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Landkarte

RENATA PETRY

Das Geheimnis

vom

Thorsmoor

Die Angeln-Saga

Boyens Buchverlag
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Personenübersicht

Heute

Jens und Heike: Kieler Paar, auf Radtour in Angeln

Colin: Schäfer und Geschichtensammler

Christa Weise: Zimmerwirtin von Jens und Heike

Sina: Christa Weises Nichte

Carsten: Sinas Freund

Frede: Colins Freund, Großbauer und Landtagsabgeordneter

Maren: Fredes Frau

Damals

Aleph: reisender griechischer Barde

Offa: Fürst der Angeln

Wermund: Offas Vater, alter Fürst der Angeln

Aelfgard: Offas Mutter, Fürstentochter aus Jütland

Freawin: Aelfgards Bruder

Kaeta und Vig: Freawins Söhne, Offas Vettern

Wihtgils: Bruder von Aelfgard und Freawin, Fürst der Jüten

Eoldan: Offas Ziehbruder und Freund

Ulf und Groda: Eoldans Eltern, Offas Pflegeeltern

Wyla: Weissagerin

Wulf: Schmied

Eadgils: Fürst der Sweben

Hereweolt: Priester

Brecca: Krieger

Wihstan: Schiffsführer, später Eoldans Schwiegervater

Bea: Wihstans Tochter

Holda: Wihstans Frau

Radalf: Gesandter aus Geatland

Haerkyn: Fürst der Geaten

Kynethryd: genannt Thrydi, Haerkyns Tochter, Offas Frau

Chrysippos: alter Lehrer von Aleph

Ingard: Beischläferin von Offa

Rauk, Thorger, Thorfi, Aerni, Skaefi: Kynethryds Brüder

Angengeat, Eomer: Offas und Thrydis Söhne

Rymethryd: Offas und Thrydis Tochter

Alevich: Fürst der Daner

Osgeor: Priester, Hereweolts Nachfolger

Werlaf, Raedwald, Eadmund: Krieger und Mitglieder von Offas Witan

Winric: Kaufmann, Mitglied des Witan

Haerga: Schiffbauer

Gunveor und Aelle: Haergas Frauen

 

Kein Hügel über meinem Herzen,

Keine Erde auf meinen Augen,

Und keine Silbermünze unter der Zunge

Für den finsteren Fährmann der Toten.

Gebt mir mein Schiff,

Und richtet den Bug westwärts,

Zu jenen Inseln,

Wo der Sommer nie vergeht.

Jens und Heike

Der Feierabendverkehr rauschte, die beiden Dackel im Erdgeschoss kläfften und von irgendwoher wehten Musikfetzen durch die offene Balkontür. Es war ein warmer Abend Anfang August, und wenn man wie Jens und Heike in einer stickigen Dachwohnung mitten in Kiel wohnte, dann träumte man jetzt von Meer, Strand und einer kühlen Seebrise. Insofern war es ganz passend, dass sie an diesem Abend darüber sprachen, was sie mit den letzten Tagen Urlaub in diesem Sommer anstellen sollten. Die Frage war vor allem, wohin sie reisen konnten, und während sie das Für und Wider einzelner Ferienziele erörterten, wurde ihnen plötzlich klar, dass sie eigentlich überhaupt keine Lust auf den üblichen Urlaub im Süden hatten.

„Ist doch überall wie hier“, sagte Heike, „genauso laut, genauso voll. Und dafür noch viel Geld bezahlen!“

Sie überlegten hin und her, was als Alternative in Frage käme. Sie wollten einfach nur ein paar Tage raus, in eine andere Umgebung, etwas Luft schnappen, auftanken, bevor es weiterging. Das hatten sie weiß Gott nötig nach diesem total verkorksten Sommer. Bei Jens in der Firma war Kurzarbeit angeordnet worden, und jeder wusste, was das zu bedeuten hatte: Erst weniger Arbeit und weniger Geld, dann jede Menge Palaver der Politiker über ‚Standort Kiel‘ und ‚Attraktiver Norden‘, und schließlich, nach ein, zwei Jahren des Schwankens zwischen Resignation und Hoffnung, die Schließung des Betriebes. Bei Heike war es genauso schlimm, wenn auch aus anderem Grund: In der Stadtverwaltung wurde jede mögliche – und unmögliche – Stelle eingespart, sodass sie und ihre beiden Kolleginnen die Arbeit von zuvor fünf Angestellten erledigen mussten. Sie hatte den ganzen Sommer hindurch Überstunden gemacht und hatte nur noch eins im Sinn: bloß kein Stress, nur Ruhe und Entspannung. Und irgendwie tauchte dann die Idee mit der Radtour auf, eine Radtour Richtung Norden, sozusagen vor der Haustür. Je länger sie darüber sprachen, desto mehr Vorteile fielen ihnen ein.

„Das kostet ja so gut wie nichts“, sagte Heike und strich die streng zurückgebundenen blonden Haare noch glatter. „Die paar Übernachtungen – da brauchen wir noch nicht einmal ein Zelt mitzuschleppen, sondern können uns passende Unterkünfte suchen. Jetzt, wo die Feriensaison vorbei ist, ist das garantiert kein Problem.“

„Und wir sind den ganzen Tag draußen“, sagte Jens. „Ist doch optimal – dabei tun wir auch noch was für die Kondition.“

Heike, klein und schlank, warf einen vielsagenden Blick auf Jens’ gut gepolsterte Mitte, wo der Hosengürtel definitiv das letzte Loch erreicht hatte.

„Jaja, schon gut“, sagte Jens, der den Blick kannte. „Ich weiß, dass neunzig Kilo bei einsfünfundachtzig nicht ganz Idealgewicht sind … Übrigens kannst du auch etwas Bewegung gebrauchen – so wie du neuerdings die Treppen hochkeuchst!“

Heike beschloss, die letzte Bemerkung zu überhören und sagte: „Auf jeden Fall gibt es eine Menge, was wir uns angucken können. Ich wollte eigentlich seit längerem mal wieder nach Haithabu und diese nachgebauten Wikingerhäuser sehen. Und von dort könnten wir weiter –“

„– zum Beispiel Richtung Angeln. Dort gibt es jede Menge kleine Straßen und Radwege, und dann die schöne Landschaft –“

„– und du könntest deinen Aquarellkasten mitnehmen und vielleicht etwas malen! Das hast du schon so lange nicht mehr gemacht …“

„Mal sehen … Auf jeden Fall ist die Zeit ideal für eine Radtour – Spätsommer, also warm und sonnig, aber nicht zu heiß, genau das Richtige!“

Es war vier Wochen später, und selbst Jens musste zugeben, dass das hier auf keinen Fall genau das Richtige war. Zwar war es garantiert nicht zu heiß, aber eben auch ziemlich das Gegenteil von warm und sonnig. Sie standen vielmehr durchnässt und fröstelnd in einer Auniederung und sahen zu, wie der dichte Regen in das graue Wasser eines namenlosen Flüsschens fiel. Das war so in etwa der trostloseste Anblick, den man sich vorstellen konnte, und ihre Laune war längst ins Bodenlose gesunken.

Dabei hatte die Tour so vielversprechend angefangen. Sie waren gestern bei gutem Wetter in Kiel aufgebrochen, hatten im Zug das geräumige Fahrradabteil ganz für sich gehabt und waren allerbester Dinge gewesen. Sie hatten vor, bis nach Rendsburg zu fahren, von dort ganz gemütlich die etwa 30 Kilometer nach Haddeby zu radeln, wo sie auf dem Campingplatz direkt an der Schlei übernachten wollten – und zwar, höchst luxuriös, in einem der Mobilheime, die man dort mieten konnte. Es würde sogar noch ausreichend Zeit für Haithabu mit allen Sehenswürdigkeiten bleiben, und am nächsten Tag war es dann nur ein Katzensprung bis Missunde, wo sie mit der Fähre über die Schlei setzen und nach Kappeln fahren würden – auf traumhaften Wegen entlang der Schlei, wie Jens mit glänzenden Augen verkündet hatte. In Kappeln würden sie durch die Straßen schlendern, danach im Landarzt-Restaurant essen gehen und einen schönen Abend verbringen. Am nächsten Tag wollten sie weiter nach Gelting, mit einem Abstecher zur Birk, die sie beide noch nicht kannten, und danach blieben ihnen noch drei Tage, die sie – wieder ganz gemütlich – entlang der Förde zurückradeln wollten, diverse weitere Sommer-Sonne-Ferien-Erlebnisse inbegriffen.

So weit, so gut, beziehungsweise, nicht so gut, denn jetzt war der Nachmittag des zweiten Tages, und sie hätten sich dementsprechend zumindest in der Nähe der Stadt Kappeln samt aller in Aussicht genommenen Genüsse befinden müssen. Stattdessen standen sie mit nassen Füßen und einem kaputten Fahrrad irgendwo im Nirgendwo. Von den Bäumen, unter denen sie Schutz gesucht hatten, tropfte es penetrant, und selbst die Vlies-Jacken unter dem garantiert wasserdichten und atmungsaktiven Regenzeug fühlten sich klamm an. Tschüs Stadtbummel, tschüs Landarzt-Bratkartoffeln und Dämmerschoppen, dachte Heike, und warf Jens einen wütenden Blick zu. Genau genommen war das alles seine Schuld …

Zunächst war alles gut gegangen. Kurz hinter Rendsburg hatten sie auf Anhieb den alten Ochsenweg gefunden, dem sie bis hinter Kropp folgen wollten, wo sie dann nach Osten, Richtung Haddeby, abbiegen mussten. Es war eine hübsche Strecke, durch Wald und Heide, und mit dem Wind im Rücken ging es flott voran. Bei Sorgbrück überquerten sie die Sorge, und Jens, der genauestens den Reiseführer studiert hatte, erzählte ihr, dass hier früher statt der Brücke eine Furt gewesen war, durch die abertausende von Ochsen zu den Märkten im Süden getrieben worden waren. Heike hatte nur mit halbem Ohr hingehört, denn sie fand den Landgasthof, der hier lag, wesentlich interessanter und hätte jetzt nichts dagegen gehabt, die Ochsen aus dem Reiseführer gegen eine handfeste Ochsenschwanzsuppe im Gasthof einzutauschen, aber es war leider zu spät zum Mittagessen und zu früh zum Kaffeetrinken, und so radelten sie weiter. Das einladende Hofcafé Feldscheide, das sie kurz danach erreichten, fiel dem gleichen unglücklichen Umstand zum Opfer, aber dann ließ der schöne Weg durch den Kropper Busch die Gedanken an Suppen und Kuchenstücke vorübergehend in den Hintergrund treten.

Es war, als wären sie plötzlich in eine andere Zeit eingetaucht. Auf einer breiten Schneise zogen sich zwei schnurgerade, sandige Wagenspuren durch Wald und Heide, und um sie herum war nichts als Stille und Einsamkeit. Einmal kreuzte ein Schäfer ihren Weg, und sie stiegen von den Rädern, um ihn mit seiner Herde vorbeizulassen. Im Vorübergehen hob er dankend die Hand und wünschte ihnen noch einen guten Tag, und Heike fiel dabei auf, wie ungewöhnlich dunkel seine Augen waren. Ein weißer Schäferhund umkreiste die Schafe, dessen Gebell noch ab und an zu hören war, als die Herde längst jenseits des Weges verschwunden war. Sonst begegnete ihnen niemand, und bald tauchte das Gasthaus Kropperbusch auf, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie wieder in der Zivilisation waren.

„Lass uns lieber noch etwas weiterfahren“, sagte Jens, dem Heikes sehnsuchtsvoller Blick Richtung Kaffeegarten nicht entgangen war. „Dann haben wir auch mehr Zeit für Haithabu, und außerdem –“, er wies auf das unübersehbare Schild an der Wand des Gasthofs, „– sieh mal, da steht es ja: Du büs Kropper Busch noch ni vörbi – eine alte Warnung an die südwärts Reisenden, die den gefährlichen Wald noch vor sich hatten! Und da wir den Kropper Busch jetzt hinter uns haben, brauchen wir uns auch nicht mehr extra zu stärken …“

„Naja“, sagte Heike, „es ist bestimmt nicht verboten, einzukehren, bloß weil man nach Norden fährt und schon durch den Wald hindurch ist! Schließlich weiß man nie, was einen noch erwartet …“

„Du brauchst bestimmt kein Stück Schwarzwälder Kirschtorte, um für die Gefahren der paar Kilometer bis nach Haddeby gerüstet zu sein“, erwiderte Jens. „Und die guten alten Wegelagerer haben sich inzwischen auch alle zur Ruhe gesetzt, das nur zu deiner Beruhigung …“

„Nun gut“, gab Heike nach. „Du musst es ja wissen – du hast schließlich den Reiseführer gelesen! Von wann ist der eigentlich? 1877 oder so?“

„Nee, immerhin von 1987 …“

„Super – nur dreiundzwanzig Jahre alt, ist ja brandneu!“

„Ich habe ihn fast umsonst bekommen …“

„Kann ich mir denken!“

„Aber dafür ist der Radwanderführer mit den Karten ganz aktuell!“

„Das ist eine echte Beruhigung“, sagte Heike. „Ich möchte nämlich nicht gern erleben, dass mich die vielen Autos auf dem Radweg nerven, und ein freundlicher Polizist weist uns dann darauf hin, dass wir auf der Autobahn radeln!“

„Also, darüber brauchst du dir nun wirklich keine Gedanken zu machen!“

„Jaja, und außerdem sind wir am Kropper Busch vorbei – es kann also gar nichts mehr passieren!“, konnte sich Heike nicht verkneifen, ohne zu ahnen, dass Letzteres sich als ein Riesenirrtum erweisen sollte.

Sie waren also fröhlich weitergeradelt, aber als dann hinter Mielberg ihre Abzweigung Richtung Haddeby kam, hatten sie diese verpasst. Wie das geschehen war, konnten sie im Nachhinein nicht mit Sicherheit sagen – auf jeden Fall lag es nicht an dem aktuellen Radwanderführer … Es schien vielmehr so gewesen zu sein, dass sie gerade, als sie sich der Abzweigung näherten, von etwas abgelenkt gewesen waren, das sich auf der anderen Seite des Weges zutrug: Dort war nämlich in einiger Entfernung, gemächlich weidend, eine Schafherde aufgetaucht, und während sie in die Richtung blickten und spekulierten, ob dies wohl ‚ihre‘ Herde aus dem Kropper Busch sein könnte, hatten sie ganz deutlich den hin und her laufenden weißen Schäferhund erkannt.

„Unmöglich“, meinte Heike. „Wie sollen die so schnell hierher gekommen sein?“

„Aber du siehst doch den Hund! So viele weiße Schäferhunde gibt es nicht.“

„Vielleicht ist das ja auch nur ein Schaf, und es spielt eben ein bisschen Hund!“

„Ja, garantiert! Und der Schäfer sieht auch nur zufällig so aus wie der, der uns vorhin begegnet ist …“

„Das kannst du aus der Entfernung doch gar nicht sagen! Und so einen langen, dunklen Mantel tragen die doch alle.“

„Du scheinst es ja zu wissen …“

Sie hatten noch eine Weile diskutiert und dabei weiterhin zu der Herde geschaut, bis diese hinter einem kleinen Gehölz verschwunden war. An die Abzweigung hatten sie überhaupt nicht mehr gedacht, sondern waren weiter geradeaus gefahren, bis kurz darauf zwei große Grabhügel vor ihnen auftauchten, die so aussahen, als wollten sie den Weg versperren.

„Was sagt dein alter Reiseführer denn dazu?“ Heike zeigte auf die Hügel, und sie hielten an.

„Mein Reiseführer sagt sicher eine ganze Menge dazu, das Problem ist nur –“, Jens hatte hastig den anderen Führer mit der Radkarte aufgeblättert, „– das Problem ist nur, dass der Radwanderführer überhaupt nichts von diesen schönen Hügeln hält … Hier sollten wir nämlich überhaupt nicht vorbeikommen! So ein Mist, wir sind verkehrt; wir müssen unsere Abzweigung verpasst haben.“

„Die kann doch nicht weit zurückliegen, oder?“

„Nee … Schau mal, wir sind hier: Twebargen, das sind die beiden Hügelgräber, und dahinter liegt schon das Danewerk. Und hier sollten wir eigentlich abbiegen, etwa vor zwei Kilometern“, er tippte mit dem Finger auf die Karte.

„Zeig mal“, Heike betrachtete die Karte und überlegte. „Das ist ja wirklich nur ein kleines Stück zurück … Aber wenn wir nun schon mal hier sind, dann könnten wir doch eigentlich eben noch zu den Hügeln radeln und dort eine Pause machen! Wenn wir hinterher eine der nächsten Straßen in Richtung Jagel nehmen, ist das noch nicht einmal ein Umweg.“

„Okay“, Jens war einverstanden, und bald darauf hatten sie die Räder am Wegesrand abgestellt und es sich zwischen den beiden Hügeln auf ihrer Picknickdecke bequem gemacht.

Heike packte Brötchen, Kekse und Apfelschorle aus, und dann sinnierten sie eine Weile über die Menschen, die sich die Mühe gemacht hatten, diese gewaltigen Grabhügel zu errichten.

Jens strich über einen großen Stein, der schon fast zur Hälfte in der Erde versunken war. „Schade, dass der Stein hier nicht sprechen kann! Der könnte uns bestimmt eine Menge über die Zeiten vor dreitausend Jahren erzählen …“

Heike gähnte. „Vielleicht musst du ihn nur höflich bitten“, sagte sie. „Aber ehrlich gesagt, ich bin jetzt doch etwas müde, hätte ich gar nicht gedacht! Ich würde mich gern noch etwas ausruhen hier … Es ist auch so schwül geworden.“

Sie gähnte abermals, legte sich auf den Rücken und schob die zusammengerollte Windjacke unter den Kopf. Bald war sie eingenickt.

Auch Jens hatte sich ausgestreckt. Die Bienen summten im Gras, über dem Feld sang eine Lerche, und aus der Ferne war das gleichmäßige Brummen eines Treckers zu hören. Eine Weile hatte er noch die Augen offen und betrachtete die Wolken, die sich gemächlich über den Himmel schoben. Es war wirklich schwül geworden, das war sein letzter Gedanke, bevor auch er einschlief.

Was sie einige Zeit später aus dem Schlaf auffahren ließ, war weder die verdichtete Bewölkung noch die dänische Reisegruppe, die sich fröhlich schnatternd aus Richtung Danewerk näherte, sondern der ohrenbetäubende Lärm eines Düsenjägers, der direkt über ihren Köpfen in die Höhe stieg.

„Jagel“, sagte Jens und wies nach rechts. „Der Flughafen liegt gleich da drüben.“

„Meine Güte“, Heike hatte beide Hände gegen das klopfende Herz gedrückt, „es würde mich nicht wundern, wenn sie die Toten in den Hügelgräbern aufwecken!“ Sie blickte kopfschüttelnd in die Richtung, in der das Flugzeug in den Wolken verschwunden war. „Sag mal – wie spät ist es eigentlich?“

„Was – es geht schon auf fünf zu!“

„Das darf doch nicht wahr sein!“

Jens strich die verstrubbelten braunen Haare glatt und sprang auf; Heike war schon vor ihm auf den Beinen. Sie sammelten ihre Sachen ein und stiegen wieder auf die Räder. An der nächsten Abzweigung wollten sie in Richtung Haddeby radeln, doch ausgerechnet diese kleine Nebenstraße war gesperrt. Also hieß es, einen Umweg zu fahren, und noch auf einer der größeren Straßen. Der Schleswiger Feierabendverkehr kam ihnen entgegen, und dasselbe tat plötzlich auch der Wind. Sie strampelten, was das Zeug hielt, aber es schien ewig zu dauern, bis sie endlich in Haddeby ankamen und mit ziemlich weichen Knien von den Rädern stiegen.

Der Campingplatz an der Schlei war in der Tat genauso schön, wie sie sich das ausgemalt hatten, doch leider hatten sie einen kleinen, aber entscheidenden Fehler gemacht.

„Sie haben nicht reserviert?“ fragte der Mann an der Rezeption ungläubig. „Also, das tut mir jetzt wirklich leid, aber da kann ich überhaupt nichts für Sie tun! Die Mobilheime sind alle längst ausgebucht, und außerdem haben wir ein Jugendgruppentreffen auf dem Platz – ich fürchte, da werden Sie sich etwas anderes suchen müssen …“

Das erste, was Heike auffiel, als sie wieder auf der Straße standen, war, dass ihr Vorderreifen ziemlich schlapp aussah. Klar, das hatte jetzt ja kommen müssen! Ohne Jens eines Blickes zu würdigen, griff sie zur Luftpumpe und pumpte ihren Ärger mit heftigen Stößen in den Reifen, sodass Fahrrad nebst Gepäck gefährlich wackelten.

„Wieso hast du eigentlich nicht reserviert?“ fragte sie wütend.

„Du hast doch gemeint, das bräuchten wir nicht!“ Jens kniete sich neben sie und nahm ihr die Pumpe aus der Hand. „Wenn du so weitermachst, ist die Pumpe gleich dahin. Und außerdem pumpst du die ganze Luft am Ventil vorbei!“

„Ist doch egal! Ich habe eh keine Lust mehr, weiterzuradeln. Und von irgendwelchen Reservierungen habe ich überhaupt nicht gesprochen!“

„Das stimmt nicht“, Jens war nun genauso wütend. „Du hast gesagt, jetzt, wenn die Feriensaison vorbei ist, ist es kein Problem, etwas zu finden!“

„Das heißt doch nicht, dass man nicht sicherheitshalber mal anfragt bei den Unterkünften!“

„Hättest du ja auch machen können!“

„Ich? Schließlich bist du derjenige gewesen, der jeden Meter dieser blöden Tour im Voraus geplant hat, da hättest du ja mal daran denken können!“

„Aber sonst hast du doch auch immer die Hotels gebucht …“

„Wieso soll eigentlich ich immer alles machen? Du weißt doch genau, was in den letzten Wochen auf dem Amt los war, kaum ein Tag, an dem ich vor sieben Uhr zu Hause war! Und dann noch rumtelefonieren! Du hattest doch viel mehr Zeit als ich!“

„Ja, aber …“

„Ach, hör doch auf …“

Beide schwiegen. Sie hatten es wieder mal geschafft, haargenau an dem Punkt zu landen, wo alle ihre Diskussionen endeten und wo es nicht weiterging. Der Punkt mit dem Namen ‚Ich hab zuviel zu tun, und du hast zu wenig zu tun.‘ Eine Mauer, an der man nicht vorbeikam. Sozusagen Endstation, alle aussteigen.

Jens erhob sich und klemmte die Pumpe wieder an ihren Platz. Heike bedankte sich nicht; bis auf weiteres würden sie nur noch das Nötigste miteinander reden.

„Und jetzt?“

„Was schon – wir müssen eine Unterkunft suchen. Fahr vor, du hast ja die Karte.“

Missmutig machten sie sich auf den Weg. Der einzige Gasthof in der Nähe hatte Ruhetag, und als sie endlich ein Bed & Breakfast gefunden hatten, waren sie wieder näher an Jagel als an Schleswig. Das Zimmer war ungemütlich, die Möbel zusammengesucht, und als sie im gelblichen Schein einer schiefen Stehlampe auf dem orange-rotkarierten, durchgesessenen Sofa aus den 70er Jahren nebeneinander hockten und das letzte Brötchen teilten, war Heike den Tränen nahe. Jens machte noch nicht einmal den Versuch, sie zu trösten.

Gut geschlafen hatten sie natürlich nicht, und das Frühstück entsprach ziemlich genau der Einrichtung des Zimmers. Das Wetter war kühl, der Himmel düster, und das einzig Positive an dem Morgen war, dass der Reifen an Heikes Rad die Luft behalten hatte, sodass sie gleich weiter konnten. Eine Stunde mit Fahrradbastelei war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Immerhin waren sie recht früh wieder in Haddeby, sodass noch Zeit für den Abstecher nach Haithabu und ins Wikingermuseum blieb. Dort gab es so viel zu sehen und so viel Gesprächsstoff, dass ihr Streit nach und nach in den Hintergrund trat, und als sie sich zum Abschluss noch einen Imbiss in der Cafeteria gönnten, war die Stimmung zwar wieder gut, die Uhrzeit allerdings später, als sie eigentlich geplant hatten.

Bis zur Schleifähre nach Missunde waren es nicht ganz zwanzig Kilometer, für die sie aber fast zwei Stunden brauchten, weil die Wege teilweise schlecht zu befahren waren, sodass sie langsamer als erwartet vorankamen. Schließlich hatten sie den Hafen jedoch erreicht und schoben zufrieden ihre Räder auf die kleine Fähre, die sie über die hundert Meter Schleiwasser setzte.

„So“, sagte Jens vergnügt, als sie am gegenüberliegenden Ufer an Land gingen, „jetzt sind wir in Angeln!“

Und bevor Heike hierauf noch etwas erwidern konnte, fielen die ersten Regentropfen.

In Brodersby hatten sie eigentlich nach rechts abbiegen wollen, in einen der „traumhaften Wege entlang der Schlei“, wie Jens an dem bewussten Abend vor vier Wochen verkündet hatte. Von der Fähre bis zu der betreffenden Kreuzung waren es knapp zwei Kilometer gewesen, aber die hatten gereicht, um der guten Stimmung wieder einen ordentlichen Dämpfer zu verpassen.

„Wie weit ist es denn noch bis Kappeln?“ Heike sprang vom Rad und zog zum wiederholten Mal die Kapuze der Regenjacke tiefer in die Stirn.

Jens warf einen sorgenvollen Blick auf den feuchten Radwanderführer. „Gute fünfundzwanzig Kilometer …“

„Gibt es denn keine Abkürzung? Das hier ist ja nicht zum Aushalten!“

„Nein, gibt es nicht“, Jens blätterte im Führer vor und zurück. „Das ist die einzige Route entlang der Schlei, über die Schleidörfer und Lindaunis und Arnis, besonders schön …“

„Vor allem im Regen …“

„Und bei Lindauhof kommen wir an der Landarzt-Praxis vorbei – da wolltest du doch so gern hin!“

Heikes Schweigen war beredter als der vorherige Sarkasmus. Jens überlegte fieberhaft.

„Was wir machen könnten, wäre, dass wir unsere Tour einfach andersherum fahren – also von hier nordwärts an die Förde, dann nach Gelting und zur Birk, und über Kappeln zurück. Dann hätten wir die Strecke entlang der Schlei auf dem Rückweg und könnten sie bei besserem Wetter fahren. Wie findest du das?“

„Klingt gut – aber wo wollen wir heute übernachten? Ich habe nämlich keine Lust, bei diesem Wetter weiter als nötig zu fahren. Außerdem ist es schon kurz vor vier!“

Abermals wurde der Radwanderführer befragt, und dann hatte Jens die Lösung.

„Pass auf“, er zeigte mit dem Finger auf den rot eingezeichneten Strich der Radroute, „wir fahren noch etwa vier Kilometer nordwärts, hier entlang. Dann stoßen wir in Taarstedt auf die alte Kreisbahntrasse, die von Schleswig kommt, und – zack –“, sein Finger schoss in Richtung Nordost, „– schon sind wir in Süderbrarup! Das sind eben mal neun Kilometer ab Taarstedt, denn wie Eisenbahntrassen nun einmal sind – sie sind gerade … Wir können also in höchstens einer Stunde in Süderbrarup sein, und dort finden wir garantiert ein Quartier!“

„Und eine heiße Dusche und ein gutes Abendbrot …“

„Also los!“

Es ließ sich auch ganz gut an, obwohl es doch eher fünf als vier Kilometer waren, bis sie in Taarstedt an die alte Bahntrasse kamen. Heike war schon wieder so munter, dass sie vor sich hinsummte, und mit der Aussicht auf die baldige Ankunft in einem netten Gasthof mit großer Speisekarte war der Regen irgendwie auch nicht mehr so nass. Das Summen blieb ihr allerdings im Halse stecken, als sie die Bahntrasse erreicht hatten. Der Weg, den man darauf angelegt hatte, führte zwar tatsächlich schnurstracks in Richtung Speisekarte, Gasthof und Süderbrarup, aber mit ‚Zack, und schon sind wir da!‘ würde es trotzdem nichts werden. Der Radweg war nämlich kein Radweg; das heißt, er war schon ein Radweg, aber mit seinem großzügigen Kiesbelag eher für Wanderstiefel geeignet als für empfindliche Fahrradschläuche. Und vor allem: der kräftige Regen hatte den Boden schön aufgeweicht – ein Umstand, auf den der Radwanderführer zwar hinwies, den Jens aber in seinem Eifer, seine Frau schleunigst unter eine heiße Dusche zu bekommen, leider übersehen hatte.

„Das ist bestimmt nur hier im Ort so“, meinte er daher, ahnungslos des kommenden Dramas. „Danach geht es sicher asphaltiert weiter.“

Sie hielten ziemlich genau einen Kilometer durch, mal radelnd und meist schiebend. Als danach klar war, dass Taarstedt zwar hinter ihnen lag, der aufgeweichte Weg sich jedoch unübersehbar bis zum verregneten Horizont erstreckte, platzte Heike der Kragen.

„Mir reicht’s! Gib mal den Radführer her – ach, schau mal an, ist ja hochinteressant, diese ‚besonders reizvolle Tour‘ soll man nur bei trockener Witterung machen, so eine Überraschung! Aber vermutlich ist dies in deinen Augen ja trockene Witterung, wer weiß … Und hier steht auch, dass die ganze Strecke aus Kies- und Graswegen besteht, vorausgesetzt natürlich, man kann lesen … Also, so geht es weiter bis nach Süderbrarup – aber ohne mich. Ich habe jetzt echt die Nase voll von diesen besonders reizvollen Strecken!“

Verärgert schlug sie die Seiten des strapazierten Radwanderführers um.

„Wir könnten vielleicht –“, wagte Jens einen Vorschlag.

Heike ließ ihn gar nicht erst aussprechen. „Nein danke“, fauchte sie. „Jetzt fahren wir so, wie ich es sage, damit wir überhaupt noch mal irgendwo ankommen! An der nächsten Kreuzung geht es nach links, und dann fahren wir kurz vor Loit auf die B 201, die direkt nach Süderbrarup geht. Da wird es ja wohl einen vernünftigen Radweg geben … Ich fahre voraus!“

Diesmal kamen sie schnell voran und waren bald auf der Bundesstraße, nur noch sieben erfreulich asphaltierte Kilometer von Süderbrarup entfernt. Dafür waren sie wie am Tag zuvor in den Feierabendverkehr geraten, und das Wasser von der Straße spritzte bis auf den Radweg, während Laster und Personenwagen an ihnen vorbeidröhnten. Immerhin schien der Regen etwas nachzulassen, und so kam es, dass sie der Verlockung nicht widerstehen konnten und doch noch einmal eine Nebenstrecke einschlugen, nur einen kleinen Schlenker, der sie kurz vor Süderbrarup zum Gedröhne und Gespritze der Bundesstraße zurückbringen würde.

Kaum waren sie von der B 201 abgebogen, da waren sie schlagartig allein. Die schmale Nebenstraße führte in verspielten Windungen am Rande der Niederung eines Bachs entlang; trotz der umliegenden Ortschaften eine erstaunlich einsame Gegend. Von der Bundesstraße wehte anfangs noch das Rauschen des Verkehrs herüber, dann war auch das nicht mehr zu hören. Es begegnete ihnen niemand; der Regen fiel sanft und gleichmäßig, und hätten sie nicht gewusst, dass ihr Ziel allerhöchstens eine halbe Stunde entfernt war, sie hätten gedacht, dass sie noch Tage unterwegs sein würden, bis sie wieder auf eine menschliche Siedlung stießen. Da sie die Straße ganz für sich hatten, fuhren sie nebeneinander, und als sie den Querweg sahen, der nach links in das Flusstal hinunterführte, entschlossen sie sich schnell. Ein Blick auf die Radwanderkarte zeigte nämlich, dass sie das Flüsschen auf einer Brücke überqueren und auf der anderen Seite nach Süderbrarup weiterradeln konnten, sodass ihnen die Bundesstraße bis auf ein kleines Stück vor dem Ortseingang erspart bleiben würde.

Sie schlugen also den Weg ins Flusstal hinunter ein und freuten sich über die flotte Fahrt bergab. So machte Radfahren Spaß!

Ihre Freude war indessen nur von kurzer Dauer, denn gerade, als sie am schönsten rollten und die kleine Brücke fast erreicht hatten, gab Heikes Vorderreifen den Geist auf. Sie sprangen von den Rädern und besahen sich den Schaden. Diesmal war der Reifen so platt, wie er nur platt sein konnte, der Schlauch musste völlig dahin sein. Sie schoben die Räder unter ein paar Bäume am Wegesrand, die zumindest die Illusion erweckten, dass es dort etwas trockener war, und begannen nach den Ersatzschläuchen zu suchen.

„Himmel noch mal, Jens, du musst doch wissen, wo du sie hingepackt hast!“

„Wieso ich? Du wolltest sie doch einstecken!“

„Wollte ich nicht!“

„Heike – wir haben noch am Abend vorher darüber gesprochen, und du hast gesagt, du machst das!“

„Ich habe nur gesagt, dass ich das kleine Reparatur-Set mitnehme, mehr nicht! Wenn du nur ein einziges Mal zuhören würdest!“

„Ich dachte, du packst auch die Schläuche ein …“

„Das ist jetzt nicht dein Ernst – du meinst, wir haben keine Ersatzschläuche dabei?“

Jens schwieg, und das war Antwort genug. Heike war so wütend, dass sie fast geplatzt wäre. „Diese verdammte Radtour! Und das soll Urlaub sein!“

„Du wolltest die Tour doch auch gern machen“, sagte Jens betreten.

Heike antwortete nicht. Sie standen nebeneinander, ohne sich anzusehen, und blickten stattdessen zum Flüsschen hin. Der Regen hatte wieder zugenommen, und die Tropfen, die ins Wasser fielen, warfen kleine Blasen auf. Alles war grau, alles war nass, und von den Zweigen über ihnen tropfte es herunter. Es war so in etwa das Trostloseste, was man sich denken konnte.

In diesem Moment kam ein Schaf über die Brücke getrottet, und bevor sie sich von ihrer Überraschung erholt hatten, erklang Blöken, Hundegebell, und eine ganze Herde kam in Sicht, zielstrebig die saftigen Auen am Bachufer ansteuernd. Ein weißer Schäferhund umkreiste sie, und zum Schluss erschien der Schäfer. Er trug einen langen, dunklen Wachsmantel und einen ebenfalls gewachsten Hut, von dessen breiter Krempe das Wasser tropfte.

Colin

„Das verstehe wer will“, sagte Jens leise zu Heike. „Wie der es an einem Tag bis hierher geschafft hat, ist mir ein Rätsel!“

Inzwischen hatte der Schäfer sie erreicht und blieb vor ihnen stehen.

„Nun – wir bewegen uns nicht auf den üblichen Wegen; das heißt, wir benutzen weder Straßen noch Radwege“, sagte er freundlich und offenbarte damit, dass er Jens’ Bemerkung gehört hatte. „Moin auch! Was steht ihr beiden denn hier im Regen herum – oh –“, sein Blick war an Heikes Rad hängengeblieben. „Ich verstehe … Wie ärgerlich! Habt ihr denn keine Ersatzschläuche dabei?“

„Wir haben gerade entdeckt, dass wir die zu Hause gelassen haben“, sagte Jens. „Wir könnten es im Prinzip mit Flickzeug versuchen, aber das dauert, und bei dem Wetter … Wie lange geht man denn von hier zu Fuß nach Süderbrarup?“

Der Schäfer sah sie nachdenklich an. Er hatte wirklich ungewöhnlich dunkle Augen. „Wie lange ihr zu Fuß braucht? Tja, das kommt darauf an –“, er zögerte kurz, bemerkte ihre Ungeduld und fügte rasch hinzu: „– welchen Weg man geht.“

„Also, ich habe jetzt nicht gerade an einen ausgedehnten Spaziergang gedacht“, sagte Heike spitz. „Auf dem kürzesten Weg natürlich!“

Wieder traf sie ein nachdenklicher Blick, und Heike dachte, wenn er jetzt sagt, es kommt darauf an, was man mit dem kürzesten Weg meint, dann kriege ich auf der Stelle einen Schreianfall.

„Ja, das hätte ich mir denken können“, sagte der Schäfer, „natürlich wollt ihr auf dem kürzesten Weg nach Süderbrarup! Dann ist es allerdings das beste, ihr verlasst diese kringelige Straße, und nehmt den geraden Weg, so wie wir.“

Heike und Jens tauschten einen verdutzten Blick.

„Der gerade Weg? Und wo soll der sein? Vielleicht könntest du uns den hier mal zeigen –“, Jens fingerte nach der Karte, was den Schäfer ungemein zu erheitern schien.

„Lass sie nur stecken“, sagte er. „Die Wege der Hüter sind auf keiner –“, er unterbrach sich. „Ich meine, der Weg ist eher ein Pfad; ich glaube nicht, dass er irgendwo eingezeichnet ist. Aber für das kurze Stück kommt ihr auch ohne Karte aus! Seht mal –“, er wies nach vorn, wo die Schafe am Bachufer grasten. „Fürs erste folgt ihr dem Bach, und dann –“, abermals unterbrach er sich. „Wisst ihr was – eigentlich haben wir den gleichen Weg; also, ich meine nicht den selben –“, wieder wirkte er erheitert, „– aber immerhin den gleichen, zumindest heute … Wenn ihr möchtet, könnt ihr euch uns anschließen, dann kommt ihr garantiert auf dem kürzesten Weg nach Süderbrarup! Na, was haltet ihr davon?“ Er schaute von Jens zu Heike.

Er hat tatsächlich schwarze Augen, dachte Heike, und dann die gebogene Nase und die dunklen Haare … Da muss jemand bei seinen Vorfahren mitgemischt haben, der von weiter her kam als von Süderbrarup … Wie alt er wohl sein mag – etwas älter als wir, würde ich sagen, vielleicht Anfang vierzig …

Jens dachte nicht über Aussehen und Alter des Schäfers nach, sondern darüber, dass dies wirklich eine interessante Begegnung war, und wenn dieser Typ mit dem Hang zu philosophischen Formulierungen mitsamt Hund und Schafen an einem Tag vom Kropper Busch bis nach hier gelangt war, dann musste er tatsächlich etwas von kurzen Wegen verstehen.

„Was meinst du?“ wandte er sich an Heike. „Das ist vielleicht keine schlechte Idee – und wann hat man schon einmal Gelegenheit, mit einem Schäfer zu gehen?“

„Okay“, sagte Heike, „schlimmer kann es ohnehin nicht mehr werden …“

„Danke für das Kompliment“, sagte der Schäfer. „Ich heiße übrigens Colin!“

Sie gingen langsam hinter der Herde her, Colin vor sich hin summend, Jens und Heike die Räder schiebend. Den Bach hatten sie zur Linken, und obwohl sie geradewegs durch die Flussauen gingen, war der Boden fest und weitaus weniger matschig als vorhin auf der alten Bahntrasse. Jens hatte den Eindruck, dass sie ganz gut vorankamen, und Heike wirkte sogar entspannt – eigentlich zum ersten Mal, seit sie unterwegs waren. Sie sprachen zunächst wenig. Colin behielt die Herde im Auge und schickte den weißen Hund – Blanca, wie sie inzwischen wussten – mal hierhin, mal dorthin. Nach einer Weile hörte der Regen auf, und nur ein feiner Nebel blieb über der Niederung hängen, der die Geräusche dämpfte und die Konturen verwischte.

„Wir bekommen bestimmt noch einen schönen Abend“, sagte Colin nach einem prüfenden Blick in die Runde, „sollte mich nicht wundern, wenn wir heute noch die Sonne zu sehen bekommen – man riecht sie ja förmlich schon!“

Heike und Jens wechselten einen Blick. Dieses Abenteuer hier würden sie später voller Genuss den Kieler Freunden berichten: auf unbekannten Wegen im Nebel unterwegs mit einem Schäfer, der die Sonne riechen konnte – das glaubte ihnen keiner!

„Ich weiß nicht, wie gut ihr die Gegend hier kennt –“, Colin sah sie fragend an.

„Nur aus dem Reiseführer“, sagte Jens, und Heike fügte hinzu:

„Wir sind aus Kiel!“

„Ja, dachte ich mir“, sagte der Schäfer, ohne näher auszuführen, warum er das dachte, und sie fragten lieber nicht nach.

„Wenn du Lust hast, kannst du uns ja ein bisschen was über diese Gegend erzählen“, sagte Heike.

Ein bisschen was – über diese Gegend?“ Der Schäfer starrte sie an, als sei das in etwa der dümmste Vorschlag, den er je gehört hatte.

„Ich meine ja nur“, sagte Heike schnell. „Es kann natürlich auch gern ein bisschen mehr sein. Das hängt schließlich davon ab, was es zu erzählen gibt …“

„Du musst eins verstehen“, sagte der Schäfer sanft, „du befindest dich hier auf sehr altem Boden, in einem sehr alten Land. Hier hat fast alles eine Geschichte – die Schlei und die Förde, die Dörfer, die Hügel, die Flüsse …“

„Auch der Bach hier?“ konnte sich Heike nicht verkneifen.

„Die Oxbek? Aber ja –“, Colin blieb einen Moment stehen. „Ich könnte dir jetzt von zwei Jungen erzählen, die vor undenklichen Zeiten auf der Oxbek Holzstücke schwimmen ließen und sich dabei vorstellten, es wären Langschiffe … Einer von ihnen wurde so berühmt, dass man seinen Namen noch heute, nach über eintausendsechshundert Jahren kennt – und zwar nicht nur bei uns in Deutschland, sondern auch in England und Dänemark!“

„Das musst du näher erklären“, sagte Jens.

Colin antwortete nicht gleich, sondern betrachtete sie mit derselben prüfenden Miene, mit der er vorhin ein Jungschaf betrachtet hatte, das hinter den anderen zurückgeblieben war.

„Bist du sicher, dass ihr das wissen wollt?“

„Aber ja doch!“

„Und du?“ Das galt Heike.

„Klar“, sagte Heike, nicht wirklich überzeugend. Jens hätte sie am liebsten in die Seite geknufft. Colin hingegen lächelte nur.

„Na gut“, sagte er, „lassen wir es auf einen Versuch ankommen … Dann hört mal gut zu …“

Er ging langsam weiter, im gleichen gemächlichen Tempo wie die Schafe vor ihnen, und Heike und Jens mit ihm. Sein Blick wanderte über die Herde, dann darüber hinaus, bis er irgendwo in der Ferne ein Ziel gefunden hatte, das nur er allein sehen konnte. Als er wieder sprach, war seine Stimme verändert, tiefer und irgendwie intensiver.

„Offa weold Ongle, Alewih Denum; se waes thara manna modgast ealra, no hwaethre he ofer Offan eorlscype fremede …“ Er brach ab. „Das ist der Anfang“, sagte er, wieder in seinem normalen Tonfall. „Worte, die man vor langer, langer Zeit aufgeschrieben hat …“

„Und ich dachte, das sei Angeliter Platt“, sagte Heike respektlos.

„So unrecht hast du gar nicht“, Colin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Es ist sozusagen Angeliter Platt von vor eintausend Jahren – nämlich das alte Angelsächsisch, aus dem sich dann nach und nach das heutige Englisch entwickelt hat. In dieser Sprache sind die ältesten Sagen unserer Heimat aufgezeichnet worden, von den Nachfahren derer, die einst aus Angeln nach England ausgewandert sind.“

„Wann war das denn?“ fragte Jens.

„Die Auswanderung? Nun, man nimmt an, das sie Anfang des fünften Jahrhunderts begann – etwa zu der Zeit, als der Junge, von dem ich gesprochen habe, ein erwachsener Mann war.“

Heike war jetzt neugierig geworden. „Du sagtest eben doch, dass man seinen Namen noch kennt – wie hieß er denn?“

„Hast du das nicht verstanden? Ich habe den Namen eben gleich als erstes genannt; er hieß Offa, und er war eine Art Fürst oder Häuptling der Angeln. Habt ihr noch nie von ihm gehört?“

„Doch, warte mal, in der Schule … Da war irgendetwas mit einem Kampf …“

„Im Reiseführer steht auch etwas über ihn“, fügte Jens hinzu. „Ich habe es neulich erst gelesen, als ich unsere Tour vorbereitet habe – dieser Kampf soll an der Eider stattgefunden haben, vermutlich irgendwo in der Gegend, wo heute Rendsburg liegt. Ich habe das allerdings nur überflogen, denn ich habe mich mehr auf unser eigentliches Ziel konzentriert, nämlich Angeln.“

„Sieh mal an“, Colin klang richtiggehend zufrieden. „Da wisst ihr ja schon einiges! Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum du, wenn ihr nach Angeln wolltet, ausgerechnet die Stelle über Offa überflogen hast?“

„Sagte ich doch, weil das alles an der Eider stattfand – und nicht in Angeln.“

„Du bist vielleicht gut! Wo, denkst du denn, hat der Fürst der Angeln gelebt, wenn nicht in Angeln? Was meinst du wohl, wo er seinen Sitz hatte? Von wo aus hat er regiert, und wo kam man zusammen, wenn Entscheidungen getroffen, Recht gesprochen und den Göttern gehuldigt wurde?“

„Klar, natürlich in Angeln – daran habe ich gar nicht gedacht …“

„Hast du auch eine Ahnung, wo in Angeln?“

„Na, irgendwo in der Mitte!“ sagte Heike spontan.

„Du sagst es! Und welcher Ort liegt so einigermaßen in der Mitte?“

„Mohrkirch!“ sagte Jens, der seine Karte kannte.

Colin schluckte. Dann fing er an zu lachen. „Damit hast du zwar recht“, sagte er, „leider nur ist Mohrkirch neueren Datums, sodass es sich nicht um die Ehre als Hauptstadt der alten Angeln bewerben konnte! Nein, der Ort, den ich meine, ist genau der, wo ihr heute hinwollt, nämlich Süderbrarup. Das heißt, zu Offas Zeiten gab es natürlich weder ein Süder- noch ein Norderbrarup, und niemand weiß, welchen Namen die Siedlung hatte, die damals an der betreffenden Stelle lag. Aber egal, hier muss er jedenfalls gelebt haben, der berühmte Fürst der Angeln, und hier hat man vermutlich auch die folgenreiche Entscheidung getroffen, nach England auszuwandern.“

„Und hier am Bachufer hat er seine Holzstücke schwimmen lassen!“ Heike grinste, aber Colin blieb ernst.

„Das ist ein Teil der Geschichte, der nicht sonderlich komisch ist“, sagte er nur.

„Würdest du uns denn die ganze Geschichte erzählen?“

„Wie ich schon sagte – nur, wenn ihr sie wirklich wissen wollt …“

„Ach ja, bitte!“ Das kam von Heike, und Jens schloss sich an:

„Wenn es dir nicht zuviel Mühe macht – bitte, Colin!“

Der Schäfer schien einen Moment zu überlegen. Dann sagte er:

„Wieviel Zeit habt ihr eigentlich?“

„Noch vier volle Tage“, Heike grinste wieder, und wieder ging Colin nicht darauf ein.

„Drei Abende reichen“, sagte er völlig ernsthaft, „ihr habt also mehr als genug Zeit; das ist gut …“

Heike warf Jens einen alarmierten Blick zu. Sie hatte nicht unbedingt vor, den Hauptteil ihres kurzen Urlaubs auf einer Schafweide an der Oxbek zu verbringen, aber man konnte ja jederzeit weiterfahren, auch ohne dies dem Schäfer vorher auf die Nase zu binden. Nun, das würde sie mit Jens später besprechen, wenn sie unter sich waren.

Schweigend schoben sie ihre Räder, während Colin wieder vor sich hinsummte. Nach einer Weile hob er den Kopf, schaute in die Runde und rief Blanca etwas zu, woraufhin der Hund damit begann, immer engere Kreise um die Herde zu ziehen und sie zusammenzutreiben.

„Wir sind jetzt gleich da“, informierte er seine beiden Begleiter.

Auch Jens und Heike schauten sich um, konnten aber nichts ausmachen, was den Schluss zuließ, dass sie gleich ‚da‘ waren – wo immer dies auch sein mochte. Von einer Ortschaft war jedenfalls weit und breit nichts zu sehen. Das Einzige, das kurz darauf aus dem Nebel auftauchte, war der Zaun einer Umfriedung, und Colin und Blanca dirigierten die Schafe geradezu mühelos durch ein breites, offen stehendes Gatter. Jens und Heike folgten, und Colin schloss hinter ihnen das Tor.

„So, das wär’s für heute“, sagte er, während die Schafe sich augenblicklich auf der Weide verstreuten, und Blanca bellend irgendwohin verschwand.

„Heißt das, du bleibst hier?“ fragte Heike ungläubig.

„Wir bleiben hier“, berichtigte Colin sie, „also die Schafe, Blanca und ich. Die Herde hat dort bei den Haselsträuchern einen Unterstand, und da hinten, auf der kleinen Anhöhe, steht mein Wagen – Blanca läuft schon hin! Dort können wir es uns auch gleich gemütlich machen …“

„Ja, aber …“

„Aber was?“

„Wir müssen doch noch nach Süderbrarup – wie weit ist das denn von hier?“

„Ach, das“, der Schäfer machte eine abwinkende Handbewegung, „da seid ihr in zwanzig Minuten!“

„Aber wir müssen auch noch eine Unterkunft finden …“

„Ist doch kein Problem“, sagte Colin. „Habt ihr ein Handy dabei? Mein eigenes muss ich nämlich aufladen, und dafür muss ich erst den Generator anstellen.“

Zehn Minuten später hatten sie ein Zimmer reserviert, der Generator lief, Colin hatte Fenster und Türen des Schäferwagens weit geöffnet, den Kühlschrank angestellt, sein Handy ans Ladegerät angeschlossen und Blanca mit Hundefutter und Wasser versorgt.

„Wenn er jetzt noch seinen Laptop rausholt, falle ich um“, flüsterte Heike Jens ins Ohr.

„Würde mich gar nicht wundern“, flüsterte Jens zurück, „wer Angelsächsisch kann, der kann bestimmt auch mit einem Laptop umgehen!“

Sie saßen, noch in ihrem Regenzeug, auf einer von zwei Gartenbänken, die zusammen mit einem Tisch vor dem Schäferwagen standen, und blickten ins Tal. Es war ein schöner Blick. Ein leichter Wind war aufgekommen, und der Nebel hatte sich etwas gelichtet. Sie konnten den klaren, schnell dahinfließenden Bach sehen, die Auen zu beiden Seiten und darauf – in dunklerem Grün und wie hingetupft – die niedrigen Bäume und Büsche. Die sanften Hügelkuppen umgaben die Niederung wie ein langgestreckter Schutzwall. In den Haselsträuchern, wo der Unterstand war, sang eine Amsel ihr Abendlied. Sonst war außer dem Blöken der Schafe nichts zu hören – das heißt: nichts, was störte. Denn das Summen des Generators und Colins Geklapper im Wagen fügten sich ins Klangbild wie natürliche Geräusche.

„Das hier müsste man malen“, sagte Jens gedankenversunken.

„Du hast doch den Aquarellkasten eingepackt, oder?“

Jens nickte. Wenn wir morgen weiterfahren, wie Heike das offenbar vorhat, komme ich aber garantiert nicht dazu, ihn auszupacken, dachte er, behielt diese Erkenntnis jedoch für sich. Hier war nicht der richtige Ort für Diskussionen.

In diesem Moment kam Colin wieder aus dem Wagen hervor, anscheinend bester Dinge. Er trug ein großes Holztablett mit einer Teekanne, Keramikbechern, frischem Bauernbrot und einem Teller mit in Würfel geschnittenem Käse, das er ohne große Umstände auf dem Deckel einer Regenwassertonne absetzte.

„Fein, ihr habt es euch auf meiner Terrasse bequem gemacht“, sagte er, auf Tisch und Bänke weisend. „Übrigens eine besonders praktische Terrasse, ich kann sie nämlich verlegen, je nach Wetter, Tageszeit und Stimmung! Fasst doch eben mal mit an, heute Abend passt es am besten, wenn wir auf der anderen Seite des Wagens sitzen und nach Westen blicken.“

Die leichten Gartenmöbel waren im Nu umgestellt; Colin wischte den Tisch trocken und danach auch die Bänke, über die er anschließend jeweils zwei Schaffelle legte. Dann stellte er das Tablett auf den Tisch.

„So lässt es sich besser zuhören“, meinte er, während er Tee in die Becher schenkte. „Bitte sehr, bedient euch – der Käse ist natürlich von meinen Schafen, und das Brot stammt von einem Hof hier in der Nähe … Ihr könnt übrigens ruhig euer Regenzeug ausziehen; die Schaffelle sind warm, und heute kommt kein Regen mehr. Seht mal – da ist schon die Sonne!“

Tatsächlich bahnten sich die Strahlen einer milden Abendsonne den Weg durch den Dunst und tauchten Flussniederung und Hügel in ein unwirkliches, goldenes Licht.

„Wie ist das nur schön“, sagte Heike unvermittelt und fuhr nach ein paar Sekunden fort: „Darf ich dich etwas fragen, Colin – wie kommt es eigentlich, dass du Schäfer geworden bist? Das ist doch nicht gerade ein Beruf, der … der ….“

„… der zu den Top-Karrieren zählt, meinst du das?“ Er ersparte ihr die Peinlichkeit, nach einer passenden Antwort zu suchen, und sprach gleich weiter: „Nun, das hat seinen Grund, wie alles … Vielleicht erzähle ich euch später mal davon …“

Damit hatte er das Thema erledigt, aber Heike wollte noch gern etwas anderes wissen:

„Und woher kennst du diese alten Geschichten – ich meine, woher weißt du, welche Kinder vor einer Million Jahren oder so an der Oxbek gespielt haben?“

„Vor eintausendsechshundertunddreizig Jahren, um einigermaßen genau zu sein“, sagte Colin freundlich. „Das ist doch kein Kunststück, wenn man weiß, wann etwa das betreffende Kind geboren ist … Rechenstunde dritte Klasse und Geschichtsunterricht neunte Klasse … Und diese alten Geschichten, wie du so schön sagst, die kannst du in diversen Büchern nachlesen, jedenfalls Teile davon. Und das, was nicht in den Büchern steht, das erzählt dir dein Herz …“

„Ich glaube nicht, dass mein Herz mir so etwas erzählen würde“, Heike klang ziemlich skeptisch.