Heidi Ahlborn

Tilla

Eiskönigin wider Willen

Erlebnisbericht

Eine wahre Geschichte über das Leben mit Demenz

Mira Motta

Inhaltsverzeichnis

Vorwort:

Dieses Buch erzählt die Lebensgeschichte meiner Mutter, die mir jetzt im Alter und mit ihrer Krankheit näher ist als jemals zuvor in meinem Leben. Ich habe nicht vor, Dinge zu beschönigen oder anders darzustellen, als sie sind oder waren, wie es immer wieder vorkommt, sondern werde versuchen, aus meiner Erinnerung heraus alles so darzustellen, wie es sich ereignet hat. Vielleicht kann ich mit meinen Erfahrungen und Erlebnissen ein wenig dazu beitragen, ein etwas anderes Bewusstsein bei Gesunden gegenüber Kranken mit Demenz zu wecken, denn möglicherweise ist man ja selbst lediglich einen Schritt davon entfernt, sich jeden Tag ein Stückchen mehr zu verlieren…

Heidi Ahlborn

Mag sein, dass das Leben ungerecht ist und Dich manchmal in Ketten legt – trag sie einfach als Schmuck!

Einführung:

Ich kenne meine Mutter ja schon ewig, halt mein ganzes Leben, wie das eben so ist - in den meisten Fällen zumindest. Ich habe sie von früher als eine ganz besondere Persönlichkeit im Kopf, die immer für das eintrat, was ihr am Herzen lag. Eben eine sehr starke Frau.

Tilla, genauer Mathilde, ist Jahrgang 1924 und hat so manches mitgemacht in ihrem Leben. Leider habe ich zu Zeiten, in denen sie noch alle Fakten im Kopf hatte, selbst andere Dinge, die mir damals wichtiger waren, in meinem Kopf gehabt. So kann ich leider nur einen sehr ungenauen Abriss über ihr Leben aufzeichnen, denn heute ist es mir nicht mehr möglich, sie nach Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu fragen – zu weit ist leider die leidige Krankheit, die sich Demenz nennt, fortgeschritten.

Ja, ganz ehrlich, ich bedaure heute, nicht mehr Zeit investiert zu haben – nicht etwa, weil ich dieses Buch hier schreiben will, sondern einfach aus Neugier heraus, meine Mutter besser kennen gelernt zu haben. Tja, dazu muss man sicherlich ein gewisses Alter erreicht haben, um Dinge so zu sehen. Wie auch immer, die wenigen Ereignisse, die ich noch im Kopf habe, sowie einige Bilder meiner Mutter von damals und heute werde ich immer wieder einfügen, so dass, wie ich hoffe, dennoch ein halbwegs vollständiges Bild entsteht. Ihr noch lebender Bruder Dieter hat mir zudem einiges über Tillas Vergangenheit erzählt, was hier mit einfließen soll.

Tilla – eine starke Frau

Das, woran ich mich erinnere, ist also Folgendes aus Tillas Leben:

Tilla im Alter von 16 Jahren

Aufgewachsen ist sie bei ihren Eltern in Göttingen, als Kind eines Bahnbeamten und seiner Frau.

Sie hatte drei Brüder namens Kurt, Walter und Dieter. Einer der drei Brüder lebt noch heute und so habe ich wenigstens eine kleine Chance, die Geschichte meiner Mutter zu vervollständigen.

Nach ihren eigenen Erzählungen hatte sie eine durchaus schöne Kindheit. Vor allem hing sie sehr an ihrem Bruder Kurt, der später Kapitänleutnant zur See wurde und nach Kiel zog. Ja, an die vielen Besuche dort kann ich mich noch rege erinnern, zumal dort auch mein Lieblings-Cousin Ulli zu Hause war.

Walter, Tillas „mittlerer“ Bruder, zog irgendwann nach Gießen und lebte dort mit seiner Familie. Die Bande in diese Richtung waren allerdings eher locker, so dass es insoweit nicht allzu viel zu erzählen gibt. Man traf sich halt bei Familienfesten und ansonsten fast gar nicht.

Der Dritte im Bunde war Bruder Dieter. Er war der Jüngste der Geschwister und ich erinnere mich noch, dass Tilla erzählte, wie sie ihn als junges Mädchen immer mit der Karre durch die Welt geschoben hat. Einmal gab es wohl so richtig Ärger mit meiner Großmutter, weil eine Taube auf die Kinderdecke gekackt hatte.

Nein, etwas wirklich Negatives hat sie nie über ihre Kindheit erzählt.

An ihrer Mutter, also meiner Großmutter, hat sie wohl sehr gehangen, denn meine Mutter und sie lebten jahrelang gemeinsam in einer Wohnung, selbst dann noch, als Tilla bereits mit meinem Vater verheiratet war. Mein Vater Rolf war immer nur am Wochenende bei uns, da er damals noch in Gronau im Geschäft seiner Eltern arbeitete.

An meine Großmutter mütterlicherseits habe ich, da sie starb als ich etwa drei Jahre alt war, nur noch eine vage Erinnerung. Ich weiß nur, dass sie immer für mich da war, wenn meine Mutter arbeitete. Tilla ist gleich nach meiner Geburt wieder losgegangen und hat weiter geschuftet, so, als ob nichts wäre. Tatsächlich war sie schon immer ein Arbeitstier. Im Krieg schob sie als Sanitäterin im Lazarett ihren Dienst und hat so manches Leid erlebt. Ich weiß noch, dass sie einmal von einem Mann berichtete, dem der gesamte Unterkiefer weggeschossen worden war und um den sie sich kümmerte - sicherlich kein Highlight in ihrem Leben.

Aber es gab wohl auch schöne Zeiten. Sie stand sogar einmal bei irgendeiner Aufführung auf der Bühne und ich denke, dass sie sicherlich kein Kind von Traurigkeit gewesen ist.

Tilla bei einer Aufführung (Dritte von rechts)

Auf alle Fälle fand ich beim Durchstöbern ihrer alten Bilder viele schöne Momente, die damals festgehalten worden sind. Eines aber war sie wohl schon immer, nämlich stets auf ihr Äußeres bedacht. Sie trug zumeist schicke Sachen, da durfte zur damaligen Zeit dann natürlich auch das wertvolle Fuchsfell nicht fehlen, das sie auch heute noch wie einen Schatz im Kleiderschrank aufbewahrt.

Ihre Leidenschaft für schöne Kleider hat sie bis ins hohe Alter nicht abgelegt, na ja, irgendwann schon, aber dazu später…

Tilla mit Fuchsfell

Nach dem Krieg arbeitete sie lange Jahre als Büglerin in der Wäscherei „Schneeweiß“ – ja, die hieß tatsächlich so – in Göttingen.

Dann, irgendwann in den 196oer Jahren, fand sie ihren Traumjob in der Wäscherei der Universitätskliniken Göttingen. Diese war anfangs nur eine Straße von unserem damaligen Zuhause entfernt. Sie wurde als Büglerin angestellt und arbeitete sich nach und nach hoch. Ich weiß noch, wie ich sie so manches Mal abholte – nicht ganz ohne Hintergedanken, denn wir mussten vorbei an einem Geschäft, in dem es unter anderem Eis zu kaufen gab. Na ja, und da gab es denn dann auch fast täglich ein solches für ihr kleines Schleckermäulchen. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass sie ein schlechtes Gewissen gehabt haben muss, mir immer wieder meine leckeren Wünsche zu erfüllen. Sicherlich wollte sie die Zeit, die sie mir nicht geben konnte, damit kompensieren. Ich für meinen Teil war jedenfalls stets gut versorgt und wurde aufgrund der liebenden Fürsorge meiner Mutter sowie meiner Oma leider immer mehr und mehr. Also bitte nicht erschrecken, das dicke Kind auf einem der Bilder bin ich… Gut, in der Familie meines Vaters gab es auch keine Hungerhaken, dennoch fing man irgendwann an, sich darüber Sorgen zu machen, und ich weiß noch, dass Mutti mich eines Tages voller Panik in die Kinderklinik schaffte, um über das Problem mit einer Ärztin zu sprechen, welche dann eine Diät verordnete, die allerdings nicht lange eingehalten wurde. Tilla war immer rank und schlank und sie achtete stets auf ihr Äußeres – ja, es war ihr immens wichtig, sich sauber, schick und adrett zu kleiden, und als die Haare dann langsam etwas graustichig wurden, diese auch regelmäßig schwarz zu färben. Es gab Tage, an denen sie sich – nicht übertrieben – bis zu 10 mal umzog, einfach nur so aus Spaß an der Freude.

Da ich nun gerade meinen Vater ansprach, hier noch ein kleiner Einblick in Tillas Liebesleben. Sie hat mir einmal erzählt, dass sie sieben Jahre lang mit einem Berliner Studenten verlobt war. Immer wieder hatte er ihr versprochen, sie zu heiraten, wenn er sein Studium beendet habe. Er stammte wohl aus einer gut situierten Familie, so dass er sich dieses lange Studium leisten konnte. Nachdem er nun x-mal die Ehe versprochen hatte, das Studium aber nicht enden wollte, trennte sich meine Mutter letztlich von ihm, da sie, wie sie einmal sagte, „nicht das ganze Leben mit Warten verbringen wollte“.

Schon einige Zeit danach lernte sie dann meinen Vater kennen. Ob es wirklich die große Liebe auf den ersten Blick war, vermag ich nicht zu sagen, auf jeden Fall wurde recht schnell geheiratet und bereits sechs Monate nach der Hochzeit kam ich dann auf die Welt. Ich war komplett entwickelt, also nicht, dass ich ein Frühchen gewesen wäre…

Meine Mutter Tilla und mein Vater Rolf 1961

Ich erinnere mich noch, dass es einmal hieß, meine Taufe sei etwas ganz Besonderes gewesen, da die Gäste sehr schnell nach dem Mittagessen abgereist seien – alle sternhagelvoll.

Warum? Nein, es ist keine Familie der Säufer! Man hatte wohl aus lauter Freude über mich die Dosis an Rotwein beim Dessert, dem Rotweinpudding, reichlich überschritten oder - wer weiß - vielleicht noch etwas anderes daruntergemischt, so dass es wohl eine sehr kurze, aber feucht-fröhliche Party gewesen sein muss. Gefeiert wurde zu der Zeit ohnehin so ziemlich alles, wie meine Mutter einmal erzählte. Ich erinnere mich an sehr viele Feste mit der ganzen Familie oder Freunden und Nachbarn. Tatsächlich erzählt meine Mutter auch heute noch von den großen Festen im Familienkreis und wie schön sie immer alles hergerichtet habe.

Tilla in fröhlicher Runde… (2. von rechts)

Bei alledem muss ich erwähnen, dass meine Mutter eigentlich nicht wirklich die geselligste Person auf Gottes Erdboden war – mein Vater allerdings schon. Tilla präsentierte jedoch immer wieder gern den bis dahin erworbenen Wohlstand – schöne Wohnung, tolle Tischwäsche, feine Gläser etc. – so dass ich heute eher denke, dass es für sie mehr eine Art „Schaulaufen“ war. Sie war eben immer stolz auf das, was man sich während der Nachkriegsjahre hat leisten können. Na ja, dafür wurde ja auch immer reichlich geackert, warum also auch nicht?

Natürlich fuhren wir oft zusammen in Urlaub. Häufig mit Papas Schwester und deren Familie nach Dänemark. Dort teilte man sich dann ein Ferienhaus und hatte viel Spaß. Auch war natürlich Kiel angesagt, zumal dort ja Mutters Bruder Kurt wohnte. Hier blieben wir sehr häufig länger und machten Ausflüge an die See. Ja, die See! Tilla war immer sehr gern dort, galt es doch als chic, immer knackig braun gebrannt nach Hause zu kommen, um anderen vom perfekten Urlaub zu erzählen. Man kann es vielleicht nicht wirklich glauben, aber selbst heute liegt meine Mutter stundenlang auf der Sonnenliege im Garten und lässt sich braten. Ich selbst halte das schon für sehr übertrieben und habe dann natürlich auch Angst um ihre Gesundheit, aber alles Reden hilft nichts: Das Thema Hautkrebs oder Sonnenstich ist nach wie vor kein Thema für Tilla.

Ständiger Begleiter meiner Mutter im Alltag war seit jeher das Fahrrad. Fast kein Tag verging, an dem sie nicht gefahren wäre. Auf alten Bildern habe ich wohl eines ihrer ersten Räder – und davon gab es über die Jahre recht viele – entdecken können.

Ja, ohne Fahrrad ging und geht halt gar nichts! Da sie nie einen Führerschein gemacht hat - wozu auch? -mein Vater hatte ja einen, war das genau das Stückchen Freiheit, das sie brauchte für ihr Glück.

Tilla mit Mitte 20

Ich sehe sie noch heute, wie sie sich morgens aufs Rad schwang, um zur Arbeit zu radeln.

Umgezogen sind wir in den Jahren, in denen ich noch zu Hause lebte, nur zweimal, jedes Mal in eine bessere Wohngegend. Vom Kreuzbergring in die Kramerstraße und dann in die Münchhausenstraße im Ostviertel Göttingens, wenngleich immer in Genossenschaftshäuser, aber dennoch sehr nett und ordentlich, ganz den Idealen meiner Eltern, speziell meiner Mutter, entsprechend.

Meine Mutter ackerte die ganzen Jahre wie verrückt, und gerade im Sommer wunderte ich mich immer, dass sie mit so viel Elan dabei war, denn die Bügelautomaten, an denen sie arbeitete, stießen eine zusätzliche Hitze aus, so dass es wohl an manchem Tag unerträglich gewesen sein muss, aber Tilla schien dies nie zu stören.

Tilla an einer Wäsche-Presse, Alter ca. 50 Jahre

Mittlerweile war sie sogar Vorarbeiterin in der Wäscherei-Klinik in Göttingen geworden und hatte einige Leute unter sich. In der Wäscherei herrschten, wie schon erwähnt, Temperaturen von an die 40 Grad, so dass es sicherlich nicht wirklich ein Zuckerschlecken war. Aber ihr machte es großen Spaß, so wie sie immer erzählte. Ich denke, sie war sehr stolz, dass sie sich eine solch gehobene Stellung bei recht gutem Gehalt erarbeitet hatte - und das mit Recht. Ich weiß noch, als ich kurz vor dem Abi stand und sie mir einmal ihre Gehaltsabrechnung zeigte und mich fragte, was ich denn wohl mal werden wolle. Tatsächlich hatte ich überhaupt keine Ahnung zu dieser Zeit, und so sagte ich: „Irgendwas, womit ich auch so viel Geld verdiene wie du!“ Ich glaube, sie war zufrieden mit meiner Antwort. Überhaupt war Geld eigentlich immer ein Thema bei ihr. Klar, ist ja auch nicht unwichtig, aber ich hatte oft das Gefühl, dass sie sich daran aufzog. Für meinen Vater waren eher Dinge wie Freundschaften, Geselligkeit und Spaß die tragenden Dinge seines Lebens, worüber es dann auch hin und wieder zum Streit kam.

Im Großen und Ganzen haben meine Eltern, wie ich denke, eine recht gute Zweckgemeinschaft geführt. Man war zusammen, hatte eine schöne Wohnung, eine wohlgeratene Tochter – die war ich wirklich! –, keine Geldprobleme, mittlerweile einen Wohnwagen in Dransfeld auf einem sehr schönen Campingplatz, konnte sich Urlaube leisten und so weiter. Also eigentlich die typische deutsche Familie.

Wenn ich hier schreibe „Zweckgemeinschaft“, meine ich das allerdings auch so, wie ich es sage, denn was mir eigentlich immer gefehlt hat, war diese innige Vertrautheit, die ich Gott sei Dank mit meinem Mann gefunden habe. Mein Vater war ein sehr emotionaler Mensch, der auch mal aus der Haut fuhr, wenn man ihn zu sehr nervte. Gut, das passierte nur selten, dann aber auch heftig. Ich habe in meinem ganzen Leben nur zweimal eine von ihm gewischt gekriegt und muss sagen: Da war ich dann aber auch so frech, dass ich es voll und ganz verstehe. Das sage ich nur, damit hier keiner denken mag, es sei in irgendeiner Weise zu Gewaltanwendungen gekommen! Nein, aus heutiger Sicht hätte ich mir auch eine geklebt!

Ansonsten war er sehr humorvoll und hat ebenso wie meine Mutter sein Leben lang immer sehr viel gearbeitet, und zwar als Fernfahrer, so dass er - wie gesagt -auch oft nicht da war. Mutti stand morgens mitunter bereits um 4.30 Uhr auf, um ihm seine Brote zu schmieren und ihm sein Frühstück zu machen. Von der Seite her gab es also keine Probleme.

Allerdings hatte Tilla eine etwas abweisende Art an sich, die man manchmal auch als echte Kälte verstehen konnte. Ich erinnere mich an so manchen ausgelassenen Annäherungsversuch meines Vaters – also einfach mal in den Arm nehmen und drücken und einen Kuss geben –, der von meiner Mutter entschieden zurückgewiesen wurde, warum auch immer. Auch mir gegenüber war Tilla nie so herzlich, wie ich es mir gewünscht hätte. Nicht, dass sie mich nicht auch mal in den Arm genommen hätte, nein, aber irgendwie hat einfach ganz oft dieses gewisse Etwas gefehlt. Rührend kümmern? Gern, aber irgendwie immer doch ein bisschen auf Abstand bleiben. Ich kann es leider nicht anders beschreiben, aber vielleicht versteht man dennoch, wie ich das meine.

Laute Worte gab es bei uns in der Familie übrigens fast nie. Im Gegenteil! Hin und wieder gab es gar keine Worte! Eine ganz besonders schreckliche Eigenart meiner Mutter war es nämlich, jemanden, über den sie sich geärgert hatte, mit Nichtachtung zu strafen. Wenngleich die Zweckgemeinschaft meiner Eltern in sich sicherlich stimmig war, so gab es denn doch hin und wieder Reibungspunkte, wie in jeder Ehe.

Tilla ca.41 Jahre alt und mein kindliches Pummel-Ich

War Tilla also über irgendetwas erbost, so konnte sie das meinen Vater dann auch wochenlang – ja, wochenlang – merken lassen, indem sie nur sehr kurze und knappe Antworten auf Fragen gab. Oft war es schon viel, wenn sie meinen Vater mit „Morgen.“ begrüßte, ihn dabei aber nicht einmal ansah und ohne ein Wort mehr zu sagen ihre Arbeit weiter erledigte. Mein Vater hat unter dieser ihrer Eigenart immer sehr gelitten. Es war halt ihre Art, zu strafen. Vor einigen Jahren hat sie mir einmal gesagt: „Weißt du, Heidi, bei anderen in der Ehe sind die Tiere immer größer geworden, bei uns gab es das nicht!“ Tja, wie denn auch….

(Für alle, die diese Redewendung nicht kennen sollten: Aus dem kleinen Mäuschen wird irgendwann mit den Jahren womöglich eine dumme Kuh, aus dem Schmusekater unter Umständen ein alter Ochse etc…)

Tilla arbeitete bis zur Rente in ihrer heiß geliebten Wäscherei und dann blieb ihr nur noch kurze Zeit für die Zweisamkeit mit meinem Vater dessen Tod im Jahr 1986, so plötzlich kam, dass es ein echter Schock für alle war.

Dennoch blieb sie in ihrer alten Wohnung, die immerhin mehr als 100m2 hatte. Nein, sie wollte nicht aus ihrem geliebten Göttingen weg, obwohl mein Mann und ich die Möglichkeit gehabt hätten, sie bei uns in einer eigenen, großen und separaten Wohnung unterzubringen. Inzwischen war ich seit 1985 verheiratet und wohnte ca. 15km von ihr entfernt in Groß Schneen. Ich arbeitete bei der Dresdner Bank, und alles war in Ordnung. Solange ich in Göttingen bei der Bank beschäftigt war, trafen wir uns fast in jeder Mittagspause und verbrachten die Zeit mit Bummeln und Shoppen in der Stadt, was Tilla immer so furchtbar gerne machte, war es doch ein netter Zeitvertreib.

So vergingen einige Jahre, und Tilla gewöhnte sich an das Alleinsein, gab es doch durch die Nähe zur Innenstadt jeden Tag Neues zu entdecken. 1996 machte ich mich selbständig und war nun nicht mehr jeden Tag in Göttingen, da ich von zu Hause aus arbeitete.

So besuchte ich meine Mutter ab da nur noch ein bis zweimal die Woche, mehr gab die Zeit damals einfach nicht her.

Alles in allem schien aber alles im Lot zu sein…

Die Anfänge

Ganz ehrlich, ich habe überhaupt keine Ahnung, wann alles anfing. Demenz ist eben ein sehr schleichender Prozess, und wenn man nicht gerade täglich mit jemandem zusammen ist, sondern ihn nur ein bis zweimal in der Woche für wenige Stunden sieht, registriert man Veränderungen eben auch leider erst recht spät. Heute mache ich mir schon auch öfter einmal Vorwürfe und denke, ich hätte besser beobachten sollen, aber nun gut, Dinge sind halt so, wie sie eben sind.

Das erste Mal, als ich so bei mir dachte: „Was ist denn bloß mit Mutti los?“, war bei einem Besuch zum Kaffee in ihrer Wohnung in Göttingen. Irgendwie wollte sie mir etwas erzählen, und es fehlten ihr einfach die Worte. Nicht, dass sie nichts gesagt hätte, aber statt Milch – auf das Wort kam sie unter anderem nicht – sagte sie: „Das Weiße“. Ansonsten kamen noch weitere stockende Sätze, die ich aber noch recht gut verstehen konnte.

„Ach, Mutti wird halt älter, da kann das schon mal passieren“, so meine Reaktion, denn immerhin war sie zu dieser Zeit bereits über 80 Jahre - immer noch adrett, stets frisch gekleidet, alles immer picobello gebügelt und bei bester Gesundheit, wie einige Wochen vorher das Arztergebnis lautete.

Auch die Wohnung war tipptopp in Schuss, und Tilla freute sich, dass ich zu Besuch kam, wie so oft an Sonntagen. An eben diesem Sonntagmittag war sie von einem Besuch bei der Verwandtschaft in Hannover zurückgekommen, und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ihr etwas im Kopf umherging. Auf meine Frage, wie es denn gewesen sei, schaute sie mich sehr ernst an und sagte: „Es war so ganz anders als hier. Die wohnen alle zusammen und haben Spaß. Hier bin ich immer allein. Du hast mal gesagt, ich könnte bei euch wohnen…“ Ihr Blick war ein wenig traurig und unsicher. Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass wir zwei Jahre zuvor in unserem großen Garten neu gebaut hatten, und ich meiner Mutter, weil ich sie aufgrund ihres Alters gern bei uns haben wollte, angeboten hatte, in unsere alte Wohnung zu ziehen, so dass sie dann im Nebenhaus wohnen würden - sie würde ja nicht jünger werden, so viel stand fest. Damals hatte sie vehement abgelehnt und gemeint, es würde sie niemals irgendwer, auch nicht ich, aus Göttingen wegbekommen.

Tja, und nun diese Wendung!

In den zwei Jahren, die seit unserem Neubau und dem erwähnten Gespräch vergangen waren, hatten wir uns jedoch ganz anders eingerichtet. Unsere alte Wohnung war komplett zum Büro geworden, alles war fertig und in Benutzung, so dass es so nicht gehen konnte.

Tilla wollte also ihre alte Freiheit gegen Bindung tauschen. Ein ganz neuer Zug an ihr. Nein, damit hatte ich echt nicht gerechnet. Als sie so da saß und sogar Tränen in ihren Augen zu sehen waren, wusste ich, dass da etwas war, das ich für mich noch nicht einordnen konnte. Es musste also etwas passieren!

Bereits Wochen vor diesem besagten Sonntag hatte sie sich immer wieder und sehr empört über die Mieter über ihr bei mir beschwert. „Da wohnt ein rotzfrecher Bengel, der mir immer des Nachts ins Fenster leuchtet. Und der trampelt immer da oben umher wie ein Irrer, damit ich nicht schlafen kann.“

Selbst da hätte ich mir ja schon so meine Gedanken machen können, aber ich dachte zu dem Zeitpunkt an laute Musik von oben und Scheinwerfer von draußen, aber doch nicht an so etwas wie eine beginnende Demenz!

Wie auch immer: Es war die Zeit gekommen, etwas zu arrangieren. So kümmerte ich mich noch am selben Abend um die Wohnungssuche und wurde durch Zufall auch sofort fündig. Ein guter Bekannter aus dem Schützenverein, dessen Frau vor geraumer Zeit verstorben war und der nun allein in seinem Haus lebte, wollte die obere Etage seines sehr netten Eigenheims vermieten. Es lag nur eine Straße von uns entfernt und schien mir die ideale Bleibe für Tilla zu sein. Sogleich wurde alles organisiert, und mein Mann und ich fuhren am nächsten Tag hin, um das neue Domizil zu begutachten. Tatsächlich – eine nette Wohnung mit drei Zimmern, Küche, Bad, Balkon, alles gepflegt und sauber. Und, noch besser, der Vermieter kannte meine Mutter von einigen gemeinsamen Feiern.

Ach, ich weiß noch, wie ich mich freute, als ich die Umstände überdachte: Mutter gleich in der Nähe; wenn was ist, kurzer Sprung rüber und schon ist man da; Mutti kennt den Vermieter; die Wohnung ist total in Ordnung und sofort zu beziehen; also nur noch renovieren, streichen etc. - somit alles in allem ein echter Glückstag!

Am Tag darauf fuhr ich freudestrahlend zu meiner Mutter, um ihr von den Neuigkeiten zu berichten, denn ich wollte nicht riskieren, dass sie sich das mit dem Umzug noch mal anders überlegte. Doch als ich bei ihr ankam und von all dem erzählte, zog sie auf einmal einen Schmollmund und meinte, wir wollten sie nur unter Kontrolle haben und sie bleibe in Göttingen. Den ganzen Nachmittag habe ich auf sie eingeredet und ihr alles schmackhaft gemacht, bis sie zum Schluss dann wenigstens einwilligte, sich die Wohnung einmal anzusehen. Ja, es ist nicht leicht Altgewohntes loszulassen, das wusste ich schon damals, wäre mir ja ebenso gegangen.

Dann ging alles ganz schnell, denn ich wollte wie gesagt nicht riskieren, dass da noch ein gedanklicher Umschwung bei meiner Mutter einsetzte. Zwei Tage später trafen wir uns also mit dem Vermieter, meine Mutter im Gepäck. Wohnung ansehen, Mutti alles zeigen, abnicken lassen, Mietvertrag besprechen, Unterschrift drunter und fertig.

Ich glaube heute, dass meine Mutter sich ein wenig überrumpelt gefühlt haben muss. Auch die Geschwindigkeit, die wir an den Tag legten, machte ihr sicher Angst, aber wie gesagt war ich mir damals des geistigen Zustandes von Tilla nicht bewusst und wollte nur ihr Bestes.

Die Tage drauf waren für meinen Mann und mich recht stressig, da wir abends nach der Arbeit die gesamte neue Wohnung herrichteten, die Sachen meiner Mutter in Papier einpackten und alles Weitere organisierten, denn der eigentliche Umzug sollte schon in drei Wochen stattfinden. In vier Wochen musste zudem Tillas alte Wohnung renoviert übergeben werden, das hatten wir dann also auch noch vor uns.

Als ich eines Tages einmal mehr bei Mutter im alten Heim auflief, um mit ihr weitere Sachen einzupacken und schon ein paar Körbe voll mit nach Groß Schneen zu nehmen, stieß ich auf einige merkwürdige Dinge.

Sie hatte nicht nur eine Kaffeemaschine, nein, gleich sieben Stück. Sie hatte nicht nur ein paar Bettbezüge, nein, sogar noch eingepackt fast zwei Dutzend. Sie hatte Lebensmittel im Schrank, die schon vor sechs Jahren abgelaufen waren, und in einigen Ecken fand ich weitere Dinge, die doppelt, dreifach oder öfter vorhanden waren, von denen man aber ganz sicher nur ein Stück brauchte. Auf meine Frage, was sie damit wolle, zuckte sie nur die Schultern und meinte: „Ich weiß nicht, wo die hingehören.“ Bei genauerer Überprüfung stellte sich dann heraus, dass sechs der sieben Kaffeemaschinen tatsächlich kaputt waren, ebenso wie einiges andere mehr. Ich fand es schon eigentümlich, dass sie diese nicht entsorgt hatte, und war zu diesem Zeitpunkt froh, dass mal wieder Schwung in ihre Sachen kam.

Tilla schien sich nunmehr an den Umstand des Umziehens langsam zu gewöhnen, wenngleich sie immer noch zwischendurch Tage hatte, an denen sie mir vorkam wie ein Häufchen Elend.