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ISBN 978-3-492-97752-4
2. Auflage September 2017
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Redaktion: Matthias Teiting, Leipzig
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de
Covermotiv: Thomas Jäger/plainpicture
Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Täter und Opfer (I)

1

Mit dem Wort Opfer wird eine Person bezeichnet, der mit einer gewissen Regelmäßigkeit und in unterschiedlichen sozialen Situationen die Rolle desjenigen zukommt, der drangsaliert wird. In bestimmten Milieus wird das dem Opfer sogar recht unverblümt mitgeteilt (»Ey, du Opfer!«).

In diesem Buch ist mit dem Begriff Opfer eine Person gemeint, die spürbar passiv, unentschlossen, unsicher oder furchtsam wirkt und so die Aufmerksamkeit von Menschen auf sich lenkt, die ein Ventil für ihren Zorn suchen.

Man möchte es nicht glauben, aber vielen Menschen ist es gar nicht bewusst, dass sie Opfer sind. Entweder weil sie diese schmerzende Tatsache verdrängen oder weil sie in bestimmten wiederkehrenden Ereignissen, die an einen sensiblen Bereich ihres Wesens rühren, keine Muster erkennen können.

Mit dem Wort Täter hingegen bezeichnen wir in diesem Buch einen Menschen, der gern andere drangsaliert. Von ihm unterscheiden wir den »guten« Täter, also einen, der vorübergehend eine aggressive Haltung einnimmt, um jemandem, der in Schwierigkeiten ist, zu helfen. Dieser temporäre Täter ist sozusagen der gute Böse, der chronische Täter der böse Böse. [1]

Ich bin nicht in einer Gegend aufgewachsen, in der Mord und Totschlag an der Tagesordnung waren, aber man kann auch nicht behaupten, ich wäre im Villenviertel von Graz groß geworden.

Wo ich wohnte, gab es keinen Spielplatz, keinen Fußballplatz und nicht einmal eine Grünfläche. Der nächste Park war eine Viertelstunde Fußweg entfernt, und die paar Bäume in unserer Straße, die noch nicht hässlichen Neubauten hatten weichen müssen, teilten sich Hunde und Obdachlose für ähnliche Zwecke. Damit waren sie nicht einmal als Torstangen zu gebrauchen, weil der Tormann vor jeder Parade Ekel und Ehrgeiz hätte abwägen müssen.

Daher vertrieben meine Freunde und ich uns nach der Schule die Zeit auf mehr oder minder unkonventionelle Weise. Fußball spielten wir ungeachtet des Verkehrs mitten auf der Straße (so viele Autos fuhren ja nicht durch diese Nebenstraße, beschwichtigten wir unsere Eltern), unterhielten uns mit den betrunkenen Obdachlosen, die sich morgens, wenn das »Asyl«, wie die Nachtherberge für gestrandete Menschen eine Straße weiter hieß, ihre Türen bis zum Abend schloss, auf den Bänken entlang unserer Straße breitmachten, und einmal nahm mich ein Mitschüler, dessen Vater in jener Justizanstalt einsaß, in der mein Großvater als Aufseher arbeitete, zu einem Einbruch mit. Wir erbeuteten 72 Schilling, umgerechnet 5 Euro, die die Mitglieder einer katholischen Jugendorganisation bei ihren Eltern für einen guten Zweck gesammelt hatten, wie aus beiliegenden Zetteln hervorging, auf denen mit krakeliger Handschrift stand: Mama Spende 1 Schilling, Opa Spende 3 Schilling, Franzi Spende 1 Schilling … Ich war damals neun Jahre alt, und ich schäme mich noch heute, wenn ich mir die Gesichter der Kinder vorstelle, wie sie die aufgebrochene Geldkassette finden.

Wenn ich Ihnen nun versichere, dass mein nur ein Jahr älterer Mitschüler, der als Sitzenbleiber neu in unsere Klasse gekommen war (er war eher der Praktiker), das Schloss dieser Geldkassette mit einem herumliegenden Elektrobohrer unter entsetzlichem Getöse aufgebohrt hat, werden Sie mir glauben, dass ich in einer bunten Gegend voller ungewöhnlicher Menschen aufgewachsen bin. Man konnte einiges lernen, was in der Schule nicht unterrichtet wurde.

Eine der wichtigsten Lektionen lautete: Ein Täter sucht keine Probleme. Er sucht Lösungen. Das lernte ich früh, weil ich es oft mit solchen Menschen zu tun bekam. Auf dem Schulweg, auf Spielplätzen, in Fußballstadien, auf der Straße, überall begegnete ich jenen stumpfsinnigen Kreaturen, für die Weihnachten und Ostern zusammenfallen, wenn sie jemanden erniedrigen und verletzen können, manche von ihnen sogar mit brutaler Gewalt.

Da gab es einen mit Stahlkappen an den Schuhen, mit denen er betrunkene Obdachlose malträtierte. Es gab einen gewissen Gerd, der mit seinem Messer nicht zustach, sondern seinen Opfern Schnitte an den Armen zufügte, damit sie sich ihr Leben lang an ihn erinnerten. Da war ein mysteriöser Mann, den niemand je ein Wort sagen hörte und der auf uns Kinder mit einem Stock Jagd machte, wortlos und ohne Anlass, und der sich eines Tages mitten auf der Straße in den Kopf schoss und das überlebte, was seinen Charakter nicht besser machte. Vor einem namenlosen Biker, der eine Vorliebe für freischaffende Zahnmedizin hatte, versteckte sich jeder, Kinder wie Erwachsene, denn dieser war groß und stark und unberechenbar. Wenn er betrunken war, wurde er sanft und lud alle Kinder auf Eis und Kuchen ein, wenn er nüchtern war, drehte er durch. Er führte stets eine Zange mit sich, mit der er denen, die er niedergeschlagen hatte, einen Zahn riss.

Zum Glück zählte ich nie zum Opfertypus, allerdings war ich oft ein fassungsloser Zuschauer dieser Gewaltexzesse, sodass ich die Motive der Täter verstehen lernte. Natürlich waren sie böse. Vor allem jedoch waren sie: Ohnmächtige.

Täter sind Menschen, die zornig sind, weil sie sich machtlos fühlen. Das gilt für gemeine Straßenschläger wie für Schreibtischtäter. Die niederträchtigsten Manager sind nicht die, die Tausende Arbeitsplätze streichen, ohne an die Menschen hinter den Zahlen zu denken. Es sind vielmehr jene, die dabei ganz bewusst an diese Menschen denken, und zwar mit klammheimlicher Freude.

Weil die von uns als Täter bezeichneten Menschen manchmal nach jemandem suchen, an dem sie verbal oder physisch ihren Frust abreagieren können, wird fälschlicherweise angenommen, sie suchten Probleme. Das Gegenteil ist der Fall. Sie suchen Lösungen. Sie suchen Opfer, weil es mit denen keine Probleme gibt. Die Befriedigung, einen noch Schwächeren gedemütigt zu haben, überdeckt kurzfristig das Gefühlsdrama in ihrem Inneren.

2

Täter-Opfer-Konstellationen ergeben sich häufig, allerorts und nicht selten von beiden Seiten unbemerkt. Das kann eine vermeintlich harmlose soziale Konstellation sein, privat oder im Beruf, in der Aggressionen mehr oder minder subtil auf das Opfer übertragen werden, das können aber auch direktere Auseinandersetzungen sein, bei denen sich jemand einen Schwächeren sucht, um seine Frustration und die innere Leere für eine Weile vergessen zu können.

Mit dem Satz »Aber das sind unschuldige Zivilisten!« versucht in Rambo I der ehemalige Kommandeur Colonel Trautman dem überspannten Ex-Green-Beret John Rambo ein Massaker auszureden, worauf dieser erwidert: »Es gibt keine unschuldigen Zivilisten!«

Mal unter uns: So daneben liegt er damit nicht. Ein gewisses Maß an Vorsicht ist gegenüber Menschen, die wir nicht gut kennen, durchaus angebracht. Das schließt uns selbst allerdings ein. Deswegen gibt es in Wahrheit keine harmlosen sozialen Situationen, so wie es im Leben keine Übungen gibt.

Merke: Es gibt keine Übungen!

Möge dieser Satz an Ihrem Gedankenfirmament als Fixstern hell erstrahlen: Jede Sekunde ist der Ernstfall.

Den meisten Menschen ist diese unumstößliche Tatsache nicht bewusst, und einige, die sie verstanden haben, schüchtert sie ein. Für mich macht sie unser Dasein erst zu dem, was es ist: kein Videospiel, in dem man zehn Leben verbrauchen kann, bis es »Game over« heißt, sondern vielmehr ein einmaliger und einzigartiger Prozess, in dem jederzeit und überall ein Wunder warten kann.

3

Als Opfer werden in der Regel Menschen ausgewählt, die sich nicht verteidigen können oder zumindest Wehrlosigkeit signalisieren, sei es durch ihre Körpersprache, sei es durch das, was sie sagen oder nicht sagen.

Es gibt Menschen, die sind ihr ganzes Leben lang Opfer. Aber das müsste nicht sein.

Merke: Zu alt, um seine Fähigkeiten zur geistigen und körperlichen Selbstverteidigung zu stärken, ist man erst nach dem Zelltod.

Jede Frau und jeder Mann ohne schwerwiegende gesundheitliche Probleme kann lernen, sich effizient [2] und effektiv zu verteidigen, auf psychologischer und auf physischer Ebene, überraschend schnell und mit teils faszinierender, teils schockierender Durchschlagskraft. Auch wenn Sie sich das jetzt noch nicht vorstellen können oder gar für absurdes Geschwätz halten: Vorausgesetzt, Sie haben zuvor für sich selbst entschieden, etwas Zeit und Energie zu investieren, werden Sie ab einem gewissen Tag keine Angst mehr haben, von einem Angreifer verletzt zu werden. Sie werden Angst haben, den Angreifer selbst ernsthaft zu verletzen.

4

Man versteht den Begriff »Selbstverteidigung« nicht ganz richtig, wenn man dabei bloß an Finsterlinge in der nächtlichen U-Bahn denkt.

Der 2015 verstorbene Motörhead-Bandleader Lemmy Kilmister, ein großer Mann, hat in einem 2008 mit der Süddeutschen Zeitung geführten Gespräch zu diesem Thema viel Zutreffendes gesagt. Man muss dem Interviewer für die weise Frage Dank und Anerkennung aussprechen.

Süddeutsche: Woran erkennt man Arschlöcher?

Lemmy: Es umgibt Arschlöcher eine servile Freundlichkeit – und zur selben Zeit etwas Umtriebiges. Es umgibt sie gleichzeitig dieses Unerwünschte. Als spiegele sich in ihren Augen das Unwohlsein, das sie bei anderen auslösen, zum Beispiel bei, hmm, Sensibelchen wie mir.

Ich habe zwar nicht das Format von Lemmy Kilmister, aber ein Sensibelchen bin ich auch. Manchmal rede ich mit jemandem zwei Stunden lang und fühle mich danach so leer, als wäre ich den ganzen Tag in einem Aufzug festgesteckt. Nach Möglichkeit beschränke ich meinen Kontakt mit dieser Person von da an auf freundliches Grüßen. Zumindest für mich ist das überlebenswichtig.

Vielleicht sehen Sie das anders, aber ich versichere Ihnen: Gegen Menschen, die sich parasitär von der Aufmerksamkeit anderer nähren, muss man sich genauso [3] verteidigen wie gegen die Feiglinge, die Schwächeren wehtun, um sich wenigstens ein Minimum an Selbstbewusstsein und Stärke vorgaukeln zu können.

Im Beruf, sogar bei Freunden oder gar in der Partnerschaft wird Druck ausgeübt. Wir erleben Aggressionen gegen uns, von denen wir oft nicht wissen, wie wir überhaupt zu ihnen gekommen sind. Häufig nehmen wir sie nur unterschwellig wahr. Die Fähigkeit zur Selbst-Verteidigung, die Fähigkeit, sich selbst zu schützen, egal, gegen wen und auf welcher Ebene, ist eine elementare Voraussetzung für ein ausgeglichenes, friedliches Dasein und dafür, im Fall des Falles andere schützen zu können. Zum Beispiel unsere Kinder. Selbstverteidigungsfähigkeiten braucht man immer.

Jetzt könnten Sie erwidern, Sie leben in einem Villenviertel, umgeben sich mit ausgeglichenen Menschen, meiden Alkohol, haben noch nie ein gewaltverheißendes Lokal betreten, Sie sind mithin von Konfliktsituationen so weit entfernt wie vom Nordkap. Außerdem sind Sie womöglich ein hervorragender Sprinter, und wenn es doch einmal nötig sein sollte, nehmen Sie die Beine in die Hand und entkommen mit Grandezza und Leichtigkeit. Was gibt es für Sie über Selbstverteidigung zu lernen?

Die Ratschläge, die ich Ihnen ans Herz lege, beschränken sich nicht auf Kneipenschlägereien, in die man ohnehin selten gerät. Meine Ratschläge sollen zunächst Ihr Bewusstsein für Problemsituationen schärfen. Sie sollen Ihnen verdeutlichen, was überhaupt ein Angriff ist, damit Sie rechtzeitig handeln können. Sie sollen Sie im umfassenden Sinn in Selbstverteidigung schulen. Natürlich lernt man keinen Kampfsport durch Lesen, aber wenn es vor allem die physische Ebene ist, die Sie an Selbstverteidigung interessiert, wird Ihnen dieses Buch den Weg zu dem für Sie passenden Kampfsport weisen. Und wenn Sie sich auf geistiger Ebene schützen möchten und lernen wollen, sich besser durchzusetzen, sollten Sie das Buch erst recht lesen.

Merke: Einen Angriff erkennt man oft zu spät.

Ein Angriff ist manchmal ein Wort, ein Blick oder eine Geste. Vor einer gewalttätigen Auseinandersetzung fallen immer Worte, die jemand falsch gewählt oder falsch verstanden hat. Um diese Situationen rechtzeitig erkennen zu können, müssen Sie Gesten, Blicke und Tonlagen intuitiv verstehen lernen. Sich dagegen zu wehren üben Sie bitte mit gnadenloser Konsequenz an den Nervensägen im Büro, die Ihnen mit ihrem leeren Geschwätz viel Energie rauben. Gegen geistige Aggression muss man sich ebenso zur Wehr setzen können wie gegen physische. Wenn es Ihnen nicht allzu schwerfällt, versuchen Sie bitte, die Schwelle zur Handgreiflichkeit nicht zu überschreiten.

Merke: Vielleicht von Kriegszeiten abgesehen, hat geistige Aggression mehr Menschen verkrüppelt als die physische.

5

Sie werden in diesem Buch erfahren, wie Sie lernen können, jemanden, der Ihnen physische Gewalt antun will, unschädlich zu machen. Das allerdings setzt ein gewisses Verantwortungsbewusstsein Ihrerseits voraus. Leider würde jeder Versuch, die Moralfestigkeit und den Charakter seiner Leser auf Lauterkeit zu überprüfen, an der praktischen Durchführbarkeit scheitern, also muss ich Ihnen gegenüber den Vertrauensgrundsatz walten lassen – aber zu dem kommen wir später noch.

Unschädlich machen: Das klingt gefährlich, und das ist es auch. Aber das Leben ist gefährlich, das ist ja das Schöne daran. Es gilt, so lange wie möglich so erbaulich wie möglich zu leben. Wie ich die Dinge sehe, steht zwischen jedem von uns und diesem Ziel manchmal nichts weiter als ein anderer Mensch. Jemand, der aufgegeben hat, für sich selbst nach Sinn zu suchen oder zumindest ein wenig Ordnung in sein inneres Chaos zu bringen. Diese Menschen dürfen wir bedauern, doch alles Mitleid muss ein vorübergehendes Ende haben, wenn jemand beginnt, uns Schaden zuzufügen. Ob nun subtil geistig oder radikal körperlich.

Jeder Akt körperlicher Selbstverteidigung erfordert vom Betroffenen jedoch ein Bewusstsein für die möglichen Folgen seiner Handlungen. Nicht ohne Grund wurden früher Kampfkünstler zugleich in Medizin geschult. Wenn man etwas kaputt macht, sollte man es auch wieder zusammensetzen können. Das Wissen um die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers muss jemandem, der in die Geheimnisse der Selbstverteidigung eingeführt wird, die nötige Demut schenken, um sein Können richtig einzusetzen, dosiert, niemals ungerecht.

Wenn wir von physischer Selbstverteidigung sprechen, müssen wir uns klarmachen, dass wir mit dem entsprechenden Training zu einer Waffe werden. So wie man einen Revolver nicht herumliegen lässt und nach ein paar Gläsern Wein damit bestimmt keine Kunststücke vollführt, so wenig setzt man seine körperliche Überlegenheit ein, wenn es nicht unbedingt nötig ist.

6

Es gibt noch einen überzeugenden Grund, warum jeder von uns in der Lage sein sollte, Übergriffen wirkungsvoll entgegenzutreten.

Wer kennt diese oder eine ähnliche Situation nicht: Man sitzt in der U-Bahn und hängt seinen friedlichen Gedanken nach, als plötzlich jemand aus dem Nichts herumzuschreien beginnt.

Die meisten Fahrgäste schauen automatisch in eine andere Richtung. Viele haben nun eine dringende SMS zu schreiben. Andere scheinen eingenickt zu sein. Unterhaltungen werden entweder leiser oder gar nicht weitergeführt.

Nachdem der Mann ohne Einwände seitens der anderen Fahrgäste eine Weile so laut über Politiker, Asylanten, abwesende Feinde oder die Juden geschimpft hat, dass auch die Leute ganz hinten im Waggon betreten auf ihre Schuhe starren, wird er mutiger. Er sucht Blickkontakt. Er hält nach einem Opfer Ausschau. Er erkennt Opfer, denn er ist selbst eines.

In einer U-Bahn ist das Opfer meist weiblich oder sieht aus, als wäre es fremdländischer Herkunft. Wenn weder Ausländer noch unbegleitete Frauen verfügbar sind, sucht sich der Frustrierte jemand anderen, der passiv und angreifbar wirkt. Wenn er diese Person endlich gefunden hat und ihr von da an seinen Wutanfall exklusiv widmet, sind alle anderen froh, dass es nicht sie getroffen hat, und schalten endgültig auf blind und taub.

Wer so tut, als ginge ihn das Geschrei dieses Kerls nichts an, hat immerhin ein Sensorium für Gefahren. In Gegenwart eines Irren in der U-Bahn ist das allerdings kein Kunststück. Trotzdem ist das intuitive Verständnis von Situationen die Grundlage jeder Selbstverteidigung, auf allen Ebenen, an jedem Ort, in jedweder Gesellschaft. Der Sachkundige nennt diese Fähigkeit street-smart[4].

In der U-Bahn passiert nun immer dasselbe. Von Station zu Station wird der Waggon leerer und der Stänkerer selbstsicherer. Wenn er Glück hat, ist er auf ein Opfer gestoßen, das bereits mehrmals in einer solchen Lage war und vor Angst so starr ist, dass es selbst da, wo es eigentlich aussteigen sollte, sitzen bleibt.

Stellen Sie sich vor, Sie fahren am Abend mit der U-Bahn von der Arbeit nach Hause, und ein Mann bedrängt zwei Mädchen.

Sie schauen sich um. Niemand reagiert. Jeder spürt die Angst der Mädchen, aber keiner möchte derjenige sein, der als Erster aufsteht und die Herausforderung annimmt. Eine Herausforderung ist es nämlich, und es ist nicht dieser Mann, der sie ausspricht, sondern das, was man unser Gewissen nennt. Jeder hört diese Stimme in sich, Hilf ihnen, hilf ihnen!, aber keiner hört sie gern.

An der nächsten Station müssten Sie eigentlich aussteigen. Doch Ihr Gewissen setzt Ihnen zu. Die Situation ist wirklich haarig. In diesem Konflikt wurde das allgemein gerade noch tolerierte Maß an Abweichung von den guten Sitten längst überschritten. Wer junge Frauen in der U-Bahn terrorisiert, weiß das. Er ist also bereit, es auf eine Auseinandersetzung ankommen zu lassen. Er ist auf die Situation vorbereitet, und niemand kann einschätzen, wie weit zu gehen er bereit ist. Sich so jemandem entgegenzustellen könnte gefährlich sein.

Wenn die U-Bahn in der nächsten Station hält und sich die Tür rumpelnd öffnet, wird sich in den meisten von uns eine Tür schließen. Die Entscheidung stand auf der Kippe. Aber selbst wenn wir mit geschwollener Backe auf dem Weg zum Zahnarzt sind, freuen wir uns jetzt auf den Bohrer, weil der es uns erlaubt auszusteigen. Wir dürfen die Verantwortung abgeben. Wir müssen zu unserem Termin, und die zwei kräftigen jungen Männer, die gerade einsteigen, werden mit dem übergriffigen Halunken im Notfall schon fertigwerden.

Was haben Sie in dieser U-Bahn erlebt? Ein Manko. Sie hätten sich gewünscht, etwas Menschliches zwischen die Mädchen und diesen Verwirrten stellen zu können.

Zumindest hoffe ich, dass Sie sich das wünschen. Wenn nicht, sollten Sie an dieser Stelle das Buch zur Seite legen, denn dann ist es nicht für Sie geschrieben. Es ist für Menschen gedacht, die für sich und ihre Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen bereit sind. Ich glaube fest daran, dass wir alle zusammengehören und füreinander einstehen sollten, und wer keine Solidarität und kein Mitgefühl mit Schwächeren hat, dem mag ich nichts erzählen.

7

Wenn ich sage, Menschen sollten füreinander einstehen, heißt das nicht, sie sollten sich für andere opfern. Ich kann nicht oft genug betonen, dass das Wichtigste bei jedem Notfall die Eigensicherung ist. Wenn Sie niedergeschlagen oder in dem brennenden Haus eingeschlossen werden, aus dem Sie jemanden retten wollten, liegt bloß einer mehr im Krankenhaus oder in der Prosektur.

Es gibt warnende Beispiele für Zivilcourage [5], die der Einschreitende teuer bezahlt hat. Im September 2009 stellte sich der deutsche Manager Dominik Brunner in München gegen zwei junge Männer, die vier Jugendliche in der S-Bahn bedroht hatten, und wurde von diesen getötet.

Eine solche Eskalation ist das Worst-Case-Szenario. Zeugen zufolge war die Situation bereits entschärft und die bedrängten Jugendlichen in Sicherheit, als sich Brunner im S-Bahnhof Solln »mit erhobenen Fäusten, tänzelnd, in Boxhaltung« vor den jungen Männern aufbaute und einen der beiden ins Gesicht schlug. In der folgenden Schlägerei stürzte Brunner, worauf die Täter auf den am Boden Liegenden einschlugen. Innerhalb einer Minute fügten sie ihm laut Zeugenaussagen mehr als zwanzig Tritte gegen den Kopf zu. Er starb bald darauf im Krankenhaus.

Sofern diese Zeugenaussagen überhaupt stimmen, wäre es angesichts seines Mutes und seiner Bereitschaft, die Kinder zu schützen, trotzdem fehl am Platz, Dominik Brunner aus seinem Verhalten einen Vorwurf zu machen. Wenn es so war, wie Beobachter sagen, hat er möglicherweise einen Fehler gemacht. Wenn es nicht unbedingt nötig ist, schlägt man nicht zu. Und wenn man zuschlägt, muss man die Sache zu Ende bringen. Aber die meisten anständigen Menschen wie Brunner sind im Gegensatz zu den weniger liebenswerten Zeitgenossen nicht darauf trainiert, alle Menschlichkeit fahren zu lassen und jemanden ins Krankenhaus zu prügeln.

Ich glaube, Brunner hatte Angst. Angst treibt viele Menschen in eine unkontrollierte Offensive. An irgendeinem Punkt muss ihn die Situation überfordert haben. Wenn so eine Krise nicht schnell ein Ende findet, baut sich von Minute zu Minute bei allen Beteiligten mehr Stress auf. Der Geist ist überreizt, der Körper will handeln, die Affektkontrolle sinkt. Auch Menschen, denen man keine Spur von Aggression zutrauen würde, agieren in solchen Momenten radikal anders als erwartet.

Wenn ich behaupte, sein Tod wäre vermeidbar gewesen, soll dies seinen Einsatz für die Kinder selbstverständlich nicht schmälern. Dominik Brunner war ein Held.

8

Bei aller Notwendigkeit von mehr Zivilcourage in unserem Alltag muss man also eine Warnung aussprechen: Sie sind nicht verpflichtet, sich für andere zu opfern. Ihr Eigenschutz ist oberstes Prinzip, Sie dürfen nur ein überschaubares Risiko eingehen. Es gilt immer abzuwägen, ob Ihre Hilfe unbedingt erforderlich ist und Sie selbst nicht zu sehr gefährdet. Wenn Sie einer mehrköpfigen Bande von Schlägern gegenüberstehen, sind Sie kein Feigling, wenn Sie sich zurückhalten und lieber die Polizei verständigen.

Merke: Es gibt keine Verpflichtung dazu, seine Gesundheit für andere aufs Spiel zu setzen.

Schicksale wie das von Dominik Brunner sind zum Glück seltene Ausnahmen. Die meisten Konflikte eskalieren nicht. Ein einziger entschlossener Mensch genügt, um sie zu entschärfen, ohne Gewalt, nur mit klaren Worten, nicht zu offensiv, nicht zu defensiv.

Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Deeskalation ist authentische Selbstsicherheit.

Authentische Selbstsicherheit baut auf der Überzeugung auf, unantastbar zu sein. Ob diese begründet ist oder nicht, spielt keine Rolle. Letztlich entscheidet die Ausstrahlung des Betreffenden. Man sollte nicht die Schwingungen von Mahatma Gandhi verbreiten oder die Ansicht vertreten, jeder Bösewicht wäre durch freundliche Worte in den Bewohner eines Streichelzoos zu verwandeln. Friedensstifter sind keine Pazifisten, und Pazifisten sind keine Friedensstifter. Auch wenn sich in Ihnen jetzt Unbehagen oder gar Widerstand gegen diese martialisch klingende Aussage regt: Frieden bewahrt, wer zum Krieg fähig ist.

9

Zumindest ein solcher Mensch sollte in jeder U-Bahn sitzen. Einer, der aufsteht und bereit und in der Lage ist, einen Konflikt zu schlichten und Schwächere zu beschützen.

In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie dieser Mensch werden, sogar ohne je ein Boxstudio, ein Fitnesscenter oder eine Militärakademie von innen gesehen zu haben. Wir werden Ihnen die Angst nehmen und Selbstsicherheit geben. So lebt es sich besser. Selbstverteidigung heißt nämlich zuallererst, sich selbst zu mögen.

Keine Sorge, Sie werden auf dem Weg zur wahren Selbstakzeptanz nicht mit Schellen an den Fußknöcheln in einer cannabisverqualmten Schamanenjurte herumhüpfen und Kumbaya, My Lord singen müssen. Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich in sozialen Prozessen durchzusetzen, sind überrascht, wie sehr die Selbstliebe wächst, wenn man sein Innerstes aktiv zu beschützen beginnt.

10

An dieser Stelle möchte ich Sie warnen: Wenn sich in der Bar, in der Sie sich gerade in Ruhe Ihre sonntägliche Nachmittagstorte schmecken lassen, ein betrunkenes Paar zu prügeln beginnt, schauen Sie lieber zwei Mal hin, ehe Sie der Frau helfen.

Vielleicht ziehe ich einfach Ärger an, so wie der Kampfmönch Caine aus der Fernsehserie Kung Fu, vielleicht gibt es auch tatsächlich so viel Gewalt unter Eheleuten, jedenfalls haben sich schon des Öfteren neben mir Paare zu fetzen begonnen. Wenn da die Fäuste fliegen, sieht man natürlich nicht nur zu.

Einmal habe ich das bereut. Ich verpasste dem Mann, der neben mir vor einer Gaststätte seine Frau verprügelte, ein paar Hiebe, woraufhin ich die Frau plötzlich auf meinem Rücken hatte, wie einen Rucksack, nur dass ein Rucksack einem nicht das Gesicht zerkratzt und nicht ins Ohr beißt und nicht mit dem Feuerzeug auf die Schädeldecke schlägt. Soll heißen, anstatt Dank für meine Heldenhaftigkeit zu bekommen, wurde ich von der Frau verdroschen. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.

Und einmal wurde ich gleich von beiden verprügelt.

Merke: Schauen Sie zwei Mal hin, bevor Sie sich einmischen.

In puncto Aggression, Kampfstärke und Bösartigkeit stehen Frauen Männern in nichts nach. Ich weiß nicht, ob er mir einen Bären aufgebunden hat, aber ich glaube eher nicht: Ein Ausbildner der israelischen Armee erzählte mir, Frauen, die sich einmal zum Handeln entschlossen haben, seien gefährlicher als Männer, und wer ein Terroristennest ausheben müsse, sollte zuerst die Frauen ausschalten. Die Männer zögern einen Wimpernschlag, ehe sie schießen. Die Frauen nicht.

Auch ohne Schusswaffe: Das Problem, mit einer aggressiven Frau fertigzuwerden, kann gar nicht unterschätzt werden. Wenn Sie eine Frau sind, dürfen Sie sich körperlich zur Wehr setzen, das wird Ihnen keine Richterin und kein Richter verübeln. [6] Sitzt ein kräftiger Mann auf der Anklagebank und eine zierliche Frau ist das Opfer, wird es für den Verteidiger schwieriger werden, auf Notwehr zu plädieren, auch wenn die zierliche Frau in einem Tobsuchtsanfall dem Mann mit einem Korkenzieher den Kopf zerstochen hat.

11

Bei dieser Gelegenheit werfen wir den gebotenen Blick in das Strafgesetzbuch.

Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

Papperlapapp! Coram iudice et in alto mare in manu Dei solo sumus. Vor Gericht und auf hoher See sind wir allein in Gottes Hand.

Meinen Beobachtungen zufolge sind beide Richter unberechenbar. Was Notwehr ist, was ein Notwehrexzess, was eine schwere Körperverletzung und was ein Totschlag, darüber haben jedenfalls andere zu befinden, nicht man selbst. Und das ist auch ganz gut so. Mit der Rechtfertigung, Ihr Nachbar sei Ihnen dreizehn Mal rückwärts in Ihr Küchenmesser gesprungen, können Sie nur beim Obersten Richter auf Milde hoffen.

12

Zum Abschluss dieses Kapitels eine Lektion, die an die Geschichte der zwei bedrängten Mädchen anschließt. So wie in der U-Bahn geht es auch hier um das richtige Auftreten eines Menschen, der exponiert ist oder sich aufgrund der Situation exponieren muss, um andere zu schützen.

Was machen Sie, wenn Ihnen nachts in einer abgelegenen Straße ein Mann entgegenkommt und bei seinem Anblick in Ihnen ein unangenehmes Gefühl aufsteigt? Wechseln Sie die Straßenseite? Ducken Sie sich an ihm vorbei? Starren Sie ihn an, als wollten Sie ihn hypnotisieren?

Das alles tun Sie bitte nicht. Sie gehen ruhig weiter und machen Folgendes:

Sie schauen nicht auf den Boden. Wer auf den Boden schaut, macht sich klein. Ein in der Opfersuche Erfahrener erkennt hinter einem solchen Verhalten sofort die Unsicherheit, er wittert sie wie ein Spürhund das Haschisch, sie zieht ihn magisch an.

Sie schauen nicht nach oben. Wer nach oben schaut, will sich größer machen, als er ist. Ob Sie zu Boden schauen oder in die Luft, beides bestätigt dem anderen, dass Sie sich mit ihm beschäftigt haben und Distanz wahren wollen. Der andere, wenn er denn wirklich ein Täter und Opfersucher ist, interpretiert Ihr Verhalten ganz richtig als Verunsicherung, und noch deutlicher kann man ihm gegenüber die Einladung zur Belästigung kaum aussprechen.

Sie schauen geradeaus, aber Sie starren nicht. Sie schauen dem anderen nicht ins Gesicht, aber Ihr Blick darf durchaus wie zufällig seine Gestalt streifen. Lächeln Sie! Schauen Sie auf Ihr Handy, und schütteln Sie den Kopf, als würden Sie sich über eine SMS amüsieren oder ärgern. Tun Sie so, als würden Sie telefonieren. Wichtig ist, dass Ihnen offenbar etwas wichtiger ist als der entgegenkommende Finsterling.

Merke: Jemand, der den Opfersucher freundlich ignoriert, wird nicht zum Opfer.