Teil III: Die Segmentträger einer Industrie 4.0

Teil IV: Lösungsbeispiele aus den Branchen

Teil V: Industrie-4.0-Förderung und Start-ups

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Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

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Umschlagentwurf: Goldener Westen, Berlin
Umschlaggestaltung: Kienle gestaltet, Stuttgart
Satz: Claudia Wild, Konstanz

September 2017

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart
Ein Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

Vorwort

Dieses Buch ist für den Praktiker1 geschrieben. In den einführenden Aufsätzen (Teil I) wird die grundsätzliche Bedeutung von Industrie 4.0 beleuchtet. Vertiefende Betrachtungen einzelner Fachgebiete, die für alle Branchen relevant sind, werden im Teil II präsentiert. Teil III stellt Vertreter der Haupt-Segmentträger von Industrie 4.0 vor. Anhand betroffener Branchen (Teil IV) werden Lösungsbeispiele und spezielle Aspekte beleuchtet. Dies soll einen Eindruck über die unterschiedlichen Ansätze in verschiedenen Wirtschaftsgebieten vermitteln und den Leser anregen, die für ihn passende Lösung für sein Unternehmen beziehungsweise für die ihn betreffende(n) Wertschöpfungsstufe(n) zu finden. Teil V gibt einen Einblick in die Welt der Sponsoren und Helfer für Start-ups (V.1) und anhand einiger Beispiele in Start-ups selber (V.2).[2]

Das Spektrum dieses Buches umfasst die Implikationen von Big Data auf die aktuelle technologische Entwicklung, die in Deutschland mit „Industrie 4.0“ bezeichnet wird, in den USA mit „Industrial Internet of Things“ (IIoT) und in China mit „Industrie 2025“. Die Sichtweisen sind nicht ganz deckungsgleich – und die Bedrohungen Deutschlands sind unterschiedlich: aus den USA im Wesentlichen durch die großen Internet-Companys und die Lösungsanbieter, die sich zwischen den Lieferanten von Produkten und Systemen und dessen bisherige Kunden schieben. In den USA ist das IIoT-Geschäft durch die großen Business-to-Consumer-(B2C-)Anbieter geprägt. Die Bedrohung aus China kommt aus dem gewaltigen Low-End-Geschäft, das in den kommenden Jahren in das Midrange und High End vordringen wird. Das soll in den Beiträgen zu den USA (Kapitel 4) und China (Kapitel 5) beispielhaft erläutert werden. Die Kenntnis auch der Bewegungen im Ausland ist für den deutschen Unternehmer wichtig zur Verteidigung und Ausrichtung des Geschäftes im globalen Kontext. Die grundlegende Philosophie dieses Buches ist ambivalent, so wie die Strategien der Unternehmer unterschiedlicher Branchen und Größenordnungen gegenüber Industrie 4.0 verschieden sein werden. Der eine wird sich für die radikale Disruption entscheiden müssen, der andere für Migration. Beides kann richtig sein. Beides kann bedrohlich sein. Jedes Unternehmen muss letztlich seinen Weg finden – nur Nichtstun ist tödlich. Dafür sollen die Beispiele aus den Branchen Anregungen liefern. Industrie 4.0 steht aber insgesamt in einem historischen Entwicklungskontext, der sich aus der sogenannten dritten Revolution entwickelt – das ist der Weg von der Mechanik über die Mechatronik bis hin zu den Embedded Intelligent Systems. Die Entwicklung, in der wir uns befinden, geht teilweise bis zu 30 Jahre zurück, das 3-D-Drucken etwa auf das industrielle Aufbauschweißen, seinen Vorläufer, oder die virtuelle Realität auf Militär-Applikationen. Mit den jüngsten Fortschritten sind aber die Anwendungen in der heutigen industriellen Breite erst wirtschaftlich geworden. Industrie 4.0 beinhaltet also nicht nur die Software- und Lösungsorientierung, verbunden mit der Cloud und der Vernetzung, sondern eine Entwicklungswelle einzelner Technologien in nie gekanntem Ausmaß und mit großen Synergieeffekten. Auch das soll dieses Buch an Beispielen aufzeigen. Gleichzeitig haben wir es heute mit den Anfängen einer De-Globalisierung zu tun, angeschoben durch populistische Bewegungen in Europa und den USA. China mit seiner Staatswirtschaft ist praktisch das Gegenmodell, das aber auf dieselbe Richtung zielt, nämlich die nationale Abschottung und den Schutz nationaler Anbieter durch Zölle, geschützte Branchen und zahlreiche operative Barrieren, wie etwa den mangelhaften Schutz von Intellectual Property. Dies sind Themen in Hinsicht auf Big Data, die Datensicherheit und die Cloud, mit denen sich dieses Buch zentral beschäftigt. Das Ausmaß der Re-Nationalisierung, das uns bevorsteht, das Abrücken von voll vertikalisierten Global-Scale- und Continental-Scale-Factorys kann derzeit noch nicht abgeschätzt werden. Industrie 4.0 bietet aber die Vehikel, mit denen auch dieses Problem bewältigt werden kann, nämlich durch die in Aussicht gestellten kundennahen Mini-Fabs, die Produkterzeugung via 3-D-Drucken auf Basis virtueller Designs, die von weither zugespielt werden können. Dezentral und kundennah ansiedelbar sind auch Montagen, kundenspezifische Lösungen („Losgröße 1“), Kleinserien, Produkt-Dokumentationen, Service und auch Recycling-Schritte in einer vollständigen Kreislaufwirtschaft. Mithin wird damit auch das Thema Umweltschonung berührt.[3-4]

Dabei werden sich die klassischen Grenzen zwischen Wettbewerbern, Herstellern, Kunden und Lieferanten verwischen. Es werden große Netzwerke entstehen, unter Zusammenschlüssen von globalen Spielern, Mittelständlern und Start-ups. Dies stellt alle Unternehmer vor große Herausforderungen. Im sechsten und letzten Teil dieses Buches soll deshalb das Feld der Allianzen und Unternehmensübernahmen (Mergers & Acquisitions) behandelt werden, neben dem organischen Ausbau der „zweite Weg“ zum Geschäftsmodell 4.0. Auch hier wird sich das Potenzial aus „Big Data & Analytics“ niederschlagen, und die daraus resultierende Reifung der M&A-Prozesse wird starke Veränderungen hervorbringen.[5]

Der Herausgeber dankt den vielen Co-Autoren, die sich die Mühe gemacht haben, interessante und aufregende Beiträge in großer Offenheit zu schreiben. Sie geben damit Einblicke in ihre Unternehmen und Fachgebiete, wie sie bisher nicht zusammengestellt waren, und legen wissenschaftlich-praktische Entwicklungen der jüngsten Zeit offen. Besonderer Dank ist den Beratern von Ernst & Young geschuldet, mit denen ich 2016 mehrere Konferenzen zu Industrie 4.0 realisieren durfte. Sie bildeten letztlich die Grundlage für die Entstehung dieses Buches. Frau Barbara Buchter und ihrem Team danke ich für das sorgfältige Lektorat der zahlreichen Artikel und Frau Claudia Dreiseitel für das Projektmanagement. Ferner schulde ich Frau Marianne Wagner besonderen Dank für die Produktion und ich danke den Herren Martin Bergmann und Stefan Brückner, die mich als Produktverantwortliche für dieses Buch über den ganzen Prozess immer verständnisvoll begleitet haben.

München im April 2017Kai Lucks

1Der Inhalt dieses Handbuches bezieht sich in gleichem Maße auf Frauen und Männer. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird jedoch die männliche Form für alle Personenbezeichnungen gewählt. Die weibliche Form ist dabei stets mitgemeint.[6]

Teil I: Einführung

1   Grundlagen und Definitionen einer Industrie 4.0

Kai Lucks

Dieser einleitende Aufsatz nennt exemplarisch technische Erfindungen, die zur industriellen Entwicklung der Neuzeit maßgeblich beitrugen. Die daraus resultierenden Entwicklungsschübe werden in der breiten Literatur gemeinhin als „industrielle Revolutionen“ bezeichnet. Die uns heute betreffende „vierte industrielle Revolution“ erwächst aus der gewaltigen Leistungssteigerung der Datenverarbeitung (Big Data) und der Vernetzung (z. B. durch die Cloud). Das Konzept geht zurück auf die „fraktale Fabrik“ der 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Neben der Industrie sind zahlreiche Gebiete des täglichen Lebens betroffen. Grundelement der Industrie 4.0 ist das cyber-physische System (CPS), auf dem die Vernetzung der Dinge und insbesondere die Fertigung aufbaut.

1.1   Zur Geschichte der industriellen Entwicklung

Die Entwicklung der Menschheitsgeschichte verlief nicht in einer stetigen Bahn, sondern sie war immer durch Schübe gekennzeichnet. Diese Schübe verliefen als Prozesse in sich selbst, von der Entdeckung eines Phänomens über die erste Anwendung, die Verbreitung der Erkenntnis, das Auffinden von Anwendungen. In der Neuzeit sind es Prozesse, die über Jahrzehnte gehen. Darüber hinaus überlagern sich Entwicklungen, verstärken sich gegenseitig und führen zu überraschenden Lösungen. Auf der Ebene der sich ausdifferenzierenden Branchen kommt es scheinbar zu Brüchen. Neue Entwicklungen reizten auch immer zur Perfektionierung der hergebrachten Technologien, etwa der Technik der Pferdekutsche und der Logistik mit Poststationen, die die substituierenden Technologien, hier die Dampflok und das Auto mit dem Verbrennungsmotor, in ihrer Vermarktung um Jahrzehnte verzögerten. Damit es zu einem industriellen Durchbruch kam, brauchte es meist mehrere Entwicklungsstränge, die sich gegenseitig durch Nachfrage-Effekte inspirieren mussten, etwa das Rad-Schiene-System (Dampfmaschine vs. Stahlindustrie) oder das System Auto-Pneu-Fahrbahn (Verbrennungsmotor, industrielle Gummiherstellung, Makadamisierung). Man kann an dieser Stelle regelmäßig Staueffekte erkennen, die sich dann quasi schlagartig lösen, wenn die neue Technologie einen Leistungsstand erreicht hat, der von der alten Technik nicht mehr bewältigt werden kann. Die vorlaufenden Entwicklungen brauchten lange, bis sie sich in verschiedenen Branchen niederschlugen. So ist etwa das 3-D-Drucken, das als Ausprägung der Industrie 4.0 herangezogen wird, keinesfalls eine Erfindung des 21. Jahrhunderts, sondern es wurde bereits in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts als Aufbauschweißen[7] in der Stahlindustrie angewendet. Insofern darf man den Begriff Disruption nur als Kennzeichen eines schubartigen Wandels auf Branchen- und Unternehmensebene sehen, wobei Beginn und Ende diffus sind, keinesfalls digital (ein-aus) und immer schwer vorhersehbar. Wie das Beispiel des Schienen- und Straßenverkehrs zeigt, kamen dabei meist mehrere Technologien zusammen. Zweifelsfrei gewannen dabei diejenigen Unternehmer, die die Protagonisten der neuen Entwicklung waren, und es gingen die unter, die sich dagegenstemmten, denn die Zeit der alten Technologie war abgelaufen. Unternehmer, die den Wechsel über eine technologische Revolution hinweg überstanden, waren eher die Ausnahme. Und der Glaube an die althergebrachte Technologie bremste die technische Entwicklung. So war Kaiser Wilhelm II. überzeugt, dass das Auto nur eine periodische Erscheinung sei und dass das Pferd mit Wagen langfristig den Verkehr dominieren werde.[8]

Zur Einordnung der sogenannten Industrie 4.0 folgt an dieser Stelle ein kurzer Abriss der technisch-sozialen Revolutionen, die in der Neuzeit stattfanden. Die Ordnung in vier diskrete, zeitlich verdichtete technologisch-soziale Revolutionen, wie es heute im deutschsprachigen Raum gängige Praxis ist, ist wissenschaftlich nicht haltbar. Dem widersprechen auch andere Wellentheorien, etwa das Modell der neuzeitlichen M&A-Wellen, die anders verliefen als die industriellen Revolutionen.2 Wie erläutert wurde, liegen die maßgeblichen Grundlagenentwicklungen der Neuzeit häufig um viele Jahrzehnte vor der breiten industriellen Anwendung. Fälschlich impliziert dies ja, dass es zwischen den vorgenannten industriellen Revolutionen keine großen Entwicklungsschübe gegeben hat. So entstand das Auto in der Periode zwischen der zweiten und dritten industriellen Revolution. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass verschiedene Autoren und verschiedene Berater die einzelnen „Revolutionen“ anders datieren und unterschiedlich definieren. Bezeichnenderweise weichen die US-Amerikaner und die Chinesen diesem Problem aus, indem Erstere das aktuelle Veränderungs-Phänomen mit der Formulierung „Industrial Internet of Things (IIoT) bezeichnen (siehe Kapitel 4) und die Chinesen von „Industrie 2025“ sprechen (siehe Kapitel 5).[9]

Da das vorliegende Buch keine sozial- und technikhistorische Abhandlung bieten kann, sei an dieser Stelle nur kurz auf diesen Missklang hingewiesen und ansonsten der in Deutschland gängigen Praxis gefolgt, von vier technisch-wirtschaftlichen Revolutionen zu sprechen. Letztlich geht es beim vorliegenden Buch um die Verteidigung des Industriestandortes Deutschland und Europa, da mögen historische Vereinfachungen zulässig sein.

1.2   Meilensteine der technisch-industriellen Entwicklung von 1750 bis 1960

Im Folgenden werden die technisch-sozialen Revolutionen verkürzend und stichwortartig an jeweils herausragenden technischen Neuerungen festgemacht. Dies soll verdeutlichen, dass es sich um schubartige Entwicklungen gehandelt hat, die aber oft einen langen historischen Vorlauf hatten, weit vor der eigentlichen technischen Revolution, und die bis zur Durchsetzung gegenüber der herkömmlichen Technologie eine Phase der technologischen Verbesserungen durchlaufen haben und sich gegen Optimierungen der herkömmlichen Technologien durchsetzen mussten. Von einem schlagartigen Wandel kann nicht die Rede sein. Insofern ist auch der für die derzeit stattfindende Entwicklung gebräuchliche Begriff der „Disruption“ mit Vorsicht zu verwenden und zumindest von Branche zu Branche unterschiedlich zu interpretieren. Zur zusammenfassenden sozio-ökonomischen Entwicklung siehe Abbildung 1.1.[10]

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Abb. 1.1: Zur Geschichte der industriellen Revolutionen

1.2.1   Die erste industrielle Revolution

Die sogenannte erste industrielle Revolution ist in den Zeitraum von 1750 bis 1780 zu datieren. Sie gilt als Periode der Mechanisierung. Zentrale Erfindungen und Entwicklungen sind:

Mechanischer Webstuhl

Bereits im 16. Jahrhundert entwickelte man die ersten maschinellen Webstühle, die meist wassergetriebenen Bandmühlen. 1785 erhielt Edmund Cartwright (1743–1823) das Patent auf den ersten funktionsfähigen mechanischen Webstuhl. Dies führte zur Industrialisierung der Textilwirtschaft und letztlich zu sozialen Spannungen wie den Weberaufständen.

Vom Eisen zum Stahl

Das Roheisen wird im seit 1742 angewendeten Gussstahlverfahren zusammen mit Schrott geschmolzen. Im Jahre 1784 entwickelte Henry Cort (1740–1800) in England das Puddelverfahren. Dabei wird die schon zäh werdende Roheisenmasse mit Stangen gewendet, sodass möglichst viel der Oberfläche mit der Umgebungsluft in Berührung kommen kann. Durch diesen Sauerstoffkontakt wird das Roheisen gefrischt und so zu Stahl verarbeitet.

Dampfmaschine

Die Anwendungen der ersten funktionsfähigen Dampfmaschine von Thomas Newcomen (1663–1729) fanden sich ab Anfang des 18. Jahrhunderts im Steinkohlebergbau zur Wasserhaltung. James Watt (1736–1819) verbesserte die damals verbreitete Newcomen-Dampfmaschine ganz wesentlich. Seine Maschine von 1788 ebnete den Weg für Serien- und Massenproduktion, wie sie in Großbetrieben und Fabriken ablaufen.[11]

Fließband

Bereits im späten 15. Jahrhundert wurden in Venedig Schiffe fließbandartig gefertigt. 1785 ließ Honoré Blanc (1736–1801) für Ludwig XV. Musketen in Massenproduktion herstellen. Eli Whitney (1765–1825) gewann 1798 den Auftrag der amerikanischen Regierung zur Fertigung von 10.000 Musketen. Er setzte als Erster ein Fließband zur industriellen Massenfertigung ein, das von einer Dampfmaschine betrieben wurde. Henry Ford (1863–1947) setzte die Fließbandfertigung erstmals 1913 in der Autoindustrie ein. Er soll dabei auf die Prozesse in den Schlachthöfen Bezug genommen haben.

1.2.2   Die zweite industrielle Revolution

Sie lässt sich für den Zeitraum von 1850 bis 1870 ansetzen. Sie ist durch die Stahlwirtschaft und Elektrifizierung gekennzeichnet. Zentrale Erfindungen und Entwicklungen sind:

Industrielle Stahlerzeugung

Im Windfrischverfahren werden Begleitstoffe des Eisens, vor allem Kohlenstoff, durch Verbrennung weitgehend entfernt. Das nunmehr härtbare Material wird unter dem Begriff „Stahl“ geführt. Das auch „saures Windfrischverfahren“ genannte Bessemerverfahren wurde 1855 von Henry Bessemer (1813–1898) entwickelt. Das Thomasverfahren (auch „basisches Windfrischverfahren“ genannt) wurde 1878 von Percy Carlyle Gilchrist (1851–1935) und Sidney Thomas (1850–1885) erfunden.[12]

Das Siemens-Martin-Verfahren war von 1864 an bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die bevorzugte Stahlherstellungsmethode. 1864 wurde das Verfahren von Friedrich Siemens (1826–1904) und Wilhelm Siemens (1823–1883) erfunden und zusammen mit Pierre-Émile Martin (1824–1915) umgesetzt.

Dynamomaschine

Diese Maschine wurde 1866 von Werner von Siemens (1816–1892) erfunden. Sie erlaubte auf ökonomische Weise die Umwandlung mechanischer Energie in elektrische Energie.

Zeiger-Telegraf

Den ersten Zeigertelegrafen konstruierte 1839 Charles Wheatstone (1802–1875). Im Jahr 1846 baute August Kramer (1817–1885) eine verbesserte Version, welche im Folgejahr von Werner von Siemens und Johann Georg Halske (1814–1890) industriell hergestellt wurde und die Unternehmensgeschichte von Siemens begründete. Mit dem Zeigertelegrafen wurde die Kommunikationstechnik revolutioniert.

Dampflok

Die Dampflock war Kernstück der Entwicklung der Eisenbahn, für deren Bau der Stahl vor allem gebraucht wurde. Das erste Modell mit damals sogenanntem Hochdruckdampf baute Richard Trevithick (1771–1833) im Jahr 1797. Die erste im Dauerbetrieb brauchbare Dampflok baute 1814 George Stephenson (1781–1848).

Hygiene und Wasserwirtschaft

Hygiene und Wasserwirtschaft waren Mitte des 19. Jahrhunderts der Schlüssel gegen Epidemien und für das Anwachsen der Städte. Beispielhaft zu nennen sind die grundlegenden Arbeiten zur Hygiene von Max von Pettenkofer (1818–1901).[13]

1.2.3   Die dritte industrielle Revolution

Die dritte industrielle Revolution ist im Zeitraum von 1950 bis 1960 anzusiedeln und hat die Automatisierung und die beginnende Digitalisierung und Mikroelektronik zu ihrem Kern. Die industrietreibenden Kern-Technologien sind:

Halbleitertechnik

Die Halbleitertechnik geht auf die Entdeckung des Gleichrichtereffektes durch Ferdinand Braun im Jahr 1874 zurück. 1947 wird in den Bell Laboratories der erste Bipolartransistor realisiert. Dies begründete die Mikroelektronik. Sie führt in der dritten industriellen Revolution zu Entwurf und Fertigung von Produkten auf Basis von Halbleitermaterialien, vor allem mikroelektronischen Baugruppen (z. B. integrierten Schaltungen).

Hochreines Silizium

Hochreines Silizium, das erstmals 1954 von Eberhard Spenke (1905–1992) und seinem Team in der Siemens & Halske AG im Zonenschmelzverfahren hergestellt wurde, lieferte die Basis zur großtechnischen Herstellung des Basismaterials der Halbleiterproduktion.

Mikrosystemtechnik und Photovoltaik

Die Mikrosystemtechnik und Photovoltaik leiten sich aus der Halbleitertechnik ab. Breite Anwendungsfelder finden sich im Konsum- und Investitionsgütergeschäft.

Digitalisierung von Produkten und Systemen

Diese Entwicklung vollzog sich parallel. Als erstes digitales Produkt der Siemens-Medizintechnik ist zum Beispiel das Ultraschall-Diagnosegerät zu nennen (1957).

Automatisierung
[14]

Die Weiterentwicklung der Fließbandfertigung mithilfe der Automatisierung ist eng mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Mit ihr galt es, die unterschiedlichen Taktfrequenzen für die einzelnen Arbeitsschritte auf den Takt des Fließbandes zu beschleunigen und abzustimmen.

1.3   Der Übergang von der Industrie 3.0 zur Industrie 4.0

Das Computergeschäft war ursprünglich vertikalisiert und wurde von Unternehmen dominiert, die vom Halbleiter bis zur Software alles abdeckten. Grundlegende unternehmerische Ideen führten immer auch zur Infragestellung der unternehmerischen Modelle. So zerlegten „horizontale Spezialisten“ das Computergeschäft, das fortan von Halbleiterherstellern, Hardwaresystemherstellern und Softwareunternehmen bestimmt wurde. Microsoft konnte entstehen, weil IBM überzeugt war, dass das Geschäft mit offener Software eine uninteressante Nische sei.

Apple ging den umgekehrten Weg, blieb mit seinem PC beim vertikalen Modell eigener Hard- und Software, scheiterte damit zunächst und musste von Bill Gates gerettet werden. Beim zweiten Anlauf, getragen vom Geschäft mit Mobiltelefonen, erstand Apple glänzend neu. Motorola, der Marktführer für analoge Mobiltelefonie, verpasste die Digitalisierung und wurde von Apple überholt. Treiber waren dabei die offenen Apps, mit denen jeder Nutzer sein Telefon personalisieren konnte.

Niemand glaubte zu dieser Zeit an die Größenordnung, die das Geschäft mit PCs und Software erreichen würde. Das aufkommende Internet war der eigentliche Treiber, sodass das Consumergeschäft nicht nur zum Volumentreiber wurde, sondern auch noch die technischen Spitzenanforderungen bestimmte, etwa mit dem Spiele-Geschäft.[15]

Mit dem Internet entstanden im Silicon Valley die großen internetgetriebenen Unternehmen, die über keinerlei Hardware verfügten, aber die sich zwischen die klassischen Dienstleister, Produkthersteller und Endkunden schieben konnten, ohne über eigene Infrastruktureinrichtungen und Hardware zu verfügen. Die Spanne geht hier von E-Bay und PayPal über Google und Amazon bis in die sozialen Medien wie LinkedIn. Das Modell wurde von Firmen aufgegriffen, die sich zwischen die klassischen Dienstleister wie Hotels, Reisebüros und Taxiunternehmen schieben konnten und die damit heute den Weltmarkt bestimmen. Dies sind heute die führenden Global Player, die klassischen Dienstleister und Hardwareanbieter wurden zu Zulieferern degradiert. Booking.com und Airbnb verfügen über mehr Betten als die größte Hotelkette und Uber über das größte Netz an Fahrzeugen, ohne auch nur ein Taxi zu besitzen.

Es ist also nicht nur die Technik, sondern das vom World Wide Web bereitgestellte weltweite Kommunikationsnetz, verbunden mit Softwarelösungen, die die direkte Kommunikation zwischen den Lösungsanbietern und den Endkunden weltweit ermöglichen. Damit verschieben sich die Geschäftsmodelle klassischer globaler Dienstleister.

Am stärksten ist die klassische Autoindustrie gefährdet, denn sie wird von vier Bewegungen gleichzeitig getroffen: (1) von der Fertigung nach dem Modell der Industrie 4.0, (2) von der Elektromobilität, (3) vom autonomen Fahren und (4) vom Angebot mobil zu sein, auch ohne ein Auto zu besitzen.[16]

Zu viele Industrien haben wir durch eigene Fehler schon verloren. Zu nennen sei die Fotobranche, die „Braune Ware“, die Magnetbahn und weitgehend Computer und Telekommunikation. Diesmal würde es mit der Autoindustrie die wichtigste Branche treffen und damit das Überleben Deutschlands als führende Industrienation. Dabei ist an dieser Stelle die Autobranche nur stellvertretend zu nennen, denn die Digitalisierung und Vernetzung wird viele Branchen erfassen – zweifellos in unterschiedlicher Weise, Geschwindigkeit und Durchdringung. Dieses Buch ist der Versuch, maßgebliche Branchen und Einflussgrößen nebeneinanderzustellen und dabei den Blick nicht nur auf die Großkonzerne zu richten (von denen maßgebliche an diesem Buch mitgewirkt haben), sondern auch den Mittelstand (Deutschland zählt 3,65 Mio. Unternehmen, davon fast 12.600 mit einem Umsatz von über 50 Mio. EUR3) und die Start-up-Szene, die die aktuellen Entwicklungen maßgeblich treibt, nicht nur in der Software- und Dienstleistungsbranche, sondern auch durch fundamentale Entwicklungen im Hardware-Bereich.

Die US-amerikanischen Internet-Unternehmen haben uns gezeigt, dass das Modell des Lösungsgeschäftes, mit oder ohne Verfügbarkeit der davorliegenden Dienstleistungs-, Produkt- und Systemerstellung, ein Modell ist, das sich grundsätzlich auf viele Branchen übertragen lässt. Auf diesem Gedanken beruhend, wurden viele Start-ups gegründet, und viele klassische Hersteller haben ihr Geschäftsmodell ergänzt oder umgebaut. Beispielhaft sind an dieser Stelle Daimler und die Deutsche Bahn zu nennen, die auf unterschiedlichen Pfaden die „Mobilität“ zu ihrem Geschäft erklärten. Daimler setzt dabei auf das Mietauto. Die Deutsche Bahn hat über 240 Projekte unter dem Schirm „Industrie 4.0“ auf den Weg geschickt. Der Werkzeugmaschinenbauer Trumpf hat mit AXOOM eine offene Software-Plattform geschaffen, auf der im ersten Halbjahr nach Gründung im Jahre 2015 über 120 Unternehmen ihre offenen Apps angesiedelt haben, z. B. zur Herstellung von Blumenerde oder zum Handel mit Stahl.[17]

1.4   Von der fraktalen Fabrik der 1990er-Jahre zur Smart Factory der Industrie 4.0

Viele Elemente der sogenannten Industrie 4.0 finden sich bereits im Konzept der fraktalen Fabrik der 1990er-Jahre wieder. Fraktale sind autonome, dynamische Gebilde, die nach dem Prinzip der Selbstorganisation und Selbstoptimierung als eigenständige Unternehmenseinheiten agieren. Sie wirken an ihrer eigenen Entstehung, Veränderung und Auflösung aktiv mit und richten ihre Ziele an den Unternehmenszielen aus. Um dies zu bewältigen, waren sie bereits damals mit der verfügbaren Prozessor- und Computertechnik ausgestattet. Die Weiterentwicklung zur Industrie 4.0 findet durch die lokale und weltweite Vernetzung über das Internet und die Cloud statt. Darüber hinaus ermöglichen Big Data und die dazugehörige Analytik die Erstellung virtueller Abbilder physischer Produkte und die Versendung dieser Abbilder an weltweit verteilte Zielorte, an denen die realen Produkte dann gefertigt werden können. Dies kann die Fertigung und Logistik revolutionieren. So kann bei einem Ausfall eines Produktes bei einem Konsumenten oder einer Komponente in einer Fertigung, die weitab oder auf einem entfernten Kontinent liegt, darauf verzichtet werden, dieses Produkt in einer Weltfabrik zu bauen, in einem Logistikzentrum bereitzuhalten und zum Endkunden zu verschiffen. Stattdessen wird das virtuelle Abbild in Bruchteilen von Sekunden in eine Minifabrik in der Nähe des Endkunden geschickt, dort im 3-D-Druckverfahren gefertigt und unmittelbar beim Kunden ausgeliefert oder eingebaut. Dies erspart Zeit für Wege sowie Kapitalkosten für die Bereithaltung des Produktes oder der Komponente in zentralen Lägern. Das Kostensenkungspotenzial wird in Größenordnungen von 40 % geschätzt. Nach gängiger Interpretation des nach Gordon Moore (geb. 1929) benannten Gesetzes verdoppelt sich die Integrationsdichte von integrierten Schaltungen alle 18 Monate.4[18] Diese exponentielle Kurve der Leistungssteigerung führt letztlich zum dem als „Big Data“ benannten Phänomen und damit zu einer weiteren technisch-sozialen Revolution, die alle Lebensbereiche des Menschen berührt. Somit ist auch dies keine Sprungfunktion, sondern eine kontinuierliche Entwicklung, obwohl die physikalischen Grenzen der Steigerung der Integrationsdichte erreicht sind, sodass diese allein weitere Leistungssteigerungen nicht verspricht.5[19]

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Abb. 1.2: Big Data und die Auswirkungen auf die Lebensbereiche

„Big Data“ ist die Triebkraft für das Internet der Menschheit, für das Internet der Dinge und letztlich auch für das Internet der Services, über das es noch genauer zu berichten gilt. Die Industrie 4.0 ist eines von vielen Phänomenen, und als solche beschreibt sie die Vorgänge in der Wirtschaft. Hinzu tritt die Verkehrstechnik. Hier genannt ist bereits das autonome Fahren auf der Straße. Im Weiteren sind zu nennen die Automatisierung auf der Schiene, die Flugzeug-Automatisierung und die Automatisierung in der Schiffsführung. Die Grenzen zwischen Wirtschaft und Verkehr sind fließend, und beispielhaft sind die Automobilhersteller und ihre Zulieferer sowohl von Big Data in der Fertigung als auch im Verkehr betroffen. Gleichfalls im Überlappungsbereich zur Wirtschaft ist die personalisierte Medizin anzusiedeln. Sie erstreckt sich von der Vorsorge, der Diagnostik über die Therapie bis zur Nachsorge inklusive Sozialmedizin und Pharma. Ein weiterer an die Wirtschaft angrenzender Bereich ist das Smart Home. Das Internet der Dinge betrifft hier die Haushaltsgeräte („Weiße Ware“), die über Smart Grids mit der Energieversorgung vernetzt sind. Während die Energieversorgung bisher über die Nachfrage gesteuert wird, kommt durch die Verfügbarkeit von Sonne und Wind eine Limitierung des Angebotes ins Spiel, die ihren Niederschlag in schnell variierenden Strompreisen findet. Dabei können Smart Grids im Weiteren auch als Teil der Industrie 4.0 angesehen werden. Um die Stromkosten niedrig zu halten, werden etwa Stromverbraucher in Haushalt und Industrie nicht einfach nach Bedarf und unabhängig vom Strompreis eingeschaltet, sondern der Verbraucher in Haushalt und Industrie wird vorab gefragt, ob die Einschaltung zu einem bestimmten Zeitpunkt, unabhängig vom Strompreis, notwendig ist oder ob der Einschaltzeitpunkt variabel gestaltet werden kann, etwa wenn der Strompreis niedrig ist. Dabei sind Haushaltsgeräte und industrielle Einrichtungen mithilfe ihrer elektronischen Ausstattung (Embedded Systems) Elemente des Internets der Dinge. Sie agieren nicht nur vertikal mit intelligenten Knotenpunkten im Stromnetz und mit den Stromerzeugern, sondern auch miteinander, etwa wenn es um die Priorisierung der Einschaltung der Geräte und Maschinen geht oder wenn übergeordnete Ziele, etwa maximal vereinbarte Spitzenlasten oder ein gleichmäßiger Stromverbrauch, vereinbart sind oder erreicht werden müssen. Eine größere Anzahl dezentraler Stromerzeuger oder Stromspeicher in Haushaltungen und Industrie (etwa gasbetriebene Dieselaggregate zur kombinierten Erzeugung von Wärme und Strom) kann dabei zur Vereinfachung der Steuerung und zur Bündelung der Versorgung für größere Abnehmer zu virtuellen Kraftwerken zusammengeschaltet werden. Ein vergleichbares Modell wird von Visionären des Elektroautos propagiert, indem nämlich ihre Batterien, wenn sie am Netz sind, im Entlademodus als Stromquelle für andere Verbraucher herangezogen werden können. Auch dieses Beispiel zeigt auf einen Überlappungsbereich, hier zwischen Verkehr und Industrie 4.0. Ein weiteres Big-Data-generierendes Thema sind Drohnen und Satellitennetze[20-21]. Die Drohnen-Technologie wird in nächster Zukunft einen boomartigen Aufschwung haben, etwa bei der Revision von Brücken, besonders im schwer zugänglichen Bahnbereich sowie zur Überwachung von erdrutschgefährdeten Schienen und Straßen. Ihre Überwachung wird dabei gewaltige Daten generieren. Zeitlich später, in 5 bis 20 Jahren, ist ein starker Ausbau des Satellitennetzes durch geostationäre Satelliten anzusetzen. Diese dürften im sogenannten Low-Orbit-Bereich fliegen und primär der Übertragung im Mobilfunk dienen. Es ist mit mehreren Zigtausend Satelliten zu rechnen, die vor allem die nicht von GSM-Antennen abdeckbaren Bereiche des Globus mit Daten versorgen werden, im ferneren Afrika, Asien und an den Polkappen, sodass auch hier eine Empfangsabdeckung erreichbar sein wird wie in den heutigen Industriestaaten. Die Satelliten werden geostationär fliegen, mit Solarsegeln ausgestattet sein und über elektro-motorische Antriebe verfügen, um ihre Laufbahn re-kalibrieren zu können. Die Erreichbarkeit jedes Erdenbürgers und jedes mit einem Embedded System ausgerüsteten Gegenstandes zu jeder Zeit an jedem Ort unseres Planeten, die damit mögliche „vollständige“ Kommunikationsfähigkeit wird schließlich zu einer finalen Globalisierung des Mensch-Maschine-Netzes[22] führen.

Auf unternehmerischer Seite wird das Gebiet um „intelligente“ Big Data herum eine bisher unbekannte Fülle an unternehmerischem Wandel, an Kooperations-Netzwerken, strategischen Allianzen, Unternehmensübernahmen und Gemeinschaftsunternehmen hervorbringen, und dies auf allen vorgenannten Bereichen, ein allumfassendes Netz mit einer großen Bandbreite von Zeithorizonten, vom Millisekunden-Bereich (etwa bei der einmaligen Übertragung von Daten-Sets virtueller Produkte) bis hin zu andauernden Eigentumsverhältnissen. Für das engere Gebiet der Industrie 4.0 soll dies im Teil VI dieses Buches vertiefend erläutert werden.

Kommen wir nun zum eigentlichen Gebiet der Industrie 4.0 und dem damit einhergehenden unternehmerischen Umbau (s. Abb. 1.3). Zahlreiche Treiber sind hier zu lokalisieren, sowohl von der technologischen Entwicklung her kommend als auch Infrastrukturen.

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Abb. 1.3: Industrie 4.0 – Treiber für den unternehmerischen Umbau

Autonome Roboter werden nicht nur – wie bereits jetzt in der Anwendung – barrierefrei mit dem Menschen zusammenarbeiten, sondern selbst entscheiden, ob sie sich aus dem Fertigungs-Kontext zurückziehen sollten, etwa weil eine Wartung ansteht oder weil sich Qualitätsprobleme häufen. In diesem Zuge würden sie andere Roboter heranrufen, die die laufende Arbeit übernehmen können. Simulationen werden in umfassender Weise Produkte, Prozesse und Aggregate abbilden, bevor sie in reale Zustände umgewandelt werden. Dazu zählen virtuelle digitale Abbilder von Produkten, einerseits zur Entwicklung und andererseits, um diese in die Zielregion und in die Zielfertigung zu schicken, wo Mini-Fabriken[23] in Losgröße 1 das Endprodukt herstellen können. Dabei sind auch die Produktionsprozesse simulativ zu hinterlegen, etwa um diese zu optimieren oder um diese an die lokale Infrastruktur anpassen zu können. Selbst der M&A-Prozess und die Struktur des fusionierten Unternehmens können auf vielfältige Weise mit unterschiedlichen Kandidaten simuliert werden. Die Herstellung von Produkten, Systemen und Infrastrukturen wird sich dadurch verändern. Neben großvolumigen kontinentalen oder Welt-Fabriken, die heute das Bild globalisierter Industrien bestimmen, werden weltumspannende Fertigungs-Netzwerke dominieren, die die Grenzen zwischen Lieferanten, Herstellern, Logistikern, Kunden und Recyclern sprengen werden. Der Kunde wird vielfältig das Vorprodukt mit speziellen Features oder Apps zum einmaligen Produkt fertigstellen. Dies ist heute schon im Konsumbereich bei Mobilfunkgeräten gang und gäbe, bei dem der Endverbraucher durch das Herunterladen von Apps sein Mobilfunkgerät personalisiert. Das integrierte Geschäft mit vertikaler Systemintegration wird zum integralen Closed-Loop-Geschäft eines integrierten Kreislaufes. Die zentrale Rolle im Produktions- und Betreiber-Geschäft wird das „Ding“ selber. Es wird intelligent durch Ausstattung mit Embedded Systems und kann damit autonom oder vernetzt entscheiden und kommunizieren. Damit ist das industrielle Internet der Dinge geboren, das mit dem Internet der Menschen kommuniziert. Dessen Penetration in die Welt wird getragen durch die Sicherheit der Netze[24], die sogenannte Cybersecurity. Diese ist oberstes Gebot, und hier liegt das größte Risiko zur Umsetzung der weltumspannenden Industrie 4.0. Ob die vollständige Sicherheit erreichbar ist, ob sie stabil allein durch digitale Technik haltbar sein wird, das wird sich zeigen. Möglicherweise müssen analoge Ebenen, digitale oder analoge Firewalls eingezogen werden, um Hochsicherheitsbereiche schützen zu können. Dies alles wird sich wesentlich auf nationalen und kontinentalen Servern abspielen, deren Summe die Cloud ist. In der Fertigung tritt zu den klassischen Verfahren die additive Herstellung (Additive Manufacturing) hinzu, gemeinhin als 3-D-Drucken bezeichnet. Dies bietet sich für kleine Losgrößen, Pilotfertigungen und Muster an. Auch das ist nicht neu: Aufbauend auf den genannten Erfahrungen der 1980er-Jahre werden breite Anwendungen erprobt und umgesetzt, vor allem im Kunststoffbereich. Eine Ausweitung der Anwendungen in Prozessen bietet darüber hinaus die Augmented Reality (erweiterte Wirklichkeit), die heute bereits vielfache Praxis ist, etwa um einem Arbeiter über eine entsprechende Brille den Zielzustand für eine Handhabung einzuspiegeln, die er dann am realen Objekt nachvollziehen soll. Auch Prozesse sind damit vorhersehbar. So werden etwa in der Militärtechnik die Zustände bei Landungen im Blindflug, bei dem kein Radar eingesetzt werden kann, vorausberechnet und am Bildschirm angezeigt, etwa für Hubschrauber bei Landungen im Wüstensand.[25]

Big Data und Analytics ist, wie erläutert, der übergeordnete Faktor, der Industry 4.0 erst ermöglicht. An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass dies alle vorgenannten Treiber betrifft sowie alle Wertschöpfungsstufen der betreffenden Branchen, jedoch werden die Branchen sehr unterschiedlich hinsichtlich Relevanz, Zeit und Durchdringungsgrad betroffen sein. In der Musikindustrie hat sich „Industrie 4.0“ bereits völlig durchgesetzt, beim Flugzeugbau besteht Industrie 4.0 zum Beispiel neben der noch weiterbestehenden Fertigungstechnik aus der zweiten und dritten industriellen Revolution. Am weitesten wird die Smart Factory bei Unternehmen der Fertigungsautomatisierung umgesetzt, wie etwa Siemens und Bosch oder auch Trumpf, die in dieses Segment eindringen. Das vorliegende Buch soll anhand der vorgestellten Beispiele zeigen, wie unterschiedlich die Branchenrelevanz für Industrie 4.0 ist und wie verschieden die Lösungen fortgeschritten sind. Da mit der Umsteuerung auf Big-Data-Ansätze, Lösungsgeschäfte, Vertikalisierung, Softwarepolitik und auf das Eindringen in das Geschäft der Lieferanten und Kunden sowie auf Smart Factory große Risiken und hohe Investitionen verbunden sind (sowohl, wenn man es macht, als auch, wenn man es nicht macht), sollte sich jeder Unternehmer bewusst die Karten legen, welchen Weg er gehen will. Wandel ist auf alle Fälle notwendig, und es kann auch sein, dass jemand das Konzept der World Scale Factory[26] mit ihren Volumenvorteilen weiterentwickelt und insuläre Industrie-4.0-Ansätze an allen Stellen verfolgt, wo dies sinnvoll erscheint. Solche Migrationen sind bei vielen Unternehmen zu beobachten. Exemplarisch wird in diesem Buch das Fertigungskonzept von BMW vorgestellt, die – wie am Fall Daimler gezeigt – natürlich die für ihre Branche notwendige Elektromobilität, das autonome Fahren und das Leihwagenkonzept („Drive Now“) verfolgen – dies alles ermöglicht durch Big Data. Nur das Nichts-Tun ist tödlich und geht auf keinen Fall. Das betrifft sowohl Großkonzerne als auch Mittelständler aller Branchen.

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Abb. 1.4: Das cyber-physische System (CPS)

Das Grundelement der Industrie 4.0 ist das cyber-physische System (CPS), siehe Abbildung 1.4. CPS bezeichnet den Verbund informatischer, softwaretechnischer Komponenten mit mechanischen und elektronischen Teilen, die über eine Dateninfrastruktur, wie z. B. das Internet, kommunizieren.

Ein cyber-physisches System ist durch seinen hohen Grad an Komplexität gekennzeichnet. Die Ausbildung von cyber-physischen Systemen entsteht aus der Vernetzung eingebetteter Systeme durch drahtgebundene oder drahtlose Kommunikationsnetze. Einsatzgebiete sind mobile Helfer für Intralogistik, höchst zuverlässige medizinische Geräte und Systeme, Verkehrssteuerungssysteme, vernetzte Sicherheits- und Fahrerassistenzsysteme, Energiemanagement-Systeme und viele andere. Die Kategorien an Schnittstellen zur Umwelt sind (1) die Sensorik zur Orientierung, (2) die Aktorik zur Ausrichtung von Arbeiten oder Bewegungen des CPS, (3) die Energieschnittstellen zur Versorgung und (4) die Dateninfrastruktur zu lokalen Netzen, dem Internet und der Cloud. Der wesentliche Unterschied des CPS zum Element der fraktalen Fabrik liegt bei der Leistungssteigerung des intelligenten Embedded Systems, das nun nicht nur mit der Werksinfrastruktur kommunizieren kann, sondern auch über die Cloud oder die Werksgrenzen hinaus. Die Grenze zwischen CPS und Produkten ist fließend. Das CPS ist auch ein Teil des Internets der Dinge. Das ist an folgendem Beispiel zu erläutern: Ein CPS kann ein Flurfahrzeug in einer Fabrik für Elektroautos sein. Dies wird zunächst mit einem virtuellen Abbild des herzustellenden Kraftfahrzeugs „beladen“ oder bekommt Verbindung mit dem in der Cloud liegenden virtuellen Abbild, das mittels Radio-frequency Identification (RFID)[27] und der Dateninfrastruktur der Fabrik eindeutig identifizierbar ist. Das Flurförderfahrzeug fährt dann die Stationen an, die für das Chassis, den elektrischen Antriebsstrang und die Räder verantwortlich sind. Damit ist alles beisammen, was das zukünftige Auto in der Fabrik selbstständig fahrbereit macht. Das „Halbfertigprodukt Auto“ löst sich dann vom Flurförderfahrzeug und fährt, gesteuert über die Dateninfrastruktur des Werkes, die weiteren Fertigungsstationen an, bis der Fertigungsprozess abgeschlossen ist. Dann fährt das fertige Auto autonom zur Abnahme und von dort in den Autotransporter, der (im perfektionierten Konzept der Smart Factory) das Auto zum Autohändler oder zum Endkunden bringt, von dem auch noch einzelne individualisierende Fertigungsschritte übernommen oder Add-ons zugeliefert werden können. Von dritter Stelle, wieder über die Cloud gesteuert, wird die Dokumentation dem Händler oder dem Endverbraucher zugespielt, etwa papierlos über das Internet.[28]

Nachdem nun das CPS definiert ist, stellt sich die Frage nach den Ebenen zur Digitalisierung. Diese lassen sich in vier Hierarchieebenen gliedern (s. Kap. 23, Abb. 23.1). Auf der untersten Ebene finden sich in der Infrastruktur und in den cyber-physischen Systemen die Sensoren und Aktuatoren, die Daten aufnehmen und die Ausführung anstoßen (z. B. „Fahre geradeaus“). Bereits auf dieser Ebene findet die Verknüpfung der realen Welt mit der virtuellen Welt statt. Die intelligenten Maschinen und Geräte auf Ebene zwei sind Teil des Produktionssystems und werden auf der IT-Seite als virtuelle Dinge im Internet abgebildet. Auf der dritten Hierarchieebene befinden sich die integralen Prozesse des gesamten Produktionssystems. Die Aufgabe liegt hier in der Optimierung der Produktion. Dazu gehört die entsprechende Sammlung der Big Data. Auf der vierten (obersten) Ebene wird das Partner-Netzwerk gesteuert. Zugrunde liegt hier das Geschäftsmodell des Unternehmens mit der Optimierung der Aufgaben, die (externe oder interne) Partner übernehmen. Dies liegt regelmäßig in der Cloud. Die Zusammenarbeit ist IT-seitig durch das IoS (Internet of Services) [29]geregelt.

1.5   Ein Zwischen-Resümee

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass wir uns in einer der größten Umbruchphasen der Industriegeschichte befinden. Die Meinungen sind unterschiedlich, ob es sich um einen radikalen Bruch (Disruption) oder um eine Migration mit starken Entwicklungsschüben handelt. Das ist von Branche zu Branche und von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich, wie noch zu zeigen sein wird. Jedenfalls eröffnet die gewaltige Steigerung der IT-Leistung in Verbindung mit dem Internet, dem global sich verdichtendem Netzwerk und der Cloud – nicht nur zur Speicherung, sondern auch zur Analytik – enorme Chancen. Hinzu kommt die Reifung von Technologien, die zwar schon länger verfügbar sind, jedoch jetzt durch Kostensenkung und Leistungssteigerung einem breiten Anwendungsfeld zugänglich gemacht werden. Dies betrifft nicht nur die hoch industrialisierten Regionen, sondern auch die Entwicklungs- und Schwellenländer, die zukünftig mithilfe von Drohnen und Satelliten bis in die hinterste Region gleichmäßig erschlossen werden. Die IT, das weltweite Netz, die Cloud und die Breitenanwendung neuer Technologien sind es, die sich synergistisch verstärken werden, um Disruptionen und Entwicklungsschübe zu erzeugen, die praktisch alle Lebensbereiche nachhaltig verändern werden. Die Grenzen der Entwicklung werden durch die Datensicherheit bestimmt, die Fähigkeit der Unternehmer, mit den zahlreichen Netzwerkpartnern wertschöpfungsübergreifend, global verteilt, regional orientiert, arbeitsteilig konstruktiv, fair und umweltschonend umzugehen. Dies ist der Rahmen der Analysen und Beiträge, die diesem Kapitel folgen.[30]

2Zum Modell der M&A-Wellen siehe Müller-Stewens, Günter (2010): M&A als Wellenphänomen. Analyse und Erklärungsansatz. In: Müller-Stewens, Günter/Kunisch, Sven/Binder, Andreas (Hrsg.): Mergers & Acquisitions. Analysen, Trends und Best Practices. Schäffer-Poeschel, Stuttgart, S. 14–44.

3Quelle: Statistisches Bundesamt, Werte für 2014

4Gordon Moore, einer der Begründer von Intel, prognostizierte in den 1960er-Jahren, dass sich die Zahl der Transistoren von integrierten Schaltungen (ICs), die zu gleichen Kosten hergestellt werden können, jährlich verdoppelt. 1975 revidierte er seine Aussage auf alle zwei Jahre. Sein Kollege David House brachte eine Abschätzung von 18 Monaten ins Spiel, sodass heute in den Medien meist von einer Verdoppelung der Integrationsdichte innerhalb von 18 Monaten gesprochen wird.

5Auf der Anwendungsseite werden mit zunehmender Integrationsdichte Engpässe an anderer Stelle deutlich, die durch weitere Integration nicht lösbar sind. Im Bereich höchster Rechneranforderungen ist dagegen seit etwa 2003 eine deutliche Verletzung des mooreschen Gesetzes zu beobachten. Die Zeit, die je finites Volumen (cell) und je Iteration des Solvers benötigt wird, sinkt seither gar nicht oder nur noch marginal. Grund ist der Von-Neumann-Flaschenhals. Tatsächlich werden viele integrierte Schaltungen gar nicht an dieser Grenze betrieben, eine höhere Rechenleistung würde sich dann nicht unmittelbar in einem Anwendernutzen niederschlagen.[31]