinzugehen?“, frage ich ihn. „Alles, ich meine, ihre Wohnung, ihr Haus, ihr Auto, die Familie, alles …“ Der Taxifahrer schaut mich an. Dann zuckt er mit den Schultern. „Nein“, sagt er, „würde ich nicht. Urlaub ist in Ordnung, aber hier alles aufgeben, nee, das würde ich nicht.“

Ich schiebe den Gepäckwagen zum Counter der Air France. Check-in ist erst in einer Stunde, ich habe also noch Zeit, setze mich auf eine Bank und schaue den Menschen zu, die gleich mir ihre Wagen vor sich herschieben, in Gruppen zusammenstehen, sich unterhalten. Ich fliege über Paris nach Rio de Janeiro. Hört sich gut an, oder?, denke ich. Berlin. Paris. Rio.

Und doch ist alles nur eine Illusion, sage ich mir. Eine gewaltige Illusion. Es ist, weil ich es erkenne, weil ich ihm Bedeutung gebe. Berlin. Paris. Rio – das ist nur eine Buchstabenfolge. Mein Geist ist es, der diesen Buchstaben Sinnhaftigkeit verleiht, ihnen Bedeutung gibt. Nur mein Geist.