Siegfried Unseld

Goethe und der Ginkgo

Ein Baum und ein Gedicht

Mit Abbildungen

Insel Verlag

Für Ulla

I. Der Ginkgo

Im September 1815 gab Goethe einer geliebten Freundin ein Blatt des Ginkgo-Baumes als Symbol seiner liebenden Zuneigung: dieses Blatt »von Osten … Giebt geheimen Sinn zu kosten«. Was wußte Goethe von diesem Ginkgo, der heute Botanikern als der älteste Baum der Welt, als Urvater der Bäume gilt?

Goethe hatte Marianne Willemer ein Gedicht gewidmet, sie erwiderte mit einem Gedicht, und es entstand ein Wechselgesang. Drei Gedichte von ihr nahm Goethe in seinen West-östlichen Divan auf, ohne ihre Verfasserschaft zu erwähnen.

Ich bin durch meine Goethe-Studien mit dem Ginkgo bekannt geworden. Aufmerksam aber wurde ich, als ich in Japan, insonderheit in Tokyo, überall dem Ginkgo begegnete. Als Kultbaum im ehrwürdigen Tempel des Ueno-Parks, an der höchsten Pagode Tokyos im Tojo-Park, überall war der Ginkgo zu sehen als Wahrzeichen, als Wahrzeichen der Stadt Tokyo, der Universität Tokyo – und selbst der Müllabfuhr! Marianne Beuchert hat in ihrem Buch Symbolik der Pflanzen die besondere symbolische Bedeutung des Ginkgo, seiner Blätter, seiner botanischen Eigenschaften festgehalten. Der Baum ist Symbol für Hoffnung, langes Leben, Fruchtbarkeit, Freundschaft, Anpassung, Unbesiegbarkeit.

Erst in den letzten dreißig Jahren beschäftigten sich die Wissenschaftler mehrerer Disziplinen, Paläobotaniker, Botaniker, Biochemiker, Kulturhistoriker, Religionshistoriker, mit dieser Pflanze. P.-F. Michel hat in seinem Buch Ein Baum besiegt die Zeit wichtige Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Studien zusammengefaßt und zugänglich gemacht.

Der Ginkgo ist ein robuster Baum, widerstandsfähig, keine Schädlinge wagen sich an ihn. Er ist anspruchslos gegenüber dem Klima. Er kann bei entsprechendem Alter vierzig Meter hoch werden. Vielleicht ist der Ginkgo, dieser Fächerblattbaum, wirklich die älteste Baumpflanze unseres Kosmos. Forscher geben seiner Geschichte über dreihundert Millionen Jahre. Da ist von der Trias, der Jura- und Kreidezeit die Rede, dann vom Tertiär. Schon vor etwa 60 Millionen Jahren, also längst bevor die ersten Menschen die Erde betraten, existierte er. Kein menschliches Auge hat ihn damals gesehen, Forscher erschließen seine Existenz aus Versteinerungen. Die Dinosaurier müssen den Baum gesehen haben! (Im Paläobotanischen Institut in Paris gibt es ein Bild, das Dinosaurier in einer Wasser- und Baumlandschaft vorstellt, die Bäume der Landschaft sind Ginkgos.) Im Tertiär wuchs der Baum in den riesigen Waldsümpfen und war nicht zuletzt beteiligt an der Heranbildung der Braunkohle. Im Biozän, kurz vor der Eiszeit, also vor einer Million Jahren, war der Ginkgo im Gebiet um das heutige Frankfurt am Main vertreten, da allerdings zum letzten Mal in Europa. Er rettete sich als einzige von vielen Arten nach dem wärmeren Ostasien.

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»Urvater der Bäume«: der Ginkgo.

In China sind die ersten Spuren des Ginkgo belegt. Ein chinesisches Medizinbuch, die »Materia medica« von 1578, erwähnt als einen Heimatort des Ginkgo Nanking. Im Jahre 1960 wurde in Nanking ein Grab geöffnet, in dem neben anderen Bäumen auch ein Ginkgo als Relief gefunden wurde: Unter den Bäumen gehen die Sieben Weisen des Bambushains ihren musischen Beschäftigungen nach. Die Entdeckung in der Grabkammer zeigte, daß das Auftreten des Ginkgo früher zu datieren ist, als seine Erwähnung in der Literatur im 11. Jahrhundert vermuten läßt. Es gibt ein Gedicht des Chinesen Onhang Xiu aus dem 11. Jahrhundert (ausgestellt in der Ginkgo-Ausstellung im Schloß Belvedere, Weimar 1995):

Ginkgo

Als die erste Ernte kam, trugen die Bäume nur drei, vier Nüsse.

Aus einer goldenen Schale wurden sie dem Throne dargebracht.

Die Würdenträger und Minister kannten sie nicht.

Und der Sohn des Himmels gab eine Belohnung von hundert Silbermünzen.

Jetzt, nach einigen Jahren, tragen die Bäume immer mehr,

Sie haben üppige Zweige getrieben.

Der Besitzer des Baums, um einen lieben Gast zu ehren,

beschenkte mich mit diesen Nüssen wie mit Perlen.

Die Pflanze hieß erst »Entenfuß«, chinesisch yachiao (sprich ja-djiau). Da dies eine volkstümlich-derbe Bezeichnung ist, konnte sie nicht in die Literatursprache eingehen. So wurde die Pflanze Mitte des 11. Jahrhunderts umbenannt. Sie hieß nun yin-hsing (etwa jin-chin). Yin = Silber, hsing = Aprikose, also Silber-Aprikose. Unter dieser Bezeichnung erscheint, so Günther Debon, der Baum auch als Bildtitel im Katalog der kaiserlichen Gemäldesammlungen von 1123, wo im 19. Kapitel ein »Greis unter Silber-Aprikose« verzeichnet ist. Später wurde das Holz des Baumes beachtet; da es polierfähig ist, wurde es für das Schnitzen von Schachfiguren benutzt. Erst vor 250 Jahren kam der Ginkgo wieder nach Europa. Einen großen Anteil an dieser Rückkehr hatte der Deutsche Engelbert Kaempfer (1651-1716), der als neuerer Entdecker des Ginkgo-Baumes gilt; er bereiste im Auftrag der niederländischen Ostindischen Companie mehrere Gebiete Ostasiens. Er war einer der gelehrtesten Männer seiner Zeit; er konnte Griechisch und Latein und sprach viele Sprachen: Englisch, Französisch, Russisch, Polnisch, Persisch und Japanisch. Er war Experte in Naturkunde und Medizin und konnte zeichnen. In Lemgo gibt es ein Denkmal von ihm mit einer Widmung von Albrecht von Haller: »Nulli peregrinatorum secundus – Unter den Forschungsreisenden steht er keinem nach.«

Kaempfer war der erste, der den Ginkgo für die westliche Welt botanisch beschrieb. Ihm mußte der im Vergleich zu anderen asiatischen Gehölzarten eigenartige Baum auffallen. Vermutlich geschah dies 1691; man nimmt an, er hat seine Aufzeichnungen in Nagasaki verfaßt. Er schrieb eine Abhandlung: Ginkgo oder der Gin an, volkstümlich Itsjo. Ein nußtragender Baum mit Venushaarfarn. Es war Kaempfer, der die Schreibweise Ginkgo kreierte. Er hat versucht, die einheimischen Namen zu notieren. Beim Ginkgo waren das – nach heutiger Transkription – ginkyo, ginnan und icho. Alle drei Schreibweisen sind von Japan aus China übernommen, also sinojapanischer Herkunft; der erste Name also wie im Chinesischen gin = Silber, kyo = Aprikose, ginkyo = Silberaprikose. Wie kam Kaempfer zur Schreibweise ›Ginkgo‹? Vermutlich hat der erste Setzer seines Werkes das y mit g verwechselt, und da der Baum unter diesem verkehrten Namen so erstmals festgelegt war, die ›Wissenschaft‹ jedoch keine Änderung duldet (der Druckfehler also so zählebig blieb wie der Baum), blieb es dabei bis zum heutigen Tag. Jedenfalls hat der große naturwissenschaftliche Klassifizierer Carl von Linné an dieser Schreibweise festgehalten. Wegen der Zweilappigkeit der Blätter fügte Linné den Begriff »biloba« hinzu. »Ginkgo biloba« wurde in dieser Form ein für allemal festgeschrieben. Hätte der erste Setzer sich nicht geirrt, bliebe vielen ein Stolpern über die häßlich harte Fügung Ginkgo erspart, und wir würden die schöne »Silberaprikose« mit dem wohlklingenden Namen »Ginkyo« bezeichnen.

Neben der bereits erwähnten Bezeichnung »Entenfuß« sind weitere volkstümliche Namen bekannt: Elefantenohrbaum, Weiße Frucht, Beseeltes Ei, Tausend Taler, Bajm, Mädchenhaarbaum und Maidenhair Tree.

Da es im Japanischen kein grammatisches Geschlecht gibt und da der einzelne Baum weiblich oder männlich sein kann, darf man im Deutschen »der« oder »die« Ginkgo sagen, dagegen ist Ginkgo in der neulateinischen Fachsprache ein Femininum, wie am Artnamen »biloba« zu erkennen ist, also »die« Ginkgo biloba. Die Irritation des Namens erfährt noch dadurch eine Steigerung, daß Goethe in der handschriftlichen Fassung seines Gedichts »Ginkgo biloba« schrieb, beim Druck des Gedichts jedoch die Schreibweise »Gingo« als »Gingo biloba« wählte. Als Naturforscher war er sich der ›wissenschaftlich korrekten‹ Schreibweise durchaus bewußt, aber als Dichter und insbesondere als Schöpfer des West-östlichen Divans verweigerte er sich ihr aus euphonischen Gründen im Gedichttitel seines Buches. Eingebürgert hat sich nun generell, auch im wissenschaftlichen Bereich, das maskuline Genus, »der Ginkgo biloba«.

Bereits von Kaempfer wissen wir, daß in Japan die gerösteten Kerne des Ginkgo als Delikatesse sehr geschätzt sind, daß sie Gesundheit und langes Leben bringen sollen. Bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten werden sie rot eingefärbt und sind unverzichtbares Lebenselixier.

Durch Engelbert Kaempfer also wurde der Ginkgo in Europa wieder heimisch. Zuerst wurde er in den Niederlanden gesichtet, im Botanischen Garten von Utrecht wurden die ersten Kulturversuche durch Aussaat unternommen. Im Jahre 1795 wurde ein Ginkgo am Eingang des Botanischen Gartens von Leiden gepflanzt, man kann den ebenmäßig gewachsenen Baum noch heute sehen. In Deutschland gibt es wohl in Jena, Dresden und Frankfurt am Main die meisten Ginkgo-Bäume.

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Argentinischer fossiler Ginkgo.

Was ist botanisch das Besondere am Ginkgo? Der Baum ist nicht klassifizierbar. Es gibt mehrere Besonderheiten. Der Ginkgo ist ein Fächerblattbaum. Er gehört nicht in die Familie der Nadelhölzer und nicht in die der Laubhölzer. Er stellt eine eigene Familie mit sehr vielen fossilen Arten dar. Auffällig ist vor allem die ungewöhnliche Blattform, eben der Fächer: Im Umriß ist das Blatt dreieckig-fächerförmig; an der Vorderkante sind die Fächerblätter stärker gewellt oder gebuchtet, vorn in der Regel tiefer eingeschnitten, so daß das Blatt zweilappig erscheint. Der Blattstiel ist lang, und es gibt keine mittlere Rippe, sondern zwei Seitenrippen.

Man kann beobachten, daß diese Blattgestalt unterschiedlich ist, ein Ginkgo-Zweig hat Lang- und Kurztriebe, bei den Langtrieben sind die Blätter weiter voneinander entfernt und zeigen die typische zweilappige Form, bei den Kurztrieben stehen sie eng zueinander und sind meist ohne diesen Einschnitt. Der Ginkgo beginnt im Mai zu grünen, er ist ein sommergrüner Baum. Ginkgo biloba ist eingeschlechtlich, d. h., ein Baum ist entweder männlich oder weiblich, so daß die Botanik von Zweihäusigkeit spricht. Herr Ginkgo und Frau Ginkgo leben getrennt und entwickeln ihre Keimzellen auf verschiedenen Bäumen. In seiner Gestalt variiert der Baum. Beim männlichen überwiegt in der Regel die schlanke Säulenform, beim weiblichen Geschlecht eine ausladende Kronenform. Allerdings gibt es viele Abweichungen, allein nach der Wuchsform ist das Geschlecht nicht zu bestimmen.