Padova, Thomas de Wissenschaft im Strandkorb

PIPER

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2008

 

ISBN 978-3-492-97779-1

Juli 2017

© Piper Verlag GmbH, München, 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2008

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Günter Rossenbach/zefa/Corbis (Strandkorb) und © Davies and Starr/Getty Images (Ei)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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VORWORT

Der Strandkorb ist eine Oase der Ruhe. Man klappt die Rückwand nach hinten, fährt die Fußstützen aus, macht es sich in der sturmfreien Bude bequem, liest, schläft, döst, Gedanken kommen und gehen, manchmal hebt die Phantasie zu abenteuerlichen Denkspiralen an.

 

Abgeschirmt von Wind und Wetter und von seinen Mitmenschen ist in dem kleinen Reihenhäuschen nur die unablässige Stimme des Meeres zu hören. Der Blick geht nicht nach rechts und nicht nach links. Im Strandkorb nimmt man nur einen kleinen, rechteckigen Ausschnitt der Wirklichkeit wahr. Man schaut in die Ferne, auf einen offenen Horizont hinaus.

 

Abgeschottet von vielen Problemen des Alltags dürfen auch Forscherinnen und Forscher ihren Blick auf einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit lenken. Oft behalten sie, auf Entdeckungen hoffend, die einmal gewählte Perspektive über Jahre bei. Ihre voneinander separierten Institute und Fachbereiche sind Oasen der Ruhe und Inspiration. In dem einen Häuschen eine Spezialistin für Tauch- und Überdruckmedizin, dort lässt ein Windradingenieur seine Ideen kreisen, nebenan, schatzsuchend, eine Koryphäe für Perlaustern. Sie alle sind Experten in einem kleinen Wissensbereich und genau wie unsereins Laien, sobald sie einen ihrer Nachbarn besuchen.

 

Das zunehmende Bewusstsein dafür, an den Stränden der Forschung nur eine kleine Kenntnisparzelle zu überblicken, hat die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler offener gemacht. Von ihrem einstigen Überlegenheitsgefühl ist nicht viel geblieben. Die meisten von ihnen reagieren aufgeschlossen und freuen sich sogar, wenn jemand auf sie zukommt und sich nach ihrem Interessengebiet erkundigt. Sie antworten mit Begeisterung und Liebe zum Detail auf Fragen, bei denen unsereins ins Schwitzen kommt.

 

Als Wissenschaftspublizist profitiere ich in besonderer Weise davon. In den vergangenen Jahren habe ich Hunderte Strandkörbe einen nach dem anderen abgeklappert. Immer wieder nehme ich erstaunt zur Kenntnis, womit sich all die Experten – manchmal auch ganz nebenbei – auseinandersetzen. Die wöchentliche Kolumne »Aha« auf den Wissenschaftsseiten des »Tagesspiegel« lebt von der Vielfalt ihrer Fach- und Spezialgebiete. Warum spuckt der Taucher in die Brille? Warum haben Windräder drei Flügel? Warum kippt der Kopf beim Nickerchen weg? Warum hält sich der Knutschfleck? Warum hat das Hirn so viele Windungen? Warum ist das Meer blau?

 

Für dieses Buch habe ich einen Teil aus diesem Fundus überarbeitet und thematisch zusammengestellt. Die von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beantworteten Fragen betreffen unseren Körper (Bodybildung), unser tägliches Umfeld (Haushaltshilfe), die Natur (Expeditionen) und all das, was wir aus dem Strandkorb heraus beobachten (Wissenschaft im Strandkorb). Dabei lädt der besondere Blickwinkel der Spezialisten dazu ein, das Gewohnte und scheinbar Vertraute einmal mit anderen Augen zu sehen.

 

Mein Dank gilt denjenigen, die meine Fragen und Nachfragen geduldig beantwortet haben. Ich möchte auch Dr. Hartmut Wewetzer und Dr. Paul Janositz für ihre zahlreichen Anregungen danken, sowie meiner Frau Anne für ihre Ideen und die Durchsicht der Texte, zudem dem Piper Verlag und Barbara Wenner, ohne deren Hilfe das Büchlein nicht zustande gekommen wäre.

 

Vielleicht werden die Fragen, die auch so manchen einschlägigen Experten ins Grübeln gebracht haben, Ihren Blick für die Wunder des Alltags schärfen. Und dazu beitragen, dass Sie sich Ihre Neugier erhalten, statt den Kopf womöglich in den Sand zu stecken.

BODYBILDUNG

Warum hält sich der Knutschfleck?

Bei der ersten Liebe heißt es: Farbe bekennen. Oder vielleicht doch nicht? Der Knutschfleck changiert zwischen Peinlichkeit und offen zur Schau getragener Trophäe. Er liegt an der Grenze zwischen Verdecktsein und Gesehenwerden und fristet viele Stunden seines nicht allzu langen Lebens unter einem Rollkragenpulli oder Schal.

Der Hals ist für den Knutschfleck wie geschaffen. An der Hand oder am Rücken würde der Liebende vergeblich saugen. Aber am Hals, der sehr beweglich sein muss, ist das Bindegewebe weich und dünn, geradezu prädestiniert für die Bluttat.

Das Blut im Unterhautgewebe fließt durch sehr kleine Röhrchen. »Diese Kapillaren sind auf der Innenseite mit Zellen ausgekleidet, die – anders als die Kacheln im Bad – nicht die ganze Oberfläche bedecken«, sagt Hanno Riess, stellvertretender Direktor der Abteilung Hämatologie der Berliner Charité. »Die Zellen sind nicht passgenau.« Es gibt Zwischenräume, durch die Flüssigkeiten und Nährstoffe ein- und ausströmen.

Über diesen Zellen liegt das Bindegewebe. Saugt jemand kräftig daran, entsteht darin ein Unterdruck, das Blut tritt durch die Zwischenräume ins Gewebe aus. Blut ist sehr farbintensiv. Daher genügt schon weniger als ein Milliliter, um den Bluterguss sichtbar zu machen. Bei kräftigem Saugen können kleinere Blutgefäße auch platzen.

Der Knutschfleck ist in der Mitte heller als am Rand, wo die Lippen stark angepresst werden. Mit der Zeit verändert er seine Farbe. Die roten Blutkörperchen geben im Gewebe ihren Sauerstoff ab und werden dunkelrot bis blau. Vor allem rücken über die Blutgefäße kleine Helfer nach, um den Schaden zu beheben. Sie bauen den Blutfarbstoff ab. Das dauert eine Weile und geschieht Schritt für Schritt. Enzyme verwandeln das Hämoglobin in blaugrünes Biliverdin, später in gelbbraunes Bilirubin, das übers Blut zu Leber und Niere transportiert und ausgeschieden wird.

Ein Blutsverwandter des Knutschflecks ist das Veilchen, mit dem ein Boxer den anderen beglückt. Dafür braucht er gar nicht so dicke Muckis, weil das Bindegewebe am Auge ebenfalls weich ist.

Auch literarisch steht der Knutschfleck dem Veilchen nahe. Vor allem jenem Blümchen, das in einem Liebesgedicht Goethes auf der Wiese steht. Dieses Veilchen liebt eine leider ziemlich unachtsame Schäferin und wird von dieser plattgetreten. Es freut sich dennoch, zu ihren Füßen sterben zu dürfen. So wunderbar absurd kann die Liebe sein!

Warum haben wir zwei Nasenlöcher?

Unser evolutionäres Erbe umfasst nicht zwei Nasenlöcher, sondern vier. Wir verdanken sie den Fischen. Unsere Fischahnen hatten zwei vordere Nasenöffnungen, durch die beim Schwimmen Wasser einströmte, und zwei hintere, durch die es wieder hinausfloss. Ihre Nase bestand aus zwei kleinen Röhrchen. Sie war nur zum Riechen da und nicht zum Atmen. Es gab keine Verbindung zum Körperinneren.

Der Durchbruch zur Nasenatmung ereignete sich, noch bevor die ersten Wirbeltiere an Land gingen. Es war ein Durchbruch durch den Gaumen. Das 395 Millionen Jahre alte Fischfossil »Kenichthys« zeigt zwei solcher Lücken für Nasenlöcher im Kiefer. Sie haben sich später bei den Säugetieren nach hinten in den Rachen verlagert.

Über diese Durchgänge zur Nasenhöhle atmen wir. Zugleich nehmen wir darüber Düfte wahr. Nicht nur über die beiden äußeren Nasenlöcher, sondern auch von innen. Wir riechen, sobald wir essen oder Wein trinken. Weinkenner umschreiben dieses Bukett mit blumigen Worten.

Nüchtern betrachtet riecht der Mensch schlechter, seit er die Nase oben trägt. Sie hat sich vom duftenden Erdreich entfernt. Wir können nicht so gut wie Ratten oder Hunde unterscheiden, aus welcher Richtung ein Geruch kommt. Aber mit zwei äußeren Nasenlöchern sind wir grundsätzlich noch immer dazu imstande.

Wenn Luft von außen in die Nase gelangt, passiert sie einen Engpass, wird dahinter verwirbelt, aufgewärmt und befeuchtet. Ein kleines Areal unserer Nasenhöhle ist mit einer Riechschleimhaut ausgekleidet. Dort haben sich Millionen Sinneszellen auf die Wahrnehmung von Duftmolekülen spezialisiert. Sie leiten ihre Signale über den »Nervus olfactorius« weiter zum Gehirn.

Außerhalb der Riechschleimhaut ist noch der Trigeminusnerv am Riechen beteiligt. Seine freien Nervenenden reagieren ebenfalls auf chemische Reize, in der Regel aber erst bei einer höheren Konzentration an Duftstoffen.

»Wir können stereo riechen«, sagt Thomas Hummel, Leiter des Arbeitsbereichs »Riechen und Schmecken« der Uniklinik Dresden. »Man kann Düfte aber nur dann gut nach ihrer Richtung differenzieren, wenn sie auch den Trigeminus anregen.« Kräftiges, gezieltes Schnüffeln hilft, die Duftstoffe möglichst gut in der Nase zu verteilen.

Dass wir das Richtungsriechen trainieren können, haben Forscher experimentell belegt. Mit dem Zweiten riechen wir nicht nur stereo, wir riechen damit auch besser. Wenn 50 Prozent eines Stoffes ins rechte Nasenloch gelangen und 50 Prozent ins linke, nehmen wir dessen Geruch intensiver wahr, als wenn alles durch ein Loch strömt.

Warum sammeln sich Flusen im Bauchnabel?

Neun Monate lang hängt das Leben des Kindes an einem seidenen Faden. Nur die Nabelschnur sichert seine Rundumversorgung. Wie eine Pipeline verbindet sie den Fötus über den Mutterkuchen mit dem Blutkreislauf der Mutter. Kaum aber hat das Kind den Geburtskanal verlassen, bricht der Nachschubweg ab, die Nabelschnur hört auf zu pulsieren. Ihre Blutbahnen liegen binnen Minuten still.

Die Abnabelung erfolgt schnell. Nach dem Durchtrennen der Schnur wenige Zentimeter über der Bauchdecke erinnert ein kurzes Endstück noch ein paar Tage an die einstige Direktverbindung. Doch auch dieser Nabelschnurrest vertrocknet und fällt ab. Zurückbleibt eine kleine Narbe: der Bauchnabel.

Meist hat der Bauchnabel die Form eines Trichters, manchmal aber auch die eines kleinen Knopfes. Während der Embryo im Mutterleib heranwächst, ist seine Bauchdecke zunächst noch völlig offen. Sie wächst erst von allen Seiten zu, wenn sich der Darm des Kindes bereits mehrfach gewunden hat. Wo die Nabelschnur austritt, bleibt eine Lücke. Dieser Nabelring ist manchmal recht weit, sodass er sich nach der Geburt nur langsam verengt. Dann kann sich das Bauchfell durch den Ring nach außen stülpen: Der Nabel steht vor wie ein Knopf.

»In der Regel muss man das nicht operieren«, sagt Felix Schier, Leiter der Kinderchirurgie des Uniklinikums Mainz. »Selbst wenn der Bauchnabel zunächst vorsteht, zieht er sich in den meisten Fällen immer weiter nach innen zurück.« Bis zum vierten oder fünften Lebensjahr verwächst das Nabelgewebe.

Der klassische Bauchnabel bildet irgendwann einen Trichter. Bei dicken Bäuchen ist das Loch besonders tief. Es wird leicht zur Sammelgrube, in der Schweiß und allerlei Fusselkram miteinander verkleben.

Das passiert insbesondere dann, wenn sich Teile aus dem Gewebe unserer Kleidung lösen. Je kürzer die zu einem Garn versponnenen Fasern, umso schlechter sind sie darin eingebunden. Äußerlich kann sich dies etwa durch Möppchen und Wollmäuse bemerkbar machen, die nur noch mit einer Ankerfaser am Pullover hängen.

Wie beim Deutschen Wollinstitut in Erfahrung gebracht werden kann, löst sich bei dauernder Reibung am Körper so manches Gewebe auch von innen her auf: etwa Feinripp-Unterhemden, die von männlicher Brustbehaarung aufgeschubbert werden. Der Abrieb folgt der Schwerkraft, wandert zum Nabel und verschwindet im feuchten Flusengrab. Krankenschwestern zufolge soll sich die Wolle bei mangelnder Hygiene zu regelrechten »Nabelsteinen« verdichten. Im Internet berichten sie von Patienten, bei denen die Klumpen selbst mit einer Pinzette kaum noch zu entfernen waren.

Warum hört sich die eigene Stimme auf Tonband fremd an?

Der Spruch auf dem Anrufbeantworter klingt, als wäre er nicht von mir. Ich dachte, meine Stimme wäre tiefer. Meine Frau sagt, ich spreche immer so. Sie hört mich anders als ich mich.

Der Schall kann unser Ohr auf verschiedenen Wegen erreichen. Wird er durch die Luft übertragen, gelangt er über die Ohrmuschel zum Trommelfell. Die trichterförmige Membran überträgt die Luftschwingungen an die Lymphflüssigkeit des Innenohrs. Allerdings nicht direkt, weil sonst fast der gesamte Schall an der Grenzfläche reflektiert würde wie an einer Schallschutzmauer. Das Trommelfell ist stattdessen an einem Knöchelchen angewachsen: den »Hammer«. Er nimmt die Vibrationen auf und leitet sie über Gelenke weiter an »Amboss« und »Steigbügel«. Letzterer ist mit nur drei Milligramm Gewicht der kleinste Knochen unseres Körpers.

Die Platte an seinem Ende, auf die nun die gesamte Kraft wirkt, ist winzig. Der Schalldruck am Innenohr ist dadurch erheblich höher als der Druck, der das größere Trommelfell in Schwingung versetzt. Diese Verstärkung macht unser Ohr zu einem empfindlichen Sinnesorgan. Das lauteste noch erträgliche Geräusch ist bei gesundem Gehör mehr als eine Million Mal lauter als die leisesten wahrnehmbaren Töne.

Das Innenohr zerlegt den Schall in seine verschiedenen Frequenzen. Die Schwingungen der Lymphflüssigkeit reizen unter anderem die Haar-Sinneszellen entlang der Gehörschnecke. Hohe Frequenzen werden am Eingang der Schnecke registriert, tiefe Töne erregen das Ende der Windung. So ist jeder Frequenz, wie auf einer Tonleiter, ein Platz zugeordnet.

Wenn wir selber sprechen, gibt es zusätzliche Übertragungswege. Neben der Luft leiten dann auch unsere Knochen den Schall weiter. »Beim Sprechen schwingt der Schädel mit«, sagt Gerald Fleischer, Biotechniker und Leiter der Hörforschung an der Universität Gießen. Diese Schwingungen erreichen ebenfalls die Gehörschnecke, die nur kaffeebohnengroße Cochlea. »Sie haben sehr große Wellenlängen und drücken auf die kleine Cochlea.« Die Schnecke wird von den Druckwellen komprimiert und wieder auseinandergezogen. Auch dadurch entsteht ein Höreindruck.

Aber nur, während wir sprechen. Hingegen fehlt er, wenn wir die eigene Stimme auf einem Tonträger hören. Das kann für Menschen, die viel mit ihrer Stimme arbeiten, irritierend sein. Wer als Kabarettist die Stimmen anderer imitiert, hört sich das Ergebnis seiner Bemühungen schon mal auf Band an, um mitzukriegen, was beim Publikum ankommt.

Warum hat das Hirn so viele Windungen?

Sie meinen also, Sie lägen in der Spitzengruppe? Mit nicht einmal drei Pfund Hirnmasse wären Sie ein großer Kopf? Können Sie sich vorstellen, dass ein Wal zehn Kilo zu bieten hat?

Das ficht Sie natürlich nicht an, denn der ist ja riesig. Man muss das Ganze in Relation zur Körpergröße betrachten. Dann schneiden Sie im Vergleich zur Spitzmaus allerdings schlecht ab. Bei ihr macht das Hirn satte zehn Prozent des Körpervolumens aus, bei Ihnen sind es vielleicht zwei.

Der reine Größenvergleich lässt den Stolz des Homo sapiens auf ein ernüchterndes Ergebnis zusammenschrumpfen: Er wirft nicht mehr Hirn in die Waagschale als andere Säugetiere. Macht es also auch hier nicht allein die Masse, sondern die Klasse?

Auffällig am menschlichen Hirn ist die stark gefaltete Großhirnrinde, Sitz unseres Gedächtnisses und Bewusstseins. Mit ihren vielen Windungen überdeckt sie nahezu alle anderen Hirnteile. Ihre oberste Schicht ist grau. In ihr liegen Zigmilliarden Nervenzellen, die über Fasern miteinander in Verbindung stehen, jede von ihnen mit vielen Tausend anderen. Dieser Kabelwust bildet die weiße Hirnsubstanz.

Während der Embryonalentwicklung wandern die späteren Hirnzellen zu vorbestimmten Plätzen. Ihre Fasern wachsen, treffen auf andere Zellen und verknüpfen die Hirnregionen miteinander. Ist die Hirnrinde anfangs noch relativ glatt, ändert sich ihre Struktur im Zuge dieser Verknüpfungen.

»Die Fasern ziehen das Gehirn zusammen«, sagt Claus Hilgetag, Neurowissenschaftler an der Jacobs University Bremen. Wo sich viele Stränge spannen, wölbt sich die Rinde nach außen, wo die Verkabelung locker ist, entstehen Furchen. »Ähnlich wie beim Sockenstopfen.« Das Gewebe wird zusammengezurrt. Daher die vielen Windungen.

Weil sich das Gehirn so stark windet, ist seine Oberfläche zwar groß. Trotzdem können Zellen auseinanderliegender Rindenteile über ummantelte Fasern sehr schnell miteinander kommunizieren. Bei Frauen mit ihrem – aufgrund der insgesamt geringeren Körpergröße – etwas kleineren Hirn ist die Rinde noch stärker gefurcht als bei Männern. »Das macht den Größenunterschied wieder wett.«

Das menschliche Hirn wächst langsamer als das anderer Primaten. Bei der Geburt hat es erst ein Viertel der endgültigen Größe erreicht, nach einem Jahr gerade einmal die Hälfte. Die grauen Zellen und die Verkabelung entwickeln sich unter äußeren Einflüssen weiter. Erst wenn zum Beispiel das für die Sprache wichtige Broca-Areal ausgereift ist, beginnen Kinder mit der grammatikalischen Sprachentwicklung.

Offen bleibt, auf welche Weise die gute Verkabelung und die lang andauernde Hirnentwicklung zur spezifisch menschlichen Intelligenz beitragen. Die Hirnforscher müssen ihre Windungen wohl noch ein bisschen bemühen.

Warum kippt der Kopf beim Nickerchen weg?

Der Luxus, Mensch zu sein, beruht darauf, dass andere ständig für uns wachen. Ich genieße das. Während meine Frau am Steuer sitzt, fallen mir die Augenlider zu, die Straßenkarte sinkt in den Schoß, der Atem wird so regelmäßig wie das Fahrgeräusch eines Schlafwagens. Ein wenig verstörend ist nur, dass ich noch mehrmals aufschrecke, weil mein Kopf ruckartig nach vorne fällt. Aus diesem Grund gehört bei Zugreisen ein aufblasbares Nackenkissen zu meiner Standardausrüstung, als Beifahrer im Pkw habe ich da noch gewisse Hemmungen.

Wäre ich in Japan aufgewachsen, hätte ich schon in der Schule »Inemuri« gelernt: zu schlafen und anwesend zu sein. Das Nickerchen ist dort allgemein anerkannt. Kinder nehmen kleine Handtücher als Kopfablage mit in den Unterricht und üben die Schlafpause, die sie später minutengenau beim U-Bahn-Fahren oder bei Konferenzen einsetzen können.

Beim Nickerchen braucht der Kopf eine Stütze. Während wir wachen, halten ihn die Muskeln aufrecht, ohne dass wir es merken. Vier bis fünf Kilo muss unsere Halswirbelsäule tragen, die Nackenmuskulatur balanciert dieses Gewicht ständig aus.

Um sich jederzeit zusammenziehen zu können und die Haltung zu korrigieren, befinden sich die Muskeln in einer Grundspannung, dem Tonus. Ihre Kontraktionen setzen sich zu den Muskelspindeln hin fort, die kleinste Längenänderungen registrieren können. Sensible Nerven leiten diese Informationen ans Rückenmark weiter, das die Ausgleichsbewegungen steuert.

Kinder haben noch keinen ausgeprägten Tonus, ihre Bewegungen sind weich. Wer den Kopf hingegen bei der Schreibtischarbeit ständig weit nach vorne schiebt, hat eine hohe Spannung und mutet den Nackenmuskeln einiges zu.

Auch für sie ist das Nickerchen eine Erholung. »Wenn wir einschlafen, entspannt unsere Haltemuskulatur«, sagt Jürgen Zulley, Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Universität Regensburg. »Deshalb können wir nicht im Stehen schlafen.« Aber auch wenn wir sitzen, verliert der Kopf die Balance und knickt weg. Das schreckhafte Aufwachen danach ist wie ein Warnsignal, dem Schlafbedürfnis endlich nachzugeben und eine Ruheposition fürs müde Haupt zu finden.

Dass wir gelegentlich mit offenem Mund dösen, liegt daran, dass neben den Nackenmuskeln auch der Kieferschließer erschlafft. »Es empfiehlt sich, nicht nur den Kopf anzulehnen, sondern auch die Kinnlade hängen zu lassen«, rät Zulley. »Das gibt ein wunderbar entspanntes Gefühl.« Zehn Minuten bis ein halbes Stündchen reichen völlig aus. Aus dem Tiefschlaf dagegen kommt man nur schwer wieder auf die Beine.

Warum haben wir ein leuchtendes Augenweiß?

Ein Auge auf jemanden werfen. Hingucken, den Blick auf sich ziehen, vielleicht die Lider niederschlagen, wenn der andere zu reagieren beginnt, dann wieder ein Auge riskieren – bis endlich genügend Zeichen gegeben wurden und einer Aufforderung zum Tanz nichts mehr im Wege steht. Unter den Primaten ist der Mensch das einzige Wesen, das bei der Partnerwahl ein solches Affentheater veranstaltet. Schöne Augen kann man dem anderen nämlich nur machen, wenn dessen Blickrichtung eindeutig erkennbar ist: dank eines strahlenden Augenweißes.

Beim Menschen hat die weiße Lederhaut keine Pigmente. Unsere Augen sind außerdem nicht rund, sondern mandelförmig, wodurch das Augenweiß noch besser hervortritt. Der Farbkontrast ist so gut, dass unser Gegenüber immer weiß, wohin wir gerade schauen. Die Bewegungen der dunklen Iris und der Pupille lassen sich genau verfolgen.

Forscher des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig vermuten, dass die Entstehung des Augenweißes mit unserem kooperativen Verhalten zusammenhängt. »Unser Auge hat sich so entwickelt, dass wir uns besser miteinander verständigen können«, sagt die Leipziger Biologin Juliane Bräuer. Schon Kleinkinder richten sich nach Augenbewegungen. Sie bevorzugen Kommunikationspartner mit kontrastreichen Gesichtern und lesen aus deren Augen. Fremde Augen können ein kooperatives Verhalten regelrecht erzwingen. »In einem Raum, in dem ein Kaffeeautomat steht, bezahlen Menschen eher für den Kaffee, wenn ein Foto an der Wand hängt, auf dem Augen zu sehen sind.« Man fühlt sich stärker kontrolliert und verhält sich entsprechend.

Vielen Affen fehlt ein ausgeprägtes Augenweiß. Deshalb sehen zum Beispiel Gorillas so traurig aus. Ihre dunkle Lederhaut hebt sich von der sonstigen Gesichtsfarbe kaum ab. Sie verbergen damit vor anderen, wohin sie schauen. In einer starken Konkurrenzsituation um Futter und Sex könnte dies von Vorteil sein. Schon junge Affen zeigen weniger Kooperationsbereitschaft als Kleinkinder. Sie kommunizieren weniger über Augenkontakt, achten dafür allerdings mehr auf die Richtung, in die der Kopf des anderen zeigt.

Beim Menschen ermöglicht nicht nur der Kontrast zwischen Iris und Augenweiß, sondern auch der zwischen Augenbrauen und einer hellen Haut den Austausch von Signalen über größere Distanzen. Das Zucken der Brauen setzen wir beispielsweise ein, um Zustimmung oder Gereiztheit auszudrücken.

Für die Entwicklung der glänzenden Lederhaut haben vermutlich noch andere Faktoren eine Rolle gespielt. Nach Ansicht einiger Wissenschaftler könnte das helle Augenweiß auch auf einen gesunden Sexualpartner hinweisen. Mit Wimperntusche und Kajalstift ließe sich ein solcher Eindruck noch unterstreichen.

Warum schmecken Tränen salzig?

Die Hornhaut ist das Fenster des Auges. Sie ist glasklar. Weil keine Blut- oder Lymphgefäße darin vorhanden und ihre Zellen regelmäßig angeordnet sind, kann das Licht durch das etwa 0,5 Millimeter dünne Gewebe hindurch bis zur Netzhaut vordringen.

Diese Spezialisierung hat jedoch ihren Preis: Die Hornhaut ist sehr empfindlich. Sie ist auf eine dauerhafte und tadellose Versorgung angewiesen, auf Nachschub und Reinigung. Sauerstoff, Traubenzucker oder Salze müssen zu ihr hingebracht, tote Zellen und in Wasser gelöste Abfallprodukte wie Kohlendioxid oder Milchsäure beseitigt werden. An der Innenseite der Hornhaut erledigt vor allem das Kammerwasser diese Transportaufgaben, an der Außenseite spült der Tränenfilm das Sichtfenster ab.

Alle fünf bis zehn Sekunden wischen unsere Augenlider über die Hornhaut. Schlag auf Schlag verteilen sie einen Tränenfilm auf dem kleinen Scheibchen, entfernen Staub und Fremdkörper. Über einen Kanal fließt das Sekret in den Tränensack ab und weiter zur Nase.

»Die Tränenflüssigkeit hat auch eine antibakterielle Wirkung«, sagt Christian Ohrloff, Direktor der Universitäts-Augenklinik Frankfurt. »Mit Lysozym und anderen Abwehrstoffen schützt sie uns vor Bindehautentzündungen, unter denen Patienten mit trockenen Augen häufiger leiden.« Auch vor Geschwüren in der Hornhaut.

Der Tränenfilm kommt aus einer über dem Auge gelegenen Drüse. Diese holt sich die nötige Flüssigkeit aus dem Blutserum. Dabei werden etliche Proteine herausgefiltert, sodass eine klare Lösung entsteht. Die Salzkonzentration bleibt jedoch unverändert. Sie entspricht mit 0,9 Gramm Kochsalz pro Liter der des Blutes. Daher schmeckt es salzig, wenn bei einer Überproduktion der Tränendrüse ein See im Auge entsteht, über die Lidkante schwappt, in Form von Tränen an unseren Wangen hinunterkullert und bis in den Mundwinkel läuft.

Weinen hat etwas Reinigendes. Nicht nur für die Seele. Unsere vielschichtige Hornhaut holt sich dabei alles, was sie braucht. Das Salz der Tränen spielt für ihren Stoffwechsel allerdings eine untergeordnete Rolle. Der Tränenfilm versorgt sie zwar mit Sauerstoff. Traubenzucker und Salze gelangen aber in erster Linie über das Kammerwasser in die Hornhaut. Das Kammerwasser hält auch den Wassergehalt im Gewebe immer gleich hoch. So bleibt das Fenster unserer Augen klar und durchsichtig.

Warum werden Haare grau?

Anfangs habe ich mir die weißen Haare noch ausgezupft. Seit ein paar Jahren wachsen zu viele von ihnen nach. Die Schläfen werden grau, besser gesagt: weiß.

Graue Haare gibt es eigentlich nicht. Während die alten Haare ausfallen, Strähne für Strähne, bahnen sich neue den Weg, die von einem gewissen Alter an zunehmend unpigmentiert sprießen. Mischen sie sich unter schwarze oder braune Haare, ergibt das Zusammenspiel den Farbeindruck Grau.

Am Bart oder an den Schläfen ergrauen viele Menschen als Erstes, andere entdecken ihre ersten weißen Haare irgendwo auf dem Kopf. Kopfhaare erneuern sich allerdings erst nach etwa vier bis sechs Jahren. Sie haben viel zu wachsen und werden entsprechend lang. Barthaare sind nicht so langlebig, sie stehen nur ein Jahr ihren Mann. Wimpern fallen sogar schon nach wenigen Monaten wieder aus.