cover

In den letzten Jahrzehnten haben die Amerikaner die ganze Welt mit ihren Rezepten zur Behandlung von psychischen Erkrankungen überschwemmt. Das Buch beschreibt, wie ihre therapeutische Mission den Rest der Welt verrückt macht.

Auf seiner Reise von Hongkong über Sri Lanka und Sansibar nach Japan beobachtet Ethan Watters, wie der Versuch, in den jeweiligen Kulturen das Konzept einer psychischen Krankheit zu modernisieren, dazu führt, dass althergebrachte Ausdrucksweisen von Verrücktheit durch westliche Vorstellungen ersetzt werden. Die amerikanischen Versionen von Depression, Posttraumatischer Belastungsstörung oder Essstörungen verbreiten sich so schnell wie ansteckende Krankheiten.

Doch ist es gerechtfertigt, dass sich Amerika so selbstverständlich zum Therapeuten des ganzen Globus aufschwingt? Mit Blick auf die psychische Gesundheit in den USA, wo inzwischen bei jedem Vierten eine psychische Erkrankung diagnostiziert wird, ist es fraglich, ob die modernen Ansätze tatsächlich zu einer verbesserten psychischen Gesundheit führen. Watters Schilderungen fremder Kulturen zeigen, dass wir möglicherweise mehr zu lernen als zu lehren haben.

 

Zum Autor
Der renommierte Journalist und Autor Ethan Watters schreibt regelmäßig für das NEW YORK TIMES MAGAZINE, DISCOVER, MEN’S JOURNAL und WIRED. Weitere Bücher von ihm sind URBAN TRIBES, eine Untersuchung der Lebensweisen wohlhabender unverheirateter Paare, sowie MAKING MONSTERS: FALSE MEMORIES, PSYCHOTHERAPY, AND SEXUAL HYSTERIA (gemeinsam mit Richard Ofshe). Er lebt mit seiner Familie in San Francisco.

Ethan Watters

„Crazy like us“

Wie Amerika den Rest der Welt verrückt macht

Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Heiner Keupp

Tübingen
2016

 

Inhalt

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

 

Vorwort

Ein Déjà-vu-Erlebnis

Heiner Keupp

 

Einleitung

 

Kapitel 1

Der Siegeszug der Anorexie in Hongkong

 

Kapitel 2

Die Welle, die PTBS nach Sri Lanka trug

 

Kapitel 3

Die wechselnden Masken der Schizophrenie in Sansibar

 

Kapitel 4

Das Mega-Marketing der Depression in Japan

 

Schluss

Die globale Wirtschaftskrise und die Zukunft psychischer Krankheiten

 

Nachwort des Übersetzers

Crazy like us – Ethan Watters Berichte über psychische Krankheiten in fremden Kulturen zeigen auf, wie verrückt wir selbst geworden sind

Thorsten Padberg

 

Literatur

 

Danksagung

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

„Gruselige Seuchen wie Ebola oder AIDS werden Sie persönlich wahrscheinlich niemals betreffen. In diesem Buch geht es um viel gefährlichere Krankheiten. Sie kommen aus Amerika. Jemand aus Ihrer Familie und Ihrem Freundeskreis hat diese Krankheiten mit Sicherheit schon. Oder vielleicht auch Sie selbst.“

(David Healy über Crazy like us)

Was könnten das für furchtbare Krankheiten sein, von denen der renommierte Psychiater David Healy in dem Zitat spricht? Es sind keine bislang unbekannten, neuen Seuchen um die es in Ethan Watters Buch Crazy like us geht. Vermutlich kennen die meisten Leser die Namen dieser Krankheiten schon. Sie heißen Depression, Anorexie, Schizophrenie und Posttraumatische Belastungsstörung. Anders als körperliche Erkrankungen verbreiten sich diese Krankheiten der Psyche bereits dadurch, dass man von ihnen hört, dass man darüber spricht und davon liest. Was sich zunächst wie eine verrückte Behauptung anhört, kann Ethan Watters detailreich belegen.

Sein Buch zeigt, auf welchen Wegen sich das Wissen über psychische Störungen in den letzten Jahren weltweit verbreitet hat und wie diese Störungen dadurch immer häufiger auftraten. Es wird deutlich, welche Interessen dahinterstehen und wie Ärzte, Therapeuten und die Betroffenen selbst meist unfreiwillig dazu beitragen. „Was ist das für ein Erreger, der diese Ausbrüche und Epidemien verursacht hat?“, stellt Watters selbst die naheliegende Frage.

Crazy like us nimmt seine LeserInnen mit auf eine Entdeckungsreise um die ganze Welt, in die Vorstandsetagen von Pharmafirmen, die Praxen von Psychotherapeuten und zu Menschen, die mit ihrem Leben ringen und an ihrer Seele leiden. Watters findet auf seinen Reisen eine überraschende Antwort auf seine Frage: „Es ist so, dass die Art und Weise, wie die Angehörigen einer Kultur über psychische Krankheiten denken, die Krankheiten selbst beeinflusst“. Die Existenz psychischer Störungen hängt wesentlich davon ab, dass wir heute so über sie denken, wie es in exklusiven, meist amerikanischen Expertenkreisen festgelegt worden ist.

Crazy like us ist Ethan Watters Beitrag zur Eindämmung dieser „gruseligen Seuchen“. Es zu lesen, hilft dabei, psychisches Leiden wieder als etwas zu verstehen, das weniger mit krankhaften Fehlfunktionen im Gehirn als mit der eigenen Lebenswelt zu tun hat.

Heiner Keupp

Ein Déjà-vu-Erlebnis

Bei Wikipedia kann man nachlesen, dass Déjà-vu „ein psychologisches Phänomen (bezeichnet), das sich in dem Gefühl äußert, eine neue Situation schon einmal erlebt, gesehen, aber nicht geträumt zu haben“. Als ich in das Buch Crazy like us von Ethan Watters hineinlas, hatte ich genau dieses Gefühl: Da erinnert mich ein prominenter Wissenschaftsautor an zurückliegende Debatten und Diskurse, die leidenschaftlich geführt wurden, doch an die sich heute kaum mehr jemand erinnert und von denen die NachwuchspsychologInnen und -psychotherapeutInnen noch nie etwas gehört haben. Die Debatte um Medikalisierung, Klinifizierung oder Psychiatrisierung hat in den 1970er und 80er Jahre die Reformbewegung in der psychosozialen Szene geprägt. Es war ein Aufbruch zu einem neuen Verständnis psychischen Leids und es war ein Ausbruch aus dem paradigmatischen Gehäuse des „medizinischen Modells“. Dieses Modell wurde als ein „stahlhartes Gehäuse“ im Sinne Max Webers verstanden, das irritierendes und verstörendes Erleben und Verhalten biomedizinisch zu erklären versuchte und damit aus dem Lebens- und Erlebniszusammenhang herauslöste. Weil aber die Evidenzen, dass die Belastungen und Verstörungen, die Menschen erleben und erleiden, mit den Anforderungen und Herausforderungen der kapitalistischen Gesellschaft ursächlich verknüpft sind, uns damals so klar erschienen, mussten alternative Sichtweisen entwickelt werden. Und wir waren davon überzeugt, dass ein Krankheitsmodell, das solche Zusammenhänge nicht thematisiert, eine Komplizenschaft mit einem Gesellschaftssystem eingeht, das Menschen ausbeutet und entfremdende Lebensverhältnisse aufzwingt.

Diese professionelle Komplizenschaft mit dem spätkapitalistischen System von Ausbeutung und Herrschaft sollte radikal aufgekündigt werden. Es bestand die gemeinsame Überzeugung, dass eine repressive und auf Klassenunterschieden beruhende Gesellschaft Menschen psychisch und gesundheitlich verkrüppeln muss. In den sozialepidemiologischen Befunden haben wir einen Beleg für das gesehen, was wir als „Klassengesellschaft“ zu benennen gelernt hatten. Am meisten hat mich damals die Tatsache empört, dass die Bevölkerungsgruppen, die per Saldo die höchsten Belastungen mit psychischem Leid erfahren, die schlechtesten Chancen auf adäquate Hilfeformen hatten. Diese Befunde zeigten in harten Zahlen das auf, was Christian von Ferber (1971) die „gesundheitspolitische Hypothek der Klassengesellschaft“ genannt hat.

Nur einbettet in diesen intensiven fachlichen und politischen Kampf um eine angemessene Sicht auf psychosoziales Leid wird verständlich, wie leidenschaftlich die Kontroverse um das „medizinische Modell“ geführt wurde. Eröffnet wurde diese Kontroverse durch einen Aufsatz, den Thomas S. Szasz 1960 im wichtigen Fachorgan der APA (American Psychological Association), dem American Psychologist, publizierte. Szasz, psychoanalytisch ausgebildeter Psychiater an der State University of New York, eröffnete eine intensive Diskussion um das bislang vorherrschende Krankheitsmodell in der Psychopathologie. Seine Kritik hatte eine doppelte Zielrichtung: Einerseits bestritt er die Berechtigung, ein biomedizinisches Modell einfach auf das menschliche Handeln zu übertragen. Das sei erkenntnistheoretisch nicht vertretbar, weil es das Handeln biologistisch verkürze, und es sei ethisch fragwürdig, weil es dem Subjekt die Handlungsfreiheit absprechen würde. Andererseits machte er das „medizinische Modell“ für eine höchst fragwürdige gesellschaftliche Rolle der Psychiatrie verantwortlich, die die Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte und Widersprüche, die seiner Auffassung nach das Leiden der Menschen erzeugten, verhindern würde. Dadurch übernehme sie die Funktion eines „sozialen Tranquilizers“, der verhindere, dass Konflikte bearbeitet und ausgetragen werden, und leiste insofern einen problematischen Beitrag zur Sicherung des gesellschaftlichen Status quo.

Diese Doppelbotschaft, erkenntnistheoretisch und herrschaftskritisch zugleich, hat Szasz in den 60er und 70er Jahren eine große Resonanz verschafft, zumal er ein Buch nach dem anderen schrieb, die alle seine ursprüngliche Kernkritik weiter ausformulieren sollten.1

 

1)Anschlussfähig waren seine Argumente sowohl für die sich entwickelnde Klinische Psychologie und vor allem die expansiv auftretende Verhaltenstherapie, die sich ein eigenständiges Fachprofil in klarer Absetzung vom „medizinischen Modell“ erhoffte (exemplarisch sei das Lehrbuch von Ullman & Krasner aus dem Jahr 1969 genannt). Wenn man sich von einer naturgeschichtlich gedachten Biogenese psychischen Leids mit guten Argumenten absetzen kann, haben psycho- und soziogenetische Zugänge eine große Durchsetzungschance. Die deutsche Übersetzung des Szasz-Klassikers in dem von mir herausgegebenen Sammelband „Krankheitsmythos der Psychopathologie“ (Keupp, 1972) ist auch in der deutschen Fachliteratur zur Klinischen Psychologie fast schon rituell zitiert worden. Die Klinische Psychologie hat ihn zur Festigung der eigenen psychologischen Fachidentität sehr gut aufnehmen können. Je deutlicher sich die Möglichkeit abzeichnete, ein psychosoziales Störungsmodell als Alternative zu entwickeln, desto selbstbewusster ist auch die kritische Differenz zum „medizinischen Modell“ formuliert worden. Gestützt auf eine etwas naive Rezeption des Paradigma-Konzeptes des Wissenschaftsforschers Thomas S. Kuhn wurde auch die scheinbare Unvereinbarkeit unterschiedlicher Sichtweisen auf psychisches Leiden betont, um den eigenen Weg zu schützen oder vielleicht auch zu immunisieren (Keupp, 1974). Allerdings entstand nicht nur ein Alternativkandidat, sondern aus den unterschiedlichen psychologischen Strömungen und der Soziologie sind mehrere Modellvarianten entwickelt worden, die entsprechend auch in der Lehrbuchliteratur nebeneinander zur Darstellung kamen. So werden bei Price (1978) beispielsweise neben der Krankheitsperspektive auch die psychoanalytische, die lerntheoretische, die soziale und die humanistische Perspektive ausführlich dargestellt und schon im Titel des Buches wird der Konflikt zwischen den Perspektiven genannt. Es waren Konflikte, die nicht selten den Charakter von Glaubenskriegen annahmen,2 und in wechselseitig sich abschottenden „Schulen“ konnte die jeweils bestimmende Sicht in einem sich selbst bestärkenden Mechanismus gefestigt werden.

2)Einem Wissenschaftsverständnis, das auf ontologische Wahrheiten ausgerichtet war – und so wurden auch die Krankheitseinheiten der Psychopathologie verstanden –, wird von Szasz ein konstruktivistisches Wissenschaftsmodell entgegengesetzt. Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit war vor allem durch die Soziologie (Berger & Luckmann, 1969) sowie durch die Philosophie (Searle, 2011) zu einer wichtigen Analyseperspektive geworden. Wir haben diese Perspektive geschätzt, weil sie die Möglichkeit eröffnet hat, starre Welt- und Fachinterpretationen zu dekonstruieren und die Frage zu stellen, welche soziokulturellen Kontextbedingungen die Bedeutungen aufladen, die wir Subjekten und ihrer Welt zuschreiben. Zugleich enthält diese Perspektive auch die Möglichkeit, alternative Bedeutungszuschreibungen zu entwickeln und für deren Geltung zu kämpfen. Das ließ sich an dem Kampf der schwul-lesbischen Community exemplarisch beobachten, die erfolgreich dafür kämpfte, dass homosexuelles Begehren aus dem pathologischen Abseits herausgeholt werden konnte.

3)Die Kritik am medizinischen Modell wurde auch durch Forschungsbefunde aus der transkulturellen Psychiatrie und der Ethnopsychoanalyse unterstützt. In der deutschen Debatte war hier vor allem Erich Wulff (1969) von überragender Bedeutung, der als junger deutscher Psychiater nach Vietnam ging und dort die Erfahrung machte, dass die Kernsymptome etwa der Schizophrenie, wie er sie in seiner westdeutschen Sozialisation zu diagnostizieren gelernt hatte, in Vietnam keineswegs genauso verstanden und eingeordneten wurden. Die europäische Sicht des Individuums, das eine klare und abgegrenzte Ichvorstellung unterstellt, führt dazu, Personen, die diese Vorstellung nicht entwickelt haben, als psychisch krank zu benennen. In Vietnam hingegen werden Menschen, die sich durch ihre Individualitätskonstruktionen aus dem kulturellen Kollektiv herauslösen, als psychisch krank eingeordnet. Erich Wulff konnte zeigen, wie stark die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen die Vorstellungen von Normalität und Devianz bestimmen. Er ermöglichte damit eine intellektuelle Alternativsicht zu dem Mainstream seiner eigenen Profession, die von der universellen Gültigkeit ihrer Krankheitseinheiten ausging und sich dabei gerne auf Emil Kraepelin beruft, der als der Begründer der modernen psychiatrischen Nosologie gilt. Dieser war 1904 in Java und kam mit der Überzeugung zurück, die „Dementia praecox“, die er später Schizophrenie nannte, sei in Indonesien nicht anders als in Europa.

4)Einer herrschaftskritischen Sichtweise der Psychiatrie und auch der traditionellen Klinischen Psychologie lieferte der Text von Szasz insofern eine wichtige Steilvorlage, als er ein theoretisches Modell nicht nur als kognitiv-wissenschaftliche Figur kritisierte, sondern auch dessen gesellschaftlich-politischen Konsequenzen thematisierte. Dies blieb zwar im Text noch relativ allgemein, doch es lieferte einen guten Anschluss für die Analyse der problematischen institutionellen Folgen einer biologistischen Sicht auf die Subjekte. So wurde es möglich, die institutionellen Muster „totaler Institutionen“ (Goffman, 1972) und ihre Folgen für psychiatrische PatientInnen zu identifizieren, die die klassische Psychopathologie umstandslos als Integralen des Krankheitsverlaufes interpretierte. Die empirischen Studien zu den Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern (vgl. Finzen, 1974) lieferten für diese Dekonstruktion mehr als ausreichend praktische Belege. Damals wurde die „Labeling-Perspektive“ sehr prominent, die die jeweils für eine Gesellschaft typischen institutionellen Reaktionsmuster auf abweichendes Verhalten thematisiert und untersucht, wie diese den „Karriereverlauf“ einer Devianz durch ihren spezifischen Prägestempel, den sie verteilt, erheblich mitbestimmt (Keupp, 1976). Als praktische Konsequenzen aus solchen Einsichten wurde die Frage nach alternativen institutionellen Hilfsangeboten immer drängender, und sie hat in einer Vielzahl unterschiedlicher Reformprojekte experimentelle Antworten gefunden.

Es waren leidenschaftliche Kontroversen, die wir damals ausgetragen haben. Je mehr aber die Arbeit an praktischen Reformalternativen in der Sozialpsychiatrie und der Klinischen Psychologie an Bedeutung gewann, desto weniger spielte das Ringen um die besseren Modelle eine Rolle. Es ging nach wie vor um Alternativen zum traditionellen Krankheitsmodell, doch es drehte sich nun eher um pragmatische Kompromisse zwischen unterschiedlichen psychologischen Schulen und um die möglichen Synergieeffekte unterschiedlicher Paradigmen. Zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstherapie gab es anfangs fast nur Unvereinbarkeitsbeschlüsse, doch zunehmend tauchte auch die Frage auf, wie sie wechselseitig voneinander profitieren könnten und ob sie nicht in einer gemeinsamen klinischen Handlungstheorie aufgehen könnten (Keupp & Kraiker, 1977).

Die Zeiten lebhafter Kontroversen und die aufmüpfigen gesellschaftskritischen Positionierungen sind nicht nur vorbei, es hat auch ein echtes Roll-back gegeben. Psychotherapie und Klinische Psychologie sind ganz im Fahrwasser der Medikalisierung und Biologisierung angekommen (vgl. etwa das Lehrbuch von Wittchen & Hoyer, 2011) und die Kritik an dieser Entwicklung ist leise geworden (eine bemerkenswerte Ausnahme bildet hier das Lehrbuch von Anna Auckenthaler, 2012).

Das renommierte naturwissenschaftliche Journal Nature ruft im ersten Januarheft 2010 eine „Dekade psychiatrischer Störungen“3 aus. Begründet wird diese Priorität damit, dass psychische Störungen wie Schizophrenie und Depressionen die vorherrschenden Störungen der Altersgruppe von 15 bis 44 Jahre ausmachen würden. Hinzu kommt die wachsende Anzahl von ADHS-Diagnosen bei Kindern. Die Behandlung dieser Störungen machen heute etwa 40 % der medizinischen Kosten in den USA und Kanada aus. Die biologische Psychiatrie reklamiert die zeitgemäßen Erklärungen und Therapien für sich!

Die DGPPN (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) bezieht sich ausdrücklich auf diese Position von Nature und fordert 2010 ein „Deutsches Zentrum für Psychische Störungen“. Diese Forderung begründet sie wie folgt: Psychische Störungen seien eine Volkskrankheit, die sich in den modernen Gesellschaften sukzessive ausweiten. Die Zeit sei daher reif für eine wissenschaftliche Revolution! Was darunter genau zu verstehen ist, wird von wichtigen Vertretern der DGPPN so erläutert:

„Die rasche Entwicklung von Forschungsmethoden in der Genomik (parallele Erfassung einer Vielzahl von genetischen und funktionellen Varianten) und Bildgebung haben unser Wissen über psychische Krankheiten in relativ kurzer Zeit enorm bereichert. So wurden auch neue Methoden in die Psychiatrie übernommen, so z. B. die genetische Epidemiologie, die systemischen Neurowissenschaften, funktionelles Neuroimaging, Genomic Imaging oder Proteomik. Ein erheblicher Erkenntniszuwachs resultiert auch aus der Entwicklung von innovativen Tiermodellen. Ein weiterer zukünftiger Entwicklungsschritt ist von der Stammzelltechnologie zu erwarten, mit welcher zellbiologische Modelle für psychische Erkrankungen entwickelt werden könnten.“ (Schneider, Falkai & Maier, 2012, S. 14)

Hat diese Programmatik überhaupt noch etwas gemeinsam beispielsweise mit dem biopsychosozialen Modell von George L. Engel (1977/1979), der einst als einer der führenden Psychiater der USA im renommierten Journal Science für die Überwindung biologistisch reduzierter Sichtweisen auf psychisches Leid plädierte? Wo ist der Bezug auf die psychische Situation, die sozialen Lebensbedingungen und auf ökologische Systemfaktoren? Bei aller Begeisterung für die Biosphäre der menschlichen Existenz, die durch die Neurowissenschaften und die Genforschung ausgelöst wurde, fragt man sich, ob denn auf dieser Grundlage etwa die Zunahme von Burnout und Depressionen oder die Zuwachsraten bei den ADHS-Diagnosen erklärt werden können? Und es stellt sich die Frage, ob angesichts eines offensiven Re-Biologisierungsprozesses in der Psychiatrie und zunehmend auch in der Psychologie die von Engel vorgeschlagene Balance zu Ungunsten der Sozialwissenschaften verloren geht.

Denn die internationale sozialwissenschaftliche Fachdiskussion hat in den letzten Jahren intensiv die Diskussion über soziale Bedingungen psychischer Gesundheit und psychischen Leids aufgenommen (vgl. Avison, McLeod & Pescosolido, 2008; Cockerham, 2007; Parr, 2008; Pilgrim, Rogers Pescosolido, 2011; Scheid & Brown, 2010). Auch die Frage nach den Grenzen des „medizinischen Modells“ wird aufgegriffen (z. B. Kiesler, 2000), die „Dekonstruktion“ der klassischen Psychopathologie wird fortgesetzt (Parker et al., 1995), die Diskussion um das, was eine „psychische Krankheit“ ist bzw. so konstruiert wird, wird intensiv geführt (vgl. Leader, 2011; McNally, 2011; Scull, 2011) und dies durchaus auch mit dem Blick auf die Verknüpfung von sozialen, psychischen und biologischen Aspekten (z. B. Read, Mosher & Bentall, 2004). Auch gesellschaftliche Gegenwartsbezüge werden berücksichtigt und zu der Frage geführt, was denn in einer postmodernen Gesellschaft überhaupt noch die klassische Unterscheidung von Normalität und Abweichung bedeuten könnte (vgl. Welsch, 1990; Fee, 2000).

Ein neuer Höhepunkt in dem revitalisierten Medikalisierungstrend ist mit dem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) erreicht, an dessen Entwicklung nicht nur Klinische Psychologen (wie H.-U. Wittchen) stolz teilgenommen haben, sondern das in seiner immer weiter in den Alltag eingreifenden Pathologisierungshaltung auch in der psychiatrischen Fachszene heftige Kritik ausgelöst hat. Exemplarisch steht dafür die Streitschrift von Allen Frances (2013), die unter dem Titel Normal – Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen in deutscher Sprache erschienen ist. Frances ist kein psychiatriekritischer Geist, sondern gehört zum fachlichen Establishment und war verantwortlicher Vorsitzender der Kommission, die das DSM-IV erarbeitet hatte. Der Autor reflektiert seine eigene frühere Rolle und zeigt auf, wie problematisch es ist, wenn neue Krankheitsbilder konstruiert werden, die insbesondere der Pharmaindustrie neue Profitmöglichkeiten eröffnen. Bei der aktuellen Version, dem DSM-5, sieht er vor allem die Gefahr, dass zum Alltag und zum menschlichen Leben gehörende Sorgen und Gefühlslagen wie beispielsweise Trauer zu psychischen Krankheiten umgedeutet werden (vgl. die kritische Analyse von Greenberg, 2013).

Angesichts dieser Entwicklung ist eine selbstbewusste sozialwissenschaftliche Initiative im Sinne einer expliziten „Gesellschaftsdiagnostik“ (Keupp, 2013) notwendiger denn je. Der unverzichtbare Beitrag der Sozialwissenschaften lässt sich exemplarisch an der Auseinandersetzung mit den Gründen dafür aufzeigen, warum – bis hin zur Weltgesundheitsorganisation – die Depression als „Volkskrankheit No. 1“ bezeichnet wird. Der Buchtitel von Alain Ehrenberg (2004) „Das erschöpfte Selbst“ ist zum nichtfachlichen Synonym für den Zustand der Depression geworden – doch nicht im Sinne einer vermeintlich kontextfreien psychopathologischen Diagnostik, sondern als Teil einer Gesellschaftsdiagnostik, die einen Zusammenhang zwischen subjektiven Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen herstellt. Auch andere aktuelle Bücher versuchen, die Depression in ihrer zeitdiagnostischen Bedeutung aufzuzeigen. Es häufen sich zudem seriöse Analysen, die eher sorgenvoll beleuchten, dass eine vorschnelle Medikalisierung oder Klinifizierung eben diesen zeitdiagnostischen Gehalt verhüllen würde (Blazer, 2005; Conrad, 2007; Horwitz & Wakefield, 2007, 2012; Summer, 2008; Greenberg, 2010; Fein, 2012). Denn der globalisierte Kapitalismus hat zu einer spürbaren Beschleunigung und Verdichtung der Abläufe in den beruflichen und privaten Lebenswelten geführt. Sie führen bei immer mehr Menschen zum Gefühl der Erschöpfung.

Das Buch von Ethan Watters liefert eine Fülle von Beispielen gelungener Kultur- und Gesellschaftsdiagnosen, die er auf seiner Tour durch die globale Psychowelt gesammelt hat. Als Journalist versteht er es meisterlich, seine Analysen zu einer spannenden Lektüre werden zu lassen. Damit hat er einen beeindruckenden Impuls für eine Revitalisierung des kritischen Diskurses zu den gedanklichen und handlungsrelevanten Grundlagen der Psychotherapie und Klinischen Psychologie geliefert. Mir bleibt die Hoffnung, dass dieser Impuls auch aufgenommen wird.

Literatur

Auckenthaler, A. (2012). Kurzlehrgang Klinische Psychologie und Psychotherapie. Grundlagen, Praxis, Kontext. Stuttgart: Thieme.

Avison, W. R., McLeod, J. D. & Pescosolido, B. A. (Eds.). (2008). Mental health, social mirror. New York: Springer.

Berger, P. L. & Luckmann, T. (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag.

Blazer, D. G. (2005). The age of melancholy. Major depression and its social origins. New York: Taylor & Francis.

Borch-Jacobson, M. (2010). Making minds and madness. From hysteria to depression. Cambridge: Cambridge University Press.

Bracken, P. & Thomas, P. (2010). From Szasz to Foucault: On the role of critical psychiatry. Philosophy, Psychiatry & Psychology, 17 (3), 219  228.

Cockerham, W. C. (2007). Social causes of health and disease. Cambridge: Polity Press.

Conrad, P. (2007). The medicalization of society. On the transformation of human conditions into treatable disorders. Baltimore, MD: The Johns Hopkins University Press.

Deserno, H. (2005). Liebe und Depression. Am Beispiel von Dieter Wellershoffs Roman „Der Liebeswunsch“. In S. Hau, H.-J. Busch & H. Deserno (Hrsg.), Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit (S. 165  194). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ehrenberg, A. (2004). Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus.

Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science, 196, 129  136 (deutsch: Die Notwendigkeit eines neuen medizinischen Modells. In H. Keupp [Hrsg.], Normalität und Abweichung. Fortsetzung einer notwendigen Kontroverse. München: Urban & Schwarzenberg 1979, S. 63  85).

Fee, D. (Ed.). (2000). Pathology and the postmodern. Mental illness as discourse and experience. London: Sage.

Fein, M. L. (2012). On loss and losing. Beyond the medical model of personal distress. New Brunswick/London: Transaction.

Ferber, C. von (1971). Gesundheit und Gesellschaft. Haben wir eine Gesundheitspolitik? Stuttgart: Kohlhammer.

Finzen, A. (Hrsg.). (1974). Hospitalisierungsschäden in psychiatrischen Krankenhäusern. Ursachen, Behandlung, Prävention. München: Piper.

Frances, A. (2013). Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont.

Franke, A. (2006). Modelle von Gesundheit und Krankheit. Bern: Huber.

Goffman, E. (1972). Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Greenberg, G. (2010). Manufacturing depression. A secret history of a modern disease. London: Bloomsbury.

Greenberg, G. (2013). The book of woe. The DSM and the unmaking of psychiatry. New York: Blue Rider Press.

Horwitz, A. V. & Wakefield, J. C. (2007). The loss of sadness. How psychiatry transformed normal sorrow into depressive disorder. Oxford: Oxford University Press.

Horwitz, A. V. & Wakefield, J. C. (2012). All we have to fear. Psychiatry’s transformation of natural anxieties into mental disorders. Oxford: Oxford University Press.

Keupp, H. (Hrsg.). (1972). Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. Darstellung einer Kontroverse. München: Urban und Schwarzenberg.

Keupp, H. (1974). Modellvorstellungen von Verhaltensstörungen: „Medizinisches Modell“ und mögliche Alternativen. In C. Kraiker (Hrsg.), Handbuch der Verhaltenstherapie (S. 117  148). München: Kindler.

Keupp, H. (1976). Abweichung und Alltagsroutine. Die Labeling-Perspektive in Theorie und Praxis. Hamburg: Hoffmann und Campe.

Keupp, H. (2013). Wider die soziale Amnesie der Psychotherapie und zur (Wieder-)Gewinnung ihres gesellschaftsdiagnostischen Potentials. Verhaltenstherapie & psychosoziale Praxis, 45 (1).

Keupp, H. (2013). Heraus aus der Ohnmachtsfalle – Psychologische Einmischungen. Tübingen: dgvt-Verlag.

Keupp, H. & Kraiker, C. (1977). Die Kontroverse zwischen Verhaltenstherapie und Psychoanalyse. In H. Zeier (Hrsg.), Die Psychologie des 20. Jahrhunderts. Bd. 4: Pawlow und die Folgen (S. 666  712). München: Kindler.

Kiesler, D  J. (2000). Beyond the disease model of mental disorders. Westport: Praeger.

Leader, D. (2011). What is madness? London: Penguin.

McNally, R. J. (2011). What is mental illness? Cambridge: Harvard University Press.

Pilgrim, D., Rogers, A. & Pescosolido, B. (Eds.). (2011). The Sage handbook of mental health and illness. London: Sage.

Price, R. L. (1978). Abnormal behavior. Perspectives in conflict (2nd Ed.). New York: Holt, Rinehart & Winston.

Read, J., Mosher, L. R. & Bentall, R. P. (Eds.). (2004). Models of madness. Psychological, social and biological approaches to schizophrenia. New York: Brunner-Routledge.

Scheid, T. L. & Brown, T. N. (Eds.). (2010). A handbook for the study of mental health. Social contexts, theories, and systems (2nd Ed.). New York: Cambridge University Press.

Schneider, F., Falkai, P. & Maier, W. (2012). Psychiatrie 2020 plus. Perspektiven, Chancen und Herausforderungen (2. Aufl.). Berlin/Heidelberg: Springer.

Scull, A. (2011). Madness. A very short introduction. Oxford: Oxford University Press.

Searle, J. R. (2011). Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Zur Ontologie sozialer Tatsachen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Summer, E. (2008). Macht die Gesellschaft depressiv? Alain Ehrenbergs historische Verortung eines Massenphänomens im Licht sozialwissenschaftlicher und therapeutischer Befunde. Bielefeld: transcript.

Szasz, T. S. (1960). The myth of mental illness. American Psychologist, 15, 113  118 (deutsch: Der Mythos von der seelischen Krankheit. In H. Keupp (Hrsg.), Der Krankheitsmythos in der Psychopathologie. Darstellung einer Kontroverse (S. 44  56). München: Urban und Schwarzenberg,

Ullmann, L. P. & Krasner, L. (1969). A psychological approach to abnormal behavior. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall.

Welsch, W. (1990). Identität im Übergang. In W. Welsch, Ästhetisches Denken (S. 168  200). Stuttgart: Reclam.

Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (Hrsg.). (2011). Klinische Psychologie und Psychotherapie. Berlin: Springer.

Wulff, E. (1969). Grundfragen transkultureller Psychiatrie. Das Argument, 50, 227  247.

Anmerkungen

Seine Publikationstätigkeit hat sich bis in die jüngste Zeit gehalten. Der im 92. Lebensjahr 2012 Verstorbene publizierte z. B. 2007 „The Medicalization of Everyday Life“, 2008 „Psychiatry. The Science of Lies“, 2009 „Antipsychiatry. Quackery Squared“ und 2011 „Suicide Prohibition: The Shame of Medicine“. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Szasz – laut Wikipedia – „zusammen mit der Scientology-Organisation die amerikanische ‚Citizens Commission on Human Rights‘ (CCHR) gründete. Er distanzierte sich aber von dem Eindruck, dass diese Zusammenarbeit mehr als ein Zweckbündnis und dass er selbst Scientologe sei: (http://de.wikipedia.org/ wiki/Thomas_Szasz#cite_note-3; vgl. auch Bracken & Thomas, 2010).

So hat beispielsweise der Direktor einer renommierten psychiatrischen Forschungsinstitution in den 70er Jahren verlauten lassen, dass bei ihm kein Psychologe eine Chance hätte, der sich mit der Kritik am „medizinischen Modell“ identifizieren würde.

Editorial „A decade for psychiatric disorders“. Nature, Vol. 463, Issue No. 7277, 7. Januar 2010.

 

Einleitung

Reisen durch andere Länder machen auf erschreckende Weise bewusst, wie stark die amerikanische Kultur die Welt durchdrungen hat. Wir schütteln den Kopf beim Anblick eines McDonalds am Tiananmen-Platz oder einer Nike-Fabrik in Malaysia. Das neue Mlimani-Einkaufscenter in Dar es Salaam, Tansania, lässt uns schaudern. Das Gesicht der Welt kommt uns auf deprimierende Weise zunehmend allzu bekannt vor. Der alte Zen-Spruch „Wo immer wir hingehen, da sind wir schon“ gilt für Amerikaner inzwischen wortwörtlich.

Viele Amerikaner beschleicht das bedrückende Gefühl, dass der Einfluss, den sie auf die Welt ausüben, einen hohen Preis hat: den Verlust von Vielfalt und Komplexität. Trotz aller Selbstkritik haben wir uns damit aber noch nicht einmal dem schlimmsten Aspekt dieses Einflusses gestellt. Denn die goldenen Bögen von McDonalds sind bei Weitem nicht der verstörendste amerikanische Export in andere Kulturen – nein, es ist die Einebnung der Landschaft der menschlichen Psyche selbst: Wir treiben gerade das noch größere Projekt voran, die Sichtweise der ganzen Welt auf die menschliche Psyche zu amerikanisieren.

Das mag sich zunächst wie eine unmöglich zu belegende Behauptung anhören, müsste sich so eine Veränderung doch im Bewusstsein und Unterbewusstsein von mehr als sechs Milliarden Menschen gleichzeitig vollziehen. Doch es gibt immer eindeutigere Warnsignale, die man nicht länger ignorieren kann. Besonders verräterisch sind die veränderten Erscheinungsformen psychischer Krankheiten. Zum Beispiel sind in den letzten zwei Jahrzehnten Essstörungen in Hongkong stark angestiegen und verbreiten sich nun auf dem chinesischen Festland. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind zu einer verbreiteten Diagnose geworden, zur Lingua Franca menschlichen Leidens im Anschluss an Kriege und Naturkatastrophen.

Was ist das für ein Erreger, der diese Ausbrüche und Epidemien verursacht hat? Auf welchen Wegen werden diese Krankheiten übertragen?

Die Grundannahme dieses Buches ist, dass wir selbst dieses Virus sind.

In den letzten dreißig Jahren haben wir Amerikaner eifrig unsere Vorstellungen von psychischer Krankheit exportiert. Unsere Definitionen und Behandlungsformen sind zu internationalen Standards geworden. Obwohl das oft mit den besten Absichten verbunden war, waren wir nicht in der Lage, die Folgen unseres Handelns richtig abzuschätzen. Es ist nämlich so, dass die Art und Weise, wie die Angehörigen einer Kultur über psychische Krankheiten denken – wie sie die Symptome kategorisieren und gewichten, wie sie versuchen, sie zu heilen, und wie sie den Verlauf und die Heilungschancen einschätzen –, dass dies die Krankheiten selbst beeinflusst. Indem wir dem Rest der Welt beigebracht haben, genauso zu denken wie wir, haben wir ihn, im Guten wie im Schlechten, genauso verrückt gemacht wie uns.

Es gibt inzwischen umfangreiche Forschung, die darauf hinweist, dass psychische Krankheiten nicht, wie manchmal angenommen, gleichmäßig über den Globus verteilt sind. Sie sind in verschiedenen Kulturen in unendlich komplexen und einzigartigen Gestalten in Erscheinung getreten. Von indonesischen Männern weiß man, dass sie von Amok befallen werden – ein Zustand, der auf eine kleine soziale Demütigung folgt und eine langandauernde Phase des Grübelns nach sich zieht, unterbrochen von Episoden mörderischer Wut. Männer in Südostasien leiden manchmal an Koro, der lähmenden Gewissheit, dass sich ihre Genitalien in den Körper zurückziehen. In der „Fruchtbarer Halbmond“ genannten Region im Mittleren Osten gibt es Zar, eine durch dämonische Besessenheit ausgelöste psychische Krankheit, zu der dissoziative Episoden von Weinen, Lachen, Schreien und Singen gehören.

Die Vielfalt, die sich in verschiedenen Kulturen findet, kann man auch über die Zeit hinweg beobachten. Weil die Seelennöte mit den Begriffen verschiedener religiöser, wissenschaftlicher und sozialer Systeme in unterschiedlichen Kulturen beschrieben wurden, unterscheidet sich die Verrücktheit eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit erheblich von der Verrücktheit anderer Orte und anderer Zeiten. In seinem Buch Mad Traveller dokumentiert Ian Hacking das vorübergehende Auftreten eines Fugue-Zustands im Europa des viktorianischen Zeitalters, in dem junge Männer wie in Trance hunderte von Meilen weit fortliefen. Die Symptome psychischer Krankheiten sind wie ein Aufflackern des Zeitgeistes, Produkte von Kultur und Weltanschauung zu spezifischen Zeiten und an bestimmten Orten. Dass Mitte des 19. Jahrhunderts tausende Frauen aus der Oberschicht aufgrund einer hysterischen Lähmung ihrer Beine nicht mehr aus dem Bett kamen, macht auf verkörperlichte Weise anschaulich, unter welchen sozialen Restriktionen sie zu dieser Zeit litten.

Doch mit der zunehmenden Geschwindigkeit der Globalisierung hat sich etwas verändert: Die beachtliche Vielfalt, mit der verschiedene Kulturen früher einmal Wahnsinn definiert haben, verschwindet rasant. Eine Handvoll psychischer Störungen, die in den Vereinigten Staaten definiert und der dortigen Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden – darunter Depression, Posttraumatische Belastungsstörung und Anorexie – scheinen sich wie ansteckende Krankheiten über kulturelle Grenzen hinweg um den ganzen Globus zu verbreiten. Gleichzeitig werden althergebrachte Formen psychischer Krankheit und ihrer Heilung durch Krankheitsdefinitionen und Behandlungsformen „Made in USA“ regelrecht plattgewalzt.

Es besteht kein Zweifel, dass westliche Experten für psychische Gesundheit beträchtlichen Einfluss auf die Definition psychischer Störungen und ihrer Behandlung weltweit haben. Ärzte und Psychotherapeuten, die im Westen – und insbesondere in den Vereinigten Staaten – ausgebildet wurden, legen die offiziellen Kategorien psychischer Krankheiten fest. Das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen, das DSM, das gelegentlich als die Bibel der Diagnostik bezeichnet wird, ist zum globalen Standard geworden. Amerikanische Forscher und Organisationen publizieren die maßgeblichen Wissenschaftsjournale und veranstalten die wichtigsten psychiatrischen und psychologischen Kongresse. Westliche Universitäten bilden die einflussreichsten Kliniker und Akademiker aus. Westliche Pharmakonzerne verteilen Forschungsgelder und investieren Milliarden in die Werbung für Medikamente zur Behandlung psychischer Krankheiten. Im Westen ausgebildete Traumatologen sind sofort vor Ort, wann immer es Kriege und Naturkatastrophen gibt, um „psychologische erste Hilfe“ zu leisten – und mit im Gepäck haben sie ihre Annahmen darüber, wie die Seele geschädigt und am besten wieder geheilt wird.

Diese Annahmen und Methoden sind viel mehr als nur Symptomlisten, die zur Beschreibung dieser Krankheiten dienen. Denn hinter der Verbreitung westlicher Vorstellungen von psychischer Gesundheit und Heilung steht eine ganze Reihe gesellschaftlicher Annahmen über die Natur des Menschen selbst. Abendländisch geprägte Menschen teilen, um ein paar Beispiele zu nennen, bestimmte Ideen davon, welche Lebensereignisse psychologisch traumatisierend wirken. Wir nehmen an, es sei gesünder, in Gesprächen den Gefühlen Luft zu machen als in stoisches Schweigen zu verfallen. Wir glauben, dass Menschen von Natur aus fragil sind und dass viele Arten emotionaler Erfahrungen als Krankheiten anzusehen sind, die eine Behandlung durch einen Fachmann erfordern. Wir sind zuversichtlich, dass unser biomedizinisches Modell psychischer Krankheiten zur Entstigmatisierung der Betroffenen beiträgt und dass unsere Medikamente das Allerbeste sind, was die Wissenschaft zu bieten hat. Wir versprechen den Angehörigen anderer Kulturkreise, dass geistige Gesundheit (und eine moderne Form des Selbstbewusstseins) erreichbar ist, indem man aus traditionellen Rollen ausbricht und sich per Introspektion auf eine Reise ins eigene Innere begibt. Diese westlichen Vorstellungen von der Psyche erweisen sich für den Rest der Welt als genauso verführerisch wie Fastfood und Rap-Musik und wir verbreiten sie mit großem Nachdruck und hoher Geschwindigkeit.

Was treibt uns dazu, die ganze Welt dazu bringen zu wollen, genauso zu denken wie wir? Es gibt mehrere Antworten auf diese Frage, aber eine davon ist ganz banal: die Gewinne der Pharmaindustrie. Diese Multimilliarden-Konzerne haben ein großes Interesse daran, allgemeingültige Krankheitskategorien festzulegen, weil sie dann ein Vermögen mit dem Verkauf von Medikamenten machen können, die diese Krankheiten angeblich heilen.

Andere Gründe sind vielschichtiger. Viele Ärzte, Psychotherapeuten und Forscher glauben, dass die moderne Wissenschaft, die hinter unseren Medikamenten, Krankheitskategorien und Persönlichkeitstheorien steht, den sich ständig verändernden kulturellen Trends und Überzeugungen enthoben ist. Haben wir nicht inzwischen sogar Maschinen, die den Geist bei der Arbeit beobachten können? Wir können die Physiologie des Gehirns verändern und das Erbgut auf Anomalien untersuchen. Eine ganze Generation lang schon propagieren wir selbstbewusst das biomedizinische Modell psychischer Krankheiten, also die Idee, dass diese Krankheiten klinisch und wissenschaftlich auf die gleiche Art verstanden werden sollten wie körperliche Krankheiten. Die dahinterstehende Annahme ist, dass diese enormen wissenschaftlichen Fortschritte heutigen Therapeuten erlauben, die Voreingenommenheit und Fehler ihrer Vorgänger zu vermeiden.

Tatsächlich blicken die heute tätigen Praktiker häufig mit einer Mischung aus Verachtung und Bedauern auf frühere Generationen von Psychiatern herab, voller Unverständnis dafür, wie diese sich dermaßen vom Aberglauben ihrer Zeit mitreißen lassen konnten. Die Theorien zur Epidemie weiblicher Hysterie in der Gründerzeit werden heutzutage als Irrglauben abgetan. Sogar solche gerade einmal 15 Jahre in der Vergangenheit liegenden, durch Ärzte selbst verursachte Epidemien wie das plötzliche Auftreten multipler Persönlichkeitsstörungen werden wie längst überwundene Startschwierigkeiten behandelt – harmlose Umwege, die sich heute nicht wiederholen könnten. Auf die gleiche Weise werden Krankheiten, die sich nur in anderen Kulturen finden lassen, wie ein Kuriositätenkabinett auf dem Jahrmarkt betrachtet. Koro, Amok und Ähnliches finden sich im amerikanischen Diagnostikmanual DSM-IV (S. 845  849) ganz hinten unter der Überschrift „Kulturgebundene Syndrome“. Dann könnte man sie eigentlich auch gleich „Psychiatrische Exotika: einmal gucken 20 Pfennig“ nennen.

Westliche Gesundheitsexperten neigen dazu, zu glauben, die auf den 844 Seiten des DSM-IV davor beschriebenen Syndrome seien die einzig echten Krankheiten der Psyche – Krankheiten mit Symptomen und Folgen, die von den sich stetig verändernden Alltagstheorien über diese Krankheiten relativ unabhängig sind. Und – das scheint dann nur logisch – wenn sie von der Kultur ihrer Zeit unbeeinflusst sind, müssen diese Krankheiten doch sicherlich für alle Menschen überall gleich sein. Dass diese Kategorien auf der ganzen Welt verwendet werden, ist aus dieser Perspektive schlicht dem unaufhaltsamen Fortschritt der Wissenschaft geschuldet.

Die interkulturell tätigen Forscher und Anthropologen, die in diesem Buch zu Wort kommen, sehen das jedoch anders. Sie zeigen auf, dass psychische Krankheiten nicht unabhängig von der Kultur, in der sie auftreten, betrachtet werden können. Es kann viele Ursachen haben, wenn wir psychologisch aus der Spur geraten – seien es persönliche Traumata, soziale Umbrüche oder ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn. Was auch immer die Ursache sein mag: Um zu verstehen, was da passiert, verlassen wir uns ausnahmslos auf gesellschaftlich geformte Vorstellungen und Erklärungsmuster. Diese Erklärungen – ob sie nun mit Besessenheit oder mit Serotoninmangel zu tun haben – prägen unsere Erfahrungen mit der Krankheit in erstaunlich tiefgreifender und oft auch unerwarteter Weise. Letztendlich werden alle psychischen Krankheiten, das schließt scheinbar so selbstverständlich naturgegebene Formen wie Depression, PTBS und sogar Schizophrenie mit ein, in jedem einzelnen ihrer Bestandteile von gesellschaftlichen Vorstellungen und Erwartungen geprägt und beeinflusst. Dasselbe gilt für hysterische Beinlähmungen, zu Kopf steigende Ausdünstungen, Vapores, des Oberbauchs, Zar oder jede andere psychische Störung in der Geschichte menschlicher Geisteskrankheiten.

Die Einflussnahme der Kultur auf den Geist des psychisch Kranken ist immer ein an seinen Aufenthaltsort und seine Person gebundener Vorgang. Deshalb wurde dieses Buch nicht aus einer globalen Perspektive geschrieben, auch wenn es eine globale Entwicklung beschreibt. Um die Auswirkungen auf den menschlichen Alltag aufzuzeigen, habe ich mich entschieden, die Entwicklungsgeschichten von vier Krankheiten in vier verschiedenen Ländern zu erzählen. Ich habe diese Geschichten ausgewählt, weil jede von ihnen illustriert, wie sich die Globalisierung westlicher Sichtweisen psychischer Krankheiten auf unterschiedlichen Wegen vollzieht. Aus Sansibar, wo der Glaube an dämonische Besessenheit nach und nach durch biomedizinische Vorstellungen psychischer Krankheiten ersetzt wird, erzähle ich die Geschichte zweier Familien, die mit Schizophrenie ringen. Um den Aufstieg der Anorexie in Hongkong zu dokumentieren, zeichne ich die letzten Stationen im Leben der vierzehnjährigen Charlene Hsu Chi-Ying nach und zeige, wie durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die ihr Tod erregte, in ihrer Heimatprovinz eine spezifisch westliche Form dieser Krankheit Einzug hielt. Ich dekonstruiere die Mega-Marketingmaschinerie hinter dem Antidepressivum Paxil in Japan, um deutlich zu machen, wie Pharmakonzerne nicht nur das Medikament, sondern auch gleich die Krankheit mitverkauften, die angeblich geheilt werden soll. Die Nachwirkungen des 2004er Tsunamis in Sri Lanka bieten eine gute Gelegenheit, die Folgen der Arbeit von Traumatherapeuten zu betrachten, die in Katastrophengebiete reisen, ausgerüstet mit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung und westlich geprägten Selbstverständlichkeiten über die Folgen von Traumata auf die menschliche Psyche.

Am Ende jedes Kapitels lenke ich den Fokus zurück auf den Westen, insbesondere auf die Vereinigten Staaten. Wenn man sie von fernen Ufern aus betrachtet, sieht man die gesellschaftlichen Vorurteile und Gewissheiten, die unser eigenes Bild von psychischen Krankheiten und dem menschlichen Geist prägen, mit atemberaubender Klarheit. Von diesem Standpunkt aus erscheinen unsere eigenen Annahmen über Wahnsinn und das Selbst plötzlich recht seltsam.

Die interkulturell arbeitenden Psychiater und Anthropologen, die in diesem Buch auftreten, haben mich davon überzeugt, dass wir an einem ganz besonderen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte leben. Während sie dabei waren, die unterschiedlichen kulturell geprägten Auffassungen von psychischer Krankheit und Gesundheit zu dokumentieren, lösten sich diese Unterschiede vor ihren Augen auf. Ich sehe sie inzwischen als die psychologische Version von Botanikern im Regenwald, die verzweifelt versuchen, den herannahenden Bullozern ein paar Meter vorauszulaufen.

Genauso, wie wir uns über den Verlust der biologischen Vielfalt in der Natur Sorgen machen, sollten wir uns um den Verlust der Vielfalt voneinander abweichender Konzeptionen und Behandlungen psychischer Krankheiten in der ganzen Welt sorgen. Heilungsansätze und kulturspezifische Ideen bezüglich des besten Weges, geistige Gesundheit zu erhalten, könnten der Menschheit mit derselben unerbittlichen Endgültigkeit verloren gehen, mit der eine Tierart oder eine Pflanzengattung ausstirbt. Und genauso wie diese Pflanzen kann die Vielfalt der Auffassungen von der Funktionsweise des Verstandes verschwinden, noch bevor wir ihren wahren Wert erkannt haben. Biologen haben darauf hingewiesen, dass im üppigen und lebendigen Artenreichtum des Regenwaldes chemische Bestandteile versteckt sind, die eines Tages die Seuchen unserer Zeit heilen könnten. Auf ganz ähnliche Weise können wir es uns nicht leisten, das Wissen verloren gehen zu lassen, das in der Vielfalt kulturell abweichender Auffassungen von geistiger Gesundheit und Krankheit enthalten sein könnte. Wir zerstören diese Vielfalt auf eigene Gefahr.

Kapitel 1

Der Siegeszug der Anorexie in Hongkong

Die Psychiatrie kann ihre Beteiligung an der öffentlichen Verbreitung des anorektischen Diskurses, der individuelles Unglück ebenso zum Ausdruck bringt wie gesellschaftliches Unbehagen, nicht bestreiten.
(Sing Lee)

Am Morgen meines Besuches bei Dr. Sing Lee, Chinas führendem Forscher im Bereich Essstörungen, stieg ich ein paar Haltestellen nördlich von Downtown Hongkong in die U-Bahn in Richtung Prince of Wales Krankenhaus, das in dem Vorort Shatin liegt. In den sauberen und gut ausgeleuchteten Gängen der U-Bahn-Station kam ich an mehreren großen Postern vorbei, auf denen außergewöhnlich schlanke junge Frauen im Bikini abgebildet waren, die eine Auswahl von Gesundheitsprodukten, Cellulite-Cremes und Appetitzüglern anpriesen. Die Werbeflächen über den Handschlaufen in der U-Bahn zeigten die gleichen Angebote. Auch die Magazine und Zeitungen der Pendler waren voll mit ähnlichen Bildern, häufig Vorher-Nachher-Vergleiche, junge Frauen, die aus kaum mehr als Haut und Knochen bestanden, nachdem sie die angebotenen Produkte ausprobiert hatten.

Next