2Die Soziologie der Menschenregierungskünste beobachtet Gesellschaft als Arrangement von Selbst- und Fremdführungsstrategien. In seinem neuen Buch analysiert Ulrich Bröckling übergreifende Handlungsorientierungen wie Planung, Prävention und Resilienz, Verfahren der Konfliktbearbeitung, kommunikative Technologien, Programme der Kontraktpädagogik sowie Konzepte subtiler Verhaltenslenkung, wie sie etwa unter dem Label des »Nudging« propagiert werden. Auf Krisen sozialer Integration reagieren diese Methoden mit der Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen. Statt auf Zwang oder Strafmaßnahmen setzen sie auf Kontextsteuerung und kybernetische Rückkopplungsschleifen.

Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Zuletzt ist im Suhrkamp Verlag erschienen: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform (stw 1832).

3Ulrich Bröckling

Gute Hirten führen sanft

Über Menschenregierungskünste

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2217.

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eISBN 978-3-518-75144-2

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5Inhalt

Vorwort

I. Zugänge

Von Hirten, Herden und dem Gott Pan.
Figurationen pastoraler Macht

Der Mensch ist das Maß aller Schneider.
Anthropologie als Effekt

II. Dispositive

Prävention: Die Macht der Vorbeugung

Resilienz: Belastbar, flexibel, widerstandsfähig

Mediation: Vermittlung als Befriedung

Nudging: Gesteigerte Tauglichkeit, vertiefte Unterwerfung

Feedback: Anatomie einer kommunikativen Schlüsseltechnologie

Kontraktpädagogik: Wir müssen immer tun, was wir wollen

Wettkampf und Wettbewerb: Konkurrenzordnungen zwischen Sport und Ökonomie

Burnout: Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad

Planung: Alle planen, auch die, die nicht planen.
Niemand plant, auch die nicht, die planen.

Menschenökonomie, Humankapital:
Zur Kritik der biopolitischen Ökonomie

Schlachtfeldforschung: Die Soziologie im Krieg

III. Kritik

Der Kopf der Leidenschaft. Soziologie und Kritik

Die Umkehrung des Genitivs. Thesen zur Kritik

Gegen-Verhalten. Zur Analyse widerständiger Praktiken

Über Kreativität. Ein Brainstorming

Textnachweise

7Vorwort

Aufsatzsammlungen sind Bestandssicherungen. Sie führen Verstreutes zusammen und machen schwer Erreichbares zugänglich. Im guten Fall ergänzen und kommentieren die Beiträge einander und lassen Verbindungslinien hervortreten, die sonst verborgen geblieben wären. Statt sich in bloßer Addition zu erschöpfen oder mit Syntheseansprüchen zu überfordern, schaffen sie Konstellationen. Dazu bedarf es freilich konvergierender Frageperspektiven.

Die hier zusammengestellten Aufsätze treffen sich in ihrer Ausrichtung auf eine Soziologie der Menschenregierungskünste. Den – von Michel Foucault übernommenen – Terminus der Menschenregierungskünste wird man in Fachlexika vergeblich suchen; es handelt sich weder um einen eingeführten Schlüsselbegriff soziologischer Theorie noch um einen vertrauten Gegenstandsbereich soziologischer Forschung. Die Sache selbst ist der Soziologie jedoch alles andere als fremd: Die Menschenregierungskünste grenzen sowohl an das an, was in der soziologischen Tradition seit Max Weber als Lebensführung gefasst wird, wie auch an das, was in den angewandten Sozialwissenschaften Social Engineering heißt. Während Weber jedoch Lebensführung auf ihre ethische Dimension engführt und sich vor allem für die Relationen zwischen ursprünglich religiösen Normen, individuellen Handlungsorientierungen und gesellschaftlichen Ordnungsgefügen interessiert, fragt die Soziologie der Menschenregierungskünste nach den Machtverhältnissen, die sich in den disparaten Arrangements der Fremd- und Selbstführung realisieren. Im Unterschied zu den Sozialingenieuren wiederum geht es ihr nicht darum, individuelle Handlungsmuster und organisationale Abläufe zu optimieren oder gesellschaftliche Friktionen abzubauen. Ihr Einsatz ist kritisch: Statt Programme des guten Regierens auszubuchstabieren, untersucht sie, über welche Rechtfertigungsordnungen und Plausibilisierungsstrategien sich diese Programme legitimieren, auf welche Wissensformationen sie sich stützen und welche Wahrheitsansprüche sie geltend machen. Der Begriff des Regierens meint in diesem Kontext mehr und anderes als das Tätigkeitsfeld staatlicher Administrationen. Er wird in der weiten Bedeutung verwendet, den er in der frühen Neuzeit hatte 8und der im französischen Wort gouverner noch deutlicher anklingt: Regieren bezieht sich auf das planvolle Einwirken auf das Verhalten anderer und das eigene Verhalten, anders ausgedrückt, auf »die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten«.[1] Regiert werden neben dem politischen Gemeinwesen auch Seelen, Kinder, Arbeitslose, Kranke, Familien, Haushalte, Unternehmen und Ökosysteme, regiert werden nicht zuletzt die Einzelnen durch sich selbst. Von organisationssoziologischen Zugängen oder Policy-Analysen hebt sich die Soziologie der Menschenregierungskünste dadurch ab, dass es ihr weniger darum zu tun ist, wie tatsächlich in dieser oder jener Situation regiert wurde. Das Augenmerk richtet sich vielmehr auf die Kunst des Regierens, »d. h. die reflektierte Weise, wie man am besten regiert, und zugleich auch das Nachdenken über die bestmögliche Regierungsweise«.[2] Rekonstruiert werden Grammatiken der Selbst- und Fremdführung, nicht subjektive Sinnwelten, Verhaltensroutinen oder Verschiebungen in der Sozialstruktur.

Die Mehrzahl der hier zusammengestellten Texte widmet sich zeitgenössischen Dispositiven der Menschenführung. In einigen Fällen wird ihre Untersuchung durch Kontrastierung mit historischen Dispositiven erweitert. Analysiert werden übergreifende Handlungsorientierungen wie Planung, Prävention und Resilienz, Verfahren der Konfliktbearbeitung wie Mediation, kommunikative Basistechnologien wie das Feedback, Programme der Kontraktpädagogik oder Strategien subtiler Verhaltenslenkung, wie sie unter dem Label eines Libertären Paternalismus propagiert werden. Andere Aufsätze beschäftigen sich mit ökonomischen Modellen der Rationalisierung des menschlichen Lebens, wettbewerblichen Steuerungsmechanismen sowie Therapiekonzepten, welche die subjektiven Folgen eines radikalisierten Wettbewerbs abfedern sollen. Gemeinsam ist diese Modellen, Mechanismen und Konzepten die Ausrichtung auf eine »Verwissenschaftlichung des Sozialen«:[3] 9Sie transformieren alltägliche Praktiken und Kommunikationsformen, etwa der Vorsorge für die Zukunft (Planung, Prävention, Resilienz), des Schlichtens von Konflikten (Mediation, Familienkonferenz), der Verständigung und Evaluation (Feedback), der Peer-Bindungen (militärische Kleingruppenforschung) oder der Verhaltenssteuerung durch Anreizsysteme (Nudging) in methodisch angeleitete, von eigens dafür ausgebildeten Experten betriebene, systematisch beforschte und institutionell abgestützte Sozial- und Selbsttechnologien. Auf als dysfunktional erfahrene Störungen und Krisen sozialer Integration oder extreme Belastungssituationen reagieren sie durch die Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen. Mittels gezielter Eingriffe von außen versuchen sie Individuen, einzelne gesellschaftliche Gruppen oder ganze Populationen in die Lage zu versetzen, ihre Belange selbständig und eigenverantwortlich zu regeln. So zielen Programme präventiver Risikominderung ebenso wie Mediationsverfahren oder die verhaltensökonomische Modellierung von Entscheidungsalternativen auf ein Höchstmaß an Freiheit und sorgen sich im gleichen Maße um deren rechten Gebrauch. Anstelle von Zwangsmechanismen oder Strategien des Überwachens und Strafens setzen sie auf Kontextsteuerung und kybernetische Rückkopplungsschleifen.

Das Augenmerk richtet sich – der Titel des Bandes deutet es an – vor allem auf »sanfte« Selbst- und Sozialtechnologien, die über freiwillige Mitwirkung, personale Bindungen, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments oder ökonomische Anreize operieren. Dieser Fokus impliziert keineswegs die Annahme, dass die Integration zeitgenössischer Gesellschaften weitgehend ohne Zwang und Gewalt auskäme. Im Gegenteil. Anders allerdings als repressive Strategien und Programme, deren Untersuchung eine lange Tradition etwa im Rahmen der Soziologie sozialer Kontrolle besitzt, haben partizipative und konsensorientierte Integrationsregime bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren und sind insbesondere kaum im Hinblick auf die in ihnen wirksamen Machtmechanismen untersucht worden.

Die hier versammelten Aufsätze analysieren die ausgewählten Strategien und Programme der Fremd- und Selbstführung entlang von drei Achsen: Sie präparieren erstens ihre Problemdefinitionen, die unterstellten Wirkmechanismen, Ziele und Versprechen (Rationalitäten) heraus, zweitens die zur Verhaltenslenkung in Anschlag 10gebrachten Verfahrensweisen und Regeln (Technologien) und drittens die damit verbundenen Adressierungen und Zurichtungen der Subjekte sowie die diesen zugrunde liegenden Anthropologien (Subjektivierungsweisen). Die Grundlage meiner Einzelanalysen bilden Programmschriften, Handbücher und Arbeitsmanuale sowie psychologische, pädagogische und sozialwissenschaftliche Studien, die theoretische Begründungen für die unterschiedlichen gouvernementalen Strategien liefern, ihre Relevanz und die Dringlichkeit ihrer Implementierung betonen und vor allem praktische Hinweise zu ihrer Umsetzung geben. Mein methodisches Vorgehen ist diskursanalytisch, allerdings handelt es sich bei den untersuchten Textkorpora um Diskursstränge, die unmittelbar auf die Veränderung individueller wie kollektiver Handlungsmuster abzielen und zu diesem Zweck detailliert soziale Praktiken beschreiben und auf diese einwirken sollen. Nicht die Ordnungen des Sagbaren stehen also im Vordergrund, sondern die intendierten Transformationen des Verhaltens. Im Unterschied zu den meisten praxistheoretischen Zugängen richtet sich der Fokus jedoch nicht darauf, welchen Regeln und Regelmäßigkeiten die Menschen in ihrem Verhalten tatsächlich folgen (und welche Regelwidrigkeiten und Unregelmäßigkeiten sich dabei fortlaufend ereignen). Vielmehr frage ich danach, welche Begründungen dafür angeführt werden, dass die Menschen sich in bestimmter Weise verhalten sollen, welche Techniken sie dazu in die Lage versetzen sollen, aber auch, welche Überforderungen, Exklusionsmechanismen und Schuldzuschreibungen den Strategien und Programmen eingeschrieben sind.

Flankiert werden die Einzelstudien auf der einen Seite von zwei Aufsätzen, welche die Perspektive einer Soziologie der Menschenregierungskünste theoretisch explizieren: Der erste greift den Titel des Bandes auf und zeichnet nach, in welchem Maße das Nachdenken über Menschenführung auf die Bilderwelt vom Hirten und seiner Herde zurückgreift und welche Aspekte dieses Metaphernfelds jeweils aktualisiert werden. Der zweite Aufsatz skizziert das Forschungsprogramm einer Problematisierung der Menschenregierungskünste als soziologische Antwort auf anthropologische Fragen. Auf der anderen Seite stehen einige kürzere Beiträge, die das Verhältnis von Soziologie und Kritik ausloten und fragen, welche Formen des Gegen-Verhaltens die Regime der Verhaltensführung provozieren. Sie beschließen den Band.

11Die meisten der hier versammelten Arbeiten wurden bereits an anderer Stelle veröffentlicht. Für diese Neupublikation wurden sämtliche Beiträge überarbeitet und erweitert. Für sorgfältige Lektüre und Kommentierung einzelner Aufsätze danke ich Martin Bauer, Christian Dries, Justus Heck, Stefan Kaufmann, Susanne Krasmann, Matthias Leanza, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Martial Staub, Barbara Wewel sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Forschungskolloquiums. Wibke Liebhart hat das gesamte Manuskript vor der Drucklegung mit bewundernswerter Geduld und Gründlichkeit durchgesehen und den Anmerkungsapparat vereinheitlicht, auch ihr danke ich herzlich. Die Fertigstellung des Bandes wurde ermöglicht durch einen Aufenthalt im Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«, das im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder an der Universität Konstanz eingerichtet wurde. Den Verantwortlichen des Exzellenzclusters danke ich herzlich für die Einladung, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kulturwissenschaftlichen Kollegs für ihre Gastfreundschaft und tatkräftige Unterstützung.

13I. Zugänge

15Von Hirten, Herden und dem Gott Pan
Figurationen pastoraler Macht

Das Metaphernpaar vom Hirten und seiner Herde könnte unzeitgemäßer kaum sein. Es atmet Landluft, weckt Assoziationen an archaische Viehzüchterkulturen, bukolische Idyllen oder biblische Gleichnisreden. Als Bild für zeitgenössische Menschenregierungskünste taugt es dagegen, auf den ersten Blick jedenfalls, nicht. Wer möchte sich schon als Schaf sehen; wer würde sich noch anmaßen, eine Herde zu führen? Und doch zeigen pastorale Metaphern auch in der Moderne eine erstaunliche Persistenz. Selbst wenn Hirt und Herde nicht mehr explizit aufgerufen werden, bleiben sie als implizite Bezugsgrößen präsent. Das ist jedenfalls die These Michel Foucaults, der in den vor- und frühchristlichen Pastoralregimen das Vorbild für jene modernen Formen des Regierens erkannte, die er unter dem Neologismus »Gouvernementalität« zusammenfasste.[1]

Foucaults genealogische Analyse des Pastorats bildet auch den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen, die den Transformationen pastoraler Machtausübung in zeitgenössischen Regimen der Selbst- und Fremdführung nachgehen. Die Figur des guten Hirten, von der aus Foucault diesen Machttypus skizzierte, stellt zweifellos die wirkmächtigste Ausprägung der Metapher dar, aber sie ist keineswegs die einzige. Die fortdauernde Präsenz pastoraler Sprachbilder resultiert nicht zuletzt aus der Offenheit des Metaphernfelds, das vielfältige Anschlüsse ermöglicht. Verschiebungen und Neueinsätze in den Künsten des Regierens und Sich-selbst-Regierens waren und sind immer auch Arbeit an der Metapher: Dispositive religiöser, pädagogischer oder therapeutischer Seelenführung beziehen sich in anderer Weise auf das Verhältnis von Hirten und Herden, als staatliche Programme der Krankheitsprävention oder Strategien der Verhaltenssteuerung durch ökonomische Anreize dies tun. Der Ausruf »Kein Hirt und Eine Heerde!«, mit der Nietzsche sei16nen Zarathustra die Domestizierung des übersozialisierten »letzten Menschen« verspotten lässt,[2] greift andere Assoziationen auf als die Referenz auf den griechischen Hirtengott Pan, die jede Warnung vor Panik, dem Inbegriff der Unregierbarkeit, mit sich führt. Deren Etymologie erinnert an jenen plötzlichen Schrecken, in den der in seiner Ruhe gestörte Gott die Herden versetzt und sie in wilde Massenflucht treibt. Pan, hier vor allem in seiner Eigenschaft als mythischer Hüter des Naturganzen, ist auch der Namenspatron für das Konzept der Panarchie, mit dem sozialökologische Forscher die Komplexität ökologischer Systeme und die Grenzen ihrer Steuerbarkeit analytisch zu fassen versuchen.[3]

So unterschiedlich die Anschlüsse an die pastorale Metaphorik ausfallen, alle kreisen um Fragen des Führens und Geführtwerdens, des Sich-führen-Lassens, Nicht-geführt-werden-Wollens und Nicht-führen-Könnens, mit anderen Worten: Sie kreisen um Fragen der Menschenregierungskünste und ihrer Kritik. Auch Foucault stellt den Begriff der Führung (conduite) ins Zentrum seines Versuchs, die Spezifik von Machtbeziehungen ausgehend vom Pastorat als »›Regierung‹ von Menschen durch andere Menschen im weitesten Sinne des Wortes« neu zu bestimmen. Führung heißt einerseits, schreibt er in seinem Aufsatz »Subjekt und Macht«, »andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ›Führung zu lenken‹, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen.«[4] Deshalb setzt sie die Freiheit derjenigen voraus, über die sie ausgeübt wird: Wäre das menschliche Verhalten vollständig determiniert, brauchte es keine Machtinterventionen; ließe es sich nicht beeinflussen, wären keine möglich. Nur weil die Schafe fortlaufen können, gibt es den Hirten. Machtausübung wird damit koextensiv mit Sozia17lität: »In Gesellschaft leben bedeutet: Es ist stets möglich, dass die einen auf das Handeln anderer einwirken.«[5]

Die disparaten Bedeutungen des deutschen Verbs führen gehen noch weit über den von Foucault angesprochenen Doppelaspekt des französischen (se) conduire hinaus: Zum relationalen Aspekt, der asymmetrischen Beziehung zwischen jemandem, der führt, und denjenigen, die geführt werden, kommt ein kompetitiver: der Führende liegt in einem Wettkampf vor seinen Konkurrenten; ein direktionaler: Führung als Richtungsvorgabe, Bahnung oder kundige Wegbegleitung; ein kausaler: eine Ursache führt dazu, dass ihre Wirkung eintritt; ein administrativer im Sinne der Führung eines Geschäfts; ein attributiver: man führt einen Titel oder eine Waffe; ein performativer: jemand führt sich in einer bestimmten Weise auf oder führt etwas vor; und schließlich ein ethischer wie beim polizeilichen Führungszeugnis, beim Gefangenen, der wegen guter Führung früher aus der Haft entlassen wird, oder bei der Lebensführung als Synonym für die Gesamtheit ethischer Selbstbezüge. Nicht alle diese Aspekte von Führung verweisen auf das Modell von Hirte und Herde, und eine Analytik der Menschenregierungskünste, die von diesen Leitmetaphern ausgeht, wird gut daran tun, auch die Grenzen und blinden Flecken des pastoralen Bildraums aufzuzeigen. Zweifellos gibt es auch andere einflussreiche Metaphorisierungen des Führens – Steuermann, Baumeister, Gesetzgeber, Familienvater, um nur einige anzuführen –, doch keine dieser Figuren hat in der Geschichte der Menschenregierungskünste so vielfältige Assoziationen geweckt wie der Hirte. Wenn man Foucault darin folgt, Machtbeziehungen als Führungsverhältnisse zu begreifen und bei ihrer Untersuchung der Frage nach dem Wie der Macht Vorrang vor der nach ihren Quellen und Antriebskräften einzuräumen, dann bildet das pastorale Metaphernfeld deshalb einen geeigneten Einstiegspunkt.

Die unterschiedlichen Verwendungen der Hirte-Herde-Metaphorik dienen mir im Folgenden als Filter, um zeitgenössische Dispositive der Menschenführung einander gegenüberzustellen. Über die jeweils hervorgehobenen Elemente des Metaphernfelds lässt sich erschließen, auf welche Problemstellungen die Programme des Regierens und Sich-selbst-Regierens antworten, mit welchen Plau18sibilisierungsstrategien sie sich legitimieren, welche Verfahren sie in Anschlag bringen, welche Subjektpositionen sie anrufen und nicht zuletzt welche Widerstände sich ihnen entgegenstellen, sie umlenken, bremsen, blockieren oder ins Leere laufen lassen.

Ich analysiere das Metaphernfeld in drei Schritten: Zunächst rekonstruiere ich Foucaults Genealogie der Pastoralmacht und verfolge deren Spuren bis in die Gegenwart. Anschließend an Nietzsches Ausführungen zur »Heerdenthier-Moral«[6] präpariere ich dann einige der Zurichtungsmechanismen heraus, über die sich die Vorstellung einer Führung ohne Führer etablieren konnte. Was Nietzsche polemisch fasst, wird unter dem Rubrum der Selbstorganisation zum positiven Programm. Bezugnahmen auf den Hirtengott Pan, wie sie in zeitgenössischen ökologischen Theorien, aber auch in der Sicherheitsforschung oder den Affektstudien auftauchen, bilden die dritte Spur. Sie führt mich zu kybernetischen Konzepten der Selbststeuerung, die sich von der Hybris des Social Engineering verabschiedet haben und stattdessen die Fähigkeit trainieren, sich auf nicht prognostizierbare, unter Umständen katastrophische Ereignisse einzustellen. Diese drei disparaten Anschlüsse verknüpfen sich weder zu einer Begriffsgeschichte der Pastoralmetapher noch zu einer umfassenden Historiographie der Sozial- und Selbsttechnologien. Der Zugang ist eher typologisch als historisch, der Anspruch bescheidener: Es geht um exemplarische Dispositive, nicht um eine Systematik der Menschenregierungskünste.

1. Der gute Hirte

In der fünften Sitzung seines ersten Vorlesungszyklus zur Geschichte der Gouvernementalität grenzt Foucault den Machttyp des Regierens (gouverner) von denen des Herrschens, Kommandierens und Befehlens ab. Bevor der Begriff im 16. und 17. Jahrhundert eine politische Bedeutung angenommen habe, hätten sich Semantik und Praxis des Regierens ebenso auf die Subsistenzsicherung wie auf die Sorge um das Wohlergehen eines Individuums, auf die Kontrolle über den eigenen Körper und die eigene Seele ebenso wie auf unterschiedliche Formen der Beziehung von einem Individu19um zu einem anderen erstreckt. Eindeutig sei jedoch, dass niemals ein Territorium oder eine politische Struktur regiert werden: »Das, was man regiert, sind auf jeden Fall Leute, es sind Menschen, es sind Individuen und Kollektive.«[7] Diese Idee einer Regierung der Menschen finde sich zuerst im vorchristlichen Orient, ihr grundlegendes Modell sei die Beziehung zwischen dem Hirten und seiner Herde. Die Figur des Hirten erscheint hier als Gegenentwurf zu jener des Souveräns, der über das Land gebietet und die Truppen befehligt, der Gesetze erlässt und Recht spricht, der Steuern eintreibt und Kriegsdienste einfordert, sich ansonsten um Tun und Lassen seiner Untertanen aber nicht weiter schert. Während der Souverän herrscht, aber nicht regiert, verhält es sich beim Hirten gerade umgekehrt.

Foucault identifiziert vier Merkmale pastoraler Macht. Diese ist erstens nomadisch. Sie bezieht sich nicht auf ein umgrenztes Gebiet, der Hirte übt seine Macht vielmehr extra muros auf eine »Multiplizität in Bewegung«[8] aus. Er geht der Herde voraus und weist ihr die Richtung. Seine Tätigkeit besteht zweitens darin, die ansonsten versprengten Schafe zu versammeln. Die Herde existiert ausschließlich durch seine Gegenwart. Ist er abwesend, zerstreut sie sich. Drittens handelt es sich um eine sorgende und wohltätige Macht, die durch ihren unermüdlichen und wachsamen Eifer für das Heil der Herde definiert ist. Der gute Hirte ist nicht Furcht einflößender Herrscher, sondern er ist Diener der ihm Anvertrauten. Daraus ergibt sich ein Opfer-Dilemma: Einerseits muss der Hirte sein Leben für die Herde einsetzen, andererseits muss er zur Rettung eines verirrten Schafs die gesamte Herde zurücklassen. Pastorale Macht ist viertens individualisierend, sie richtet sich gleichermaßen auf die Herde als Ganze wie auf jedes einzelne Schaf – omnes et singulatim.

In Abgrenzung zu Platons Bild des Politikers als Weber, dessen Tätigkeit darin besteht, heterogene Elemente kunstvoll zum Gewebe der Gemeinschaft zu verknüpfen, und der dazu auf eine Vielzahl vorbereitender und unterstützender Helfer angewiesen ist, erlaubt die Aufgabe des Hirten weder Delegation noch Arbeitsteilung.[9] Zu voller Geltung kommt dieser umfassende und unmittelbare Charakter der pastoralen Macht allerdings, wie Foucault betont, 20erst mit der Konstitution des Christentums als Kirche. Deren Regierungsanspruch beschränkt sich nicht auf eine Stadt oder einen Staat, sondern schließt die gesamte Menschheit ein. Zugleich strebt das christliche Pastorat danach, jeden Einzelnen in sämtlichen Lebensvollzügen so zu lenken, dass er zum Heil geführt wird. Individualisierung und Totalisierung kommen also zusammen. War im Judentum das Bild des Hirten allein Gott vorbehalten, strukturiert das pastorale Schema im Christentum ebenso die Beziehungen der Menschen zueinander und lässt ein straffes institutionelles Gefüge entstehen. Christus ist der oberste Pastor, aber auch der Papst, die Bischöfe und die Äbte sind Pastoren. Parallel zu dieser Ausweitung der Hirtenmetapher zum durchgängigen Modell kirchlicher Organisation verfeinert das Christentum den pastoralen Regierungsmodus zu einer elaborierten »Kunst des Führens [conduire], Lenkens [diriger], Leitens [mener], Anleitens [guider], des In-die-Hand-Nehmens, des Menschen-Manipulierens, [eine] Kunst des Ihnen-Schritt-für-Schritt-Folgens und des Schritt-für-Schritt-Antreibens«. Sie soll die kirchlichen Hirten in die Lage versetzen, »sich der Menschen ihr ganzes Leben lang und bei jedem Schritt ihrer Existenz kollektiv und individuell anzunehmen«.[10]

Diese Machttechnologie zeichnet sich durch die engen moralischen Bindungen des Hirten an seine Herde aus, der in einem umfassenden Sinne Verantwortung für sie trägt. Er muss Rechenschaft über seine Tätigkeit und über das Verhalten der Schafe ablegen, man wird ihn befragen und prüfen, ob er seine Aufgabe sorgsam erfüllt hat. Sämtliche Verfehlungen der Schafe fallen unmittelbar auf ihn zurück, umgekehrt darf er sich aber auch ihre Verdienste gutschreiben. Grundlegend für das christliche Pastorat ist des Weiteren die Entgrenzung des Gehorsams, der auf Dauer gestellt wird, alle Lebensbereiche einschließt und nicht länger Mittel ist, sondern Zweck an sich.[11] Sich den Weisungen des Pastors zu fügen, dient keinem anderen Ziel als dem der Unterwerfung selbst: »Man gehorcht, um gehorsam sein zu können, um zu einem Zustand des Gehorsams zu gelangen.«[12] Jeder Eigensinn soll ausgelöscht werden, zugleich aber messen sich die Verdienste des Hirten an der Widerspenstigkeit der Schafe. Ohne ihren Eigensinn wäre er überflüs21sig. Gehorchen muss freilich auch er. Durch demütige Reue seiner Verfehlungen gegenüber dem göttlichen Hirten trägt er zu ihrem Heil bei, weil seine Selbsterniedrigung ihnen als Vorbild dient (und ihn zugleich gegen Kritik immunisiert). All seine Anstrengungen, und seien sie noch so groß, können jedoch das Heil nicht garantieren; dieses liegt allein in Gottes Hand.[13] Aufgabe des christlichen Hirten ist es, die Gemeinde durch sein Beispiel zu unterweisen, dabei jedes Mitglied auf die ihm angemessene Weise anzusprechen und sein gesamtes Verhalten zu lenken.

Eine solche Regierungskunst benötigt und generiert einen ebenfalls sowohl totalisierenden als auch individualisierenden Willen zum Wissen: Der Hirte muss seine Schäfchen jeden Tag von Neuem zählen, um sicherzustellen, das keines fehlt; er muss mit den Bedürfnissen eines jeden vertraut sein, muss dessen Verhalten und geheimste seelische Regungen kennen. Je mehr er von ihm weiß, desto subtiler kann er es lenken. Um das zu gewährleisten, adaptierte und modifizierte das Christentum antike Techniken der Seelenführung und Gewissensprüfung.[14] Über die detaillierten Gehorsams-, Introspektions- und Bekenntnisübungen sollen die Individuen nicht zu gesteigerter Selbstkontrolle und Autonomie gelangen, sondern ihre Abhängigkeit vom Seelenhirten noch vertiefen. Damit er bis in die letzten Winkel ihrer Seele blicken kann, müssen sie es unter seiner Anleitung zunächst selbst tun und ihm davon berichten. Die Exploration ihrer verborgenen Wahrheit, die absolute Unterwerfung, die ihnen abverlangt wird, sowie die komplexe Zirkulation von Verdiensten und Verfehlungen, die Hirte und Herde aneinander binden, bilden den Kern der christlichen Menschenregierungskünste. Mit dem Pastorat entsteht »eine absolut neue Machtform«,[15] die sich, wie Foucault einmal mehr betont, grundlegend von politischer Herrschaft unterscheidet: eine subjektivierende Macht, welche die Menschen zur Suche nach ihrer Wahrheit verpflichtet, eine ökonomische Macht, die auf das Heil der Seelen gerichtet ist und minutiös individuelle Stärken wie Schwächen erfasst, schließlich eine kontinuierliche und ausgreifende Macht, die den Einzelnen nicht von der Seite weicht, sich für jede 22ihrer Regungen interessiert und Fügsamkeit noch in den geringsten Verrichtungen fordert.

Die Differenz zwischen soteriologischem Pastorat und souveräner Herrschaft zeigt sich nicht zuletzt in ihrer unterschiedlichen Behandlung menschlicher Freiheit. Die Regime spiritueller Führung, wie sie in den Anweisungen der frühchristlichen Kirchenväter[16] bis zu den Exerzitien des Ignatius ausgearbeitet sind, implizieren trotz ihres Gehorsamsgebots gerade keinen Willensverzicht im juristischen Sinn:

Bei der juristischen Übertragung der Souveränität hört man auf zu wollen, man überträgt seinen Willen ganz oder teilweise auf jemand anderen, der so den Platz unseres Willens einnimmt und gewissermaßen dessen Befehlshaber oder Repräsentant ist. Die politische Macht will statt meiner und zwingt mir ihren Willen auf, ob ich will oder nicht. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich ihn gewollt habe, sofern es einmal einen Gesellschaftsvertrag gegeben hat, im Zuge dessen ich sagen konnte: Ich möchte, dass jemand an meiner statt will. Bei der Führung gibt es keinen Gesellschaftsvertrag, da es […] keine Abtretung des Willens an einen anderen gibt. Es gibt Folgendes: Es gibt jemand, der meinen Willen lenkt, der will, dass mein Wille dieses oder jenes will. Und ich trete meinen eigenen Willen nicht ab, ich will weiterhin, ich will weiter bis zum Schluss, doch will ich Punkt für Punkt und in jedem Moment das, was der andere will, dass ich es will.[17]

Eine solche Führung beruht nicht auf Zwang, sondern auf der Bereitschaft der Geführten, sich führen zu lassen. Mehr noch als am folgsamen Handeln der Schafe erweist sich die Autorität des Hirten daran, dass diese sein Wollen zu ihrem eigenen machen. Die Logik des Pastorats kulminiert in der Einübung von etwas, das in der Logik der Souveränität widersinnig erscheinen muss: freiwillige Knechtschaft als höchste Form individueller Freiheit.

Gleichwohl provoziert auch diese Form der Machtausübung Widerstände. Von seinen Anfängen an wurde das Pastorat von Gegenbewegungen begleitet. Ihr Einsatz ging nicht dahin, sich von jeglicher Führung frei zu machen, sie kreisten vielmehr um die 23Frage, »wie man von einem besseren Pastorat profitiert, wie man besser geführt wird, sicherer erlöst, den Gehorsam besser aufrechterhält, der Wahrheit näher kommt«.[18] Die Revolten der Verhaltensführung reichten vom asketischen Virtuosentum antiker Eremiten über mystische Ekstasepraktiken mittelalterlicher Nonnen, chiliastische Gemeinschaften, die sich auf ihre unverstellte Lektüre der Heiligen Schrift beriefen, bis hin zur protestantischen Kirchenzucht. Sie suchten unmittelbare Gefolgschaft zum einen göttlichen Hirten und verwarfen die pastorale Autorität seiner klerikalen Stellvertreter. Ihr Widerstand äußerte sich als ein »Gegen-Verhalten«,[19] das sich selbst wiederum zu eigenständigen Regimen der Selbst- und Fremdführung verdichtete. So unterschiedliche Ziele diese dissidenten Strömungen auch verfolgten, sie waren stets Teil der politischen und ökonomischen Kämpfe ihrer Zeit. Wer egalitäre Gütergemeinschaft predigte, das Gottesgnadentum der Obrigkeit in Frage stellte und sich weigerte, Militärdienst zu leisten, geriet unweigerlich auch in Konflikt mit den weltlichen Autoritäten.

Den Übergang von der pastoralen Seelenführung zur Regierung der Menschen und damit zur Gouvernementalität situiert Foucault im Gefolge der großen Krise des Pastorats im 16. Jahrhundert, die eng mit der Auflösung der Feudalordnung und den Bewegungen der Reformation und der Gegenreformation verbunden ist. In dieser einerseits von einer »Bewegung der staatlichen Bündelung, andererseits eine[r] Bewegung der religiösen Zerstreuung und Spaltung« geprägten Zeit intensivierte sich »das Problem des ›Wie-regiert-werdens, durch wen, bis zu welchem Punkt, zu welchen Zwecken, durch welche Methoden‹«.[20] Die Praktiken der spirituellen Menschenführung weiteten sich aus, zugleich tauchte das Problem der Verhaltensführung auch außerhalb des religiösen Kontexts auf. Das Spektrum reichte von der Frage nach der richtigen Leitung seiner selbst, wie sie der Neustoizismus aufwarf, über die Erziehung der Kinder in der Familie und die Führung des Haushalts bis zum Problem der guten Lenkung der Staaten durch die Fürsten. Folgt man 24den zeitgenössischen politischen Klugheitslehren, so soll der Souverän nunmehr nicht nur herrschen, sondern auch regieren. Es ist diese Transformation, die Foucault als »Gouvernementalisierung des Staates«[21] bezeichnet. Ihre Geschichte verfolgt er in den weiteren Vorlesungen des Zyklus von der Lehre der Staatsräson über die kameralistische Polizeiwissenschaft bis zu den liberalen und neoliberalen Strategien des Regierens durch und für den Markt.[22]

Das christliche Pastorat liefert weder die Blaupause für die neuen Formen der Menschenführung, noch verschwindet es mit ihnen. Es ist das »Präludium der Gouvernementalität«.[23] Die in den Praktiken der Seelenführung ausgearbeiteten Technologien lösen sich von ihrer Ausrichtung auf das religiöse Heil, andere Sozial- und Selbsttechnologien mit anderen Zielsetzungen, Verfahren und Rechtfertigungen kommen hinzu, amalgamieren mit ihnen oder ersetzen sie, die Metaphorik von Hirte und Herde tritt in den Hintergrund. Eine besonders augenfällige Fortsetzung findet das christliche Pastorat in der Therapiekultur mit ihren luziden Hermeneutiken des wahren Selbst, ihren ausgefeilten Techniken der Verhaltensmodifikation und nicht zuletzt mit ihrem Glauben an die heilende Kraft rückhaltloser Selbstoffenbarung gegenüber einem professionellen Seelenhirten. Aber auch jenseits der Verwandtschaft von Pastor und Psychologe hat das Modell Hirte und Herde Spuren in den zeitgenössischen Menschenregierungskünsten hinterlassen.

So fremd und befremdlich die seelsorgerlichen Unterweisungen der Kirchenväter und mittelalterlichen Ordensregeln für heutige Ohren klingen, in sechs Hinsichten bauen die gouvernementalen Formen der Machtausübung auf den Pastoralregimen auf: Wie diese beziehen sie sich erstens auf die Führung lebender Menschen, und sie übernehmen zweitens die doppelte Fokussierung auf alle und jeden Einzelnen. Die gleichzeitige Sorge um das individuelle Schaf und die Gesamtheit der Herde kehrt wieder in der Parallelität von individuums- und bevölkerungsbezogenen Interventionen, die Foucault als Verschränkung von Disziplinarmacht und Biomacht beschreibt. Die eine reglementiert die individuellen Körper, die andere reguliert den Gattungskörper. Ihr Schnittpunkt ist die Se25xualität, die einerseits strikter Disziplin unterworfen, andererseits zum Gegenstand bevölkerungspolitischer Maßnahmen gemacht wird. Zusammengenommen bilden sie die beiden Pole einer politischen Rationalität, die das Biologische in Regie nimmt und nutzenmaximierend verwaltet. Diese Ökonomisierung – das eine Mal des Heils, das andere Mal des Lebens – ist das dritte Erbe der Pastoralmacht in der modernen Gouvernementalität.[24] Viertens handelt es sich in beiden Fällen um eine fürsorgliche Macht, die Gemeinschaft stiftet, Gefährdungen abwehrt und die Wohlfahrt zu mehren verspricht. Wie schon die Praktiken der christlichen Seelenhirten zeichnen sich die Dispositive gouvernementaler Führung fünftens durch ihren Subjektivierungsimperativ aus. Sie operieren nicht beziehungsweise nicht ausschließlich repressiv, sondern sind auf die Einwilligung und Mitwirkung ihrer Adressaten angewiesen und halten diese zum rechten Gebrauch ihrer Freiheit an. Der Gehorsam, den sie einfordern, besteht darin, sich selbst zu erkunden, auf sich selbst einzuwirken sowie Sollen und Wollen in Einklang zu bringen. Dass die Machtmechanismen den gesamten Alltag überziehen und keine Lebensäußerung dem Reglementierungs- und Regulierungseifer entgehen soll, markiert die sechstehomo oeconomicus[25]