Titelbild
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www.malik.de

Mit 35 farbigen Abbildungen und einer Karte

ISBN 978-3-492-96569-9

September 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Redaktion: Fabian Bergmann, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Covermotiv: Sören Zehle

Bildteilfotos: Sören Zehle, außer Nr. 13 (Sören inmitten der Wüste)

Karte: Marlise Kunkel, München

Litho: Lorenz & Zeller, Inning a. A.

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Inhalt

Karten

Prolog

Das geheime Gatsby

Die Skyline des Heilands

Jesus und Lenin

Der Herr des Weinbergs

Das erste Wunder

Von Zimmermännern und Dschinns

Die Zähne des Lahvac

Verklärungsbedarf

Die Taufe am Jordan

Putins Bruder

Lina Magdalena

Jesus Christus Superstar

Der große Abuna

Das zweite Wunder

Die Lichtung des Lahvac

Die Grenze der Bibel

Die Bewohner des Hermons

Das Tal der Tränen

Familienbande

Der Fischer vom See Genezareth

Ramadan, habibi

Widerstand im Zeichen des Biers

Die Axt am Baum

Zwei Welten in keinem Land

Erinnerung und Identität

Der Deutsche, der Garten und das leere Grab

Das tote Mädchen

Epilog

Dank

Bildteil

Prolog

8. Juli 2016, Zgheib-Militärbasis, Sidon, Libanon

Mehrere Rollen NATO-Draht schirmen die Straße vom restlichen Verkehr ab. Ein Panzer steht in der Einfahrt, das Rohr direkt auf uns gerichtet. Ein Typ in Uniform sitzt am Geschützturm und raucht eine Zigarette. Hinter ihm an einer Schranke stehen weitere Soldaten. Von ihren Schultern hängen Gewehre.

»Was wollt ihr hier?«, fragt einer von ihnen auf Englisch.

»Wir brauchen eine Genehmigung, um in den Süden des Landes zu kommen«, antworte ich so naiv wie möglich. »Uns wurde gesagt, wir sollen uns an euch wenden.«

»Wer hat das gesagt?«

»Freunde. Im Hostel.«

Der Soldat winkt uns zu einem weiß getünchten Empfangshäuschen, wo ein schlecht gelaunter Beamter hinter einem abgewetzten Schreibtisch unsere Pässe kontrolliert.

»Telefone?«, fragt er barsch. »Abgeben!«

Wie ziehen unsere Handys aus der Tasche und händigen ihm damit unsere einzige Sicherheit aus. Sein Blick fällt auf unsere Flipflops.

»Was sind denn das für Schuhe? Das sind keine Schuhe! Habt ihr andere dabei?«

Ich schüttle den Kopf.

»Ich mag eure Schuhe nicht. Die werden Probleme bereiten. Besorgt euch andere Schuhe!«

»Wir haben kei…«

»Dann haut ab!«

Ich blicke zu Sören, er blickt zurück. 12 000 Kilometer, Hamburg–Tel Aviv–Hamburg und dann zurück in den Nahen Osten. Wochen voller Recherchen, je ein zweiter Reisepass, ein kompletter Gepäckwechsel, und das alles, nur um jetzt von einem mies gelaunten Typen mit schlecht gestutztem Schnurrbart wegen unserer Flipflops abgewiesen zu werden. Danke, Jesus! Hätten sich die Torwachen in Jerusalem wegen deiner Sandalen so angestellt, hätte sich deine Botschaft nie verbreiten können.

»Gibt es wirklich keine Möglichkeit, mit diesen Schuhen …«, setze ich an, doch der Beamte grätscht dazwischen: »Hört zu: Entweder ihr steht hier jetzt noch eine Weile rum, und ich lasse euch von den Jungs da draußen abführen oder ihr besorgt euch von irgendwoher vernünftige Schuhe und kommt morgen wieder!«

Wir treten auf der Stelle. Morgen wollen wir uns bereits auf dem Weg in die Berge befinden. Kurz überdenke ich unsere Möglichkeiten. Dann schultere ich meinen Jutebeutel und mache mich schleunigst auf den Rückweg nach Beirut.

Knapp drei Stunden später bin ich wieder da. In der Hand trage ich meine Nikes und Sörens schwere Wanderstiefel, die auf beinahe 400 Kilometern in ehrlichem Männerschweiß durchgewalkt wurden. Sören, der im Schatten einer Pinie gewartet hat, hebt den Blick. Seit das Display seiner Kamera kaputt ist, sieht er beim Sichten der Aufnahmen immer so aus, als würde er sehr konzentriert seine Füße fotografieren.

»Der Geruch Ihrer Schuhe hat Ihr Kommen bereits angekündigt, Sir«, begrüßt er mich. »Shall we?«

Ich nicke.

Diesmal bereitet uns der Beamte keine Probleme. Wir geben unsere Handys und Jutebeutel ab, dann werden wir ins Lager geleitet. Militärfahrzeuge und aufgeschichtete Sandsäcke. Überwachungskameras, derbe Jungs mit Maschinengewehren. Ein hagerer Kerl in Flipflops führt uns hinter das Hauptgebäude zu einem schlecht klimatisierten Container, in dem wir erwartet werden.

Wir sitzen auf einem mit schwarzem Kunstleder überzogenen Drahtgestell. Zwei Schreibtische, Furnierholz, darüber ein sich träge drehender Ventilator, der den Muff von zu oft geatmeter Luft im Raum verteilt. Vor uns ein Mann, dessen aufgesetztes Lächeln nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er in seiner Freizeit wahrscheinlich gerne Menschen frisst.

»Pässe?«, blafft er, während sein Kollege im hoffnungslosen Versuch, eine Fliege zu erschlagen, eine zusammengerollte Zeitschrift durch die Luft schwingt.

»Deutsche, ja?« Er wirft uns einen misstrauischen Blick zu. »Und ihr wollt in den Süden? Was habt ihr da vor?«

Jetzt bloß nichts über Israel sagen, denke ich. So, wie es uns eingebläut wurde: Kein Wort über Israel und Palästina.

Das geheime Gatsby

»Sie müssen doch Gatsby kennen.«

F. Scott Fitzgerald

16. Mai 2016, Ben Gurion Airport, Tel Aviv, Israel

Sören und ich stehen vor einer Scheibe aus Panzerglas, die uns und unsere Pässe voneinander trennt. Geschäftig dreinblickende Reisende schauen auf ihre Uhren, schreiende Kinder und ungeduldige Blicke rempeln uns an. Durch einen Spalt unter der Scheibe sprechen wir mit zwei Grenzbeamten.

»Zum ersten Mal in Israel?«, fragt ein junger Mann in dunkelblauer Uniform durch den Schlitz.

»Ja«, antworte ich.

»Ihr gehört zusammen?«

»Jupp.«

»Wie lang bleibt ihr?«

»Zwei Monate.«

»Was macht ihr?«

»Wir wollen so nah wie möglich an der historischen Route Jesu entlangwandern.«

Er tippt etwas in seinen Computer. »Wandern? Wieso wandern? Es ist heiß!«

»Weil Jesus auch gewandert ist. Kein Auto, kein Führerschein. Die hatten ja nichts …«

Der Beamte lacht nicht. »Und wo wandert ihr lang?«

»Wir beginnen in Bethlehem. Von dort fahren wir nach Nazareth und wandern am See Genezareth entlang bis zum Hermon an die Nordgrenze. Von da aus dann zurück nach Jerusalem.«

Der junge Mann berät sich kurz und mit ernsten Blicken mit seiner Kollegin, dann schaut er wieder zu uns. »Und warum kommt ihr dafür nach Israel? Warum fahrt ihr nicht in ein anderes Land?«

Ich zögere. »Na ja … In England auf den Spuren Jesu zu wandern wäre nicht sehr klug, oder?«

Ein paar ruppig geschriebene Notizen mit dem Kugelschreiber, und abschließend noch genau vier Fragen an meinen Begleiter:

»Du heißt Sören?«

»Ja.«

»Wie heißt dein Vater?«

»Peter.«

»Und dein Großvater?«

»Hans-Joachim.«

»Wieso heißt du dann Sören? Das ist kein deutscher Name!« Der Beamte macht ein Gesicht, als hätte er ihn gerade bei einer Straftat überführt.

Sören schaut verdutzt. Er streicht sich das lange Haar zurück. »Also … wir kommen aus Norddeutschland. Da macht man so was. Wir sind Wikinger da oben, wissen Sie?« Wobei er offenlässt, ob er mit »da oben« den Norden oder seinen Kopf meint.

Fünf Minuten später befinden wir uns auf dem Weg zum Gepäckband. »Nice«, flüstert Sören. »Wikinger ziehen immer.«

Das Sammeltaxi, das uns in die Jerusalemer Altstadt bringen soll, teilen wir uns mit einigen orthodoxen Juden. Schläfenlocken, weiße Hemden, dunkle, breitkrempige Hüte. Ich schäme mich dafür, wie neugierig ich sie anstarre.

Die Ledersitze sind von Brandflecken durchlöchert, durch die Fenster pfeift Wind herein. Dörfer fliegen vorbei, deren Namen auf den Straßenschildern in drei Sprachen ausgewiesen sind. Die arabischen Schriftzeichen erinnern mich immer an einen Schwerttanz. An den Hängen der Hügel wachsen Olivenbäume, grau und knorrig, seit Tausenden von Jahren. Manchmal auch Kakteen. Dann verändert sich die Landschaft, und wir passieren Zäune, NATO-Draht und rauchende Soldaten. Die westlichen Ausläufer Jerusalems.

Unser Fahrer setzt uns am Damaskustor ab. Eine Gruppe Polizisten bewacht den Verkehrskreisel davor, ein Scharfschütze hockt zwischen den Zinnen der Altstadtmauer. Im Licht der untergehenden Sonne sieht es beinahe schön aus.

Die Altstadt ist in vier Bezirke aufgeteilt: das muslimische Viertel, das jüdische Viertel, das armenische Viertel und das christliche Viertel. Wir durchwandern die von Millionen Füßen blank gebohnerten Gassen, riechen Baklava und Falafel, und just als wir unsere Herberge erreichen, knackt irgendwo ein Lautsprecher, und über die geschäftig klingende Geräuschkulisse aus fremden Sprachen, Souvenirgeklimper und Taubengurren erhebt sich das übersteuerte Lied eines Muezzins, das von einem Minarett gegenüber unserer Unterkunft schallt.

Das »Österreichische Hospiz zur Heiligen Familie« liegt im muslimischen Viertel. Als sichtbare Präsenz der Habsburger wurde es 1856 im Heiligen Land erbaut, diente als Pilger-, dann als Waisenhaus, später als Hospital und schließlich wieder als Pilgerhaus. Kaiser Franz Joseph war zu Besuch, der jordanische König Hussein und nun wir, die wir uns den Reisestaub von den Hosen klopfen und von der Veranda des Hospizes das Treiben der jahrtausendealten Stadt bestaunen.

Anschließend machen wir uns auf schnellstem Weg zurück in die Stadt, denn wir haben noch einen Termin: Chris, der Freund eines Freundes, erwartet uns im »Gatsby«. Eine angesagte Cocktailbar, die versteckt hinter einem anderen Café liege, welches wiederum in einer Parallelstraße der Jaffa Street sei. Zweimal laufen wir an besagtem Café vorbei, bis Chris selbst uns an der Schulter packt und erklärt, dass wir schon beim ersten Mal richtig gewesen seien. Er trägt einen ansehnlichen Fünftagebart und einen Bauch, der nicht groß genug ist, um ihn als dick zu bezeichnen. Er führt uns über die Terrasse des Cafés, an deren Ende wir durch eine schäbig aussehende Tür in einen schwach ausgeleuchteten Raum treten.

Ein junger Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart steht an einem Tresen aus dunklem Tropenholz. An der Decke hängen milchige Pub-Lampen, der Boden ist mit rotem Teppich ausgelegt. Überall Bücherregale. Die gesamte Einrichtung zitiert den dekadenten Wohlstand der Roaring Twenties, und man wartet nur darauf, gleich Leonardo DiCaprio oder Tobey Maguire hereinkommen zu sehen. Das einzige Problem: Es ist keine Bar. Es gibt keinen Zapfhahn, keine Spirituosen, nur den Typen mit dem Schnurrbart, die Bücher an der Wand und eine kleine silberne Tischglocke, die auf dem Tresen steht und darauf wartet, gedrückt zu werden.

»Die Jungs gehören zu mir«, erklärt Chris. Der Rezeptionist betätigt die Klingel, das Bücherregal vor uns schwingt zur Seite, und wir treten ein.

Das »Gatsby« wirkt wie ein geheimer Klub des schönen Stils. Weiße Wände, mit Marmor ausgekleidet, dahinter diffuse Lichtquellen, in deren Schein alles weich und attraktiv aussieht. Die Winkelgasse der Boheme. Die Bar im Jugendstil, an der Rückwand ein großer Spiegel, der von Spirituosen in allen Variationen verdeckt wird. Die männlichen Gäste tragen Hosenträger und Hut, die weiblichen meist Cocktailkleid und Federboa. Die Getränke werden hier designt. Sie haben Namen mit zu vielen Silben und werden in ausgefallenen Gläsern mit dazupassenden Eiswürfeln serviert.

Viele Frauen kommen und umarmen Chris, er unterhält sie charmant und untermalt seine Sätze mit kleinen Gesten der Finger. Wie nebenbei berichtet er uns, dass er vor zwei Tagen einen Anruf vom Militär erhalten habe. Er solle sich als Reservist bereithalten, die dritte Intifada sei in vollem Gange. Gerade heute Morgen sei wieder jemand mit einem Messer vor dem Damaskustor attackiert worden. Daher der Name: Messer-Intifada.

Ich zucke zusammen. Meine Frage, wie beunruhigend die Lage sei, wischt Chris mit einem Wink beiseite. »Wir haben die beste Armee der Welt. Wenn sie uns angreifen, schlagen wir zurück!«

»Aber das schützt doch nicht vor den Angriffen an sich.«

Chris nippt an seinem Cocktail. Gelassen erwidert er: »Angst ist etwas, womit du hier leben musst. Am besten, du ignorierst sie. Dann geht sie irgendwann von allein.« Er schnipst, und die Angst verpufft. Nach kurzem Überlegen fügt er hinzu: »Und Gras. Gras hilft auch. Wir kiffen wie die Idioten.«

Als Sören und ich zu unserem Hospiz in der Altstadt zurückkehren, kann ich den Scharfschützen auf der Mauer nicht mehr sehen. Ein paar Katzen rascheln in verschiedenen Müllhaufen, ansonsten treffen wir keine Seele. An der Rezeption trägt ein trauriger Jesus am Holzkreuz auch heute Abend das Leid der Welt. Ich sage ihm gute Nacht, um ihn aufzuheitern, dann folge ich der Treppe ins Untergeschoss und schlafe zum urigen Sound knarzender Betten ein.

Aber was hat das alles jetzt mit Jesus zu tun?

Ich komme aus einer relativ christlichen Familie. Für norddeutsche Verhältnisse wahrscheinlich sogar sehr christlich. Ich war in einem evangelischen Kindergarten und habe in mehreren Krippenspielen verschiedene Schafe mit Bravour verkörpert. Einmal hatte ich sogar eine Sprechrolle: »Oh, seht, ein Stern! Was hat er wohl zu bedeuten?« Sitzt bis heute. Die Kinderbibel habe ich wie das Sams oder lustige Taschenbücher gelesen. Das Sams hatte Wunschpunkte, Jesus war der Typ, der Wasser zu Kindersekt machen konnte.

Meine Gemeinde war schrecklich. Die Pastorin sah aus wie Dracula und benahm sich ähnlich. Immerhin, mein Kumpel Alex und seine damalige Freundin hatten ihre ersten sexuellen Erfahrungen in der Abstellkammer neben dem Konfirmandensaal. Bremen-Nord, wo wir aufwuchsen, war kein Ort für keusche Lämmchen. Ich hatte zwei Onkel, die Pastoren waren und von denen ich lernte, dass man auch als Pastor ein echter Mensch sein kann. Die Fußball guckten und fluchten, manchmal zu viel Erwachsenensekt tranken und doch mitunter sehr weise waren. Und trotzdem dachte ich zu jedem Weihnachts- und Osterfest, zu jeder Taufe, jeder Konfirmation in meiner Gemeinde: »Ach, Leute! Warum denn so langweilig? Das kann man doch viel spannender, viel wirklichkeitsnäher machen!« Jedes Mal, wenn ich in der Kirche saß, wuchs in mir der Wunsch, Pastor zu werden, um diesem Elend ein Ende zu bereiten.

Nach meinem Abitur schwankte ich zwischen Theologiestudium und Kirchenaustritt. »Entweder«, sagte ich mir, »du versuchst, das ganze Ding zu verstehen und bestenfalls zu verbessern, oder du musst damit nichts zu tun haben.« Ich entschied mich für Ersteres.

Im Studium erlebte ich, wie Kommilitonen manche Professoren als Ketzer beschimpften. Wie bei Fußballspielen die Nächstenliebe so weit ging, dass jedes Tor für beide Mannschaften zählte, damit sich alle gemeinsam freuen konnten. Aber ich traf auch Menschen, denen ihr Glaube die Kraft gab, ihr Leben zu bestreiten. Denen die Kirche Lebensinhalt und vor allem -sinn stiftete. Ich machte ein Praktikum bei einem schwulen Pastor in Lübeck, mit dem ich am Küchentisch saß, wo wir mithilfe seines »Gaydars«, seines »Schwulensensors«, gemeinsam versuchten herauszufinden, wer von den katholischen Kollegen in der vatikanischen Kurie schwul war und wer nicht. Dieser Pastor stand für eine Kirche, von der ich Teil sein wollte. Eine realistische Kirche für alle, in der Lachen nicht verboten war, in der Fehlbarkeit akzeptiert und thematisiert wurde. Kein sakrales Tüdelü.

Mein Theologiestudium hatte ich immer als hervorragenden Plan B beschrieben. Einen Plan A gab es lange nicht. Bis ich merkte, dass ich vom Schreiben und dem dazugehörigen Auftreten leben konnte. So stellte ich mir irgendwann die Frage, wie sich Studium und Arbeit verbinden ließen.

Es war ein Freitagmorgen, als ich in einer Vorlesung zur Kulturgeschichte des Neuen Testaments saß. Ich hörte nicht richtig zu, denn ich war in diesem esoterischen Zustand zwischen noch betrunken und schon verkatert. Der Professor erzählte etwas über die Höhlen am Berg Arbel und die Ausgrabungen in Magdala, und mit einem Mal entwickelte sich in mir die Idee, den Weg Jesu nachzuwandern. Ich kannte so viele Orte, an denen er gewesen sein sollte, und doch hatte ich keinen davon mit eigenen Augen gesehen. Wie sollte ich das Christentum verstehen, wenn ich seine Wurzeln, die Kultur und Region, denen es entstammt, nicht kannte?

Mich faszinierte vor allem der menschliche Jesus: Wer war der Typ, der die Evangelisten zu ihren Texten inspirierte? Was ließ die Leute an ihn glauben? Was lässt sie heute glauben? Wer war Jesus von Nazareth, und was hat ihn zu dem gemacht, der er war? Was würde heute aus ihm werden? Wo wäre er zu finden?

Diesen Fragen wollte ich nachgehen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber vorher brauchte ich eine Aspirin.

Die Skyline des Heilands

Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa,

aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land

zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem …

Lk 2,4

17. Mai 2016, Jerusalem

Das Licht scheint golden in die noch leeren Straßen und Kalksteingassen. Kein Tourist ist auf den Beinen. Nur gelegentlich ist das Quietschen einer Holzkarre zu hören oder das Klappern von Schritten, wenn die Händler das erste Gemüse des Tages zu ihren Ständen schaffen. Sören und ich trinken einen Kaffee an der Bab Hutta Street. Ein paar Spatzen picken nach Brotkrumen, ein Muezzin ruft in der Ferne zum Morgengebet. Der Kaffee schmeckt nach Kardamom.

Wir befinden uns abseits der üblichen Touristenrouten. Schulkinder passieren unser Café, sie tragen Kopftücher oder Baseballcaps, unterhalten sich laut auf Arabisch. Hier ist es bunter als im touristischen Bereich der Altstadt. Viele Fassaden sind weiß getüncht, darauf Graffiti in Rot, Grün und Schwarz, den Farben Palästinas. Die Straßen sind verwinkelt, überall Stufen. Strom- und Wasserleitungen ranken sich wie Efeu an den Häuserwänden empor.

In einer Ecke gegenüber unserem Café gammelt ein Haufen Müll. Ein Reinigungsmann kommt die Straße entlang, wirft ein paar Säcke dazu und verschwindet dann wieder. Über dem Haufen hängt ein Schild: »It is forbidden to throw garbage and litter here.«

Im jüdischen Viertel sind die Straßen bereits voller. An verschiedenen Orten sind stationäre Sicherheitskontrollen eingerichtet, manchmal streifen uns Männer mit Pistolen. An der Klagemauer beten die Gläubigen in wippenden Bewegungen. Manche schieben zusammengefaltete Papierzettel in die Ritzen zwischen den Steinen, mit Wünschen und Gebeten an ihren Gott darauf. Die Klagemauer bildet den Rest des Jerusalemer Tempels, der zum Ende des von 66 bis 70 n. Chr. dauernden jüdisch-römischen Krieges von den Römern niedergebrannt wurde. An seine Stelle bauten sie einige Jahrzehnte später einen Jupiter-Tempel. Die Absicht war, mit dem Tempel nicht nur ein Gebäude, sondern einen ganzen Gott und damit die Identität der Juden auszulöschen.

Als wir den Platz vor der Klagemauer verlassen, spüre ich plötzlich, wie jemand nach meinem Handgelenk greift. »Dies ist ein Segen«, flüstert ein orthodoxer Jude auf Englisch und windet mir in flinken Bewegungen einen roten Bindfaden um den Arm. Während ich ihn perplex anschaue, hält er mir die offenen Hände hin. »Gib mir eine Spende! Für den Segen!«

»Wie bitte?«, schimpfe ich. »Ich hab doch um gar keinen Segen gebeten! Wie kannst du dafür Geld verlangen?«

Die Situation erinnert mich an die Praxis der Mormonen, die im 20. Jahrhundert unzählige stellvertretende Massentaufen für Todesopfer des Holocaust durchführten, um sie nachträglich dem »wahren Glauben« zuzuführen. Anne Frank soll postum bis zu neun Mal getauft worden sein. Wie fies ist das denn?

Mein Gegenüber hält mir noch immer die Hände entgegen. Als ich nicht darauf eingehe, grummelt er mürrisch: »Gott segne dich!« Und eilt davon.

Mit einem Ruck reiße ich mir den Bindfaden vom Handgelenk. Nicht, dass ein Fluch daraus wird. So abergläubisch bin ich dann doch.

17. Mai 2016, zwischen Jerusalem und Bethlehem, Palästina

Ursprünglich hatte ich versprochen, in Jerusalem keine öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen. Zu gefährlich, hieß es, könnten explodieren. Ein Bekannter hatte geraten, sich im Zweifelsfall immer nach hinten zu setzen, da Selbstmordattentäter sich für gewöhnlich vorne, in der Nähe des Eingangs, in die Luft sprengten. Und so hocke ich, eingezwängt zwischen drei palästinensischen Kindern und zwei Müttern, direkt über der Hinterachse eines schwankenden Busses, der uns Richtung Bethlehem bringt. Während die Hügel Palästinas am Fenster vorbeiwackeln, bohrt sich der Zehennagel eines der Kinder unangenehm in meinen Oberschenkel. Vor mir hat Sören das Fenster aufgeschoben und filmt die Umgebung.

»Hast du deinen Reisepass griffbereit?«, rufe ich ihm zu, um gegen den Fahrtwind anzukommen.

»Alter, die Atmo!« Sören strahlt mich an.

»Was für ’ne Atmo?«

»Na, für die Aufnahme! Der Fahrtwind, das Motorengeräusch, voll geil! So journeymäßig!« Er ist voll in seinem Element.

»Hast du deinen Reisepass einstecken?«

»Wofür?«

»Für die Kontrolle! Vor Bethlehem müsste ein Checkpoint kommen! Checkpoint 300!«

»Geiler Name!«

»Hast du den Reisepass dabei?«

»Sag das noch mal in die Kamera!« Sören dreht das Objektiv in meine Richtung.

»Hast du deinen Reisepass einstecken?«

»Ja!«

Im Grunde genommen ist es inkonsequent von uns, nach Bethlehem zu reisen. Unsere Route soll den Spuren des historischen Jesus folgen. Den Spuren jenes Mannes, der nachweislich gelebt hat und später als göttlicher Heilsbringer verehrt wurde. Ein halbes Jahr lang habe ich Landkarten gewälzt, Sekundärliteratur gelesen und mich mit Professoren ausgetauscht, um eine grobe Idee von der Tour zu entwickeln. Ich wollte nicht herausfinden, welchen Weg Jesus gegangen ist. Das wäre unmöglich. Mir war wichtig, bei jedem Ort unserer Reise einschätzen zu können, ob es historisch wahrscheinlich, möglich oder legendarisch ist, dass Jesus ihn betreten hat. Bei Bethlehem ist der heutige wissenschaftliche Kenntnisstand sehr klar: Jesus ist höchstwahrscheinlich nie dort gewesen.

Natürlich kennt jeder, der schon einmal zu Weihnachten in der Kirche war, die Geburtsgeschichte: Augustus, der Kaiser in Rom, ordnet eine Volkszählung an, um seine Steuereinnahmen zu berechnen, und Josef, ein Zimmermann aus Galiläa, muss mit seiner schwangeren Frau Maria in seine Geburtsstadt Bethlehem reisen, um sich dort schätzen zu lassen. Als die beiden ankommen, ist die Stadt völlig überlaufen. Nur im Stall einer Herberge finden sie noch Platz. Dort platzt prompt die Fruchtblase Marias, und ihr Neugeborenes wird in eine Futterkrippe gebettet. Aufgrund seines intensiven Erstkontakts mit Heu und Stroh wird sich der neue Erdenbürger zwar niemals mit Heuschnupfen herumplagen – dennoch wird er eines frühen Todes sterben.

Die Geschichte ist gut erzählt, aber leider weist sie einige Ungereimtheiten auf. Warum musste jeder Bürger des Römischen Reiches in seinen Geburtsort reisen, um sich dort schätzen zu lassen? Nazareth, der Wohnort Josefs, lag im Norden des Landes, Bethlehem etwa sieben Tagesreisen weiter südlich. Eine solche Reise anzuordnen wäre wirtschaftlicher Wahnsinn gewesen. Wer sollte den Arbeitsausfall auffangen? Was, wenn die Felder bestellt werden mussten? Wenn Einzelne gar nicht reisefähig waren?

Zwar gibt es römische Quellen, die eine Steuerschätzung in Judäa belegen, allerdings erst ab dem Jahr 6 n. Chr, als Quirinius Statthalter war. Es ist möglich, dass Lukas, der Schreiber der Geburtsgeschichte, von der Schätzung des Quirinius wusste und sie in die Zeit der Geburt Jesu rückprojizierte. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass es schon früher eine römische Schätzung gab, da Galiläa und Judäa bis dahin gar kein Teil des Römischen Reiches gewesen waren. Dies führt direkt zum nächsten Problem der Geschichte, denn die darin erwähnten Herrscher Augustus und Herodes der Große sowie Quirinius sind zwar unzweifelhaft historische Personen – jedoch waren sie zu ganz unterschiedlichen Zeiten aktiv: Quirinius zum Beispiel kam erst 6 n. Chr. in sein Amt, Herodes starb jedoch schon 4 v. Chr.

Offensichtlich kann man sich also nicht auf die neutestamentliche Geburtsgeschichte verlassen. Warum aber sollte sie erfunden worden sein?

Laut jüdischer Tradition sollte der kommende Messias ein Nachfahre Davids sein. Jenes Hirtenjungen, der Goliath mit einer Steinschleuder besiegt hatte und später der größte König der Juden geworden war. Dieser David war in Bethlehem geboren, und so sollte es laut den Propheten auch mit dem Messias sein. Es ist durchaus vorstellbar, dass es im Urchristentum jüdische Gruppen gab, die die Davidssohnschaft Jesu beweisen wollten. Und deshalb liegt die Vermutung nahe, dass die gesamte Geburtsgeschichte eine Legende ist, die geschaffen wurde, um Jesu Heiligkeit jüdisch zu belegen.

Na und? Sören und ich wollen trotzdem nach Bethlehem. Zum einen, weil ich der alljährlichen Weihnachtsgeschichte mindestens einen Ninja Turtle Party Van, einen Game Boy Color und eine mehrteilige Werder-Bremen-Bettwäsche zu verdanken habe; zum anderen, weil eine fast 2000-jährige christliche Tradition auf unserer Reise nicht zu ignorieren ist.

Etwa 15 Minuten später wird der Bus langsamer. Wir erreichen eine Wand, die das Ende unserer Fahrt markiert. Die Türen öffnen sich, und während die anderen Fahrgäste bereits aussteigen, ihr Gepäck einsammeln und geschäftig auf ein beiges Militärgebäude zustreben, blicken Sören und ich uns erschrocken um.

Ich muss schlucken. Denn dort, wo einst der Heiland im Bauch seiner Mutter über die Olivenhügel in die Stadt gezogen sein soll, erhebt sich heute eine riesige graue Mauer. Ein acht Meter hohes Betonungetüm, mit NATO-Draht bewehrt und alle 50 Meter von einem Wachturm unterbrochen. Links von uns liegt der Checkpoint 300. Metallzäune, Drehkreuze, Sicherheitskontrollen, Kameras. Maria und Josef müssten sich, wenn sie heute nach Bethlehem reisten, erst mal den bewaffneten Behörden aussetzen.

Nach einem kurzen Securitycheck gelangen wir über einen vollständig vergitterten Gang auf einen Innenhof. Der Platz ist asphaltiert, an allen vier Seiten stehen Wachtürme, hinter deren verdunkelten Scheiben unsichtbare Soldaten das Geschehen beobachten. Leute kommen uns entgegen, um die Stadt zu verlassen, in einfacher Kleidung, mit müden Gesichtern. Eine Frau vor uns balanciert eine prall gefüllte H&M-Tüte auf dem Kopf. Es ist ein beklemmendes Gefühl, hier entlangzugehen. Man muss nichts verbrochen haben, um sich schuldig zu fühlen. Schließlich ein zweiter Securityposten, dahinter eine gelangweilt kaugummikauende Soldatin. Mit erstaunlich nachlässigem Blick auf unsere Pässe winkt sie uns durch das Drehkreuz. Ein letzter dunkler Gang, dann die andere Seite der Mauer.

Bethlehem wirkt auf den ersten Blick nicht wie eine Stadt, sondern wie ein Gefängnis.

Hinter dem Checkpoint 300 beginnt eine mehrspurige Straße. Einst muss hier viel Verkehr geherrscht haben, doch heute, da der Weg von dieser 50 Zentimeter dicken Betonwand abgeschnitten wird, prägt Leerstand die Umgebung. Taxifahrer lungern am Straßenrand und winken nach Kunden. Fliegende Händler verkaufen Snacks und Kaugummis.

In einem Schlagloch im Asphalt finde ich eine Murmel. Als ich sie aufhebe, sehe ich winzige Luftblasen, die sich im Glas gebildet haben. Eine Murmel an diesem Ort? Verwundert stecke ich sie in die Tasche.

Sören wird derweil von einer Horde Taxifahrer beinahe überwältigt. Immer wieder rufen sie ihm die gleichen Preise zu: »25 Shekel, yalla, habibi! It’s cheap!«

»Nein, vielen Dank! Wie bitte? Wir – das ist …«

»Wir laufen!«, rufe ich kurzerhand und marschiere strammen Schrittes an ihm vorbei.

Unser Ziel ist die Wohnung eines deutschen Pärchens am Rand der Altstadt, mit dem mich ein befreundeter Schriftsteller in Kontakt gebracht hat. Ein einsamer Hund folgt uns eine Weile, um uns laut bellend von einem verwahrlosten Grundstück fernzuhalten, bis er einsieht, dass dieses Anwesen schon seit Jahren nicht mehr beschützt werden muss, und abdreht.

Kurz darauf stoßen wir erneut auf die Mauer. Sie ist dunkler auf dieser Seite und überall mit politischen Graffiti besprüht. »Free Palestine! Love the people! Make humus, not walls.« Ein Stück weiter ein Lokal, das mit einem Plakat wirbt: »All European Championship Games live here!« Gegenüber eine drei mal fünf Meter große Fläche, an der die Mauer geweißt wurde. Dort, wo der Beamer die jeweiligen Spiele an die Wand werfen soll. Der Beton als Fenster zur Welt.

Schließlich kommen wir in einen belebteren Teil der Stadt. Die Straßen heißen nun übersetzt Krippenstraße oder Sternenstraße und erzählen vom christlichen Erbe. Hinter einer Anhöhe passieren wir das »Catholic Action Sports Center«. Ich muss lachen, als ich mir vorstelle, wie unter dem hohen Dach alte Männer in Talaren Bungee-Jumping oder Open Water Diving trainieren.

»Weißt du was«, sage ich zu Sören. »Ich glaube, ich werde später Action-Pastor! Alles klingt cooler, wenn ein ›Action‹ drin ist.«

»Geil«, erwidert Sören. »Und wirst du dann auch Action-Hochzeiten feiern und einen Action-Talar tragen?«

»Klar!«

»So richtig mit Glitzer und Strasssteinchen?«

»Nein. Der Talar wird schwarz und glatt sein, wie es sich gehört!«

Sören guckt enttäuscht. »Aber wird es wenigstens Action-Schwarz sein?«

»Natürlich.«

Sören und ich kennen uns bereits seit der Schulzeit. Wir wohnten nur zwei Straßen voneinander entfernt, im hintersten Winkel Bremen-Nords, direkt neben den Kids, die in den anderen Stadtteilen für ihre Einbruchserien und Handydiebstähle berüchtigt waren. Was ich vor allem mit ihm verbinde, sind die ersten Tage nach dem Abitur. Als die Luft nach Sommer roch und das Leben ausschließlich aus Spaß bestand. Jeden Morgen krochen wir todmüde aus irgendeinem Kellerloch in Schönebeck, die Daumen noch pochend vom zu vielen Nintendo-Spielen, und hievten uns auf unsere Räder, um noch eben die zehn Kilometer heim nach Blumenthal zu radeln. Es ist das ermattete Schnaufen, das ich besser als alles andere von Sören kenne. Die roten Augen und der müde Blick. Ich hatte keine Ahnung, wie oft ich dieses Schnaufen auf der kommenden Wanderung noch hören würde.

Nachdem wir das »Catholic Action Sports Center« hinter uns gelassen haben, öffnet sich vor uns die Bethlehemer Skyline. Grazile Kirchtürme aus weißem Kalkstein, altertümliche Fassaden, Werbetafeln. Vor einer sonnengebleichten Tankstelle sitzen zwei Jungs in Lehnstühlen und rauchen Zigaretten. Hinter ihnen ein zweistöckiger Bau, in dessen Einfahrt Zitronenbäume wachsen. An einem schwarzen Gatter drücke ich eine Klingel.

Die Wohnung riecht nach arabischem Kaffee. Auf einem üppig gedeckten Tisch warten Datteln, Oliven, Humus, Pita, Mispeln und tausend weitere orientalische Köstlichkeiten auf uns, die in bunt verzierten Schälchen angerichtet sind.

»Schön, dass ihr endlich da seid!«, begrüßt uns Tina mit breitem Grinsen. »Entschuldigt, dass wir euch nicht abholen konnten!« Eine vorbehaltlose Freundlichkeit strahlt aus ihrem Gesicht. »Ihr müsst hungrig sein! Setzt euch erst mal hin!«

Hinter ihr tritt ein Mann aus der Küche. »Hallo, ich bin Steffen. Limo?«

Es ist das erste Mal, dass wir Tina und Steffen begegnen. Die Herzlichkeit, mit der wir empfangen werden, ist überwältigend. Binnen kürzester Zeit haben wir unsere Rucksäcke abgelegt, uns den Reisestaub aus den Gesichtern gewaschen und sind in ein Gespräch vertieft.

»Also«, Tina beugt sich wissbegierig nach vorne, »wie ist es bisher gelaufen?«

Wir erzählen von unserem Abend im »Gatsby«, von unserer Fahrt nach Bethlehem und der Begegnung mit der Mauer, da springt Tina plötzlich auf und verschwindet im Bad. Als sie zurückkommt, wirft sie mir eine Handvoll Desinfektionstücher in den Schoß. »Hier, steckt die ein!«

»Danke«, sage ich perplex. »Aber wir haben ein Medi…«

»Die sind nicht zum Verarzten«, erklärt Steffen. »Sondern falls ihr mal in Schwierigkeiten kommt. Haltet sie euch vor die Nase, wenn ihr in eine Tränengaswolke geratet. Dann beißt es nicht so.«

»Passiert das häufiger?«, frage ich erschrocken.

»Nein«, antwortet Tina. »Es sei denn, ihr legt es darauf an. Wichtig ist, dass alle Leute um euch herum wissen, dass ihr Gäste seid. Dann wird sich immer jemand um euch kümmern.«

Mit mulmigem Gefühl stecke ich die Tücher in die Tasche.

Tina und Steffen leben seit fünf Jahren in Bethlehem. Er arbeitet als Psychologe, sie mit gewaltfreien Bewegungen im Westjordanland. »Konflikte haben wir genug«, erklärt Tina. »Ich versuche, meinen Beitrag zu leisten, das Verhältnis zugunsten des Friedens zu verbessern.«

Wenn die beiden über das Westjordanland sprechen, reden sie von Palästina. »Weil ›Palästina‹ die Einwohner beim Namen nennt«, erklärt Steffen. »›Westjordanland‹ ist eine leere Worthülse, die für ein geografisches Gebiet steht. Damit identifizieren sich Menschen mit ihren Kulturen nicht! Hier leben Palästinenser.«

»Sprache schafft Identität«, erläutert Tina. »Es ist ein riesiger Unterschied, ob sich die Leute als Bewohner eines geografischen Gebiets oder als Teil eines Volkes mit einer eigenen Geschichte und Tradition begreifen. Es gibt nicht die Palästinenser, sowie es nicht die Israelis oder die Juden gibt. Es gibt palästinensische Muslime, palästinensische Christen, und es gab auch bis zum ersten arabisch-israelischen Krieg palästinensische Juden. Genauso wie es Christen, Juden, Muslime und andere Religionsgruppen in anderen Ländern gibt!«

»Gibt es auch Palästinenser oder Israelis, die keiner Religion angehören?«, fragt Sören.

»Ehrlich gesagt nein«, antwortet Steffen. »Das könnt ihr euch gleich merken: Ihr seid Christen.«

»Aber ich bin kein Christ!«, protestiert Sören.

»Bist du getauft?«

»Na ja … Ja.«

»Bist du konvertiert?«

»Ich bin ausgetreten.«

»Dann bist du nach hiesigem Verständnis ein nicht praktizierender Christ«, stellt Steffen klar. »Was du glaubst oder nicht, ist egal.«

Zum Abendessen gehen wir gemeinsam ins »Hosh Jasmin«. Ein hübsches Restaurant unterhalb einer von Schlaglöchern übersäten Landstraße, die aus Bethlehem hinaus gen Osten führt. Piniennadeln bedecken den Pfad zum Lokal, Olivenhaine ziehen sich den Hügel hinauf. Am Horizont, der zwischen zwei Erhebungen hindurchschimmert, glänzt ein schmaler silberner Streifen, das Mittelmeer. Die Luft riecht nach Lagerfeuer und Shisha-Tabak. Unzählige Hängematten sind zwischen die Bäume gespannt; zwei Baumhäuser wurden in die Äste der Pinien gezimmert; Divans, Sofas und Sessel stehen um provisorische Tische.

Tina führt uns zu einem freien Platz am Ende des Geländes, wo wir es uns zwischen Kakteen und Weinreben an einem wackeligen Schreibtisch gemütlich machen. Eine Speisekarte gibt es im »Hosh Jasmin« nicht. Der Kellner zählt alle Gerichte im Angebot auf. »Taybeh oder Shepherds?«, fragt Steffen, als wir zum Bier kommen, und spricht gleich eine Empfehlung aus: »Ich würde Taybeh nehmen. Die einzige Brauerei in Palästina, die nach deutschem Reinheitsgebot braut!«

Während wir essen, könnte man fast vergessen, dass wir uns Tausende Kilometer von zu Hause entfernt befinden. Das »Hosh Jasmin« könnte auch ein Biergarten um die Ecke sein, so herzlich und vertraut ist die Stimmung.

»Eigentlich müsstet ihr mal mit Mitri Raheb reden«, meint Steffen irgendwann. »Er hat ein Buch geschrieben: Glaube unter imperialer Macht.«

»Klingt nach Star Wars«, wirft Sören ein.

»Fast. Es geht um einen politischen Jesus. Mitri beschreibt Jesu Verhalten gegenüber dem römischen Imperium in Palästina und versucht, daraus Handlungsanweisungen im Glauben gegenüber der heutigen israelischen Präsenz in Palästina zu erörtern. Er sieht Jesus als politischen Akteur, der sich heute gegen die israelische Regierung auflehnen würde.«

»Steile These«, meine ich.

»Sprich mal mit ihm.«

»Apropos steil«, sagt Sören. »Gehen wir heute noch steil?«

Nachdem wir einige Taybeh später in unsere Wohnung zurückgekehrt sind, bin ich noch lange wach. Alle Fenster sind geöffnet, trotzdem liege ich mit nur einem Bein unter dem Laken und spüre, wie sich Schweißperlen auf meiner Brust bilden. Es ist erst unser zweiter Abend, und doch fühle ich mich, als wären wir bereits eine Woche im Land. Alles geschieht so rasant. Ich muss an die Mauer denken, die sichtbarste Ausprägung all der Konflikte.

Wäre Jesus heute in Bethlehem geboren, wäre er Palästinenser. Er wäre hinter Beton aufgewachsen, wäre Christ oder Moslem, vielleicht Aktivist, politischer Gefangener oder würde ein neues Leben in Europa suchen. Ich frage mich, wo wir in dieser ummauerten Stadt einen Heiland finden sollen. Wäre Jesus heute hier geboren, sein Weg wäre vielleicht schon zu Ende.

Jesus und Lenin

Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.

Lk 2,12

18. Mai 2016, Geburtskirche, Bethlehem, Palästina

Maria starrt mit frommem Blick an mir vorbei. Seit über einer Minute stehe ich nun schon vor ihr und versuche, diesen Blick einzufangen. Doch egal, ob ich mich nach links oder rechts bewege, ich schaffe es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Die Mona Lisa in Paris hat mir immer hinterhergeblickt. Noch als ich fast im nächsten Raum war, hatte ich das Gefühl, sie schaue mir auf den Hintern. Aber diese Maria starrt einfach ins Nichts. Ihr Fokus liegt irgendwo auf einem Punkt ganz weit weg, als hätte sie keinen Sinn für das Weltliche. Das Jesuskind in ihrem Arm schläft ruhig und fest unter einer purpurnen Decke. Ich werde es ihm nicht sagen, aber ich glaube, seine Mutter hat einen Silberblick.

Die Geburtskirche, in der wir uns befinden, ist mit Abstand die größte und geschichtsträchtigste Kirche in Bethlehem. Aber sie ist beileibe nicht die einzige: Es gibt die lutherische Weihnachtskirche, die syrisch-orthodoxe Marienkirche, die römisch-katholische Katharinenkirche und die Milchgrotte, eine Kapelle an der Stelle, wo ein Tropfen Muttermilch aus Marias überquellender Brust einen Felsen weiß gefärbt haben soll. Vor Ort lernten wir, dass Frauen, die dessen Staub, in Wasser aufgelöst, trinken, fortan fruchtbarer seien. Durchaus vorstellbar, dass es funktioniert: Viele Fruchtbarkeitsprobleme haben psychischen Ursprung, warum nicht mit einem kleinen Glaubensdoping nachhelfen? Wenn man allerdings nicht daran glaubt, kann man wahrscheinlich genauso gut eine Schultafel ablecken.

Die Geburtskirche ist da von ganz anderem Kaliber. Groß und erhaben prangt sie am östlichen Ende des Krippenplatzes, ihr Glockenturm weithin sichtbar, wie ein Stern in der Nacht. Helena, die Mutter Kaiser Konstantins des Großen, veranlasste im Jahr 326 ihren Sohn, die Kirche zu bauen.

Konstantin ging als der erste christliche Kaiser des Römischen Reiches in die Geschichte ein – und Helena, die eine gute Mutter war, unterstützte ihren Sohn in allem, was er tat. Sie reiste ins Heilige Land und studierte mit Feuereifer alle Traditionen und Geschichten, die einen Hinweis darauf gaben, wo der Heiland gewirkt haben könnte, um ihm dort eine Kirche zu errichten. Gefühlte 80 Prozent der historischen Kirchen in Israel und Palästina gehen auf Helenas Stiftung zurück. Im Grunde ist sie unser Vorbild. 300 Jahre nach Jesu Tod war sie die Erste, die auf seinen Spuren reiste.

Auf den letzten Metern zur Kirche raubte uns die Masse an Souvenirshops beinahe den Atem. Hätten die Herbergsbesitzer damals gewusst, mit welcher Wertsteigerung der Aufenthalt der Familie aus Nazareth in ihrer Unterkunft einmal verbunden sein würde, sie hätten sich wahrscheinlich um das Paar gerissen.

Vor der Kirche hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ein Tourguide klärte seine Gruppe über die Eingangspforte auf: »Sehen Sie die verschiedenen Steinformationen? Die Toröffnung wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verkleinert, um anstürmenden Angreifern den Platz zu rauben. Heute muss man sich bücken, wenn man die Kirche betreten will, aber das hat den Vorteil, dass wir schon beim Eintritt dem Herrn unsere Demut bezeugen.« Wohlgefälliges Gelächter.

Während der Zweiten Intifada Anfang des neuen Jahrtausends hatten sich palästinensische Kämpfer in der Geburtskirche verschanzt, worauf das israelische Militär das Gebäude 39 Tage lang belagerte. Heute erinnern nur noch wenige Einschusslöcher daran. Die Fenster wurden erneuert, die Orgel, die von einer Brandbombe beschädigt worden war, erklingt in hellen Flötentönen. Und doch war diese Kirche, die einer der friedlichsten Orte der Welt sein sollte, für längere Zeit Kampfgebiet.

Im Innern herrscht Zwielicht. Vereinzelte Blitzlichter erhellen den Raum, die Decke spannt sich hoch über uns auf. Zwischen den Säulen, die dick wie Baumstämme die Seitenschiffe abstützen, hängen prunkvolle Kandelaber.

Ausgewaschene Steinplatten führen auf das Querschiff zu. Aus Gold und Silber gearbeitete Metallstiche schmücken die Wände, überall hängen kunstvolle Ketten, an denen bunt verglaste Kerzenleuchter glitzernde Akzente werfen. Auf einer Plakette steht geschrieben: »We are hoping that: If you enter here as a tourist, you would exit as pilgrim. If you enter here as a pilgrim, you would exist as a holier one.«

Im rechten Teil des Querschiffs entdeckte ich schließlich die schielende Maria. Vielleicht ist es Absicht, dass ihr Blick sich nicht festhalten lässt. Sie wirkt so unnahbar, wie nicht von dieser Welt. Unter ihr ist ein Devotionalienstand für Tauf- und Gebetskerzen aufgebaut. Daneben liegt eine Steintreppe, über die der Geruch von zu vielen Menschen auf zu engem Raum emporzieht.

Kerzenlicht erhellt die Kulisse, als ich die Treppe in eine kleine Grotte hinuntersteige. Die Decke ist schwarz vom Ruß, die Wände sind mit dicken Stoffbehängen ausgekleidet, deren Motive nicht mehr zu erkennen sind. Menschen mit versonnenen Gesichtern stehen vor einer Aussparung in der Wand. Die Geburtsstätte Jesu.

Ich stelle mich in einer U-förmigen Schlange an. Eine Frau hält die Hände gefaltet und murmelt mit geschlossenen Augen vor sich hin. Ein Mann dahinter checkt Handyfotos. Ich streiche mit den Fingern über die Wandbehänge und fühle, dass an einigen Stellen eisenbeschlagene Löcher in das Material eingearbeitet sind. Im Fels dahinter haben sich tiefe Mulden gebildet. Und plötzlich verstehe ich, was der Sinn der Behänge ist: Es sind Schutzhüllen. Ohne sie hätten die Pilger wahrscheinlich bereits die gesamte Grotte abgetragen.

Es dauert ein paar Minuten, bis ich die kaminartige Aussparung in der Wand erreiche. Die Frau vor mir bekreuzigt sich, küsst ihre Finger und verlässt nach einem kurzen Gebet den Raum. Nun muss ich schnell sein, hinter mir spüre ich bereits den Atem der folgenden Pilger im Nacken. Ich knie mich auf den Boden und fühle – nichts.

Eigentlich habe ich nichts anderes erwartet. Und trotzdem bin ich enttäuscht. Obwohl es aus wissenschaftlicher Sicht unwahrscheinlich ist, dass Jesus überhaupt aus Bethlehem stammt, hatte ich gehofft, dass mich diese Stätte in irgendeiner Weise berühren werde. Seit Jahrhunderten pilgern Gläubige schon an diesen Ort, um Gott zu preisen. Ich hatte gehofft, dass etwas von dieser Frömmigkeit in den Stein übergegangen sei und sich nun in einem warmen Gefühl auf mich übertragen werde. Doch alles, was ich spüre, sind meine Knie auf hartem Fels und ein unangenehmes Stechen im Nacken.

Ich nutze die verbleibende Zeit, um mich umzuschauen. Eine kreisrunde Senke deutet auf den Ort der Niederkunft hin. Ein silberner Stern ist darum herumgearbeitet, 14 Zacken für die 14 Geschlechter im Stammbaum Jesu. Darüber hängen Petroleumleuchter. Es riecht wie in einem Maschinenraum. Wenn man genau hinsieht, erkennt man die Kabelbinder, mit denen die Lampen mitunter fixiert wurden.

Vielleicht hatte ich sogar ein wenig Angst vor diesem Moment. Was, wenn ich wirklich eine Gotteserscheinung oder so gehabt hätte? Ich wollte eigentlich nicht als missionierender Heiliger nach Deutschland zurückkehren. Jetzt aber steht fest: Glaube funktioniert nur für die Glaubenden. Ich habe schon im Vorfeld nicht an diesen Ort geglaubt, und so ist da auch nun kein Heiliger Geist, der sich auf mich herabsenkt.

Während ich noch darüber nachdenke, tritt mir jemand ungeduldig in die Hacken. Ich erhebe mich, versuche eine versonnene Geste und verlasse den Raum. Ehrlich gesagt bin ich auch ein bisschen neidisch auf die anderen Gläubigen. Wenigstens eine kleine Erleuchtung hätte ich schon gerne erfahren.

Abseits des Krippenplatzes, im Rücken der Geburtskirche, liegen die Werkstätten der palästinensischen Tischler. Dichter Nebel verdunkelt die Räume, Sägespäne setzen sich in allen Poren und Fasern fest. In den Drechselmaschinen klemmen halb fertige Heilige, in den Regalen lagern Jesuskinder, Hirten, eine Massenzucht von Ochsen und Schäfchen.

Im Hinterhof des »Blessings Gift Shop« stoßen wir auf einen alten Palästinenser. Sein olivgrünes T-Shirt ist steif von Leimflecken, seine Lider sind rot und verquollen, die Tränensäcke so groß wie Pistazien. Wenn er atmet, hört man den Holzstaub in seiner Lunge. Eine Mischung aus Darth Vader und Gepetto. Er arbeitet an einer Krippe.

»Olivenwurzel«, erklärt er und hält ein Stück Holz hoch. »Es hat so eine feine Struktur … Aber nur für das Baby. Der Rest ist aus günstigerem Holz.«

Auf meine Frage, ob er Christ sei, schüttelt er den Kopf. »Moslem. Aber kein Problem. Ich arbeite gerne hier. Willst du mal sehen?« Er reicht mir eine kleine Figur aus Olivenholz. »Wir glauben auch an Jesus, weißt du? Er ist ein Prophet. Kein Gott, ein Mensch. Aber ein Prophet.« Er deutet auf eines der fertigen Holzspiele. »Schau mal: Das ist eine Krippe, wie wir sie uns von vor 2000 Jahren vorstellen.«

Er hebt eine der Krippen an und hält sie mir vor die Augen. Dann nimmt er eine längliche Holzplatte und schiebt sie in einen schmalen Spalt vor dem strohgedeckten Stall, sodass die Szenerie für den Betrachter nicht mehr zu erkennen ist.

»Und das ist sie heute.«