Richter der Nacht

Historische Kriminalerzählungen

2. überarbeitete und veränderte Ausgabe

2. Auflage | 2014

ISBN 978-3-943531-04-6 (Printtitel der Erstauflage)

ISBN 978-3-943531-18-3 (EPUB)

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Alfred-Nobel-Str. 39 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat | Korrektorat: Juliane Stadler | Dirk Röse | Jana Hoffhenke

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Simon Stadler

Printed in Germany

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Inhaltsverzeichnis

Richter der Nacht | Nina J. Röttger

Ein ehrwürdiger Rat | Tanja Rast

Herr Oswald und das Geheimnis des verschlossenen Beutels | Susanne Haberland

Salz und Tod | Kerstin Göbel

Die Knochenhauer | Olaf Bröcker

Feuerwerk | Olaf Lahayne

Die Pariser Bluthochzeit | Isabella Benz

Der Fall des Jobst aus Ibbenbüren | Alexander Schmidt

Der Ring des Chuenringers | Elisabeth Schwaha

Tod in der Lohe | Regina Schleheck

Lesetipps

Richter der Nacht

von Nina J. Röttger

Der kopflose Leichnam war überraschend schwer, als ich ihn anhob.

Für einen Brocken wie Gerrit von Althain hätte ich mir auf dem Schafott sicher einen Knecht zu Hilfe geholt. Aber es gab kein Schafott und dies war keine öffentliche Hinrichtung, also schleppte ich den toten Kerl zum Fluss hinunter, um ihn ins Wasser zu werfen. Sein abgetrennter Kopf, der in einem Beutel steckte, schlug mir beim Gehen gegen die Beine.

Über den Wipfeln des Waldes am anderen Ufer sah ich bereits die Morgenröte aufsteigen. Mein rot-schwarzes Wams klebte mir vor lauter Blut am Oberkörper; wenn ich mich nicht beeilte, würden mich die Kinder der Gerberfamilie von nebenan dabei bewundern können, wie ich die Leiche eines angesehenen jungen Mannes entsorgte, den ich eigentlich nicht hätte töten dürfen.

Kein angenehmer Gedanke.

Am Fluss angekommen, suchte ich die kleine Bucht an der Trauerweide. Durch die lang herabhängenden Zweige war sie von außen nicht einsehbar; außerdem lagen dort viele große Steine, die man als Gewicht benutzen konnte. Ächzend ließ ich Althains toten Körper auf die Erde plumpsen.

Für einen Moment verharrte ich in stummer Unbeweglichkeit und betrachtete ihn. Mein Richtschwert hatte das Genick sauber zwischen den Wirbelknochen durchtrennt, so wie es sein sollte. Trotzdem war es anders als sonst. Es war jedes Mal anders, wenn ich nächtens auf die Jagd ging.

Sorgfältig band ich ein Stück Hanfseil um einen großen Stein und knotete ihn um einen der schönen, schwarzen Reitstiefel. Eigentlich schade drum, dachte ich, aber schließlich siegte der Verstand. Ich ließ die Schuhe, wo sie waren, und beförderte den Leichnam mit einem kraftvollen Stoß in die Strömung. Mit lautem Platschen fiel er hinein, tauchte kurz unter und kam ein letztes Mal an die Oberfläche, um dann in einem Sog aus bleicher Haut und nasser Kleidung gurgelnd in die Tiefe zu sinken. Dann war der Rest an der Reihe.

Der zu einer überraschten Fratze verzerrte Schädel war rasch erkaltet und blutete längst nicht mehr so stark wie vorhin. Durch die Augenlöcher meiner schwarzen Stoffmaske hindurch sah ich dem Toten in die weit aufgerissenen braunen Augen.

»Gerrit von Althain«, sagte ich leise, »du hast dich eines Verbrechens schuldig gemacht, dessen du sicher warst, dass es niemals bestraft würde. Mag dich der Arm des Gesetzes nicht erreicht haben – meinem bist du nicht entkommen. Mögest du für deine Tat im Jenseits büßen.«

Ich wollte mich gerade bücken, um nach einem geeigneten Stein zu suchen, damit ich den Kopf ebenfalls versenken konnte, als ein Geräusch die Stille zerriss. Ein Schreck durchfuhr mich. Es kam von Norden her – dort, keine zwanzig Schritt von meinem Standpunkt aus entfernt und nur wegen des dünnen Vorhangs der Trauerweidenzweige nicht zu sehen, stand meine Holzhütte. Jemand pochte energisch an die Tür und verlangte lautstark nach Einlass.

»Thomas! Thomas Schinder, steh auf! Man braucht deine Dienste!«

Verfluchter Mist. Der Büttel.

Ohne lange zu überlegen, packte ich den Schädel bei den Haaren und schleuderte ihn so weit wie möglich von mir in den Fluss hinein. Der Wurf war kraftvoll, deshalb war nur ein fernes »Ploff!« zu hören, als er stromabwärts eintauchte. Ich wartete nicht ab, sondern rannte geduckt am Ufer entlang zum Haus, immer im Schutz der spärlich wachsenden Sträucher.

Mit wild pochendem Herzen erreichte ich den winzigen Garten und die kleine Tür, durch die man von der Rückseite ins Haus gelangen konnte. Vorne hörte ich den Büttel rufen – er darf mich so nicht sehen –, dann stürzte ich in die dämmerige Stube.

Mit fliegenden Fingern streifte ich mir den Gürtel mit dem Richtschwert von der Taille und hängte beides an den Haken neben der Feuerstelle, dann riss ich mir die Kleider vom Leib. Kapuze, Wams, Hose, Handschuhe – alles, was mit Blut befleckt war, flog in eine dunkle Ecke. Das grobe Hemd aus altem Leinen, das ich zum Schlafen trug, fand ich nach einigem Suchen. Rasch zog ich es an. Und nachdem ich ein paar Mal tief durchgeatmet hatte, um mein rasendes Herz zu beruhigen, trat ich vor und öffnete die Tür.

Anno, der Büttel der Stadt, hielt mitten im Klopfen inne. Er hatte mit seinem Knüppel gegen das marode Holz geschlagen und sah nun so aus, den Prügel in der erhobenen Hand, als wollte er mir eins über den Schädel ziehen; in seinem hageren Gesicht zeichnete sich ein kurzer Schrecken ab, als ich unvermittelt vor ihm stand.

»Meine Güte«, sagte er und hielt seine Laterne höher, die mich nach der langen Zeit in der Dunkelheit blendete. »Du hast einen Schlaf wie ein Toter, Schinder.«

Ich würgte die passende Antwort hinunter und fuhr mir mit der Hand durch die zerzausten Haare. »Was willst du von mir in aller Herrgottsfrühe, Anno?«

Der junge, ehrgeizige Büttel richtete sich zu voller Größe auf, wie immer, wenn er in offiziellem Auftrag unterwegs war. »Ich komme vom Gericht, genauer gesagt von Richter Eckebrecht, um dich zu holen«, erklärte er herablassend. »Die Stadt braucht ihren Henker.«

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Schon mein Vater war Scharfrichter. Genauso wie sein Vater, und dessen Vater davor – seit Generationen sorgte meine Familie dafür, dass die Gesetzlosen ihre gerechte Bestrafung erhielten. Auch mein Bruder und ich wandten uns diesem Beruf zu, sobald wir alt genug waren, um ein Schwert halten zu können.

Nicht freiwillig. Aber wir taten es.

Besonders Steffen fiel es schwer, sich mit seinem Schicksal abzufinden. Ihn traf es am schlimmsten, dass wir seit jeher ein Leben in Abgeschiedenheit führen mussten – von allen anderen Bewohnern der Stadt gemieden, abseits sitzend in der Kirche, umgeben von grausigen Überbleibseln wie abgehackten Händen und eingekochtem menschlichem »Armsünderfett«, die meine Mutter als Medizin und Glücksbringer an die Alten und Kranken verkaufte. Er war der Jüngere von uns beiden und nicht für ein Leben zwischen Folter und Galgen gemacht, seine Nerven waren einfach nicht stark genug dafür.

Das hat ihn schließlich das Leben gekostet.

Bevor ein Henker seinen Beruf ausüben darf, muss er eine Prüfung ablegen, wie jeder andere Handwerker auch. Tischlergesellen bauen ihrem Meister einen reich verzierten Wandschrank, Küchenjungen bereiten dem Koch einen guten Braten; für einen Jungen, der Scharfrichter werden soll, besteht das Meisterstück in einem perfekt geköpften Delinquenten. Er muss eine reibungslose Hinrichtung abliefern, sonst hat er für alle Zeiten sein Recht verwirkt, das Richtschwert zu schwingen.

Mein allererster Kopf gehörte einem Mörder, der ruhig dakniete und seine Gebete vor sich hinmurmelte, bis ihm das Eisen durch die Kehle fuhr. Blut spritzte über die blanken Bohlen des Podests, der Pöbel schrie entzückt auf – und schon war es vorbei. Ich hatte Glück gehabt, doch trotzdem zitterten mir noch Stunden danach die Glieder.

Steffens Meisterstück dagegen sollte, vier Jahre später, sein Verhängnis werden.

Der Verurteilte war ein Berg aus Muskeln mit einem vorlauten Maul. Drei Knechte und der damalige Büttel waren nötig, um ihn das Schafott hinauf zu zerren, obwohl er gefesselt war.

»Hunde!«, brüllte er und Speichel flog aus seinem hochroten Gesicht, »Nichtsnutzige Schlangen! Brennen sollt ihr, brennen in der Hölle!«

Sein kahl geschorener Kopf zuckte hin und her wie wahnsinnig, während ihn die Männer fluchend in die Knie zwangen. Er schrie und schimpfte, brüllte über den ganzen Marktplatz hinweg zum Himmel hinauf; ich beobachtete aus dem Hintergrund, wie sich eine alte Frau in der Menge hastig bekreuzigte. Mein Bruder sah furchtbar verloren aus in dem zweifarbigen Wams und der viel zu großen Maske mit den Augenschlitzen.

Der Himmel war dunkel und wolkenverhangen an diesem Tag. Ich erinnere mich noch, dass mein Vater neben mir stand und mir eine Hand auf die Schulter legte, als Steffen nach vorne zu dem Delinquenten trat. Es roch nach Mist und Weihrauch. Pater Regino, der glatzköpfige Kaplan, versuchte dem fluchenden Mann den letzten Segen zu geben, zog sich jedoch verängstigt zurück und eilte die Stufen des Schafotts hinunter. Steffen stand allein dort oben, das übergroße Schwert in der Hand.

»Töte mich doch, du Schwein!«, brüllte der Hüne und wand sich wie ein Wahnsinniger in seinen Fesseln. »Töte mich doch, wenn du dich traust!«

In diesem Moment befiel mich eine unheimliche Vorahnung. Der Atem blieb mir weg, als ich Steffens blaue Augen unter der Kapuze erkennen konnte. Ich sah seine wilde, blanke Panik, die fast nichts Menschliches mehr an sich hatte. Wie im Traum hob er das Schwert, das Schwert unseres Vaters. Das Volk um uns herum jubelte ihm zu, als er ausholte, während ich meinte, einen leisen, verzweifelten Schrei aus seiner Kehle kommen zu hören, nur für meine Ohren hörbar und so furchtbar, dass er mir das Blut in den Adern gefrieren ließ – dann schlug er zu.

Und traf daneben.

Knochen knirschten und flogen in Stücken durch die Luft. Das Brüllen des Mannes wurde zu einem gurgelnden, schrillen Schrei, als das Schwert seinen Kiefer in Trümmer schlug und ihn bis zur Hälfte abtrennte, bevor es einfach im Schädel stecken blieb. Grausige Fleischfetzen, in denen weiße Splitter schimmerten, fielen herab und blieben an baumelnden Sehnen hängen. Der Verurteilte kreischte und würgte markerschütternd durch seinen geborstenen Mund, während ihm Unmengen von Blut aus dem Gesicht quollen; einen furchtbaren Moment lang sah es aus, als würde er sich rot und schwallartig übergeben. Steffen stand wie versteinert hinter ihm, das Heft des Schwertes umklammernd, die Augen starr auf das Schauspiel gerichtet.

Die große Hand meines Vaters krallte sich tief und fest in meine Schulter. »Mein Gott«, krächzte er. »Mein Gott …«

Der Pöbel war ganz still geworden.

Kein Laut war zu hören außer dem krampfartigen Würgen und Speien des qualvoll verblutenden Delinquenten. Nicht einmal der Wind flüsterte.

Dann schrie jemand laut auf. Erst verstand ich nicht, was er sagte, doch dann wurde der Ausruf klar und deutlich.

»Meuchelmörder!«

Und plötzlich waren die Stimmen überall. Fäuste stachen in die Luft wie Lanzenspitzen, Weiber kreischten, Männer fluchten.

»Leuteschinder!«

»Verdammter Blutscherge, soll das eine Enthauptung sein?«

»Du lässt den Kerl ja verrecken wie einen Köter!«

Panik ergriff mich. Steffen stand ganz allein dort oben und blickte auf uns herab, aber als er einige Schritte rückwärts machen wollte, hinderte ihn das große Schwert daran, das immer noch zwischen den Schädelknochen feststeckte. Anstatt es loszulassen, zog und rüttelte er daran wie ein Kaninchen, das in einer Schlinge festhängt. Ich wollte ihm zurufen, dass er um Himmelswillen loslassen und laufen sollte, als mein Vater mir den Mund zuhielt und mich im Genick packte.

»Nimm deine Mutter und lauf nach Hause, so schnell du kannst«, zischte er mir ins Ohr und stieß mich hart von sich.

»Aber Steffen …«

»Verschwindet, verflucht noch mal, oder die werden uns auch noch lynchen!«

Während ich davonrannte, schaute ich über die Schulter zurück zum Galgen: Die Menge stürmte auf das Schafott. Brave Bürger und zerlumpte Gestalten kletterten auf das Gerüst und rauschten die Stufen hinauf wie die wütend schäumende Meeresbrandung, derweil mein Bruder unter seiner schwarzen Maske heillos darin ertrank. Salzige Tränen nässten mein ganzes Gesicht.

Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.

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Es gibt Gesetze in unserer Welt, die dafür sorgen, dass Recht und Ordnung zwischen den Menschen herrschen. Ein Henker ist dafür da, die Auswirkungen dieser Gesetze in die Taten umzusetzen.

Aber ein Scharfrichter sieht auch, dass unsere Welt nicht perfekt ist.

Die Obrigkeit bezeichnet uns als Ehrlose und stellt uns zu den anderen verlorenen Seelen, die ganz am Rande leben und geduldet, aber nicht geachtet werden: Müller, Gerber, Spielleute, Bettler und Huren … Wir verrichten die dreckigsten Arbeiten, befriedigen die niedersten Triebe, spielen und tanzen gegen Hunger und Durst. Jedermann braucht uns, aber öffentlich zugeben tut es keiner; das Gesetz gilt nicht für uns.

Ein Henker lebt in der Einsamkeit. Wer ihn berührt, riskiert Unglück, wer mit ihm spricht, verliert jedes Recht; die Gebote der weltlichen Gerichte beschützen ihn nicht, aber er führt sie aus.

Er rädert die Mörder und köpft die Verräter, aber niemand hängt die Menschen, die einen Henker töten. Selbst dann nicht, wenn er erst sechzehn Jahre alt und unerfahren war.

Es gibt Gesetze, die dafür sorgen, dass Recht und Ordnung zwischen den Menschen herrschen. Aber manchmal greifen diese Gesetze nicht.

Deshalb töte ich Menschen, wenn die Sonne am Horizont versinkt.

Menschen, die den Tod redlich verdient haben und doch nie auf das Schafott müssten, weil sie reich, beliebt oder einfach von besserer Herkunft sind. Die weiterleben sollen, obwohl sie Mörder, Diebe und wandelnde Bestien sind.

Deshalb töte ich, wenn es Nacht wird.

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Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit der Büttel mich abgeholt hatte.

Ich befand mich in einem niedrigen Kellergewölbe, dessen Decke so tief war, dass ein großer Mann wie ich kaum aufrecht darin stehen konnte.

Zum Glück besaß ich neben der blutgetränkten Kleidung, die in meiner Hütte lag, noch eine weitere Henkerstracht. Die hatte ich nun angelegt und wartete in dem Kerker unter dem Gerichtsgebäude auf die Aufgabe, die mir zugefallen war.

Es roch nach Moder, Eisen und Ruß. Man gelangte nur über eine steile Treppe hinunter, die unter einer Falltür verborgen war; niemand außer dem Scharfrichter, seinen Gehilfen und natürlich den Verurteilten bekam diesen Raum je zu sehen.

Während ich allein dort unten wartete, überprüfte ich den Zustand meiner Instrumente. Das hölzerne Drehkreuz der Streckbank, die an einer Wand aufgestellt war und vom Feuerschein der Esse beleuchtet wurde, war gut geölt und bereit. Über dem kleinen Kamin, der eine fast unerträgliche Hitze in dem Keller verbreitete, hingen säuberlich aufgereiht die Brandeisen an Haken an der Mauer: groß, mittel, klein. Der schwarze Rauch des Schlots zog durch ein Loch in der Decke ab. Gesäuberte und polierte Daumenschrauben, geschärfte Beile, aufgerollte Schlingen aus reißfestem Hanfseil – alles Wichtige war zur Hand.

Schon hörte ich polternde Schritte die Treppe herabkommen.

»Beweg dich, du Nichtsnutz!«

Bunte Schnabelschuhe stolperten die Stufen herab. In meinem Inneren krampfte sich etwas vor Aufregung zusammen – so ging es mir jedes Mal, selbst nach all den Jahren. Dünne Beine in geflickten Hosen kamen zum Vorschein, dann erschien der ganze Mann in meinem Blickfeld: Ein Gaukler, nicht älter als achtzehn oder neunzehn. Sein Wams war zerschlissen und wurde von Stofffetzen in allen Farben und Größen zusammengehalten. Hinter ihm stolzierte Büttel Anno die Treppe herunter, wobei die beiden in eine ziemlich einseitige Diskussion verwickelt waren.

»... ich hab’ doch gesagt, ich weiß nich’, wie die blöde Geldkatze in meine Tasche gekommen is’.«

»Schweig, Rumtreiber!«

»Kommt schon, Herr, Ihr könnt mich doch an’ Pranger stell’n, ‘n bisschen Krummstehen wird meinem Rücken ganz guttun.«

»Halt jetzt endlich die Klappe!«

Anno zerrte den jungen Mann am Kragen hinter sich her.

»Ich bringe Euch einen neuen Delinquenten, Meister Scharfrichter«, keuchte er, etwas aus der Fassung gebracht durch die ständige Plapperei. Seine Stimme hallte dumpf von den Mauern wieder.

»Was hat er getan, Büttel?«, fragte ich und widerstand dem Drang, die Kapuze abzunehmen und mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Gluthitze folterte nicht nur die Verbrecher.

»Ich hab’ gar nix gemacht, das sag’ ich doch schon -«, setzte der junge Gaukler wieder an, aber Anno verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

»Ruhe jetzt!«, zischte er drohend, dann wandte er sich wieder an mich.

»Er hat einem ehrenwerten Bürger, dem guten Rudolf Schneider, die Geldbörse gestohlen. Drei Goldgulden und sieben Weißpfennige befanden sich darin. Richter Eckebrecht verurteilt ihn zum Verlust seines rechten Daumens, was noch zu dieser Stunde geschehen soll. Ich persönlich«, fügte er hinzu und schenkte dem Gaukler einen bösen Blick, »hätte ihm eher die Zunge herausschneiden lassen.«

»Das hat mein seliger Vater auch immer gesagt«, fing der Junge wieder an. »Falk, hatt’er gesagt, eines Tages reißen se dir noch ma’ die Zunge aus’m Hals, weil du se sonst alle totquatschen würdest.«

Anno hob schon wieder die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber ich hielt ihn mit einem Kopfschütteln ab. Stattdessen trat ich ein paar Schritte näher und betrachtete den jungen Mann eingehend.

»Du heißt also Falk, richtig?«, fragte ich, während ich seine rechte Hand in die meine nahm und vorsichtig abtastete.

»Falk vom Teufelstor, das is’ mein Name«, erklärte er nicht ganz ohne Stolz. »Der beste Jokulator von hier bis nach Magdeburg.« Sorgenvoll senkte er die Stimme. »Aber wenn ich den Daumen verlier’, kann ich dann noch arbeiten? Is’ das einzige, was ich gut kann ...«

Wenn du gut stehlen könntest, wärst du jetzt auch nicht hier, dachte ich bei mir und musste unter der Kapuze grinsen. Der Junge dachte sich nicht viel bei der Strafe, die ihn erwartete; ein Taugenichts, der in den Tag hineinlebte und mir persönlich besser gefiel als die vielen schreienden und schlotternden Sünder, die ich sonst zur Tortur empfing. Es machte die Sache einfacher.

Mit einem Nicken zu Anno erklärte ich ihn für tauglich, die Strafe zu empfangen.

»Wenn Ihr so geschickte Finger habt, wie Ihr behauptet, wird das mit dem Jonglieren danach kein Problem sein.« Hoffte ich zumindest.

In der Mitte des Folterkellers gab es einen roh behauenen Holzblock, der mir ungefähr bis zur Brust reichte. Dorthin gingen wir. Ich griff mir Falks Handgelenk, krempelte seinen fadenscheinigen Ärmel nach oben und legte seine Hand auf der rauen Oberfläche zurecht, die Finger zusammen, den Daumen abgespreizt. Dann klopfte ich kurz auf das Säckchen an meinem Gürtel, um zu überprüfen, ob alles bereit war, um die Wunde später zu versorgen; schließlich lautete die Strafe nur abschlagen, nicht verbluten lassen.

Mit einem geschmierten Lederriemen band ich Falk den Daumen ab. Als ich die Schnur fest anzog, durchlief den jungen Mann trotz seiner gelassenen Einfältigkeit ein Schauder. Einem plötzlichen Impuls folgend klopfte ich ihm ermutigend auf die Schulter. Anno schürzte missbilligend die Lippen.

Dann wandte ich mich der Esse zu, in der ich ein kleines Beil soweit erhitzt hatte, dass es kirschrot glühte; die Hitze würde die Wunde sofort schließen. Mit der qualmenden Waffe in der Hand wandte ich mich wieder dem Holzblock zu.

»Es geht ganz schnell«, sagte ich.

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»Du bist zu weichherzig, Schinder. Für einen Scharfrichter gehst du einfach zu sanft mit diesen Halunken um.«

Nach der Vollstreckung des Urteils hatte ich den jungen Gaukler verarztet, so gut ich konnte, und ihn seiner Wege geschickt. Danach hatten der Büttel und ich gemeinsam den Kerker verlassen, obwohl ich mich lieber mit einem verurteilten Sodomiten unterhalten hätte als mit ihm.

»Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun? Ihn bedrohlich unter meiner Maske anschweigen, bis er zu weinen anfängt? Das sind Menschen, Anno, genau wie wir. Sie erhalten ihre gerechte Strafe, auch ohne dass wir sie behandeln als wären sie Dreck.«

Es hätte nicht viel gefehlt, und der Büttel hätte gelacht. »Gütiger Himmel, Schinder, wärst du nicht der Sohn eines Henkers, du hättest glatt Priester werden können.«

In diesem Augenblick kam Elsbeth, die Frau des Müllers, an uns vorbei. Der störrische Esel, den sie hinter sich herzog, war mit schweren Mehlsäcken beladen und ihr weiß bestäubtes Haar stand wie immer wirr vom Kopf ab.

»Grüß dich, Anno! Grüß dich, Thomas!« Als Angehörige eines unehrenhaften Berufes konnte sie es sich erlauben, uns so sorglos zu begrüßen. Da Müller immer im Verdacht standen, die ehrlichen Bürger mit gestrecktem Mehl übers Ohr zu hauen, zählten sie in der Stadt zu den zwielichtigen Gestalten.

»Morgen, Elsbeth«, antwortete ich und winkte zurück.

In ihren Augen blitzte es erfreut – vermutlich hatte sie neuen Klatsch zu erzählen.

»Wisst ihr schon das Neueste?«

Na also – direkt ins Schwarze.

»Der junge Althain ist seit gestern Abend verschwunden!«

Mir rutschte das Herz in die Hose.

»Ach ja?« Anno merkte auf. »Wie meinst du das, verschwunden?«

»So, wie ich es sage! Oder traust du mir nicht, Büttelchen?«, erwiderte die Alte schelmisch. »Wie vom Erdboden verschluckt, seit er gestern das Wirtshaus Zum goldenen Rappen verlassen hat. Irmel Kramer sagt, sie hätte ihn danach noch auf seinem Pferd gesehen, wie er in der Dämmerung nach Norden Richtung Stadtrand geritten ist.« Sie kicherte. »Ihr wisst schon, zu den Damen ...«

»Zu den Huren?« Anno war sichtlich schockiert. »Willst du etwa behaupten, Gerrit von Althain hätte sich mit Dirnen abgegeben?«

»Na, das ist doch offensichtlich, Büttelchen! Irmel hat ihn schon öfters da entlangreiten sehen, also hat er sich wohl ein Liebchen angelacht, das nicht so ganz seinem Stand entsprach. Und wenn er jetzt nicht mehr nach Hause kommt, kann das nur zwei Ursachen haben.« Elsbeth grinste und entblößte eine ansehnliche Zahnlücke. »Entweder der feine Herr ist mit ihr durchgebrannt oder einer der Zuhälter wollte nicht, dass sich sein Täubchen mit einem reichen Knaben davonmacht, und dann hat er ihn einfach …« Sie machte mit den Händen eine Bewegung, als würde sie einem Frettchen den Hals umdrehen.

»Auf jeden Fall lässt der alte Friedrich von Althain seit heute Morgen seine gesamte Dienerschaft durch die Stadt hetzen, um den verschollenen Sohn zu suchen. Bin gespannt, wann sie den Hurenhaufen aufmischen – ist ja nur eine Frage der Zeit.«

Verdammt. Das war nicht gut.

Ich musste zu Margret.

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Ich hörte das Kichern und Schnattern der Mädchen und Frauen schon von Weitem.

Verließ man im Norden den Schutz der Stadtmauern, betrat man das Reich der Huren. Das heruntergekommene Bordell, das zwischen den Bäumen hockte wie ein riesiger Pilz, war die Heimat der meisten Dirnen, die mir hüftschwenkend entgegenkamen. Viele andere nahmen meine Anwesenheit dagegen überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern wuschen ihre Wäsche in dem spritzenden Bächlein, das vorüberfloss, aßen Suppe aus einem Topf über einem rauchenden Feuer oder unterhielten sich. Aus einem der oberen Fenster des Hauses drang lautes, wollüstiges Stöhnen.

»Na, Meister Schinder«, hauchte mir eine schlanke Frau mit rabenschwarzem Haar ins Ohr, «wo drückt uns denn der Schuh?« Die gelben Bänder an ihrem bunten Rock tanzten im Wind.

»Den drückt was ganz anderes«, rief eine andere, und die Mädchen kicherten anzüglich. Ich ließ mich nicht ablenken und fing den Blick einer älteren Hure auf, die hinter den jüngeren herkam.

»Hallo, Sybilla«, grüßte ich und schob mich vorsichtig durch die näherkommenden Weiber. »Wo ist Margret?«

»Bei ihrem Zelt, wie üblich.«

Als ich fragend die Augenbraue hob, schüttelte sie nachsichtig den Kopf. »Keine Bange, sie ist allein.«

Dankbar nickte ich ihr zu und machte mich auf den Weg zu dem kleinen gelben Zelt, das ein wenig abseits zwischen zwei Eichen stand. Margret gehörte zu den Huren, die sich von den Besitzern der Bordelle weder etwas sagen noch den Lohn wegnehmen lassen wollten – deshalb mussten sie abseits des Hauses kampieren, da sie nicht innerhalb der Stadtmauern ihrem Gewerbe nachgehen durften.

Der Rotschopf der Dirne leuchtete bereits von Weitem zwischen den Blättern hervor. Sie kehrte mir den Rücken zu, während sie sich kniend um eine kleine Ziege kümmerte, die sie an einen Ast gebunden hatte.

»Margret, ich bin es, Thomas«, kündigte ich mein Kommen an. Als sie mich erkannte, stand sie auf und wartete mit verschränkten Armen vor ihrem Zelt.

»Was willst du, Thomas?« Sie war eine Schönheit, jedoch verhärmt von dem Leben, das sie führte. Über ihrem Zelt hingen Windspiele aus trockenen Hölzern in den Bäumen, die leise, melodische Klänge von sich gaben.

»Ich bin hier, um dich zu warnen.« Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihr die Situation erklären sollte, ohne mich selbst und mein Geheimnis zu verraten – denn nicht einmal sie wusste von dem zweiten Leben, das ich nächtens führte, obwohl sie zu den Menschen gehörte, die mich am besten kannten.

»Das klingt ja furchterregend.« Das hervorstechendste Merkmal neben ihrem Feuerkopf war und blieb ihre spöttische Zunge. Mit einer einladenden Geste wies sie auf den Teppich aus dickem Moos, der ihre kleine Lagerstatt umgab. »Setz dich doch erst einmal, dann kannst du mir gern erzählen, was für eine unglaubliche Gefahr da auf mich zukommt. Möchtest du einen Becher Ziegenmilch?«

Ich nahm dankend an und nachdem ich ein paar Mal vergeblich versucht hatte, einen guten Anfang zu finden, beschloss ich, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.

»Es geht um Gerrit von Althain. Er ist gestern verschwunden, und man wird bald bei dir nach ihm suchen.«

Ich konnte genau beobachten, wie ihre Mundwinkel zuckten und sich die ebenmäßigen Züge verspannten. Margrets Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Wieso sollte man diesen Hundesohn bei mir suchen?«

»Weil ihn jemand dabei beobachtet hat, wie er zum Stadtrand geritten ist, und er schon öfter dabei von derselben Person gesehen wurde. Du weißt schon … als er früher zu dir kam.«

Worte schwebten ungesagt in der Morgenbrise und verpesteten die Luft. Das Verbrechen, dessen ich Althain angeklagt und für schuldig befunden hatte, hatte er an Margret verübt – ein Verbrechen, das keine Frau verdiente. Auch nicht eine gesetzlose Hure.

»Und wenn schon. Er liegt bei irgendeiner Frau im Bett und wird früher oder später wieder auftauchen«, erwiderte sie trotzig und schob sich eine lose Strähne hinters Ohr.

Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, das wird er nicht. Er kommt nicht mehr zurück.«

Sie starrte mich an, und ein beklemmendes Gefühl überkam mich.

»Woher willst du das wissen, Thomas?«, fragte sie und runzelte die Stirn.

»Würdest du es dabei belassen, wenn ich sage, dass ich es einfach weiß?«

»Seit wann bist du Seherin und liest aus Fischknochen die Zukunft? Ich -« Sie stockte und schaute mir direkt in die Augen. »Was hast du getan, Thomas?«

»Margret, hör mir zu!« Ich stand auf und zog sie mit nach oben. Sie war kleiner als ich, deswegen musste ich nach unten schauen. »Egal, was passiert ist oder was ich damit zu tun habe, es könnte dich in Schwierigkeiten bringen. Du kennst unseren Büttel, der würde seine eigene Großmutter an den Abdecker verhökern, wenn er sich dafür bei Richter Eckebrecht oder dem alten Althain einschmeicheln könnte. Er weiß jetzt, dass Gerrit bei einer Hübschlerin war und wenn er erst hier ist, wird er auch herausfinden, dass du das warst - und was der reiche Fatzke dir angetan hat. Das kann böse enden, Margret. Du solltest für eine Weile von hier verschwinden.«

»Gute Idee, Thomas, ich werde gleich im nächsten Kloster vorsprechen – einem so frommen Geschöpf wie mir wird man dort sicher gerne Obdach gewähren.«

»Herrgott, Margret, willst du nicht verstehen? Wenn Anno erst einmal zwei und zwei zusammengezählt hat und Althain verschwunden bleibt, wird es ihm egal sein, ob er gestern Abend wirklich bei dir war oder nicht! Dann wird er dich als Sündenbock benutzen und vor Gericht stellen. Und du weißt, was dann passiert – die schert es nicht, was aus einer einfachen Hure wird.«

Mit einem liebevollen Ausdruck in den Augen legte sie mir eine Hand an die Wange.

»Du wärst ein besserer Richter für diese Welt, Thomas. Du hast ein zu großes Herz, um so einen Beruf auszuüben. Genau wie dein Bruder.«

Den wir beide geliebt hatten – von Kindesbeinen an.

»Ich habe Steffen damals geschworen, dass ich auf dich achtgebe, wenn ihm jemals etwas zustoßen sollte«, erwiderte ich und schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter.

»Das weiß ich, aber es ist das Beste, wenn ich bleibe, wo ich bin. Wenn ich mich jetzt davonmache, denkt jedermann, ich hätte wirklich etwas zu verbergen. Glaub mir, ich weiß schon, was ich tue.«

Mir war gar nicht wohl bei der Sache. »Versprich mir, dass du nach mir schicken lässt, wenn der Büttel oder einer seiner Schergen dich aufsucht.«

»Wenn du mir erzählst, was du mit der ganzen Sache -«

»Schwöre es.«

Ich sah sie so eindringlich an, dass sie schließlich seufzend nachgab. »Also gut«, sagte sie. »Ich schwöre es bei meiner seligen Mutter und deinem Bruder: Wenn etwas passiert, komme ich sofort zu dir.«

---

Ich wandelte durch einen dunklen Wald, über dem die Wolken durch einen rabenschwarzen Himmel zogen. Es war bitterkalt; ich spürte, wie mein feuchter Atem an der Innenseite meiner Henkersmaske zu Eis erstarrte.

Die Gegend war mir fremd. Ich hatte Angst, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, aber irgendetwas trieb mich vorwärts, als würde mein Körper nicht mehr meinem Willen gehorchen. Ich meinte, in meinem Nacken den sengenden Blick leuchtender, gelber Augen zu spüren, aber wenn ich mich umdrehte, waren da nur Nacht und Dunkelheit.

Plötzlich begann es zu regnen. Eine wahre Sturzflut brach über mich herein. Das Wasser durchnässte mich bis auf die Knochen und ich rannte los, um mich vor dem Wolkenbruch zu schützen; da erschien am Horizont zwischen den Büschen ein flackerndes, gelbes Licht.

Immer schneller jagte ich darauf zu. Mein Herz pumpte und meine Schritte prasselten wie die schweren Tropfen auf den rutschigen Boden. Das Licht wurde größer, je näher ich kam – es war ein Haus, eine kleine Holzhütte mitten im Wald. Erleichtert sprang ich über einen umgestürzten Baumstamm und blieb stehen.

Es war mein eigenes Haus.

Panik beschlich mich. Was machte meine Hütte hier, weit weg von der Stadt? Und wer hatte das Licht darin entzündet? Plötzlich wollte ich nicht mehr hineingehen. Der peitschende, eiskalte Regen war mir mit einem Mal lieber als zu sehen, was sich in diesem Haus befand, aber wieder folgte mein Körper nicht meinen Befehlen. Ohne dass ich etwas hätte dagegen unternehmen können, streckte ich die Hand aus und öffnete die Tür.

Gleißendes Licht überflutete mich. Köpfe, tausende von zuckenden, frisch abgetrennten Köpfen stapelten sich in der Kammer, rollten vom Bett herunter, fielen aus dem Kamin, umspülten meine Füße wie ein schauerlicher Steinschlag. Ich wollte zurückweichen, aber ich war wie festgewachsen; die zu Fratzen verzogenen Münder schrien mich an mit hohlen, toten Stimmen.

»Mörder! Mörder! Mörder!«

Dann sah ich, dass es gar kein Regen war, der da auf mich hinabprasselte und meine Kleider durchnässte.

Es war Blut.

Ich erwachte von meinem eigenen Schrei. Schweißgebadet lag ich da, die dünne Decke vor Angst umklammernd und darauf wartend, dass mein Herzschlag sich wieder beruhigte. Das Grauen des Traums haftete immer noch an mir wie ein schimmernder Handabdruck.

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»Haltet still, sonst kann ich den Zahn nicht ziehen!«

Der nächste Tag war hereingebrochen, obwohl mir die Nacht endlos vorgekommen war. Übermüdet und das starke Bedürfnis nach einem Becher Weinbrand unterdrückend, hatte ich gegen Mittag den Knecht von Bauer Ottfried in mein Haus gelassen, um ihn von den rasenden Schmerzen zu befreien, die ein fauler Backenzahn verursachte.

Obwohl sie Menschen wie uns sonst meiden wie die Pest, hindert es die Leute doch nicht daran, uns aufzusuchen, wenn sie in Not sind und unserer Dienste bedürfen. Der Einzige im Ort, der sonst noch Zähne ziehen konnte, war Balduin, der verrückte Bader; aber da man ihn nicht umsonst den »Maulreißer des Teufels« nannte, hatte sich der Knecht für meine Behandlung entschieden.

Jetzt zitterte der arme Tropf auf seinem Stuhl und schwitzte Wasser und Blut – nicht nur, weil ihn jemand auf dem Weg zu mir gesehen haben könnte, sondern auch, weil ich bereits mit einer Zange hantierte, die alles andere als vertrauenerweckend wirken musste.

»Ich gebe dir gleich etwas zu trinken, das die Schmerzen lindern wird. Eine Mixtur aus Kräutern, die schon meine Mutter den Kranken verabreicht hat«, beruhigte ich ihn, aber er nickte nur, ohne den Mund aufzumachen. Vermutlich wäre ihm Schnaps lieber gewesen.

Plötzlich klopfte es polternd an die Tür.

»Wer da?«, rief ich und ohne sich mit einer Antwort aufzuhalten, stürzte ein kleiner, zerlumpter Junge in die Stube. Der Knabe war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, furchtbar schmutzig und roch nach Pferdedreck.

»Meister Schinder, Meister Schinder! Ihr müsst sofort kommen, schnell!«, plapperte er aufgeregt los und zerrte an dem Saum meines Wamses.

»Beruhige dich, Junge«, antwortete ich, löste sanft seine Finger von meinem Hemd und ging in die Hocke. »Was ist passiert? Schickt dich der Büttel?«

Er schüttelte heftig den Kopf. »Tante Sybilla.«

Eine eiskalte Faust presste mein Herz zusammen. »Was ist geschehen?«, brachte ich hervor.

»Heute Morgen kamen Männer zu uns vor die Stadt, der Büttel und Knechte und Männer auf Pferden. Die haben mit meiner Mutter geredet und auch mit den anderen Frauen und mit dem langen Kerl aus dem Bordell, der mich immer wegjagt, wenn ich hinter dem Haus Fallen für die Karnickel aufstelle -«

»Was ist mit Margret?«, fuhr ich dazwischen.

Er holte tief Luft. »Eine von den Huren hat dem Büttel gesagt, dass der feine Meister Althain immer zu Margret gegangen ist, da sind alle sofort zu ihr geritten. Ich hab’ mich hinter einem Baum versteckt und hab’ gesehen, dass sie und der Büttel miteinander geredet und sich dann gestritten haben. Dann haben sie sie gepackt und auf ein Pferd gesetzt, obwohl sie gar nicht mitgehen wollte! Ich hab’ nicht gesehen, wo sie hingeritten sind, weil Tante Sybilla mich plötzlich gepackt und mir aufgetragen hat, schnell zu dir zu laufen und dir alles zu erzählen, was ich gesehen hab’.« Er war sichtlich stolz auf sich.

Ich fühlte mich, als hätte man mir mein eigenes Brandeisen in den Bauch gestoßen. »Im Garten steht ein Baum mit Äpfeln. Hol dir so viele du willst«, sagte ich zu dem Burschen und stand auf. Schnell, ohne nachzudenken, holte ich die Münzen aus meiner Börse, die der Knecht mir für das Zähneziehen im Voraus bezahlt hatte, warf sie dem Mann in den Schoß und stürmte aus dem Haus.

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»Was willst du hier, Schinder?«, fragte einer von Annos Knechten verdattert. »Du bist zu -«

Ich würdigte ihn keines Blickes und stieß die Tür zum Gerichtssaal auf, ohne im Mindesten auf seine Proteste zu achten.

Das Bild, das sich mir in der schlecht beleuchteten Kammer offenbarte, war schlimmer als der Alptraum der letzten Nacht. Das ehrenwerte Gericht der Stadt war vollzählig versammelt; umgeben von den ältesten und angesehensten Bürgern der Ortschaft saß dort Richter Eckebrecht, ein alter, hagerer Mann, dessen schlohweißes Haar im Schein der Kerzenflammen förmlich leuchtete. Seine grauen Augen funkelten mich an, als sie mich entdeckten, aber ich beachtete sie kaum. Vor der Richterbank hatten Anno und drei seiner Schergen Posten bezogen. Mitten unter ihnen, an Händen und Füßen gefesselt, stand Margret mit hoch erhobenem Haupt. Als sie den Kopf umwandte und mich erkannte, atmete sie erleichtert aus.

»Thomas!«, entfuhr es ihr, aber einer von Annos Knechten stieß ihr den Ellbogen in die Rippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Wütend trat ich einen Schritt vor.

»Ich entsinne mich nicht, nach dir gerufen zu haben, Schinder«, erklärte Eckebrecht betont langsam und musterte mich misstrauisch unter seinen buschigen Augenbrauen. »Deine Dienste werden erst später benötigt.«

»Was wirft man dieser Frau vor, ehrwürdiger Richter?«, rief ich, wobei ihm die Anrede mehr Respekt zollte als der Ton, in dem ich sie aussprach. Einer der Schöffen, der Bäckermeister der Stadt, schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Was hast du mit dieser Dirne zu tun, Scharfrichter?«

»Ich kenne sie, seit ich geboren wurde, und verbürge mich für jede Tat von ihr.«

Schallendes Gelächter war die Antwort.

»Dem hat die Hure den Kopf verdreht«, flüsterte einer der Knechte gut hörbar und stieß seinen Kumpan grinsend in die Seite. Mühsam rang ich meinen Zorn und die Aufregung nieder, richtete mich zu voller Größe auf und trat direkt vor Eckebrecht an die Richterbank.

»Mein Herr«, sagte ich und achtete darauf, mich genau zwischen Margret und das Tribunal zu stellen. »Ich schwöre bei Gott und meinem seligen Vater, dass ich diese Frau kenne, solange ich lebe und dass sie in dieser Zeit niemals etwas Böses getan hat, mag sie auch eine ehrlose Hübschlerin sein.«

Der Richter sah mich lange und forschend an. Dann lehnte er sich langsam zurück und sprach gedehnt: »Das ist ja gut und schön, Schinder, aber das wird ihr nicht helfen. Wir haben eine tugendhafte Zeugin, die bekunden kann, dass der arme Gerrit von Althain, möge Gott seiner Seele gnädig sein, vorgestern Abend zum Stadtrand geritten ist, um die Huren zu besuchen. Und unser tüchtiger Büttel hat an eben dieser Stätte erfahren, dass Althain diese Metze dort«, er zeigte auf Margret, »besonders häufig aufgesucht hat und man beide oft lautstark miteinander streiten hörte. Es wurde auch berichtet, dass Althain ihr angeblich gegen ihren Willen beiwohnte. Nun wird der Mann vermisst und es wäre nicht verwunderlich, wenn sich das Frauenzimmer aus Rache seiner entledigt hätte.«

Ich drehte mich auf dem Absatz um. In einer Ecke des Raumes stand, still und verschüchtert lächelnd, Irmel Kramer, die Klatschbase der Stadt. Eckebrechts tüchtige Zeugin wich meinem Blick aus, als ich sie anstarrte. In einem Anflug von Verzweiflung wandte ich mich wieder an den Richter.

»Aber wie soll so ein zierliches Weib einen gestandenen Mann wie Gerrit von Althain umbringen?«

»Wer weiß?« Eckebrecht zuckte unter seiner Robe die Achseln. »Es wächst viel giftiges Unkraut in den Wäldern vor der Stadt. Vielleicht hat sie ihm Schierlingspulver in den Wein gemischt und ihn irgendwo verscharrt? In den Köpfen der Weiber geht vieles vor, das wir weder wissen wollen, noch können. Vor allem im Kopf einer Metze.«

»Aber ihr habt doch nicht einmal seine Leiche gefunden, wie könnt Ihr da sicher sein, dass sie ihn ermordet hat?«

Der Bäckermeister kratzte sich gereizt am Bart. »Das herauszufinden, liegt bei Euch, Henkersmann. Lasst Eure Schwärmerei und geht lieber Eurer Arbeit nach, denn Ihr werdet sie bei der Tortur befragen.«

Zuerst wurde mir heiß, dann wieder kalt. Die Folter würde das Wenigste sein, das Margret zu erdulden hatte – wenn man sie zum Tode verurteilte, wartete ein Grab voller Dornen auf sie, in dem sie lebendig begraben langsam und qualvoll verenden musste. Oder sie würde auf dem Scheiterhaufen zu Asche verbrennen. Ich sah in die angstgeweiteten Augen der Frau, die mein Bruder einst geliebt hatte, und hörte plötzlich seine Stimme in meinem Inneren.

Pass auf sie auf, Thomas. Wenn ich einmal nicht mehr da bin, muss irgendjemand sie beschützen, und ich will, dass du das bist.

Und da wusste ich, was ich zu tun hatte.

»Gebt sie frei«, sagte ich und drehte mich zu Richter und Schöffen um. »Ich werde sie heiraten.«

Im ganzen Saal wurde es still. Anno stand der Mund vor Überraschung offen, Margret selbst starrte mich verständnislos an. Eckebrecht beobachtete mich wie ein Falke, der nicht sicher ist, ob er seine Krallen in die Beute schlagen soll oder nicht.

»Was?«, brachte der Bäckermeister hervor. Er und die anderen Anwesenden sahen einander verwirrt an.

»Ich werde sie heiraten«, wiederholte ich und straffte den Rücken. »Laut Gesetz darf sich der Henker einer Stadt eine Frau zur Gemahlin nehmen, wenn sie wie er Mitglied der ehrlosen Stände ist. Sollte sie zuvor wegen eines Verbrechens zu einer Strafe verurteilt worden sein, so kann der Henker sie durch Heirat von dieser Strafe befreien und sie unter seinen Schutz stellen.«

Noch immer sagte niemand etwas, deshalb sprach ich weiter. »Ihr kennt unsere Gebote, ehrwürdiger Richter. Ihr wisst, dass ich die Wahrheit spreche. Wenn ich diese Hübschlerin zur Frau nehme, dann ist sie frei.«

Die Raubvogelaugen des alten Mannes ruhten lange Zeit auf mir. Schweiß brach auf meiner Stirn aus, während er mich prüfend musterte; ich war mir meiner Sache nicht im Mindesten so gewiss, wie ich allen glauben machen wollte.

Dann aber seufzte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »So sei es denn.« Mit der Hand wies er auf den verdutzten Anno. »Nimm der Frau die Fesseln ab.« Mir schenkte er noch einen letzten Blick.

»Glückwunsch zur Hochzeit, Schinder.«

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Zwei Tage waren seit unserer Trauung vergangen.

Margret und ich waren nie ineinander verliebt gewesen, aber wir lebten nach außen hin wie ein Ehepaar zusammen, vereint in gemeinsamen Erinnerungen an meinen Bruder und guter Freundschaft. Obwohl ihr spitzes Mundwerk es niemals zugegeben hätte, war sie unendlich dankbar für das, was ich getan hatte – sowohl für die Heirat als auch für das, was besser niemals ans Licht kommen sollte.

Es war Abend geworden und ich stand im Garten hinter dem Haus. Der laue Wind strich mir über den freien Oberkörper, während ich einen großen Kürbis aus dem Gras hob und mit Schwung auf einen spitzen Pfahl steckte, den ich zuvor in den Erdboden gerammt hatte. Dann ging ich zurück zu der Stelle, an der ich gestanden hatte, zog mein Richtschwert aus dem Boden und holte aus. Die Klinge surrte durch die Luft und mit einem Klatschen landete der abgetrennte Kürbis auf der Wiese.

»Übst du dich im Enthaupten, Schinder?«

Ich drehte mich um. Anno lehnte am Apfelbaum und beobachtete mich eingehend.

»Das Abschlagen eines Kopfes erfordert einiges Können, Büttel«, erwiderte ich, ohne ihn anzusehen, und griff nach dem nächsten Kürbis. »Natürlich muss ich üben.«

»Ja, natürlich.« Langsam kam er näher, schritt gemächlich über das Gras, als habe er alle Zeit der Welt. Mir stellten sich die Nackenhaare auf, aber ansonsten blieb ich ruhig.

»Wo ist denn deine kleine Frau?«, fragte er leichthin und schaute sich nach allen Seiten um. »Oder ist sie dir schon weggelaufen?«

»Margret ist im Haus. Sie hat eben die Äpfel aus dem Garten geholt.«

»Soso. Die liederliche Dirne ist zur braven Hausfrau geworden.«

Ich spürte genau, was Anno vorhatte. Er wollte mich reizen, wollte, dass ich irgendetwas Dummes tat, aber den Gefallen gönnte ich ihm nicht. »Was willst du hier?«, fragte ich.

Der Büttel straffte seine ganze, hagere Gestalt.

»Ich wollte dir nur mitteilen, dass einer der Fischer heute unten am Fluss etwas Seltsames gefunden hat – einen Kopf.«

Ich verharrte mitten in der Bewegung, den Rücken zu ihm gewandt, das Heft des Schwerts in beiden Händen. Mein Gott. Althains Schädel.

»Er ist fast irre geworden vor Angst, als er damit zu mir kam«, erzählte Anno weiter und ich hörte die Erregung in seiner Stimme. »Hat gedacht, über seinen Fischen läge ein Fluch oder so. Willst du wissen, wem der Kopf gehört?«

Er weiß es, dachte ich. Er weiß es und will mich an der Nase herumführen.

»Sag es mir«, erwiderte ich leise.

»Dem armen Gerrit von Althain! Offenbar hat ihn jemand heimtückisch enthauptet und dann versucht, seine Leiche im Fluss zu versenken! Aber das hat nicht funktioniert, denn der Kopf, der schwamm ans Ufer …«

Plötzlich war sein Atem direkt hinter mir, umspülte meinen Nacken und füllte meine Lungen mit dem Geruch nach Essig und faulen Früchten.

»Ich weiß, dass du es warst, Henker«, zischte er in mein Ohr und lachte leise. »Du hast den Mann hinterrücks ermordet und ihn dann kaltblütig ins Wasser geworfen, weil er deine Hure angefasst hat! Ich habe gleich gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt. Du warst immer zu weichherzig, zu mitleidig mit dem Gesindel dieser Stadt. Aber das wird jetzt ein Ende haben.«

Ich hörte, wie er zurücktrat und sich zum Gehen wandte. »Richter Eckebrecht wird dein kleines Geheimnis sehr interessant finden. Und diesmal wird es dein Kopf sein, der rollt, Schinder.«

Anno grinste breit und selbstzufrieden, als er über die Wiese ging. Das Lächeln blieb sogar, als die Klinge meines Schwerts durch sein Genick fuhr und ein Schwall Blut aus seinem Rumpf spritzte. Sein Schädel wirbelte durch die Luft und kollerte über den Boden.

»Noch nicht«, sagte ich.

***

Über die Autorin

Nina J. Röttger wurde am Freitag, den 13. September 1991, in Troisdorf geboren. Bereits seit frühester Kindheit sind Bücher ihre große Leidenschaft; dass sie einmal selbst Schriftstellerin werden wollte, wusste sie schon mit etwa vierzehn Jahren.

Nach ihrem Abitur 2011 entschloss sie sich, Germanistik und Geschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn zu studieren. Zur Zeit arbeitet sie an ihrem ersten Kriminalroman.

Ein ehrwürdiger Rat

von Tanja Rast

Das Geschrei hätte ausgereicht, Tote zu wecken, dachte der Stadtbüttel im Stillen. Und so dicht beim Kirchhof war dieser Gedanke durchaus beängstigend. Tatsächlich hätte der Büttel das Kirchenschiff und den Friedhof von Sankt Nikolai sogar sehen können, wenn die Tür zur Straße nicht durch Hunderte Gesichter blockiert gewesen wäre.

Die Nachbarn, auch viele Händler und vor allem Besucher vom Markt drängten sich dicht an dicht in der Öffnung, um einen Blick auf den Büttel, die teure Einrichtung, die kreischende Magd und vor allem das zu werfen, was ein Unbekannter von einem ehrwürdigen Rat und stadtbekannten Kaufmann übrig gelassen hatte. Und von dessen Frau, dachte der Büttel bitter. Aber die lag in der Küche nebenan und war so gnädigerweise außer Sicht.

Nur die Magd hockte auf der Holzbank beim Ofen, schluchzte und schrie immer noch.

Die Lage war eindeutig: Da lag Karl Havemeister in einer großen Lache seines eigenen Bluts, nachdem ihm mit einem Messer die Kehle von einem Ohr zum anderen durchschnitten worden war. Die Waffe lag in der roten Pfütze. Alle Schränke in der Stube waren geöffnet, ihr Inhalt auf den Fußboden geworfen. Im Kontor von Havemeister sah es ebenso schlimm aus. Jemand hatte etwas gesucht und den Rat Havemeister getötet – vor Beginn der Suche oder nachdem der Rat den Eindringling gestört hatte.

Doch wusste der Büttel, dass nichts so einfach war, wie es schien. Zwei Männer von der Bürgerwehr blockierten den Eingang in das Haus, damit die Stadtbewohner sich nicht hereindrängen konnten. Karl Havemeister war beliebt gewesen, seine Nachbarn schwankten zwischen Entsetzen und Rachsucht, das sah der Büttel ihren Mienen an. Er fühlte sich überfordert und angesichts so vielen Bluts auch leicht schwindelig.

Normalerweise war es seine Aufgabe, Steuern einzutreiben, Taschendiebe in die Kerker im Haßturm oder im Dänischen Tor zu bringen, auf dem Markt rund um Sankt Nikolai für Ordnung zu sorgen. Mit betrunkenen Matrosen kannte er sich aus, und auch in Schlägereien griff er beherzt ein und verhaftete alle Störenfriede. Dieses blutige Zimmer hingegen überstieg seine Fähigkeiten bei Weitem, und doch musste er handeln, bevor die Nachbarn des Kaufmanns es taten.

Er hörte sie tuscheln, wie sie überlegten, wer das getan haben könnte. Namen fielen, und der Büttel fragte sich, ob bei diesen wilden Äußerungen auch nur ein Funken Wahrheit sein könnte. Verdacht wucherte rasch in einer so engen Gemeinschaft, und dann konnte Übles geschehen. Nicht jeder Bürger war so brav, wie er sich gerne gab.

Der Büttel trat vor. »Ich bin Thomas Petersen, Ihr kennt mich. Ich vertrete das Gesetz in Kiel. Wer etwas gesehen hat, soll es mir sagen. Für alle anderen gilt: Geht nach Hause. Zurück zu euren Marktständen und Kunden. Karl Havemeister hat Besseres verdient als Geschrei und Gaffer. Wir schulden ihm Respekt. Geht nach Sankt Nikolai und betet für ihn.«

Sie traten beiseite. Thomas wusste, dass sie das nur taten, weil sie verwirrt und bestürzt waren. Doch mit diesen Gefühlen reichten sie nicht an den Aufruhr in seinem eigenen Kopf heran.

Er musste den Toten dessen Familie und dem Pastor übergeben. Eine Bestattung würde zumindest den Aufruhr ein wenig besänftigen. Doch die Frau des Ratsmanns war ebenso tot wie dieser, und nach Thomas’ Wissen gab es keinen Sohn in der Stadt, in dessen Hände der Büttel die Verantwortung für die Toten hätte legen können.

Hinter Thomas heulte die Magd immer noch, und er wünschte, dass irgendjemand sich des armen Mädchens annehmen würde. Die Magd hatte die Toten als Erste erblickt. Sie wohnte nicht bei ihrer Herrschaft im Haus, sondern nördlich vom Marktplatz bei ihren Eltern. Die Entdeckung hatte sie beinahe jeden Worts beraubt, aber so viel hatte der Büttel noch verstehen können.