Über M.R.C. Kasasian

Martin R.C. Kasasian, aufgewachsen im englischen Lancashire, hat in Fabriken und Restaurants gearbeitet, auf dem Rummelplatz, beim Tierarzt und als Zahnarzt, bevor er zu schreiben begann. Die Sommermonate verbringt er mit seiner Frau in Suffolk, im Winter lebt das Paar auf Malta.

Vor bald einem Jahr schrieb ich die Einleitung zu Mord in der Mangle Street, dem ersten Band meiner Erinnerungen an meinen Vormund Sidney Grice. Dessen beachtlicher Erfolg trotz der gegenwärtigen Papierknappheit hat mich ermutigt, von unserem nächsten großen Fall zu berichten, der Kette furchtbarer Ereignisse im Herbst 1882.

Zuletzt schrieb ich im Schutz des Kellers von Gower Street Nummer 125, während London von Hitlers Bomben in Schutt und Asche gelegt wurde. Der Luftkrieg über England dauert an, wenn auch mit verminderter Schärfe. Die Nazis haben erkannt, welche Torheit es war, Angriffe bei Tageslicht zu fliegen. Doch sind wir noch immer von einer Invasion bedroht, und der Anblick alter Männer und abgemagerter Jugendlicher, die für den Heimatschutz üben, ist uns bewegende Mahnung daran, jedem Eroberungsversuch entschlossen zu trotzen.

Der Fall, den ich hier darlege, kostete meinen Vormund beinahe das Leben, aber er brachte auch eine wesentliche Verschiebung in unserem Verhältnis mit sich. Als Sidney Grice diese Ermittlungen aufnahm, kamen wir stillschweigend überein, dass ich an seiner Seite sein würde. Und das war ich, abgesehen von unserem großen Zerwürfnis, bis an den Tag seines Todes.

 

M.M., 3. September 1942

Der Fluch der Fosketts

Man munkelte, ein Fluch laste auf dem Hause Foskett. Giles, der erste Baron Foskett, so hieß es, habe zur Zeit der Rosenkriege bei der Belagerung von Bowfield im Jahre 1417 mitgekämpft und die zweite Angriffswelle durch die erstürmten Festungsmauern angeführt. Die Verteidiger, so die Legende weiter, hatten ihre Frauen und Kinder in der Kirche St. Oswald in Sicherheit gebracht, doch die Angreifer waren in einen Blutrausch geraten, drangen mit Gewalt in das Gotteshaus ein und metzelten alle nieder, die dort Schutz gesucht hatten.

Doch nicht genug des Frevels: Als Baron Giles eine junge Nonne entdeckte, die sich in einer der Jungfrau Maria geweihten Kapelle versteckt hielt, schändete und meuchelte er sie auf dem Seitenaltar. Mit ihrem letzten Atemzug verfluchte die Nonne ihn und seine Nachkommen, und just in dem Moment, als Baron Giles die Kirche verließ, fiel ihn eine Meute tollwütiger Hunde an und riss ihn in Stücke.

Baron Giles’ Sohn und Stammhalter war dem Vernehmen nach ein guter Mensch. Er spendete großzügig für die Armen, ließ St. Oswald wieder aufbauen und eine Gedenkstätte für die Opfer seines Vaters errichten. Doch sein frommes Leben vermochte ihn nicht zu retten. Kaum war die Kapelle neu geweiht, stürzte die Statue der heiligen Jungfrau auf ihn herab

Und auf diese Weise – mit Hinrichtungen, Pfählungen, Ausweidungen – setzte sich die Geschichte fort, in der zahlreiche Fosketts ein unzeitiges und gewaltsames Ende fanden. Zuweilen übersprang der Fluch ein paar Generationen, doch früher oder später brach er sich wieder Bahn. Und er traf keineswegs nur die männliche Seite der Familie. So ertrank Baronesse Agatha im Alter von fünfundneunzig Jahren in einer Zisterne, und Lady Mathilda, die Tochter Baron Alfreds, wurde am Strand von Brighton enthauptet.

Im Jahr 1724, nach der unbeabsichtigten Selbsteinäscherung Baron Colins’ im Vesuv, war der Titel verwaist, und so blieb es bis 1861, als Reginald, entfernter Abkomme eines Neffen von Baron Giles, erfolgreich darum ersuchte, ihn anzunehmen. Wenig Gutes sollte daraus erwachsen. Keine sechs Jahre nach seiner Erhebung in den Adelsstand traf ihn eine Treppenstange ins Auge und bohrte sich bis in sein Hirn. Die Wunde eiterte und er schied, rasend vor Schmerz, dahin.

Kurz darauf berichtete die Times, dass ihm sein Erbe Rupert auf einer Südseeinsel mit dem Ableben zuvorgekommen sei, womit der Fluch nun drohend über dem Haupt von Reginalds Witwe schwebte, Lady Parthena Foskett.

Der Staub und der Traum

Der Fall Ashby hatte noch keinen Staub angesetzt, und man war der Auffassung, Sidney Grice habe einen seiner eigenen Klienten, noch dazu einen unschuldigen Mann, an den Galgen gebracht. Das war schlecht fürs Geschäft und zwar dermaßen, dass nicht Sidney Grice zur Wiederauffindung des Siegelrings bestellt wurde, den der Prinz von Wales in einem Freudenhaus verloren hatte, sondern Charlemagne Cochran. Dass der Ring im Nu gefunden wurde, vertiefte nur noch die Niedergeschlagenheit meines Vormunds.

Ein paar Fälle fielen ihm zwar zu – die Rettung der Tochter eines reichen Industriellen aus dem Norden, die von rätselhaften blauen Furunkeln befallen war, und die Aufdeckung eines betrügerischen Vereins für Männer mit rotbraunem Haar –, doch lastete in jenem Sommer nur wenig Arbeit auf meinem Vormund, und als die Tage kürzer wurden und die Blätter in den windzerzausten Londoner Parks zu Boden fielen, versiegte sie beinahe vollends.

Stundenlang lag Sidney Grice nun in seiner Badewanne, kletterte abends auf etwas trockenen Toast und reichlich Tee heraus, um bald wortlos treppauf zu humpeln und sich in seinem Schlafzimmer einzuschließen. Er machte sich nicht die Mühe, sein Glasauge einzusetzen, sondern trug immerzu eine schwarze Augenklappe. Gewöhnlich ein unersättlicher

Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater war ihr im Sommer ’81 gefolgt und hatte mir das Grange hinterlassen, unser Familienanwesen in Parbold, nicht aber die Mittel zu dessen Unterhalt. Von meinem Patenonkel Sidney Grice hatte ich bis dato nichts gehört, doch meine Anwälte versicherten mir, er sei ein Gentleman von untadeligem Ruf, sodass sein Anerbieten, mich unter seine Fittiche zu nehmen, ein Geschenk des Himmels zu sein schien. Inzwischen, sechs Monate später, fragte ich mich jedoch, ob ich mein Zuhause nicht leichtfertig aufgegeben hatte.

An vielen Abenden speiste ich allein, schob mit der Gabel einen aufgewärmten Gemüsebrei auf meinem Teller herum und knabberte an kreidigem Brot. Hinterher ging ich in den winzigen Garten, um zwei türkische Zigaretten unter dem knorrigen Kirschbaum zu rauchen, und dann nach oben zum Tagebuchschreiben. Ich nahm mein Schreibkästchen und drückte auf den Knopf unter dem Tintenfass, um das Geheimfach zu öffnen und die Schleife um mein kostbares Bündel aufzuziehen.

Deiner Briefe sind so wenige, und ich kenne einen jeden auswendig, aber deine lieben Hände hielten sie, wie meine sie jetzt halten.

Ich träumte von dir in jener Nacht. Wir trieben in einem Ruderboot einen palmgrünen Fluss hinunter, die Sonne gleißend am indigoblauen Himmel, die Fischreiher flogen in loser Folge über uns hinweg. Wir hatten einen Picknickkorb zu unseren Füßen, eine Flasche Champagner im Wasser hängen und lagen ausgestreckt da, hielten uns bei den Händen

Ich habe deinen letzten Brief vernichtet.

Dann, am ersten Dienstag im September, kam mein Vormund zum Frühstück herunter. Zur Begrüßung beehrte er mich mit einem Grunzen. Wir saßen an entgegengesetzten Enden des Tisches, und ich betrachtete ihn mitsamt seiner unaufgeschlagenen Ausgabe von Simpkins Erkrankungen des menschlichen Fußes.

»Ich brauche einen großen Fall«, sagte er auf einmal, »sonst wird mein Gehirn noch so träge wie Ihres.«

»Wird sich schon was finden«, sagte ich, aber er schüttelte den Kopf.

»Wer würde noch um meine Dienste nachsuchen? Kaum zeige ich mich auf der Straße, werde ich verspottet und beschimpft.«

Ich klopfte mein Ei auf und schob es hastig beiseite. Der Schwefelgeruch war abscheulich. »Vielleicht sollten Sie für eine Weile verreisen.«

»Wozu?« Er nahm sich einen Toast, ohne Rinde und verkohlt, so war es ihm am liebsten.

»Machen wir doch Ferien.«

»Welch absurder Einfall. Können Sie sich vorstellen, wie ich in einem gestreiften Blazer über kunterbunte Strandpromenaden flaniere und Muscheln aus einem Papierhörnchen esse?«

Zugegeben, das konnte ich nicht, war aber erfreut, ihn so lebhaft zu sehen. Er beugte sich vor, streckte einen Arm aus, um meinen Eierbecher mittels der ausziehbaren original Grice’schen Fliegenklatsche zu sich zu ziehen, und schnüffelte leicht verschnupft – er war erkältet gewesen –, aber sehr genüsslich daran.

»Wir könnten einen Freund besuchen«, schlug ich vor.

»Einen Freund?« Er zuckte angewidert zusammen. »Ich habe

Ich warf meine Serviette hin. »Ich habe mich unter Menschen bewegt, die die meisten Engländer als unwissende Wilde bezeichnen würden, und bin dabei größerer Höflichkeit begegnet, als Sie aufbringen können.«

»Was heißt das schon – Höflichkeit?« Mein Vormund tupfte sich die Lippen. »Falschheit, die vor Lüge strotzt. Wäre ich höflich, müsste ich Ihnen sagen, Sie sähen hübsch aus, obwohl das meines Wissens nie der Fall war und vermutlich auch nicht sein wird.«

»Sie sind der größte Rüpel, der mir je untergekommen ist.«

»Das hoffe ich um Ihretwillen«, gab er zurück. »Ein größerer Rüpel könnte seiner Meinung über Ihre geringe Intelligenz oder Ihre plumpe Haltung Ausdruck verleihen.«

»Die meisten Mädchen gleiten dahin wie Standbilder auf Rollen«, meintest du zu mir, »doch du wiegst und bewegst dich wie eine Frau. In deinen Adern fließt Blut und kein dünner Tee.«

 

Ich spielte mit dem Gedanken, meinen Teller nach ihm zu werfen, hatte aber Hunger, und in seinem Haus gab es wenig genug zu essen.

»Ich glaube, Ihr Schweigen war mir lieber.«

»Mir auch.« Sidney Grice zermahlte seinen verbrannten Toast zu Pulver und streute es in seinen Pflaumensaft.

In der Ferne schellte die Türglocke.

»Molly hat etwas vergessen.« Er legte seine zerknüllte Serviette auf die Tischdecke.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Indem ich tue, wozu ich Sie nicht bewegen kann – meine Ohren gebrauchen. Sie geht in ihren schweren Straßenstiefeln

Ich lauschte, hörte aber nichts, bis das Dienstmädchen die Treppe zum Speisezimmer im ersten Stock heraufkam.

»Sie haben Besuch, Sir, ein Herr.« Fuchsrote Strähnen lösten sich zu beiden Seiten ihres gestärkten Häubchens. »Er sagte, er müsse Sie in …«, sie verzog das Gesicht vor lauter Anstrengung, sich zu entsinnen, »… einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen.«

»Hat er dir seine Karte gegeben?«

»Ja, Sir.« Molly trug ihre Straßenstiefel, ganz wie mein Vormund gefolgert hatte.

»Wo ist sie?«

»In meiner Tasche.«

»Warum nicht auf einem Tablett? Na schön. Gib sie mir.«

Molly reichte ihm die Visitenkarte, und ihr Dienstherr schnappte sie sich.

»Mr Horatio Green.« Er schüttelte sich. »Welch ein abstoßend bäurischer Zuname. Wo ist er jetzt?«

»Draußen, Sir. Sie haben gesagt, ohne Ihre Erlaubnis soll ich niemanden reinlassen.«

Sidney Grice erhob sich. »Dann führ ihn umgehend in mein Studierzimmer.« Er nahm seine Augenklappe ab. »Dämliches Ding. Nie befolgst du meine Anweisungen.« Er fischte ein stahlblaues Glasauge aus dem Samtbeutel in seiner Westentasche, zog seine Lider auseinander und drückte es in seine rechte Augenhöhle, richtete seine Krawatte im Spiegel über dem Kaminsims und strich mit der Hand sein dichtes schwarzes Haar zurück. »Sie kommen besser mit, March. Vom vielen Trübsalblasen sind Sie noch verdrießlicher und unleidlicher geworden.«

Ein Gast und ein paar Kunststücke

Ich folgte ihm die Treppe hinab in sein Studierzimmer. Mit jedem Schritt seines linken Fußes senkte sich ruckartig seine Schulter. Ein fülliger Herr mittleren Alters in marineblauem Jackett und dunkelgrauen Hosen hatte bereits rechts vom Kamin Platz genommen und hielt sich die Wange. Für gewöhnlich war dies mein Platz, doch Molly hätte sich niemals erdreistet, einem Besucher den Sessel ihres Brotherrn anzubieten. Kaum waren wir eingetreten, sprang unser Gast auf und ergriff Sidney Grice’ Hand.

»Mr Grice. Wie aufregend! Ich habe schon so viel über Sie in der Zeitung gelesen.«

»Dann werden Sie schwerlich auch nur ein Jota Wahrheit erfahren haben«, entgegnete Sidney Grice.

»Und Sie müssen Miss Middleton sein.« Mr Green begrub meine Hand in seiner und drückte beherzt zu. »Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie Mr Grice bei der Aufklärung der Ashby-Morde geholfen.«

Mein Vormund rückte sein Auge zurecht. »Sie mag an meiner Seite gewesen sein, aber ich darf Ihnen versichern, dass sie mir kaum dienlicher war als ein Klotz an meinem Bein. Läuten Sie nach Tee, Miss Middleton.«

»Ich werde all meine Dummheit darauf verwenden.« Ich

»Nur zu.« Mr Green errötete vor Erregung, und Sidney Grice kniff die Augen zusammen.

»Wie bitte?«

»Los, stellen Sie genialische Beobachtungen über mich an.«

Mein Vormund rekelte sich. »Ich führe keine Kunststücke zur allgemeinen Belustigung auf.«

Unser Gast beugte sich vor »Ach, kommen Sie schon. Erzählen Sie mir etwas über mich.«

Sidney Grice winkte gelangweilt ab. »Ungeachtet der Tatsache, dass Sie Apotheker sind …«

Mr Green fuhr sich an die rechte Wange. »Wie zum Teufel … Das grenzt ja ans Übersinnliche. Habe ich etwa noch Spuren von Chemikalien an den Händen?« Er begutachtete seine Finger. »Nichts zu sehen.«

»Es steht auf Ihrer Visitenkarte«, erwiderte mein Vormund.

»Nun ja, dann ist das wohl kein Kunststück, oder? Versuchen Sie’s noch einmal.«

»Sie leiden an Ohrenschmerzen«, beschied ihn Sidney Grice, »wenngleich weniger schwer, als ich es Ihnen wünschte.«

Mr Green strich sich bestätigend übers linke Ohr. »Diese Geißel plagt mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr, als mir ein Ohrenkneifer das Trommelfell zerstach.«

Ich lachte auf. »Dass Ohrenkneifer tatsächlich in Ohren kriechen, ist doch gewiss ein Ammenmärchen?«

Mr Green blickte bekümmert drein. »Ich bin der lebende Beweis, dass dem nicht so ist.« Er legte die Fingerspitzen an seine linke Schläfe. »Jedes Kind hätte das aus der Watte in meinem Ohr schließen können. Sagen Sie etwas Schlaueres.«

Sidney Grice kratzte sich erzürnt am Kopf. »Wie könnte ich wohl wissen, was einem Mann von Ihrer beschränkten Geisteskraft offensichtlich erscheint, wenn für mich alles an Ihnen offensichtlich ist? Zum Beispiel, dass Sie Junggeselle sind.«

»Drei Gründe«, erläuterte mein Vormund. »Erstens: Die Knopfsteppung Ihrer Weste ist seit mindestens vier Jahren außer Mode – fünf, falls Sie in einer gehobenen Gegend residieren, was Sie nicht tun –, und keine Frau der Welt würde ihren Mann derart gekleidet vor die Tür lassen. Zweitens …«

»Ja, aber was, wenn ich mir nichts aus der neuesten Mode mache und meine Frau nicht wagt, mich daran zu hindern?«

Sidney Grice lachte schneidend. »Was abermals belegt, dass Sie nicht verheiratet sind. Anscheinend haben Sie Mr Dickens’ kleingeistiges Geschreibsel gelesen, da Sie glauben, jenseits der Buchdeckel seiner rührseligen Romane existiere so etwas wie eine untertänige Gattin. Zweitens also tragen Sie keinen Ehering – was zwar für viele verheiratete Männer gilt –, da Sie aber Katholik sind …«

»Rieche ich nach Weihrauch?«

»Ich rieche da wirklich etwas«, sagte ich, man schenkte mir aber keine Beachtung.

»Ein Rosenkranz hängt aus Ihrer Jackentasche«, stellte Sidney Grice fest. »Und der dritte, wohl schlüssigste Grund lautet, dass Sie ein derart unerträglicher Mensch sind, dass sich keine zurechnungsfähige Frau mit Ihnen vermählen würde – und geisteskranken Damen ist die Eheschließung von Rechts wegen verboten.«

Mr Greens Miene verhärtete sich, und er erhob sich aus seinem Sessel. Mit mahlenden Kiefern rang er verzweifelt nach Widerworten. Dann trat ein breites Lächeln auf sein Gesicht, und herzhaft lachend ließ er sich zurückfallen. »Herrlich. Herrlich. Ihre Grobheiten sind ebenso berühmt wie Sie selbst, Mr Grice, und nun kann ich all meinen Kunden berichten, dass auch ich in ihren Genuss gekommen bin.«

»Ich habe noch einiges mehr auf Lager, was Sie herumerzählen können«, schnaubte mein Vormund. »Ich könnte mich

Mr Green errötete abermals. »Ich verstehe ja eine Menge Spaß, aber …«

»Nun, wie war Ihr Besuch beim Zahnarzt?«, fragte ich, und mein Vormund sah mich irritiert an.

»Aber …«, sagte Mr Green erneut.

»Ich kann es riechen«, erklärte ich, »außerdem fassen Sie sich ständig an die rechte Wange.«

Mr Green klatschte in die Hände. »Nicht schlecht. Da werden Sie Ihren Vormund wohl bald arbeitslos machen. Ich …«

»Könnten Sie mir vielleicht sagen, wieso Sie meine Zeit in Anspruch nehmen?«, fiel ihm Sidney Grice ins Wort, worauf das Lächeln unseres Gastes jäh erlosch.

»Eine schlimme Angelegenheit, Mr Grice«, begann er, während Molly hustend mit dem Tee hereinkam.

Der Narrenverein

»Eine ganz üble Geschichte«, fuhr Mr Green fort, als Molly das Zimmer verlassen hatte. »Haben Sie schon einmal von Finalen-Sterbefall-Vereinen gehört, Mr Grice?«

»In meinen Akten finden sich drei derartige Klubs«, sagte Sidney Grice, »und in einem jeden wurden Mitglieder ermordet oder starben unter höchst dubiosen Umständen. Da ich jedoch nicht hinzugezogen wurde, blieben diese Fälle ungelöst.«

Ich schenkte uns Tee ein.»Was genau ist ein Finaler-Sterbefall-Verein?«

»Ein Verbund von Narren«, sagte mein Vormund, »mit großem Vermögen und mikroskopisch kleinen Spuren gesunden Menschenverstands.«

Unser Gast richtete sich ungehalten auf. »Lassen Sie es mich weniger gefühlsbetont beschreiben«, setzte er an.

Nun war es an Sidney Grice zu stutzen. »Alle Welt weiß, dass ich keine Gefühle habe außer meiner zwiefachen Liebe – zu Besitztümern und zur Wahrheit.«

»Milch und Zucker?«, fragte ich, und Mr Green nickte.

»Solche Vereine sind meist reine Männerbünde«, erläuterte er, »wenngleich dem unseren auch zwei Damen angehören –, deren Mitglieder entweder keine Erben haben oder solche, an denen ihnen nichts liegt. Ihre Testamente sehen nun einen Geldbetrag vor, der gewöhnlich auf dem Gesamtvermögen des

»Mit anderen Worten«, unterbrach ihn Sidney Grice, »es liegt im ureigenen Interesse jedes Mitglieds, ein vorgängiges Ableben seiner Gefährten sicherzustellen.«

»Und deshalb trete ich an Sie heran.« Horatio Green hob mit beiden Händen vorsichtig seine Teetasse. »Schauen Sie, zu siebt haben wir den Verein gegründet und dem Fonds je elftausend Pfund zugesichert, sodass dem letzten Mitglied ganze siebzigtausend Pfund zuzüglich Zinsen zufallen.«

»Und wer bekommt die verbleibenden siebentausend Pfund?«, erkundigte sich mein Vormund.

»Na Sie, Mr Grice.«

Sidney Grice sah auf seine Taschenuhr. »Erklären Sie.«

Mr Green nippte an seinem Tee. »Wir sind nicht so leichtsinnig, wie Sie vermuten, Mr Grice. Zunächst einmal haben wir nur den charakterlich Höchststehenden Beitritt zu unserem Verein gestattet, außerdem sind wir auf die List verfallen, den Tod jedes Mitglieds zu untersuchen, ganz gleich, wie natürlich sein Verscheiden wirken mag. Zu diesem Zweck kamen wir überein, den fähigsten unabhängigen Ermittler im ganzen Empire zu engagieren.«

»Dann sind Sie an der richtigen Adresse«, sagte mein Vormund.

»Allerdings«, fuhr Mr Green fort, »war Mr Cochran unwillens, diese Herausforderung anzunehmen. Also bin ich zu Ihnen gekommen.«

Sidney Grice fasste sich an sein Auge. »Bin ich eine Taube, die Brosamen dieses eitlen Hochstaplers aufzupicken?«

»Ich betrachte es weiterhin als ein Unding, dass man mich nicht eher aufgesucht hat.« Mein Vormund schenkte Mr Green einen eisigen Blick. »Sollte ich das Mandat annehmen, Mr Green« – er pochte auf seine Uhr und stellte den Minutenzeiger vor –, »so nur deshalb, weil mir die Aussicht auf eine Untersuchung Ihres Todes grenzenloses Vergnügen bereiten dürfte. Hoffen wir, dass ich nicht allzu lange darauf warten muss.«

Mr Green hakte beide Daumen in seine Westentaschen und ließ die Finger darauf tänzeln. »Tja, was auch kommen mag, ich werde nicht der Erste sein. Wir haben uns erst vor einer Woche gegründet und schon ein Mitglied verloren.«

»Es tut mir zutiefst leid«, sagte mein Vormund.

»Vielen Dank, aber …«

»Dass ich diesen nutzlosen Trampel eingestellt habe«, fuhr Sidney Grice fort. »Dieser Tee ist so lasch wie ein Franzose, und was treibt sie da eigentlich in der Diele?«

»Ich höre nichts«, sagte ich.

Mr Green legte den Kopf schräg. »Ich auch nicht.«

»Stumpfe Geister haben stumpfe Sinne«, beschied uns mein Vormund und zog zweimal scharf an der Klingelschnur. »Dann sollten Sie mich wohl mit den Einzelheiten vertraut machen.«

»Er hieß Edwin Slab«, setzte Mr Green an, doch mein Vormund brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen.

»Sie werden mir dann Auskunft geben, wenn ich darum bitte. Alsdann …« Er nahm einen kleinen Ledereinband vom Tisch neben seinem Sessel und zog seinen versilberten mechanischen Bleistift Marke Mordan aus der Innentasche seiner Jacke. »Welchen Namen trägt Ihr alberner Verein?«

»Wir haben ihn ›Klub des letzten Todes‹ getauft.«

»Wie originell«, murmelte mein Vormund. »Und wer sind die übrigen Mitglieder?«

Unser Besucher faltete den Bogen auseinander, hängte sich eine Hornbrille um die Ohren und begann: »Edwin Slab, einundachtzig Jahre.«

Mein Vormund hob eine Braue. »Kein wahrscheinlicher Sieger also.« Mr Green widersprach.

»Wir haben darauf geachtet, dass sämtliche Mitglieder ähnliche Lebenserwartungen haben. Die Slabs blicken auf Generationen von Hundertjährigen zurück, und bis gestern war Edwin bei bester Gesundheit.«

»Sie waren befreundet?«

»Herzlichst. Ich habe ihn in den Verein eingeführt.«

»Und wie ist Mr Slab nun auf Platz eins gelandet?«

Es schepperte laut, und Sidney Grice schnellte herum. »Dreckige Gassenlümmel. Haben diese Bengel nichts Besseres zu tun, als Steine gegen meine Fenster zu werfen? An rostigen Röhren, die man sie runterschicken könnte, mangelt es ja nicht.«

»Und nicht an Ratten und Krankheiten, die sie da unten befallen würden«, wandte ich ein. Mein Vormund blieb ungerührt.

»Es ist kein Schaden entstanden«, bemerkte Mr Green. »Sie hätten mal sehen sollen, was die gestern Abend in meiner Apotheke angerichtet haben. Als ich gerade schließen wollte, stürmte eine ganze Horde rein und fing an, Ware von den Regalen zu fegen. Ich wollte die Burschen aufhalten und wurde zu allem Ärger noch umgerissen. Ich wage nicht, daran zu denken, was noch hätte geschehen können, wäre nicht ein Pfarrer mit seiner Tochter aufgetaucht und hätte sie verscheucht.«

»Haben sie etwas gestohlen?«, fragte ich.

»Dazu hatten sie keine Gelegenheit. Ein paar Dinge gingen zu Bruch, mehr nicht. Der Pfarrer hob das meiste auf, und ich

»Sie erleben so selten welche«, teilte ich den beiden mit.

Sidney Grice, der sich erneut mit geschlossenen Lidern zurückgelehnt hatte, schlug die Augen auf und fragte: »Wie viele?«

»Sechs oder sieben.«

»Was denn nun?«

»Spielt es eine Rolle?«

»Käme es zur Verhandlung, würde es für den siebten Bengel eine ungeheure Rolle spielen. Sind Sie diesem Pfarrer vorher schon einmal begegnet?«

Mr Green zuckte zusammen und fuhr sich ins Gesicht. »Ich kenne ihn von einem vorherigen Besuch – ein Pastor Golding von der Sankt-Agatha-Kirche. Er hat selber ein Ohrenleiden und bat mich um Rat.«

»Das bemerkenswerteste Bagatellvergehen, das mir in den vergangenen vier Jahren untergekommen ist.« Mein Vormund wedelte mit einer Hand. »Fahren Sie fort.«

»Nun, ich riet ihm, nach dem Frühstück …«

»Nicht mit diesem Gewäsch. Erzählen Sie mir von Mr Slab.«

Mr Green plusterte sich auf, aber nur für einen Augenblick. »Der Arzt geht von einem Anfall aus.«

»Sie zweifeln daran?«

Mr Green breitete die Arme aus, als wollte er zeigen, dass seine Hände leer waren. »Ich habe keine eigene Meinung in der Sache, Mr Grice, aber die Vereinsregeln verpflichten mich, Sie um eine Untersuchung zu bitten.«

Mein Vormund gähnte. »Ich kann mich derzeit kaum vor Arbeit retten.«

»Es gibt jedes Mal eintausend Pfund, Mr Grice, und noch einen Bonus von zweitausend Pfund, sollten Sie beweisen können, dass ein Mitglied von einem anderen ermordet wurde.«

»Wann fällig?«

»Nach dem Tod des letzten Mitglieds.«

»Das haben wir bedacht. Sollten Sie vor uns allen sterben, wird das Geld für jeden von Ihnen untersuchten Fall derjenigen Person hinterlassen, die Sie als Erben eingesetzt haben.«

»Es gibt aber niemanden, dem ich Geld hinterlassen wollte. Vom Kinderfluch bin ich verschont geblieben.«

»Sie haben eine Mutter«, sagte ich. Er zuckte mit den Schultern.

»Ein paar tausend Pfund würden ihr nichts bedeuten. So viel gibt sie vermutlich jeden Monat aus, um bröcklige Steinklumpen von diesem alten Tempel in Athen mitgehen zu lassen.«

»Jemand anderes im Kreis Ihrer Verwandten und Freunde, an dem Ihnen liegt«, schlug Mr Green vor, doch mein Vormund blickte finster drein.

»Da gibt es niemanden.«

»Was ist mit Miss Middleton?«

»Sie fällt unter keine dieser Kategorien.«

Molly kam mit einer Kanne frisch aufgebrühten Tees herein.

»Vielleicht könnten Sie das Geld mit ins Grab nehmen.« Ich schenkte uns ein und freute mich, es ausnahmsweise dampfen zu sehen, während Molly sich an einem kunstvollen Knicks versuchte und zur Tür hinausstolperte.

»Endlich etwas Vernünftiges aus Ihrem Munde, zumal ich mich verbrennen lassen will.«

Mr Green lachte unsicher, doch Sidney Grice streckte nur die Hand aus und sagte: »Geben Sie mir die Liste.«

Mr Green überreichte das Papier, und mein Vormund klemmte sich seinen Zwicker auf den langen schmalen Nasenrücken.

»Horatio Green«, las er laut vor, als hätte der Name neue Bedeutung für ihn gewonnen. »Edwin Slab, Gentleman; Primrose

»Hat sie etwas mit McKays Wurstwaren zu tun?«, fragte ich. Er nickte.

»Einem Bericht zufolge nahm ihr Vater sie an ihrem zehnten Geburtstag zum Schlachthof mit, und sie amüsierte sich prächtig. Größtes Vergnügen bereitete es ihr, einer Sau die Kehle durchschneiden zu dürfen.«

»Wie grauenhaft.« Ich kämpfte gegen die Übelkeit an.

Sidney Grice schnäuzte sich die Nase. »Und keineswegs das Schlimmste, was ich über sie gehört habe.« Er kratzte sich am vernarbten Ohr. »Sie ist sehr jung.«

»Neunundzwanzig«, bestätigte Mr Green, »aber seit es Aufzeichnungen darüber gibt, ist keiner ihrer weiblichen Vorfahren älter als fünfunddreißig geworden. Vielmehr –«

»Der ungemein equestrisch klingende Warrington Gallop, Inhaber von Gallops Schnupftabakgroßhandel«, fuhr mein Vormund fort. »Pastor Enoch Jackaman, Pfarrer an der Sankt-Hieronymus-Kirche – ich bin seinem Bruder einmal auf der Überfahrt nach Calais begegnet; der Träger des verschrobenen Namens Prometheus Piggety, ein selbsternannter Unternehmer.« Seine Stimme war wohltuend gesunken, hob sich nun aber jäh. »Baronin Foskett«, sagte er laut, und Mr Green setzte sich auf. »Sie kennen die Baronin?«

»Seit nunmehr anderthalb Jahrzehnten hat niemand etwas von ihr gehört. Mein Vater war ein enger Freund des seligen Barons Reginald, und als Kind habe ich oft in Mordent House, dem Stammsitz in Kew, mit ihrem seligen Sohn gespielt, dem Ehrenwerten Rupert. Was gibt es da zu lachen, Miss Middleton?«

Ich verbarg meinen Mund. »Tut mir leid. Aber die Vorstellung, dass Sie spielen …«

Mein Vormund runzelte die Stirn. »Ich war ein vollkommen normaler Junge und Rupert nur dreizehn Jahre älter. Welch ungestüme Freude doch darin lag …«, ein wehmütiger Ausdruck

Mr Green zwinkerte mir zu. »Ein rechter Rotzlöffel also.«

Sidney Grice grunzte. »Mich verblüfft, dass Baronin Foskett sich an solch einem leichtfertigen und törichten Unterfangen beteiligt.«

»Sie ist ganz begeistert davon.« Mr Green nahm sich etwas Zucker, und ich goss Milch hinzu. »Das hat sie mir selbst gesagt.«

»Ich glaubte, sie sei noch in tiefer Trauer und empfange niemanden.« Mein Vormund beugte sich vor. »Sie haben sie getroffen?«

Mr Green trank einen Schluck. »Nun, sozusagen«, sagte er und verzog das Gesicht. »Dieser Tee schmeckt eigenartig.«

Mein Vormund probierte seinen. »Etwas blumig vielleicht. Eine neue Mischung von den unteren Osthängen des Himalaja.«

»Eigenartig«, wiederholte Mr Green und nahm einen weiteren Schluck. Er zuckte zusammen. »So heiß.«

Sidney Grice zog die Nase kraus, schaute kurz verdutzt, dann warf er im Hochschnellen seine Tasse und Untertasse hin. »Halt!« Er warf den Tisch um, zertrümmerte dabei das Porzellan und bespritzte mein Kleid mit heißem Tee. »Spucken Sie’s aus, Mann. Spucken Sie’s aus.«

Unser Besucher blickte in die Runde.

»Irgendwohin! Auf den Boden!«, rief mein Vormund.

Mr Green schluckte. »Das könnte ich nicht.« Er leckte sich die Lippen und verzog das Gesicht. »Liebe Güte, wie das brennt.«

»Sie Dummkopf! Das war …«

»Blausäure«, flüsterte Mr Green verwirrt und ließ die leere Tasse in seinen Schoß fallen. Er wurde blass, und zahllose kleine Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Sein Kopf fiel ruckartig zurück, er riss den Mund auf, verkrallte sich in den

Ich stürzte zu ihm, löste seine Krawatte und knöpfte ihm den Hemdkragen auf. Der Schweiß rann nun seine Schläfen hinunter. Mr Green atmete schwer aus und holte neuerlich bebend Luft, sein Gesicht blutrot angelaufen, die Augen vor Schreck geweitet.

»Helfen Sie mir.« Die Stimme versagte ihm. »Bitte.«

»Tun Sie was«, bellte mein Vormund. »Sie sind diejenige mit medizinischer Erfahrung.«

Mr Green umklammerte seinen Hals. Er hechelte, und ich konnte hören, wie sich seine Lunge mit Wasser füllte. Seine Haut färbte sich dunkelblau.

»Beugen Sie sich vor.« Ich fühlte mich, als würde eine andere die Anweisungen geben. »Und versuchen Sie, langsam zu atmen.« Doch ich wusste, dass vergebens war, was immer ich sagte.

Horatio Greens Gesicht war nun schwarz, während er um Luft rang.

»Sterben Sie ja nicht in meinem Haus«, sagte Sidney Grice. »Ich untersage es Ihnen nachdrücklich.«

Horatio Green knickte ein, und Flüssigkeit gurgelte in seiner Brust. Mit ungeheurer Anstrengung kämpfte er sich noch einmal auf die Beine. Seine linke Hand fuhr nach unten, verfehlte aber die Sessellehne, und er rutschte seitlich weg. Ich bekam seinen Arm zu fassen, und er packte den Ärmel meines Kleides und kniff mir so fest in die Haut, dass ich aufschrie.

»Bleiben Sie bei Bewusstsein«, befahl mein Vormund.

»Ist schon gut«, sagte ich. Ich fand mein Gleichgewicht wieder. »Ist schon gut«, sagte ich noch einmal langsam. »Ich halte Sie und werde Sie nicht loslassen.«

Sein verzweifelter Blick. Ich kannte diesen Blick und hatte gehofft, ihn nie wieder zu sehen.

»Gott segne Sie«, sagte ich, als seine Beine wegsackten. Er war zu schwer für mich.

»Verflixt und zugenäht.« Sidney Grice fuhr sich an die Stirn. »Nun habe ich schon wieder einen Klienten verloren.«

Der tanzende Totenschädel

Ich trat einen Schritt zurück, atmete tief ein und langsam wieder aus, um mich zu beruhigen. »Sie haben einen Klienten verloren? Ist das alles?«

»Für mich schon.«

»Es geht Ihnen also nur ums Geld?«

Sidney Grice sah mich kühl an. »In finanzieller Hinsicht gilt – wie Sie ja wissen – die Devise: Je früher alle sterben, desto besser«, sagte er. »Aber mein Ruf ist äußerst ramponiert, und das hier wird ihm den Rest geben.«

Ich bahnte mir einen Weg um den umgestürzten Tisch und die Scherben unseres Teeservice herum und zog an der Klingelschnur. Der elfenbeinerne Totenschädel vollführte ein makabres Tänzchen. »Was tun Sie da?«

»Ich rufe Molly.« Irgendetwas Scharfes hakte in meiner Brust. »Wir müssen die Polizei rufen.«

»Nein.« Sidney Grice strich sich das Haar zurück und zögerte. »Ja, gewiss.« Er hockte sich hin, um Horatio Greens hervorquellende Augen zu betrachten. »Aber wie haben Sie das Gift zu sich genommen?«, fragte er. »In der Teekanne war es nicht, und Sie haben nichts gegessen.« Er hüstelte.

Der Geruch von Bittermandeln erfüllte den Raum. Ich trat ans Schiebefenster. Es ließ sich kaum bewegen. Womöglich war es seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Plötzlich drang

»Die Milch oder der Zucker können es ebenso wenig gewesen sein. Davon hatte ich ebenfalls«, entsann ich mich. »Und Pillen waren es auch keine, es sei denn, er hat sie sich in den Mund gesteckt, als wir gerade wegschauten.«

»Das hätte ich bemerkt.«

Molly kam hereinspaziert, ihren Staubwedel wie einen Sonnenschirm über die Schulter geworfen. Dann blieb sie jäh stehen und öffnete den Mund. Sidney Grice zeigte mit dem Finger auf sie. »Nicht schreien!«

Sie schloss den Mund, machte nervös einen Schritt nach vorn und blickte zu Boden. »Ist er« – sie schob sich eine Haarlocke zurück unter die Haube –, »tot?«

»Ich fürchte, das ist er«, sagte ich, woraufhin sie sich nach der Zuckerschale bückte, die in die Mitte des Zimmers gerollt war.

Sidney Grice hob die zerschmetterte Tasse unseres Gastes auf und hielt sie sich unter die Nase. »Keine Spur von Blausäure.« Er stellte sie wieder hin und inspizierte die Sohlen von Mr Greens Stiefeln.

Molly starrte ihn fragend an. »Hätten Sie gern welche, Sir?«

»Nein, Molly«, erklärte ich. »Das ist ein Gift.«

»Oh, Sir« – wieder entwischte eine Strähne ihrer Haube – »als ich ganz zufällig an der Tür stand und hörte, wie Sie zu Ihrem Gast sagten, dass Sie hoffen, er würde bald sterben, da hätt ich nicht gedacht, dass Sie ihn gleich auf der Stelle ermorden.«

Worauf ihrem Dienstherrn just das Auge herausfiel. Behände fing er es auf und verstaute es in seiner Westentasche. »Ich habe Mr Green nicht umgebracht.«

Anschließend nahm er Horatio Greens rechte Hand, drehte die Handfläche erst nach oben, dann wieder zurück und inspizierte die Fingernägel. Er hielt sie sich unter die Nase, als wollte er den Duft einer wohlriechenden Blume aufsaugen, und ließ sie dann wieder zurück auf das Bein des Toten fallen.

Sidney Grice richtete sich auf. »Wieso bin ich eigentlich nur von Toten und Schwachsinnigen umgeben?« Er stiefelte zu seinem Schreibtisch.

»Tote gehören nun mal zu Ihrem Beruf, und wenn es irgendwelche Schwachsinnigen in diesem Zimmer gibt, dann haben Sie sie hergebracht.«

Aber mein Vormund hörte mir nicht mehr zu. Er hatte den patentierten selbstfüllenden Füllfederhalter gezückt, saß vornübergebeugt da und schrieb einen Brief.

»Nun, Molly, vielleicht ist das zu viel verlangt, aber hör gut zu.« Er löschte die Tinte, faltete das Schreiben und schraubte die Feder wieder in den Schaft. »Du wirst jetzt in die Diele gehen und die Flagge hissen. Sobald ein Hansom anhält, lässt du dich auf direktem Weg zur Polizeiwache von Marylebone bringen.« Er ließ den Brief in einen weißen Umschlag gleiten, tunkte einen Pinsel in den Leimtopf und verklebte die Lasche. »Halt nicht an, um in Schaufenster zu glotzen oder mit deinen speckigen Tellerwäscherfreunden zu schwatzen. Frag am Tresen nach Inspektor Pound. Unter keinen Umständen darfst du diesen Brief jemand anderem geben. Hast du das verstanden?«

»Und was mach ich, wenn er nich da is?«

»Dann kommst du schnurstracks nach Hause zurück und sagst es mir. Hier hast du zwei Schillinge und vier Pennys. Das sind ein Schilling für die Fahrt und je zwei Pennys für das Trinkgeld pro Strecke.« Er ließ die Münzen in die Zuckerschale fallen. »Los!«

»Die sind nicht speckig«, raunte Molly im Gehen vor sich hin. »Na ja, nicht sehr.«

Ich richtete den Tisch auf. »Und wenn das Gift schon in seinem Mund war?«, mutmaßte ich. »Vielleicht hat er irgendetwas gegen die Zahnschmerzen gelutscht.«

Sidney Grice schnippte mit den Fingern. »Baumgartner«, stieß er hervor.

»Was ist das?«

»Hier haben wir’s.« Er fischte eine Akte heraus, öffnete sie und brachte ein Bündel handschriftlicher Notizen und Zeitungsauschnitte zum Vorschein. »Nicht was, sondern wer.« Er reichte mir die vergilbte Ausgabe einer Gazette – Wiener Zeitung stand dort zu lesen. »Otto Baumgartner war ein österreichischer Zahnarzt, dessen Klientel auch zahlreiche Mitglieder des Habsburger Königshauses umfasste. Im Sommer ’54 kam es unter seinen Patienten zu rätselhaften Todesfällen, nur wenige Tage, Stunden oder, in einem Fall, gar Minuten nach der Behandlung. Nachdem auch der Erzbischof von Wien vor dem Hauptaltar seiner Kathedrale tot umgefallen war, orderte Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich eine Untersuchung an.« Die Zeitung war staubtrocken und knisterte beim Umblättern. »Doch erst Monate – und weitere Todesfälle – später gelang es der Polizei, einen Zusammenhang zu den Zahnarztbesuchen herzustellen«, fuhr Sidney Grice fort. »Bei der Durchsuchung von Baumgartners Praxis fand man eine Flasche Strychninpulver – genug, um die halbe Stadt auszulöschen. Baumgartner legte ein umfassendes Geständnis ab. Er hatte die Löcher in den Zähnen seiner Patienten mit dem Pulver gefüllt und dann die Plomben darüber so gelockert, dass sie herausfielen, sobald der Patient eine Mahlzeit oder auch nur ein heißes Getränk zu sich nahm.« Ich begutachtete eine Skizze, die ein Künstler von dem Mörder gemacht hatte, ein rundlicher, vergnügt aussehender Bursche mit Backenbart. »Man schätzt, dass Otto Baumgartner über vierzig seiner Patienten getötet hat.« Sidney Grice nahm die Zeitung wieder an sich. »Doch die tatsächliche Opferzahl wie auch sein Motiv wird man wohl nie eruieren, da es ihm vor seiner Festnahme gelungen war, sämtliche

»Sollten wir das nicht lieber der Polizei überlassen?«

»Wo immer das Verbrechen begangen wurde, hier war es nicht. Also, ich packe die Leiche unter den Armen …«

»Er hatte einen Namen.«

»… und hebe sie an, dann können Sie …«

Ich zog den Sessel weg. Für seine Größe war Sidney Grice überraschend kräftig. Er ließ Horatio Green nahezu geräuschlos zu Boden sinken. »Drehen Sie das Gas auf.«

Die weißen Flammen hoch oben an der Wand änderten kaum etwas am mittäglichen Dämmer. Mein Vormund setzte seinen Zwicker auf, kniete sich neben den leblosen Körper, öffnete Mr Greens Kinnlade und bewegte den Kopf des Toten hin und her, um das Licht einzufangen. Anschließend zog er ein weißes Taschentuch hervor, wischte über den offenen Mund und begutachtete den blutigen Stoff, bevor er ihn in den kalten Kamin schleuderte.

»Was halten Sie davon, March?«

Ich hockte mich auf der anderen Seite hin und schaute mir Horatio Green genauer an, der beißende Geruch brannte mir in den Augen und machte mich benommen.

»Er hat sich böse auf die Zunge gebissen, und seine Kehle ist vereitert. In seinem Gebiss« – ich zählte nach –, »fehlen sieben Zähne. Die beiden großen Backenzähne unten links sind erst kürzlich mit Silberamalgam gefüllt worden, und oben stecken ebenfalls drei Plomben, aber die sehen allesamt unversehrt aus.« Ich beugte mich vor, um ihn von der anderen Seite zu betrachten. »An der Rückseite seines oberen rechten Eckzahns ist ein großes Loch. Vielleicht war dort eine Füllung.«

»Möglich.« Mein Vormund klang wenig überzeugt. »Sehen wir mal in seiner Jacke nach.«

In der linken Innentasche steckte eine Brille und in der rech

»Auktionator. Weinhändler und – na also – Mr Silas Braithwaite, Zahnarzt, Tavistock Square 4. Ich denke, es könnte sich lohnen, Mr Braithwaite einen Besuch abzustatten.« Er stopfte die Karten zurück in die Brieftasche und ließ sie wieder in der Jackentasche des Toten verschwinden. Dann rappelte er sich auf und klopfte sich die Hosen ab. »Vorher benötige ich aber etwas Ruhe zum Nachdenken.«

Mein Vormund ging zurück zu seinem Sessel, setzte sich vorn auf die Kante, den Blick unverwandt auf die Leiche zu seinen Füßen gerichtet. Er fischte zwei Halfpence aus seiner Westentasche und schnippte sie zwischen den Fingern seiner Linken hin und her. Ich hörte jemanden Banjo spielen und trat ans Fenster. Auf dem Gehsteig stand ein junger Mann. In einem hellen Tenor sang er zur Melodie von My Bonny:

Am Montag hatt’ ich Scherereien,

zu Sidney Grice ging ich sodann.

»Zahl nur«, sprach er, »kein Bang’«.

»Bald wirst du baumeln am Strang«.

Ein paar Passanten blieben stehen, während er schunkelnd den Refrain anstimmte:

»Baumeln, baumeln, bald wirst du baumeln am Strang, am Strang.«

Zwei junge Damen hielten sich kichernd die weiß behandschuhten Hände vor den Mund, und das kleine Mädchen an ihrer Seite fing an, Walzer zu tanzen. Und alldieweil klimperten die Münzen, und Sidney Grice saß reglos da, mit stierem

»Baumeln, baumeln, bald wirst du baumeln am Strang.«

Ich zog das Fenster wieder herunter, ließ die Straße verstummen und dachte, wie seltsam es war, dass eine simple Glasscheibe uns die Welt vom Leibe halten kann.

Dann hörte ich, wie die Haustür geöffnet wurde und das Getöse des Verkehrs kurz anschwoll, bevor es jäh erstarb. Mein Vormund blickte auf, als wäre er gerade aus einem angenehmen Traum erwacht, und erhob sich aus dem Sessel.

»Vertrauen Sie mir, March?«, fragte er, zupfte seine Manschetten zurecht und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

»Manchmal«, antwortete ich.

»Dann würde ich Sie darum ersuchen, es auch bei dieser Gelegenheit zu tun.«

»Inspektor Pound«, verkündete Molly, »is nich …«

»Ein Schilling Lohnabzug!«, bellte Sidney Grice. »Wie oft habe ich dir schon verboten, is nich zu sagen?«

»Aber das is nich gerecht. Ich hab nix falsch gemacht.« Molly fingerte verlegen an ihrer Schürze. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass …«

»Zwei Schillinge.«

»Aber …«

»Kein aber.« Er hieb in die Luft. »Wäre ich nicht bekannt für meine Herzensgüte, würde ich dich umgehend und ohne Empfehlungsschreiben entlassen«, sagte er. »Ich bin gleich draußen … Verschwinde.« Dann wandte er sich mir zu. Leise und eindringlich gemahnte er mich: »Das ist jetzt sehr wichtig, March. Es gibt keinen Grund, den Zahnarzt zu erwähnen. Wir haben keinerlei Beweise, das alles sind reine Vermutungen. Wir müssen Pound seine eigenen Schlüsse ziehen lassen. Verstehen Sie das?«

»Ja, aber …«

Ich versuchte, mein Kleid wieder ein wenig herzurichten. Vorne und an den Seiten war es voller Teeflecken.

»Also gut.«

Ein Danke schön wäre nett gewesen, aber Sidney Grice hatte sich nie große Mühe gegeben, nett zu sein. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschierte er schnurstracks zur Tür und riss sie auf.

Die Spinner von Wapping

Der Mann in der Diele war nicht Inspektor Pound. Er war kleiner, älter, frisch rasiert, müffelte aber leicht.

»Wollt’s Ihnen ja sagen.« Molly schlich sich davon.

»Sind Sie eine Bedienstete?«, fragte der Fremde.

»Nein«, erwiderte ich. »Und Sie?«

Er warf sich in die Brust. »Nein, Miss. Ich bin Ermittler.«

»Das bin ich auch.«

»Aber Sie sind ein Mädchen.« Er sprach leise, aber mit klarer Stimme. Seine Fingernägel waren abgekaut.

»Dass Ihnen das auffällt … Sie müssen ein exzellenter Ermittler sein«, sagte ich, als mein Vormund dazwischentrat und die Hand ausstreckte.

»Inspektor Quigley. Kümmern Sie sich nicht um Miss Middleton. Sie hat Sinn für Humor.«

»Konnte selber nie einen Nutzen drin sehen«, sagte der Inspektor beim Händeschütteln, und Sidney Grice grunzte.