Marie NDiaye

Die Chefin.

Roman einer Köchin

Aus dem Französischen von
Claudia Kalscheuer

Suhrkamp

Oja, natürlich, das hat man sie oft gefragt.

Ich würde sogar sagen, man hat nicht aufgehört, die Chefin das zu fragen, seit sie berühmt geworden ist, als hüte sie ein Geheimnis, das sie irgendwann doch verraten würde, aus Schwäche, Überdruss, Gleichgültigkeit, aus Nachlässigkeit oder aus einer Anwandlung von Großzügigkeit heraus, die sie plötzlich Mitgefühl empfinden ließe mit all denen, die der Beruf reizte und auch eine Art Ruhm, zumindest ein gewisses Ansehen.

Ja, letztlich gab es viele, die davon fasziniert waren, von diesem großartigen Ruf, den sie sich erworben hatte, ohne danach zu streben, und vielleicht sagten sie sich auch, vielleicht stellten sie sich auch vor, dass sie den Schlüssel zu diesem Rätsel für sich behielt, sie sahen darin ein Rätsel, sie war nicht sehr intelligent.

Sie täuschten sich gleich zweimal.

Sie war unheimlich intelligent, viel mehr als eigentlich nötig, um in diesem Beruf Erfolg zu haben.

Es gefiel ihr, dass man sich in ihr irrte.

Sie konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr nahekam, sie ausforschte, drohte sie zu enttarnen.

Nein, nein, vor meiner Zeit hat sie sich nie jemandem anvertraut, das widerstrebte ihr zu sehr.

Die Frage, die auch Sie beschäftigt, wurde ihr sehr oft gestellt, und jedes Mal zuckte sie mit den Schultern, lächelte mit diesem Ausdruck, den sie gern zeigte, leicht verstört, abwesend, aufrichtig oder scheinbar bescheiden, das wusste man nicht recht, und antwortete: Es ist nicht schwierig, man muss nur gut organisiert sein.

Und wenn man nachhakte, meinte sie lediglich: Man muss nur etwas Geschmack haben, es ist nicht schwierig, und wandte dann ihre hohe, schmale Stirn ganz leicht ab und kniff ihre dünnen Lippen zusammen, wie um zu verstehen zu geben, dass sie nicht nur nichts mehr sagen würde, sondern auch bereit war zu kämpfen, um zu verhindern, dass man ihr den Mund mit Gewalt aufzwang.

Der Ausdruck ihres Gesichts, sogar ihres Körpers – steif, verschlossen, kühl – bekam dann etwas Verstocktes, etwas aberwitzig Unnachgiebiges, das jede weitere Frage im Keim erstickte, nicht weil man nicht zudringlich sein wollte, sondern weil man sie für dumm hielt.

Die Chefin war ungeheuer intelligent.

Wie ich es liebte, ihre Freude zu sehen, wenn sie für eine beschränkte Frau gehalten wurde!

Ich hatte das Gefühl, dieses geteilte, verschmitzte Wissen um ihren großen Scharfsinn knüpfte zwischen uns ein Band, das für mich wertvoll war und ihr nicht missfiel – es gehörte mir zwar nicht allein, denn auch andere, die sie schon lange kannten, wussten um ihre Intelligenz und ihren Scharfblick und ahnten ebenfalls, dass ihr daran lag, diese vor Unbekannten und Zudringlichen zu verbergen, aber ich war der Jüngste, ich hatte sie früher nicht gekannt, als sie noch nicht daran dachte, sich zu verstecken, ich war der Jüngste und derjenige, der sie am innigsten liebte, da bin ich mir sicher.

Sie fand auch das Lob übertrieben, mit dem man ihre Küche zu überschütten begann.

Sie fand die Art, wie diese Lobreden formuliert waren, lächerlich und gespreizt, eine Frage des Stils.

Das Emphatische, Pompöse schätzte oder achtete sie nie und nirgends.

Sie verstand die beschriebenen Gefühle, da sie sich ja bemühte, diese zu erzeugen, und entzückt war, wenn sie sich im Gesicht der Gäste zeigten, schließlich war es genau das, wofür sie sich seit so vielen Jahren Tag für Tag anstrengte, beinahe ohne Rast.

Aber die Worte, um all das zu schildern, kamen ihr unschicklich vor.

Man sollte ihr sagen: Es ist sehr gut, mehr verlangte sie nicht, auf keinen Fall.

Ihr schien, wenn man die Ursachen und Wirkungen des Genusses erörterte, den einem zum Beispiel ihre Lammkeule im grünen Mantel verschaffte, bis heute ihr berühmtestes Gericht und Emblem ihres Stils (niemand weiß, dass sie es am Ende nicht mehr zubereiten wollte, sie war seiner müde wie eine Sängerin des immergleichen, allseits geliebten Liedes, das man sie ewig zu wiederholen bittet, es war ihr verleidet, sie nahm es dieser großartigen Lammkeule übel, bekannter zu sein als sie selbst und andere Gerichte, die ihr mehr Arbeit und Einfallsreichtum abverlangten und auf die sie viel stolzer war, in einen unverdienten Schatten gestellt zu haben), ihr schien, wenn man die verschiedenen Formen dieser Lust analysierte, zerrte man eine äußerste Intimität ans Licht, die des Essenden und indirekt auch die der Chefin, und das war ihr unangenehm, sie wünschte dann, sie hätte nichts getan, nichts gegeben, nichts geopfert.

Sie sagte es nicht, aber ich wusste es wohl.

Sie hätte es niemals gesagt, denn auch das hätte bedeutet, sich preiszugeben.

Aber ich wusste es wohl, ich erkannte es an dem sturen, kalten Schweigen, in das sie sich flüchtete, wenn man sie aus ihrer Küche holte, um sich die Komplimente eines Gastes anzuhören, der, vom Schweigen der Chefin irritiert, peinlich berührt oder angestachelt, nicht eher ruhte, als bis er irgendeine Art von Antwort bekam, so dass sie, um der Sache ein Ende zu machen, langsam den Kopf von rechts nach links schüttelte, als sei sie zu bescheiden und leide unter diesen Lobeshymnen, sie sagte nichts, sie schämte sich, sich derart zur Schau zu stellen, in ihrer Nacktheit und der des Gastes, der sich dieser gar nicht bewusst war.

Danach war sie schlechter Laune, als habe man sie nicht etwa gelobt, sondern vielmehr kritisiert oder beschimpft.

Wenn ich Zeuge der Szene geworden war oder wenn sie das zumindest dachte (oft zu Unrecht, denn ich versuchte zu verschwinden, sobald die Chefin sich gezwungen sah, in den Speisesaal zu gehen), spürte ich, dass sie es mir übelnahm – ihre Würde war vor meinen Augen verletzt worden.

Dabei war ich derjenige – ich würde gern sagen, der Einzige, aber wie könnte ich dessen sicher sein –, dessen Verehrung und Zärtlichkeit nie durch irgendetwas hätte gemindert werden können, nicht einmal durch einen Eklat im Speisesaal, wie er schon vorgekommen war, als die Chefin der Kritik eines ausnahmsweise unzufriedenen Gastes wie immer ihr hochmütiges Schweigen entgegengesetzt und der Gast daran Anstoß genommen hatte, weil er sich missachtet fühlte, während er doch nur aus Feingefühl ignoriert wurde, genauso wie die Bewunderer.

Das ist völlig richtig, Komplimente waren ihr ebenso unangenehm wie Angriffe.

Letztere kamen wenigstens ohne Überschwang zum Ausdruck, und deren Worte waren nicht darauf aus, ins Herz und in die Seele der Chefin vorzudringen.

Ja, genau, die Vorwürfe richteten sich nur gegen die Gerichte, gegen die Entscheidungen der Chefin bezüglich dieser oder jener Kombination von Zutaten (so hatte sogar die berühmte Lammkeule im grünen Mantel, bevor sie es zu solchem Ruhm brachte, dass man sie heute nicht mehr in Frage stellen kann, sich von manchen ihre Hülle aus Sauerampfer und Spinat vorwerfen lassen müssen, man hätte entweder das eine oder das andere vorgezogen, oder gar Mangoldblätter), während die Glückwünsche sofort in ein Loblied auf die Chefin umschlugen und von da aus ins Geheimnis ihrer mutmaßlichen Intentionen vordrangen, im Bestreben, ihr tiefstes Wesen zu ergründen, das, welches allein sie befähigte, diese erlesenen Gerichte zu kreieren.

Einmal sagte mir die Chefin über dieses ganze Theater: Wie dumm sie sind.

Sie behauptete auch, nicht ein Drittel von dem zu verstehen, was über ihre Küche geschrieben wurde, und bestärkte damit die Leute in ihrer Meinung, die sie nicht für intelligent hielten, die meinten, sie sei nur durch Zufall begabt.

Ja, sie dachten, der unerbittliche, der anspruchsvolle Gott der Küche habe diese schwierige und etwas dumme kleine Frau willkürlich ausgewählt, um sich in ihr zu inkarnieren.

Wie ich Ihnen schon sagte, es kam ihr gelegen, für nicht sehr clever gehalten zu werden, so entzog sie sich.

Sie war keine von denen, die so lange den Idioten spielen, bis sie tatsächlich dazu werden, weil sie vergessen, dass es zunächst nur eine Rolle war, nein, sie wurde durch diese Figur nur noch listiger, noch schlauer, vielleicht eine Spur zynisch, ich weiß es nicht.

Sie war unbarmherzig, sie war herb, gleichwohl habe ich immer gedacht, dass das junge Mädchen, das so begierig war zu gefallen, alle Welt zu bezaubern, immer hinter der Tür stand und zu ihrem Glück nur das befriedigte Gemurmel der Gäste zu hören brauchte, die genossen, was sie erdacht und zubereitet hatte, dass dieses einzelgängerische, nach Freundschaft und Milde suchende Mädchen noch immer in der Brust der Chefin kauerte und sich manchmal streckte, wodurch sie das Gesicht der Chefin plötzlich veränderte, ihre Worte mäßigte, zu ihrer eigenen Überraschung.

Sie hat mir oft ein sanftes Gesicht gezeigt, sie hatte Vertrauen, ich zog daraus keinen Vorteil.

Natürlich war sie ehrgeizig, ja. Warum auch nicht?

Sie wollte jemand sein, aber nach ihrer Vorstellung, ohne Gehabe, ohne dass man darüber reden müsste, jemand, den man nicht vergisst, auch wenn man ihm letztlich nie begegnet ist.

Sie wollte im Gedächtnis der Essenden eine strahlende Spur hinterlassen, von solcher Art, dass einem, wenn man sich zu erinnern suchte, woher ein so verlockendes Bild, melancholisch wie das eines verlorenen Glücks, stammen mochte, nur die Erinnerung an ein Gericht oder an den bloßen Namen des Gerichts, an einen Duft oder an drei klare, reine Farben auf einem opalweißen Teller kam.

Die Chefin zog es vor, dass man sich nicht an ihren Namen erinnerte, dass man ihr Gesicht nie gesehen hatte, dass man nicht wusste, ob sie rund oder dünn, klein oder groß, ob ihr Körper wohlgestaltet war.

Das war jedoch nicht möglich. Die Chefin war nicht disponiert, zeigte auch keinerlei Neigung, an der eigene Legende zu arbeiten.

Sie hat sich nicht versteckt, auch wenn sie sich nicht gern zeigte.

Sie hat sich mal so, mal so verhalten, für eine Regionalzeitung hat sie einmal mit ihren Angestellten vor der Tür ihres Lokals posiert, und dieses ungeschickte Foto des Autors der kulinarischen Kolumne, auf dem die Chefin über einen unerwarteten Scherz ihres hinter ihr stehenden Souschefs breit lächelt und mit ihrer seltsamen zufriedenen Nonchalance, ihren in der glühenden Mittagssonne leicht zusammengekniffenen Augen eher aussieht wie eine kürzlich für ihre Tüchtigkeit und Fruchtbarkeit ausgezeichnete Hausfrau als wie die unbeugsame, strenge, entschieden diskrete, rätselhafte und manchmal unergründliche Küchenchefin, die wir alle kennen, dieses Foto der Chefin ist heute das bekannteste, und jeden Artikel über die Chefin schmückt inzwischen eine Vergrößerung dieses heiteren, fidelen Gesichts, als handele es sich dabei um das wahre Gesicht der Chefin.

Das ist völlig falsch, glauben Sie mir.

Andererseits, denn sie hatte keinerlei Strategie, drückte sich die Chefin immer davor, sich im Restaurant an der Seite namhafter Gäste fotografieren zu lassen, Politiker, Schauspielerinnen, Chefs großer Unternehmen, und das nahm man ihr übel, man empfand es als unsympathische Arglist oder Arroganz, dabei war sie nur scheu, schüchtern, auch müde.

Ich bin mir sicher, wäre sie zu diesen Aufnahmen bereit gewesen, so hätten sie, indem sie ihr abwesendes, beklommenes, alle innere Komplexität eisern verbergendes Gesicht gezeigt hätten, eine weit größere Wahrheit offenbart als das Foto aus der Sud-Ouest, auf dem sie so schelmisch wirkt.

Im Übrigen mochte sie dieses Foto nicht, nicht weil sie darauf einen Ausdruck hatte, in dem sie sich nicht wiedererkannte – das war eher ein Aspekt, der ihr gefallen konnte, denn die Chefin setzte alles daran, die Spuren zu ihrer Person zu verwischen –, sondern weil sie fürchtete, dieses so unangemessene Bild könnte glauben machen, der Fotograf hätte es geschafft, ihre wahre Natur zu erfassen, und manch andere hoffen lassen, auch sie könnten sie enttarnen, ja sie könnten die Chefin davon überzeugen, dass sie so war, dass sie ihrem tiefsten Wesen nach diese lustige, ruhige, mütterliche und strahlende Frau war, die sie selbst verkannte.

Ihr war es gleich, ob man sich in ihr täuschte, ob man sie für liebenswürdig hielt usw.

Sie wollte einfach nur nicht, dass man sich im Umgang mit ihr auf dieses absurde Bild stützte, sie wollte keine Gegenüber, die versuchten, ihr fröhliches, sanftmütiges Gesicht hervorzulocken, indem sie sie in Ecken drängten, wo sie nie gewesen war, die nicht ihre eigenen waren.

Ob das Porträt ihres Innersten nun wahrheitsgetreu oder irreführend war, sie wollte nicht, dass man sich damit beschäftigte oder dass irgendwelche Vorwände wie dieses Foto Anlass gaben, sich dafür zu interessieren oder auch nur darüber nachzudenken.

So war sie. Jedenfalls glaube ich, dass sie so war.

Sogar vor mir hat die Chefin die meisten wesentlichen Charakterzüge verborgen.

Ja, man kann es verstehen, da ich ja ihr Angestellter war und das Alter uns mindestens genauso sehr trennte wie die gesellschaftliche Stellung, die Lebenserfahrung, auch das Geschlecht, wenn Sie so wollen, obwohl mir das nie entscheidend schien für das Verständnis, das ich von der Seele der Chefin zu erlangen suchte – dass ich ein Mann war, habe ich nie als Nachteil gesehen.

Im Gegenteil? Schon möglich.

Ich strenge mich so noch mehr an, ich halte das, was ich zu empfinden, zu erahnen, zu entziffern glaube, nie für selbstverständlich.

Ja, wenn ich Ihnen von einem anderen Mann zu erzählen hätte, ist es möglich, ja wahrscheinlich, dass ich sein Verhalten in Bezug auf mein eigenes in einer vergleichbaren Situation analysieren würde, was ein großer Fehler wäre, nicht wahr, denn ich weiß inzwischen, dass ich mich dadurch, wie ich gewisse Gefühle empfinde, durch eben das Wesen dieser Gefühle von den meisten Männern unterscheide, während ich mit meinem tiefsten Herzen immer zu dem der Chefin vorgedrungen bin, wenngleich sie eine Frau war, wenngleich sie doppelt so alt war wie ich.

Verzeihen Sie mir diese kleine Angeberei, aber ich glaube mit einem gewissen Scharfsinn begabt zu sein.

Das war es, was die Chefin am Ende fürchtete, sie hat versucht, mich aus ihrer Nähe zu vertreiben, aber umsonst.

Gegen die Treue eines liebenden, leidenschaftlichen Menschen kommt man nicht an.

Ob sie das akzeptierte? Sich damit abfand? Ja, natürlich, sie liebte mich auch, auf ihre Weise.

Sie lächeln ohne Freundlichkeit, Sie fragen mich: Wie sieht die Kindheit einer Chefin aus?, in der Annahme, ich würde die Anspielung nicht verstehen, denn Sie halten mich für ungebildet.

Sie haben recht, ich habe in der Schule nicht viel gelernt.

Ich brauchte nur das Klassenzimmer zu betreten, und schon spürte ich eine grundlose Angst, die meine Blase zusammenzog und, was noch misslicher war, alles aus meinem Gedächtnis vertrieb, was ich tags zuvor zu Hause hineingestopft hatte, viele fleißige Stunden lang, voller Sorge und ängstlichem Bemühen, es gut zu machen, untadelig zu sein, und dann verschwand das kostbare Ergebnis meiner Anstrengungen binnen ein paar Sekunden, dann verwandelte der bloße Geruch des Klassenzimmers, Schweiß, Leder, Staub, Kreide, mein Hirn in einen heliumgefüllten Luftballon, bereit, aus meinem Schädel herauszufliegen, sobald eine Bewegung meinerseits es ihm erlauben würde, und ich kannte diese Bewegung, ich versuchte vergeblich, sie zu unterdrücken – diese Bewegung, die meine ganze zitternde, atemlose kleine Person dazu brachte, sich zusammenzukrümmen, wenn der Lehrer mit dem Blick suchte, wen er abfragen würde, ich wirkte wie ein Schuldiger, wie ein Drückeberger, der nicht einmal in der Lage war, stolz zu seiner Faulheit und seiner Langeweile zu stehen, während ich am liebsten geschrien hätte: Ich weiß alles ganz genau, ich kann alle Fragen beantworten!, und im gleichen Moment der Ballon meines Gedächtnisses, meiner Arbeit, meiner Intelligenz aufstieg, durch die Fensterscheiben drang, sich im Herbsthimmel zu all den anderen vor ihm entflogenen gesellte und auf dem Stuhl nur den Balg meines wahren Wesens zurückließ, zusammengesackt, winzig und dumm, erbärmlich.

Ich habe die meiste Zeit allein gelebt.

Seit die Chefin weg ist, lebe ich noch einsamer, auch wenn mein Apartment in Lloret de Mar in einer Woche mehr Leute zu Gast hat, als meine Einzimmerwohnung in Mériadeck in mehreren Jahren je gesehen hat, doch das ändert nichts daran, dass ich mich zutiefst einsam fühle und ebenso zutiefst zufrieden mit der Situation.

Ich habe gefunden, was man hier schnell Freunde nennt, und für diese spezielle Art von Freunden, denen irgendetwas Persönliches anzuvertrauen mir nicht in den Sinn käme und von deren Leben, bevor sie sich auf ihre alten Tage in Lloret de Mar niedergelassen haben, ich so gut wie nichts weiß, bin ich einer der Ihren, wenn auch deutlich jünger, sie schätzen mich, weil ich ihnen ähnlich bin, und mir bereitet es Vergnügen, sie zu sehen, bei endlosen Aperitifs auf ihrer oder meiner Terrasse zusammenzusitzen, die sich aufs Haar gleichen, über dem von innen beleuchteten, schillernden, prächtigen Swimmingpool, es bereitet mir Vergnügen, weil sie nichts von mir erwarten als einen angenehmen Umgang und weil weder sie noch ich unser Gedächtnis mit Geschichten belasten wollen, die zu erzählen wir uns gezwungen fühlen würden, wenn wir in Frankreich wären – das luxuriöse Exil hüllt uns in ein molliges Geheimnis.

Ich lese viel, ich glaube sogar, recht gebildet zu sein, wie man so sagt.

Ich koche nicht mehr, für mich selbst habe ich übrigens nie gekocht.

Gewiss hat die Chefin mir von ihrer Kindheit nur erzählt, was sie mir erzählen wollte, aber tun wir das nicht alle?

Ich habe ihre Tochter gut gekannt, die mir auch manche Orte beschrieben, die Bedeutung mancher Begebenheiten erklärt hat, und obwohl diese Frau die Vergangenheit der Chefin und ihre eigene immer nur erwähnt hat, um zu zeigen, wie sehr sie immer und überall zu kurz gekommen ist, habe ich genug konkrete und auf beiden Seiten übereinstimmende Einzelheiten zusammengetragen, um diese Zeit im Leben der Chefin, die ich nicht gekannt habe, wahrheitsgetreu nachzeichnen zu können.

Zuallererst will ich dies versichern: Die Kindheit der Chefin war nicht unglücklich, anders als die Leute zu behaupten wagen, die sich nur an Fakten und Daten halten, doch diese bedeuten nichts, fast nichts.

Sie glaubten das auch, dass sie von Geburt an gelitten hat?

Was machen Sie dann mit der Art und Weise, in der sie, trotz der Fakten und Daten, die Phänomene erlebt hat, die jungen Leuten von heute – aufgewachsen im Genuss einer guten Erziehung, mit Eltern, die Wert darauf legten, dass sie alles über das Leben wussten, ohne das geringste Leid zu erfahren – schrecklich und ungerecht, unverständlich und archaisch erscheinen müssen?

Ich will nicht sagen, dass sie das alles nicht sind, oder noch schlimmer.

Durchaus möglich, dass sie es sind.

Aber wenn die Chefin diese Fakten, die sie betreffen, anders erlebt hat, wäre es dann nicht eine Missachtung, nicht zu versuchen, sie unsererseits von genau dem Standpunkt aus zu beurteilen, auf den sie sich immer gestellt hat?

Sie ist es, die erlebt hat, wovon wir reden.

Und da die Chefin ihre ganze Kindheit lang, die unzweifelhaft von Armut, ja von Elend geprägt war, zahlreiche Gelegenheiten gefunden hat, sich zu vergnügen, und sich später sogar sagen konnte, sie sei glücklich gewesen wie ein gesundes kleines Tier, vollkommen im Einklang mit ihrem Umfeld und ohne jeden Wunsch, etwas daran zu ändern, müssen wir ihr ganz einfach glauben, wir dürfen sie nicht beleidigen, indem wir annehmen, dass sie diese ersten Jahre im Nachhinein mit einer Freude ausgeschmückt hat, die sie gar nicht enthielten.

Sie sagen sich, was ich mir früher auch gesagt habe: Es ist unmöglich, sich aufrichtig zu erinnern, dass man unter solchen Umständen ein fröhliches, glückliches Kind war, ich selbst wäre kein solches Kind gewesen und würde mich voller Schmerz an diese Zeit erinnern, mit dem Schmerz, den ich damals notwendigerweise empfunden hätte.

Also kann es ein solches Kind nicht geben, und die Chefin log oder täuschte sich, wie auch immer.

Nein, keineswegs. Ich bin mir sicher, dass sie nie etwas anderes als die Wahrheit gesagt hat.

Es ist an uns, uns anzustrengen, sie da, in diesem Glück, zu erreichen, in dem sie am Anfang lebte und das für uns so schwer vorstellbar ist.

Ja, es ist beinahe empörend.

Was für eine gute Kindheit ich doch hatte, sagte die Chefin, wenn sie von Sainte-Bazeille sprach, wo sie ihre ersten vierzehn Jahre verbracht hatte, wo ihre Eltern sich hier und da als Landarbeiter verdingten, sie überallhin mitschleppten, sie arbeiten ließen, sobald sie einigermaßen sicher waren, dass ihre Arbeitgeber nicht hinschauten, Kinderarbeit war schon damals verboten.

Und wie sie grub sie Rüben aus oder las Mais auf, immer bereit, auf ein vorher vereinbartes Zeichen ihrer Mutter alles fallen zu lassen, was sie in der Hand hatte, und irgendein Spiel vorzutäuschen, wenn jemand nahte, der sie hätte verraten können.

Ja, die Chefin war nach dem Krieg geboren, 1950 oder 51, genau habe ich das trotz all meiner Recherchen nie herausgefunden.

Ich habe mir das kleine Haus in Sainte-Bazeille einmal angeschaut, wo die Chefin versicherte die beste Zeit ihres Lebens verbracht zu haben, auch wenn sie nie dorthin zurückgekehrt ist und sogar mit Bedacht jeden kleinsten Umweg vermied, um es nur nicht wiederzusehen, wie etwa damals, als wir beide mit dem Auto von Bordeaux nach Grignols fuhren, um bei einem namhaften Züchter Mastenten zu kaufen, und ich der Chefin vorschlug, einen Abstecher nach Sainte-Bazeille zu machen.

Sie schwieg darauf eine so lange Weile, dass ich meinen Vorschlag wiederholte, weil ich dachte, sie habe mich nicht gehört, ich sprach, glaube ich, mit der unterdrückten, doch inbrünstigen, glücklichen und stolzen Erregung dessen, der nicht an der Vortrefflichkeit seiner Idee zweifelt, und ich warf einen Seitenblick auf die Chefin, sehr zufrieden mit mir, ich war so darauf erpicht, ihr zu gefallen, sie in jeder Hinsicht zu befriedigen, so begierig, ihr Freude zu bereiten, und sei es auf Kosten meiner eigenen, ich meine meiner unmittelbaren Freude, die mir gleichgültig war, denn damals hing meine Freude nur von derjenigen der Chefin ab.

Und während ihr Gesicht eine ungewöhnliche Ausgeglichenheit gezeigt hatte, seit wir Bordeaux über die Nationalstraße verlassen hatten, sah ich nun, dass es sich verfinstert hatte und dass sogar zwei kleine Zornesfalten um ihren Mund erschienen waren.

Das glasklare, silbrige, hochmütige Licht dieses Novembermorgens umriss den Kopf der Chefin, ihr zurückgekämmtes Haar, das sie im Nacken zu einem strengen Knoten zusammensteckte, ihren langen, geraden Hals, glatt und dicht wie ein junger Buchenstamm, so scharf, dass ich den flüchtigen Eindruck hatte, dass die Chefin nicht wirklich neben mir auf dem Beifahrersitz saß, sondern nur ihre bloße, relieflose Erscheinung, ohne Fleisch noch Leben, dabei anbetungswürdig und feierlich, so wie sie mir oft in meinen Träumen erschien oder wie ich sie an meiner Seite sah und spürte, wenn ich mich nach der Arbeit in meinem Zimmer wiederfand, allein und dank dessen doch nie wirklich allein.

Ein sehr straffer Knoten, ja, beinahe quälend für ihre armen Haare, die durch diese Behandlung mit der Zeit dünn und stumpf geworden waren.

Sie trug ihr Haar nie anders, und es ist wieder eine Auswirkung dieses verfluchten Fotos in der Sud-Ouest, dass Sie darüber staunen, weil sie darauf tatsächlich mit einer Wolke von dunklem, weichem Haar zu sehen ist, die ihren Schädel weniger einzurahmen oder zu umhüllen als zart um ihn herum zu schweben scheint, und da dieses Foto, wie ich Ihnen erklärte, ungerechtfertigterweise jeden Artikel über die Chefin begleitete, hatte sich im Geist all derer, die ihr nie begegnet waren und nicht einmal hoffen konnten, ihr je zu begegnen, die Vorstellung festgesetzt, dass sie es ihren Haaren erlaubte, sich als duftiger Schleier um ihre Schläfen, ihre Stirn herum zu entfalten, eine Freiheit, die sie ihnen in Wirklichkeit nicht ließ und von der ich nicht weiß, warum sie sie ihnen an jenem Tag, an dem dieses unauthentische Foto aufgenommen wurde, gewährt hatte.

Nein, ich bin nicht auf dem Foto, ich arbeitete damals noch nicht für die Chefin.

Aber ich weiß genau, dass sie ihr Haar immer zusammenband, und dies nicht nur aus den in der Küche selbstverständlichen Hygienegründen, ich weiß genau, dass sie lieber gar keine Haare gehabt hätte und diese, wenn das zu jener Zeit denkbar gewesen wäre, sogar eher abrasiert hätte, als sie zu quetschen und zu drangsalieren, wie sie es tat, indem sie sie in ein mehrmals gedrehtes Gummiband zwängte.

Sie wäre gern nichts als dieses Gesicht gewesen, wie es sich vor meinen Augen im grellen, kalten Novemberlicht abzeichnete, das durch die Autoscheiben fiel, sie hätte gern gehabt, dass sich ihre Kunst, da es nun mal sein musste, in der schlichtesten, strengsten und neutralsten Art verkörperte: in einem reinen Gesicht.

Nein, nein, darauf werde ich noch zurückkommen, es war ihr nicht gleichgültig, eine Frau zu sein. Davon erzähle ich Ihnen später.

Aber mit dem Gesicht hatte das nichts zu tun.

Sie hatte dort, in diesem fernen, fahlen Glanz, kein weibliches Gesicht und noch weniger, wenn ich so sagen kann, ein männliches.

Sie war die Idee eines Gesichts, das Emblem eines Gesichts, das im unparteiischen, gerechten Morgenlicht verkündete: Da meine Küche nun einmal durch menschliche Züge repräsentiert werden muss, sind dies diejenigen, die deren äußerste Einfachheit, ja Kargheit am besten zum Ausdruck bringen, denn diese Züge sind weder einschmeichelnd noch hübsch, noch geschmückt, sie sind jenseits aller Kategorien von Schönheit oder Hässlichkeit.

Deshalb bin ich mir sicher – auch wenn ich den gewiss zufälligen, einmaligen Grund nie erfahren habe, aus dem derjenige, der sie fotografierte, sie an diesem Tag mit gelöstem, ja tatsächlich fast stolz zur Schau getragenem Haar hat sehen können, auch wenn ich diesen Grund nie erfahren habe, da niemand mir je von den genauen Umständen dieser Fotositzung in der Mittagssonne und vor dem Restaurant, das doch um diese Uhrzeit voller Gäste sein musste, hat berichten wollen –, deshalb bin ich mir sicher, dass die Chefin es in der Folge bedauert hat, zusätzlich zu allem anderen dieses Haar gezeigt zu haben, das in gewisser Weise nicht zu ihr gehörte, das sie aus bloßer Konvention ertrug, das nicht im Geringsten mit dieser Essenz eines Gesichts zusammenging, die sie der Welt darbieten wollte.

Ich sah also, welche Verstimmung mein Vorschlag auslöste, nach Sainte-Bazeille zu pilgern, an den Ort, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte.

Ohne mich des geringsten Blickes zu würdigen, der ihre Worte abgemildert hätte, murmelte sie: Kümmre dich um deine Angelegenheiten.

Und ich konnte zwar nicht leugnen, dass sie recht hatte, doch der Schlag war deswegen nicht weniger hart für mein Empfinden, das immer übersteigert war, wenn es sich um die Chefin handelte.

Aus Dummheit, nicht aus Stolz, denn ihr gegenüber hatte ich keinen, sondern weil ich so benommen war, dass ich wohl dachte, mein wohlwollendes Beharren müsste sie dazu bringen, die Heftigkeit ihrer Antwort zu ermessen und diese ein Stück weit zurückzunehmen, fügte ich hinzu: Sie waren dort so glücklich, es könnte interessant sein, zu …

Sei doch still, sei still, du weißt nicht, wovon du redest!, rief sie gedämpft, mühsam beherrscht, und das, was ich erahnte von den Anstrengungen, die es sie kostete, ihren Ärger nicht in seinem vollen Maß in einem wütenden Schrei ausbrechen zu lassen, erschütterte mich ebenso sehr wie das, was sie gesagt hatte.

Ich murmelte reumütige Entschuldigungen, sie zuckte angespannt, gereizt mit den Schultern und hatte mit einem Schlag und durch meine Schuld allen Schwung verloren, den dieser Ausflug ihr verliehen hatte.

Sie fand ihn später wieder, als wir mit drei Kisten voll schöner Mastenten nach Bordeaux zurückfuhren, die sie mit einem Gelee aus weißen Feigen zu lackieren gedachte, um sie dann stundenlang bei sehr geringer Hitze unter einer Teighaube zu garen.

Aber ich habe ihre Schroffheit an jenem Morgen nie vergessen.

Als ich dann viel später aus eigener Initiative nach Sainte-Bazeille fuhr, ohne irgendjemandem davon zu erzählen, und nach einigem Herumfragen im Dorf schließlich das Haus fand, in dem sie aufgewachsen war, fragte ich mich, ob sie Angst gehabt hatte, das wiederzusehen, was ich in all seiner Armseligkeit entdeckte: weniger ein Haus als eine Hütte, direkt am Straßenrand zusammengeschustert auf einem mit halb herabhängendem Stacheldraht eingezäunten kleinen Grundstück, und auch wenn allem Anschein nach schon lange niemand mehr dort wohnte und die Fensterscheiben eingeschlagen waren, vielleicht von den Gleichen, die die Wände mit Tags und Graffiti bedeckt hatten, war doch klar ersichtlich, dass eine derartige Behausung für eine achtköpfige Familie (ja, die Chefin hatte fünf oder sechs Geschwister) diese Familie unter den ärmsten des Dorfes einstufte, ja sie sogar als die ärmste von allen kennzeichnete, zumal, wie die Chefin mir nebenbei einmal gesagt hatte, ihre Eltern nur Mieter gewesen waren auf diesem winzigen Grundstück aus aufgeschütteter Erde, die nie viel hergab, obwohl die Mutter sich abgeplagt hatte, einen Gemüsegarten anzulegen.

Die Chefin wäre verlegen gewesen, hätte sich geschämt, mir dieses Haus zu zeigen?

Nein, die Chefin schämte sich für nichts, wofür sie nicht verantwortlich war, und außerdem war ich, so jung, wie ich damals war, für sie so unwichtig, dass sie sich wohl kaum um mein Urteil oder meine Gefühle in Bezug auf sie scherte.

Ich denke eher, sie hatte Angst vor ihrem eigenen Mitleid angesichts des so himmelschreienden Unglücks ihrer Eltern, angesichts des Elends ihrer ganzen Familie.

Denn ihre Eltern, sagte die Chefin, hatten es immer verstanden, hatten immer Wert darauf gelegt, nicht etwa die Zahl und das Ausmaß ihrer Prüfungen zu mindern in den Augen ihrer Kinder, sondern diese zu lehren, diese Prüfungen als viel weniger interessant, also weniger schlimm zu betrachten, als was der gesunde Menschenverstand, in Sainte-Bazeille repräsentiert durch die Nachbarn und Lehrer, ihnen sagte.

So dass die Chefin den Mitleidsbekundungen, den mit Herablassung oder vorwurfsvoller Abneigung verschleierten Blicken stets den gesunden Optimismus ihrer Eltern hatte entgegenhalten können, der deren Art war, sich tapfer zu zeigen, ja sogar heldenhaft.

Sie rechneten immer damit, dass alles schon werden würde, und selbst wenn es einfach nur nicht schlimmer wurde, fanden sie, dass sie recht behalten hatten.

Deshalb hätte die Chefin, nachdem sie ihre Eltern so sehr geliebt, ihr Andenken mit solcher Sorgfalt gepflegt hatte und nachdem ihre Eltern selbst ihr Leben lang daran gearbeitet hatten, dass man sie nie bedauern konnte (oder nur mit einem allgemeinen Mitleid, das sie nicht persönlich meinte, das sie nicht berührte), deshalb hätte die Chefin gemeint, sie würde das Andenken ihrer Eltern verletzen, wenn sie angesichts der Behausung von Sainte-Bazeille nicht umhingekommen wäre, ein entsetzliches Mitleid zu empfinden, auch wenn das ihre viel geringer gewesen wäre als das, welches ich angesichts dieses Bretterhaufens empfand, in dem ihre Eltern die Glanzleistung vollbracht hatten, ihr eine strahlende Kindheit zu schaffen oder vielleicht die Illusion einer strahlenden Kindheit, aber kommt das nicht aufs Gleiche heraus, da es sich ja um nichts als Erinnerungen handelt.

Ihre Geschwister haben, soweit ich weiß, nie von dieser Zeit gesprochen.

Sie waren zurückhaltende Menschen, die nicht sehr redegewandt waren und sich außerdem nie die Freiheit genommen hätten, eine andere Sicht zu vertreten als die Chefin, der Einzigen unter den Geschwistern, die es zu etwas gebracht, die Geld verdient hatte.

Wenngleich sie jünger waren, sind sie alle vor ihr gestorben (Ingrid ausgenommen), zwei sollen sich umgebracht haben, die Chefin sprach ihre Namen nie aus, was hätte sie tun können?

Was konnte sie tun, bei dem arbeitsreichen Leben, das sie führte, fast ohne jeden Urlaub und mit den Sorgen, die das Leben einer Köchin ihres Niveaus nicht durchsetzen, nicht begleiten, sondern vielmehr dessen Substanz selbst sind, was konnte sie für sie tun, außer sich ein bis zwei Mal im Jahr nach ihnen zu erkundigen und ihnen, wenn sie darum gebeten wurde, gewisse Summen zu leihen oder zu schenken, stets unter Einhaltung einer sowohl geographischen als auch moralischen Distanz, da es aus all diesen Gründen und wahrscheinlich noch anderen ausgeschlossen war, dass sie versuchte, die Probleme genauer zu durchdringen, die ihre Geschwister dazu trieben, sie um Hilfe zu bitten, und von denen die beiden Jüngsten sich am Ende lieber ganz befreiten, der eine, indem er sich vor einen Zug warf, der andere, glaube ich, indem er sich erhängte?

Sie hat sie nie fallengelassen, sie hat überhaupt nie irgendjemanden im Stich gelassen.

Aber was hätte sie noch für sie tun können?

War es nicht schon viel, großzügige Schecks auszustellen?

Ohne je Rechenschaft zu fordern, ohne nach Gründen zu fragen, und selbst wenn dieser Takt daher rührte, dass sie bestrebt war, sich wiederkehrende, trostlose, unlösbare Probleme vom Leib zu halten, so wussten ihre Geschwister doch nichts davon, sie konnten sich nur freuen, dass sie ihnen gegenüber zugleich so diskret und so freigiebig war.

Sie haben sich nie beklagt. Gewiss nicht, da wären sie auch schön dumm gewesen.

Sie haben gehört, was die Tochter der Chefin behauptet hat, ohne viel zu wissen, und wie es oft der Fall ist, glauben Sie es gerne, wenn jemand schlechtgemacht wird, statt zu versuchen, die Person, die man mit Kritik überhäuft, bis in ihr Schweigen hinein zu verstehen.

Darauf werde ich zu gegebener Zeit zurückkommen.

Die Chefin hätte sich niemals damit gebrüstet, jemandem Geld gegeben zu haben, sie hätte es niemals auch nur zugegeben, um sich zu verteidigen, denn letztlich war es ihr lieber oder weniger unangenehm, dass man nichts davon wusste, dass man sie für hartherzig hielt, als kenne sie keine Geschwisterliebe.

Dass man sich in ihr täuschte, ohne sie irgendetwas zu fragen, das war ihr recht.

Dass es allerdings ihre eigene Tochter war, die alle Welt in die Irre führte, um sich für irgendeinen Affront zu rächen, das muss sie verletzt haben, ja, tödlich verletzt, denke ich.

Aber diese Tochter fühlte sich vom Leben selbst gekränkt, sie war seit jeher nichts als ein Opfer des Verhängnisses, geboren zu sein.

Sie hatte keinerlei Mut. Sie liebte sich zu sehr. Davon werde ich Ihnen später erzählen.

Wie dem auch sei, genau wie die Chefin sich entschieden geweigert hatte, ihr Haus in Sainte-Bazeille wiederzusehen, um nicht Gefahr zu laufen, in ihrem Herzen ihre tapferen, würdigen, heiteren Eltern zu verraten, will ich Ihnen ihre Kindheit so schildern, dass ich niemals fürchten muss, sie in meinem Herzen zu verraten, sie, die ihren Eltern so dankbar dafür war, sie in Freude großgezogen zu haben.

Die Schule besuchte sie unregelmäßig, wenn sie dazu Zeit hatte.

Es war für sie, wenn man sie hörte, eine Fron, während die Arbeiten, die sie für ihre Eltern erledigte, so ermüdend und eintönig sie auch waren, sie immer mit der Freude erfüllten, sich nützlich und folglich lebendig zu fühlen.

Ja, wahrscheinlich musste sie, wenn sie im Klassenzimmer saß und an ihre Eltern dachte, die in diesem Moment ohne sie auskommen und noch härter, noch länger arbeiten mussten, damit sie es sich in der Schule bequem machen konnte, um irgendetwas zu erreichen, das ihr nicht klar war, denn sie fehlte zu oft, um irgendeinen Sinn in dem zu erkennen, was man ihr beibrachte – wahrscheinlich musste sie, unter diesen Umständen von ihren Eltern getrennt, der Schule gegenüber Ungeduld und Abwehr empfinden, zumal sie schmerzlich spürte, wie unmöglich es für die Lehrenden war, auch wenn manche sich redlich bemühten, sie zu lieben, mit ihrem abweisenden, gelangweilten, verstockten Ausdruck, mit ihren fleißigen, aber so merkwürdig sorglosen, mit allem zufriedenen Eltern, weder arrogant noch demütig, aber, so konnte man sagen, unerklärlich leichtfertig.

Sie wollte, dass man sie liebte, und vor allem, dass man ihre Eltern liebte.

Dann hätte sie ihr Bestes gegeben, sogar mehr als das, das Beste von jemandem in ihr, der sich noch nie bemerkbar gemacht hatte, dessen geheime, verborgene Existenz sie wohl nicht einmal ahnte, bis sie das Kochen entdeckte.

Nein, Sie haben recht, sie hätte es ohne jeden Schmerz ertragen, nicht geliebt zu werden.

In diesem Punkt bin ich mit Ihnen einig.

Ich bleibe jedoch dabei, es war für sie unerträglich, dass man ihren Eltern weder Zuneigung noch Bewunderung entgegenbrachte und dass bei den seltenen Malen, wo sie in die Schule einbestellt wurden, der außergewöhnliche, funkelnde Charakter ihrer Persönlichkeit den unangenehmen Bemerkungen des Lehrers nicht sofort Einhalt gebot, diesen Bemerkungen, die er ihnen zudachte und tatsächlich an sie richtete, als hätte er fahrlässige, ungeschliffene, gierige Eltern vor sich, die keine Ahnung von den Fähigkeiten ihres Kindes hatten oder sich nicht darum scherten.

Sie sagten im Übrigen nichts dazu, sie gingen genauso gleichmütig wieder, wie sie gekommen waren, sie hatten ihre Pflicht erfüllt, fügsam, doch undurchdringlich, weit abseits von der Schule wie von jeder Institution, ja, nach außen hin ergeben, denn sie waren zutiefst friedfertig, hatten jedoch, ohne sich dessen bewusst zu sein, einen widerspenstigen Kern, wie zwei kleine Esel in ihrem unergründlichen Eigensinn.

Und es hätte genügt, dass ein Lehrer bemerkte, was ihre Eltern hinter ihrer Arme-Leute-Fassade an Bewundernswertem verbargen, dachte die Chefin, um sie dazu zu bringen, in der Schule mit dem gleichen Eifer, der gleichen unermüdlichen Intelligenz, der gleichen Findigkeit zu arbeiten, mit denen sie ihren Eltern auf dem Feld half, wo sie schon als kleines Kind verschiedene ehrliche Verfahren erfunden hatte, um die Müdigkeit oder die Schmerzen zu mindern, die man sich auf die Dauer durch eine falsche Haltung einhandeln konnte.

Aber da kein Vertreter der Schule sie je zu ihren Eltern beglückwünschte oder je die scharfen Worte zurückhielt, die man meinte mit Fug und Recht an diese richten zu können (bezüglich des häufigen Fehlens der Chefin und der eigenwilligen Entschuldigungsbriefe, die sie übrigens selbst verfasste und unterschrieb, da sie ihre Eltern damit nicht belästigen wollte), betrachtete sie sich schließlich als Feindin der Lehrer, der Direktorin und all derer, Schüler eingeschlossen, welche die Welt der Schule für die der Wahrheit, der Richtigkeit hielten und weder die Wahrheit noch die Richtigkeit der seltsamen Welt ihrer Eltern anerkannten.

Ja, sicher, wäre die Chefin heutzutage zur Schule gegangen, so wären ihre Lehrer diesen rätselhaften Eltern mit Offenheit, ohne Vorurteile und ohne Zorn und Empörung begegnet, sie hätten die stoische Konsequenz und die Güte erkannt, mit der die Eltern der Chefin, trotz ihrer zahlreichen Schwächen, ihre Kinder erzogen, sie hätten sich bemüht, sich auf die Ebene dieser widerständigen, ungezähmten und doch vollkommen friedlichen Art zu begeben, in der sie, die Eltern, in Gesellschaft lebten, sie hätten versucht, all das zu ergründen, und wären gut damit gefahren, sie hätten selbst etwas dabei gelernt und wären vielleicht daran gewachsen, und die Chefin hätte nicht das Gefühl gehabt, ihre Eltern zu verraten, wenn sie Geschmack an der Schule fand, wenn sie gar akzeptierte, Teil von ihr zu sein.

Ja. So ist es aber nicht gewesen.

Als sie vierzehn wurde, hörte sie endgültig mit der Schule auf, sie konnte lesen, schrieb jedoch nur mit Mühe, dagegen konnte sie gut rechnen, für Zahlen hatte sie eine natürliche Begabung.

Auf Empfehlung eines Bauern, für den sie manchmal arbeiteten, schickten die Eltern die Chefin nach Marmande in eine Familie aus der Verwandtschaft dieses Mannes, denn es war Winter und sie hatten selbst Mühe, Arbeit zu finden, diese Leute aus Marmande suchten ein Dienstmädchen, und so entdeckte die Chefin das Leben in der Stadt, die seltsam ironische Autorität einer unbekannten Hausherrin, die für sie neuartigen und verwirrenden Beziehungen mit den beiden anderen Angestellten, einer Köchin und einem Gärtner.

Über diese beiden konnte die Chefin noch Jahrzehnte später immer nur mit einem schiefen kleinen Lächeln sagen: Die haben mir nichts geschenkt.

Und sie wiederholte es, sie sagte diesen Satz immer zweimal, doch beim zweiten Mal war das verzerrte Lächeln verschwunden, und ihre Lippen bogen sich gravitätisch nach unten: Ja, die haben mir nichts geschenkt.

Es hat lange gedauert, bis ich genauer herausfand, auf welche Weise die Köchin und der Gärtner die Chefin schlecht behandelt hatten, und ich muss gestehen, in meiner Ahnungslosigkeit hatte meine besorgte, dramatische Fantasie sich die Chefin, diese winzige Person von nicht mal fünfzehn Jahren, in einer Situation vorgestellt, in der die schlichte Vergewaltigung eines Mädchens von den Protagonisten, vom Opfer selbst mit Fatalismus erzählt oder erinnert würde wie eine notwendige Etappe auf dem Weg ins Erwachsenenleben.

Ja, ich dachte: Das würde ihr ähnlich sehen, zu sagen, man habe ihr nichts geschenkt, wenn man sie mit vierzehneinhalb vergewaltigt hätte, und ich war so wütend auf den Gärtner und die Köchin der Clapeaus, dass ich gern ein paar Nachforschungen angestellt hätte, um sie wiederzufinden, um sie bei ihrem alten Haarschopf zu packen und sie ihrem Verbrechen ins Gesicht sehen zu lassen.

Ja, so war ich, überspannt vielleicht, aber vor allem verzweifelt, dass ich die Chefin nicht von Anfang an hatte beschützen können, von dem Moment an, da der Bus sie mit ihrem armseligen Pappkoffer aus Sainte-Bazeille zu den Clapeaus nach Marmande gebracht hatte, wo sie sich der Gier, der Verderbtheit, der zur Lebenskunst erklärten Lüge ausgesetzt fand, sie, die ihre Eltern mit der ursprünglichen Unschuld umhüllt hatten, die ihnen eigen war, die ihnen nicht einmal bewusst war, die für sie so natürlich war wie die Luft, die sie atmeten.

Nein, ich habe diese Ermittlungen, um ihre Spur wiederzufinden, nicht angestellt.

Denn ich habe so lange vorsichtig, aber beharrlich weitergefragt, bis die Chefin mir ihr Leben in Marmande schließlich im Detail erzählt hat.

Sie hatte übrigens nichts zu verbergen, sie hat nur Jahre gebraucht, um zu begreifen, wie sehr mich das alles interessierte, was sein Gutes hatte, aber nicht nur, denn da sie es dann wahrnahm, aber nicht verstehen konnte, war sie misstrauisch wie gegenüber allem, was sich ihrem Begriffsvermögen entzog, sie überlegte, was sie mir sagen sollte, und zog es manchmal noch vor zu schweigen.

Aber sie zögerte nicht im Geringsten, mir zu erzählen, dass die Köchin und der Gärtner der Clapeaus sie von oben herab behandelt und so getan hatten, als bemerkten sie ihre Anwesenheit nicht einmal, obwohl die Köchin sogar ihre Kammer mit der Chefin teilen musste.

Mit oder ohne vorherige Absprache hatten sie beschlossen, den Blick um ihre Gestalt schweifen zu lassen, ohne ihn je auf sie zu richten und auch ohne durch sie hindurchzuschauen, so dass sie das Gefühl hatte, sich in einen unscharfen Klumpen toten Fleischs verwandelt zu haben, der das Auge wie den Fluss der Gedanken störte.

Sie redeten nie mit ihr, und da die Clapeaus ihre Bediensteten nur anzusprechen pflegten, um zu tadeln oder Befehle zu erteilen, musste die Chefin sich daran gewöhnen, kein Wort zu sagen, sie, die bei ihren Eltern immer hatte schwatzen dürfen, wie sie sagte, und sogar einen kindlichen Stolz entwickelt hatte auf ihre Fähigkeit, unermüdlich zu reden und damit ihre Familie, in der wenig Worte gemacht wurden, zu unterhalten und zu belustigen.

Sie fragen mich, Sie fragen sich selbst, warum die Köchin und der Gärtner der Clapeaus so taten, als würden sie in dem neuen Dienstmädchen ein bloßes Hindernis für ihren Blick sehen, wie sie nicht merken konnten, dass sie nur ein niedergeschlagenes, einsames Kind war, gerade erst der beschützenden, warmen Umgebung entrissen, die alles war, was sie kannte, Sie fragen sich und mich, warum sie sich so gemein verhielten, obwohl es doch zwischen der Chefin und ihnen keinerlei Konkurrenz geben konnte.

Tatsachlich sollte sich in der Folge zeigen, dass die Köchin der Clapeaus nicht unrecht hatte mit ihrer Feindseligkeit gegenüber dieser kleinen Person, für die man sie zwang, in ihrer schon recht engen Kammer Platz zu machen.

Nur konnte sie davon absolut nichts wissen, als die Chefin bei den Clapeaus anfing, sie konnte absolut noch nicht wissen, dass sie nicht unrecht hatte.

Vielleicht hat sie es geahnt?

Ich weiß es nicht. Die Chefin wusste es auch nicht.

Was hatten sie denn am Anfang gegen mich?, fragte sie mich. Später verstehe ich es, aber ganz am Anfang …

Hatte die Chefin irgendetwas an sich, das sie widerwärtig oder furchterregend machte?

Trug sie in das ganz normal korrupte, ganz gewöhnlich kleingeistige Haus der Clapeaus die kompromisslose Reinheit herein, die im Haus ihrer Eltern und sogar im Gesicht ihrer Eltern vorherrschte, wie die Chefin mir schon früher gesagt hatte – sie fragte sich nach so langer Zeit, während sie die wundersame Arglosigkeit ihrer Eltern in ihrer Erinnerung vielleicht übersteigerte (ich bin mir nicht sicher, ich weiß es tatsächlich nicht, ich habe sie nicht gekannt), sie fragte sich immer ratloser, beinahe verzweifelt und entrückt, was eine solche Arglosigkeit und eine solche Lebensfreude ermöglicht hatte bei Leuten, denen es derart an allem mangelte, was das Glück der anderen ausmacht?

Hatte sie, die Chefin, ohne es zu wissen oder zu wünschen, etwas von dieser unerträglichen Integrität in das Haus der Clapeaus hineingetragen?

Sah man sie auch in ihrem Gesicht, diese Wahrhaftigkeit, die das Gesicht ihrer Eltern ruhig und beständig erhellte?

Ich weiß es nicht, die Chefin wusste es nicht.

Man muss sagen, dass die Clapeaus selbst sich nicht besonders wohl fühlten der Chefin gegenüber, obwohl ihr Gesichtsausdruck, den sie von ihren Eltern hatte, nie zu werten schien, so dass die Befangenheit, die sie in ihrer Gegenwart verspüren mochten, nicht davon herrührte, dass sie sich von einem strengen Urteil betroffen gefühlt hätten (was ihnen vollkommen gleichgültig gewesen wäre), sondern von den neuen Fragen, zu denen der besondere Ausdruck dieses Kindergesichts sie zwang, Fragen in Bezug auf ihre eigene Rechtschaffenheit oder vielmehr deren Fehlen oder Unzulänglichkeit.

Ich rede nicht von Geld, nicht einmal von Verhaltensweisen, ich rede von der Aufrichtigkeit der Seele, ich rede von der nackten Tatsache, eine aufrichtige Seele zu haben und dies zu spüren.

Es zu spüren, nicht es zu wissen, denn auf keinen Fall darf in dieser Angelegenheit der Stolz ins Spiel kommen.

Später hat die Chefin immer gedacht, ihre Talente, ihre Intuition und die außergewöhnliche Karriere, die daraus folgte, hätten sie um ihr damaliges Gesicht gebracht, sie hat immer gedacht, ihr Erfolg und ihr Ehrgeiz hätten sie weit fortgetragen von den reinen Gefilden, die ihre Eltern bewohnten, und das hat sie immer mit Schmerz und tiefer Wehmut erfüllt.

Das Leben bei den Clapeaus, in diesem Klima voll eisiger Feindseligkeit auf der einen Seite, voll Befangenheit und Barschheit auf der anderen, wurde schnell so schmerzlich für sie, dass sie nach sechs oder sieben Wochen beschloss davonzulaufen, zu ihren Eltern nach Sainte-Bazeille zurückzukehren, ohne einen Augenblick daran zu zweifeln, dass diese ihre Klagen, ihr Unglück zärtlich und verständnisvoll aufnehmen würden.

Sie bildete sich ein, sie könnte ganz einfach das arbeitsreiche, fröhliche Leben wiederaufnehmen, das der Aufenthalt bei den Clapeaus aus nichtigen Gründen unterbrochen hatte.