Padova, Thomas de Schlau nach acht

PIPER

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 2010

 

ISBN 978-3-492-97780-7

Juli 2017

© Piper Verlag GmbH, München, 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2010

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Images.com/Corbis

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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VORWORT

Katzen haben einen leisen Gang. Sie vermeiden Geräusche. Auch als Stubentiger gehen sie auf den Zehen und setzen die hintere Pfote genau an die Stelle der vorderen. Ihre Spur ist eine fast gerade Linie.

Albert Einstein mochte die Samtpfoten. In Princeton war er von lauter Katzen umgeben. Seine Schwiegertochter Margot holte ein Tier nach dem anderen ins Haus, bis ihre Zahl schließlich auf 30 gestiegen war. Sie schlichen sich unbemerkt in sein Arbeitszimmer und stahlen sich genauso unbemerkt wieder davon. »Man hat den Eindruck«, so Einstein, »dass die moderne Physik auf Annahmen beruht, die irgendwie dem Lächeln einer Katze gleichen, die gar nicht da ist.«

Für Einstein symbolisierten Katzen das Geheimnisvolle und Unergründliche. In seiner Gedankenwelt streunten quantenphysikalische Wesen wie »Schrödingers Katze« herum. Das Tier war zur selben Zeit tot und lebendig und stand sinnbildlich für die Unschärfe der Begriffe in einer Forschung, in der es keine letzten Gewissheiten gibt. Ganz plötzlich tauchten Katzen manchmal auch auf, wenn zwischen dem weltberühmten Physiker und dem Laienpublikum schier unüberbrückbare Gräben zu überspringen waren. So etwa, als Einstein die Funktionsweise eines Radios erklären wollte: »Sehen Sie, drahtgebundene Telegrafie ist so etwas wie eine sehr, sehr lange Katze. Sie ziehen in New York am Schwanz und hören es in Los Angeles miauen. Verstehen Sie?« Ein Radio funktioniere genauso. »Sie senden Ihre Signale von hier aus, und dort empfangen Sie sie. Der einzige Unterschied ist, dass da keine Katze ist!«

Schon wieder so eine Katze, die da ist und doch nicht da ist! Wieder geht es um die Illusion des Verstehens, um das bis zuletzt Rätselhafte, darum, dass jede neue Einsicht zugleich neue Fragen aufwirft. »Das Wichtigste im Leben ist, nicht aufzuhören, Fragen zu stellen«, so Einstein. Er selbst war ein Pionier des Fragens und hatte sichtlich Spaß daran, die Welt auf diese Weise zu erkunden. »Wie wäre es, wenn man hinter einem Lichtstrahl herliefe? Wie, wenn man auf ihm ritte? … Wenn man schnell genug liefe, würde er sich dann überhaupt nicht mehr bewegen?« Der Physiker, der das Universum auf einem Lichtstrahl reitend durcheilte, dachte viel darüber nach, was Gleichzeitigkeit bedeutet und wie sich zwei Uhren synchronisieren lassen. Solche scheinbar einfachen Fragen öffneten ihm das Fenster zur Relativitätstheorie.

 

So tiefschürfend wie Einsteins Physik ist dieses Buch nicht. Aber auch hier geht es darum, die Welt fragend zu erforschen, eine Brücke von alltäglichen Beobachtungen zur Wissenschaft zu schlagen. Es versteht sich als Einladung an alle, die vielleicht ein wenig Scheu vor Relativitätstheorie oder Quantenphysik haben, aber etwas von dem verstehen möchten, was in unserem Körper vor sich geht und was um uns herum passiert.

Wo immer wir hinschauen, werden wir mit denkwürdigen Phänomenen konfrontiert: Warum haben wir morgens Sand im Auge? Warum werden Haare elektrisch? Warum können Papageien sprechen? Warum explodieren Eier in der Mikrowelle? Zugegeben, man muss das nicht alles wissen. Im Alltag hält uns vieles davon ab, all den kleinen Rätseln nachzugehen. Doch was mit einer Frage beginnt, kann in lustvolle Neugier umschlagen.

Warum etwa ist es im Winter kalt? Grämen Sie sich nicht, wenn Sie nicht gleich eine Antwort parat haben. Selbst unter Akademikern hat sich das Wissen um derartige astronomische Zusammenhänge kaum verbreitet, wie eine Befragung von Harvard-Absolventen ans Licht brachte. Die meisten von ihnen hatten immerhin schon einmal gehört, dass die Bahn der Erde um die Sonne kein Kreis, sondern eine Ellipse ist. Entsprechend fiel ihre Antwort aus: Im Winter wäre die Erde eben weiter von der Sonne entfernt. Stimmt das? Wenn das richtig wäre, dann müsste der Winter auf Nord- und Südhalbkugel zur selben Zeit anbrechen, also in Deutschland und in Argentinien gleichzeitig, was bekanntermaßen nicht der Fall ist. Was also ist der Grund für den Wechsel der Jahreszeiten?

»Das Wichtigste im Leben ist, nicht aufzuhören, Fragen zu stellen.« – Die meisten großen Philosophen haben uns nicht durch ihre Antworten bereichert, sondern durch ihre Fragen. Gerade da, wo eine Antwort nicht sofort zu finden ist, öffnen sich neue Horizonte. Nehmen wir ein anderes Beispiel, das Wissenschaftler noch heute beschäftigt: »Warum schnurren Katzen?« Wenn Kinder eine solche Frage stellen, können wir uns ihrer Neugier anschließen. Auch wenn wir selbst die Antwort nicht kennen, können wir gemeinsam mit ihnen auf Entdeckungsreise gehen: »Du meinst also, deine Katze schnurrt, wenn sie sich wohlfühlt? Wie kommst du darauf? Schnurrt sie vor allem dann, wenn sie auf deinem Schoß liegt?«

In diesem Buch stehen einschlägige Experten Rede und Antwort: der Leiter einer Klinik für kleine Haustiere, Meteorologen und Weltraumwissenschaftler, Spezialisten für elektrostatische Aufladungen oder Papageienforscher. Die wöchentliche Kolumne »Aha« auf den Wissenschaftsseiten des »Tagesspiegel«, Grundlage für dieses Buch, lebt von der Vielfalt ihrer Fach- und Spezialgebiete. Sie testen das Rollverhalten von Vogeleiern, schäumen Beck’s Pils und Jever Dark mit Ultraschall auf und wissen, warum es sinnvoll sein kann, Fische auszuwringen. Auch sie haben längst nicht jedes Geheimnis gelüftet. Aber ihre unterschiedlichen Perspektiven laden dazu ein, das Gewohnte und Vertraute einmal mit anderen Augen zu betrachten: ob am Morgen vorm Badezimmerspiegel oder nach Feierabend am Stammtisch.

WISSEN VORM BADEZIMMERSPIEGEL

Warum können Schwämme laufen?

Der Gemeine Badeschwamm, Spongia officinalis, gehört zu den beliebtesten Haustieren. Sein weiches Skelett macht ihn zum Kuscheltier par excellence. Und doch gibt es kaum ein Lebewesen, über dessen Natur so wenig bekannt ist.

Viele Menschen halten den Schwamm für eine Pflanze. Haben auch Sie so gedacht? Schwamm drüber! Im Unterschied zu anderen Tieren besitzt dieser tatsächlich weder Muskeln noch Sinnesorgane, er hat nicht einmal ein Nervensystem. Erst im 19. Jahrhundert stellten Forscher bei mikroskopischen Untersuchungen zweifelsfrei fest, dass es sich hier um einen tierischen Mehrzeller handelt.

Gerade weil Schwämme so einfach gebaut sind, haben sie Hunderte Millionen Jahre überlebt. Über Kammern und Röhren in ihrem Körper filtern sie unentwegt Nährstoffe aus dem sie durchströmenden Wasser. Damit dieser Fluss in Gang gehalten wird, sind an den Innenwänden der Kammern Geißelzellen aktiv und schlagen mit ihren Fortsätzen.

Trotz dieser primitiven Ausstattung können Schwämme laufen. Dass der Trickfilmheld Spongebob da keine Ausnahme bildet, hat Michael Nickel von der Universität Jena bei Zeitrafferaufnahmen nachgewiesen: Der kleine Schwamm Tethya wilhelma zum Beispiel wandert mit zwei bis drei Millimetern pro Stunde über eine Glasplatte. Für einen Schwamm ein Rekordtempo. Keine Beine, keine Muskeln – und er bewegt sich doch!

»Die eigentliche Bewegung findet im Gewebe statt«, so Nickel. Das Innere des Schwamms ist ein lockerer Verbund aus mobilen Zellen, die Nährstoffe transportieren oder Kollagen absondern. »Diese Zellen können ihn in Bewegung versetzen.« Wie eine Wanderdüne kommt der Schwamm ins Rollen: Hinten löst er sich vom Boden ab, vorne haftet sein Körper wieder an.

Rätselhaft bleibt, wie die koordinierte Aktion vonstatten geht. »Der Schwamm benutzt wohl eine Art Vorläufer des Nervensystems, bei dem die chemischen Botenstoffe nicht über einen synaptischen Spalt ausgetauscht werden, sondern längere Wege zurücklegen müssen.« Nickel vermutet, dass sich nahezu alle Schwämme derart fortbewegen können, etwa um günstigere Strömungsbedingungen aufzusuchen. Zumindest, so lange sie jung und klein sind.

Ein faustgroßer Badeschwamm ist in der Regel erst wenige Jahre alt und hatte seinen Platz in dieser Welt vielleicht noch gar nicht gefunden. Basketballgroß, wäre er schon einige Hundert Jahre alt und aller Wahrscheinlichkeit nach sesshaft. Bis zu zwei Meter Umfang misst der im südlichen Polarmeer beheimatete Riesenschwamm Scolymastra joubini. Er gilt als ältestes Tier der Welt. Wissenschaftler schätzen sein Alter wegen seines geringen Stoffwechsels und Wachstums auf etwa 10 000 Jahre. Damit wäre der antarktische Methusalem mehr als doppelt so alt wie die ältesten bekannten Bäume, die Langlebigen Grannen-Kiefern in den kalifornischen White Mountains.

Und der kleine Badeschwamm? Noch jung und flügge? Keine Sorge, im Bad stiehlt sich kein Schwamm davon. Was im Handel unter Naturschwamm läuft, ist nur noch das leblose, weiche, sonnengetrocknete und gebleichte Skelett dieses wunderlichen Tieres.

Warum haben alte Menschen so große Ohren?

Warum hat Großmutter so große Ohren? Das konnte schon der listige Wolf dem Rotkäppchen plausibel machen: Damit sie besser hören kann!

Tatsächlich haben Forscher bei der Vermessung von 1500 Berliner Ohrmuscheln festgestellt, dass Ohren bis ins hohe Alter wachsen. Sie wachsen vor allem in die Länge. Und es gibt guten Grund zu der Annahme, dass auf diese Weise ein Teil des altersbedingten Hörverlustes ausgeglichen werden kann.

Unsere Körperproportionen ändern sich von Jahr zu Jahr, am schnellsten während der Kindheit. Ein Neugeborenes hat nicht einmal ein Drittel der Körpergröße, die es im Erwachsenenalter erreichen wird. Im Vergleich dazu ist der Kopf eines Babys riesig. Noch größer sind seine Ohren, obschon sie im engen Geburtskanal eher hinderlich sind.

Die große Ohrmuschel hat eine von Beginn an wichtige Funktion: Sie zerlegt den Schall in zwei Anteile. Der innere Bereich der Ohrmuschel, in den Jugendliche ihre Kopfhörer stecken, leitet den Schall direkt zum Trommelfell weiter. Die weiter außen eintreffenden Schallwellen nehmen dagegen einen Umweg über die eingerollte Ohrkrempe. Dieses zweite Signal kommt Bruchteile einer Millisekunde später im Innenohr an.

Weil das Ohr so komplex geformt ist und viele kleine Erhebungen und Vertiefungen als Resonatoren besitzt, variiert das verzögerte Signal stark je nach Richtung der Schallquelle. So können wir auch mit einem Ohr feststellen, woher ein Geräusch kommt.

Leider lässt das Hörvermögen mit der Zeit rapide nach. Babys nehmen Frequenzen von bis zu 20 000 Hertz wahr, auch deshalb sprechen Erwachsene – »Ach, wie süß!« – gerne mit hoher Stimme zu ihnen. Schon mit 20 liegt diese Schwelle viel niedriger und nimmt mit fortschreitendem Alter immer mehr ab, was sich Schüler in den USA gelegentlich zunutze machen: Sie verwenden Klingeltöne mit sehr hohen Frequenzen von 17 000 Hertz und mehr, um während des Unterrichts, von den Lehrern unbemerkt, Botschaften per SMS empfangen zu können.

Wie schnell die obere Frequenzgrenze sinkt, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Beeinträchtigt wird dabei auch das Richtungshören, das mit der Tonhöhe arbeitet. »Das Ohr wächst weiter, weil wir auf diese Weise einen Teil des Hörverlustes kompensieren können«, vermutet Carsten Niemitz, Humanbiologe und Anthropologe an der Freien Universität Berlin. Er und sein Team haben Berliner Ohren von Jung und Alt vermessen. Dabei fanden sie heraus, dass lediglich der äußere Teil der Ohrmuschel noch bis ins hohe Alter hinein breiter und vor allem länger wird. »Während das Babyohr rund ist, ist das alte Ohr lang.«

Vom Wachstum der Ohren einmal abgesehen, lässt uns die Last der Jahre zusammensacken. Sie drückt auf die Bandscheiben, die langsam, aber sicher austrocknen. Wir werden kleiner. »Würde das Skelett so weiter wachsen wie das Ohr«, so Niemitz, »dann wären deutsche Männer im Alter von 80 Jahren im Schnitt 2,29 Meter groß.«

Warum finden wir morgens Sand im Auge?

Zuerst leisten die Lider noch Widerstand gegen die lästigen Lichtstrahlen des Tages. Jetzt schon die Augen aufschlagen? Ist es nicht viel zu früh, um die Jalousien zu hissen? Irgendwann sitze ich dann auf der Bettkante und reibe mir den Schlaf aus den Augenwinkeln: einen weißlichen Sand, der sich zwischen den Fingerkuppen in Nichts auflöst, als hätte es die nächtliche Abwehrschlacht unterm Lid nie gegeben.

Ein neuer Tag. Von nun an wischen die Augenlider wieder zehn bis zwölf Mal in jeder Minute über die Hornhaut. Mit reflexartigen Bewegungen verteilen sie einen hauchdünnen Tränenfilm auf dem Auge. In der Regel blinzeln wir etwa doppelt so oft wie nötig. So bleibt das Auge ständig benetzt. Starrt man dagegen zu lange auf einen Computerbildschirm, verringert sich der Lidschlag, die Tränenflüssigkeit verdunstet ungehindert und der schützende Tränenfilm kann stellenweise aufreißen. Die Lider fahren dann über trockene Abschnitte der Hornhaut, die Nerven auf der Augenoberfläche werden gereizt.

Tag für Tag erzeugen die Haupttränendrüsen etwa einen halben Liter Flüssigkeit. Die Tränenflüssigkeit ist mit Proteinen und Elektrolyten angereichert und gelangt über winzige Gänge zum Auge. Wenn uns die Augen zufallen, sinkt die Produktion, denn hinter geschlossenen Lidern verdunstet die Flüssigkeit nicht mehr. So entsteht nachts eine feuchte, warme Kammer.

»Für Bakterien ist das sehr angenehm«, sagt Erich Knop, Leiter des Forschungslabors der Universitäts-Augenklinik am Berliner Virchow Klinikum. »In dem Tränensee finden sie viel zu fressen und vermehren sich ungehemmt.« Auch tagsüber sind diese mehrheitlich harmlosen Bakterien aktiv. Als nützliche Besiedler des Auges halten sie das Immunsystem in Gang und nehmen anderen, gefährlichen Mikroorganismen die Nahrung weg.

Nachts können sie allerdings überhand nehmen. Damit wir nicht jeden Morgen mit einer bakteriellen Infektion und roten Augen aufwachen, müsse deshalb die Immunabwehr intakt bleiben, so Knop. »Obwohl also der wässrige Anteil der Tränen abnimmt, bleibt die Menge der funktionellen Inhaltsstoffe wie Salze und Proteine, vor allem Immunglobulin A, auch über Nacht gleich.«

Im Abwehrkampf gegen die Bakterien kommt auch unsere Körperpolizei zum Einsatz: weiße Blutkörperchen, die Bakterien fressen, dabei jedoch selbst zugrunde gehen. Ihre Zelltrümmer bilden zusammen mit zahlreichen Proteinen einen feinen weißen Gries. Findet man ihn am Morgen im Augenwinkel, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich über Nacht viele Sandmännchen für uns verausgabt haben.

Warum kratzen wir uns, wenn’s juckt?

Jucken kann unerträglich werden. Dann reiben wir uns den Rücken am Türrahmen und fordern unseren Partner dazu auf, seine Krallen zu zeigen. »Ein bisschen tiefer! Ja, genau da! Aaahh!«

Die Ursachen für Juckreiz sind zahlreich: Ekzeme, Insektenstiche, Allergien. Mediziner haben festgestellt, dass in solchen Fällen spezielle Rezeptoren in der Haut anspringen. Nach einem Mückenstich etwa reagieren Nerven-Enden auf das von unserem Körper freigesetzte Histamin. Von diesem Botenstoff aktiviert, senden die Nervenfasern Signale zum Rückenmark.

Die Antwort folgt reflexartig. Wir verspüren den unwiderstehlichen Drang, uns an der entsprechenden Stelle zu kratzen. Das hilft zunächst, denn schmerzhaftes Kratzen unterdrückt den Juckreiz.

»Auf der Ebene des Rückenmarks sind Schmerz und Juckreiz Antagonisten«, sagt Martin Schmelz, Neurophysiologe und Schmerzforscher der Universität Heidelberg. »Schmerz hemmt nicht nur den Juckreiz, es funktioniert auch andersherum: Wird die Schmerzverarbeitung etwa bei einer Teil-Rückenmarksnarkose unterdrückt, bekommen die Patienten einen gürtelförmigen Juckreiz.«

Und das Kratzen kann geradezu rauschhaft werden. »Es ist, als bekämen wir eine Belohnung dafür, etwas zu tun, was eigentlich unangenehm oder sogar schädlich ist.« Denn wer lange und heftig kratzt, macht die Entzündung noch schlimmer. Warum also fordert uns der eigene Körper zu einer Maßnahme auf, die allenfalls kurzfristige Linderung verspricht?

Obschon wir heute beim Jucken eher an Allergien denken als an Flöhe, Zecken oder Krätzmilben, hat sich der Kratzreflex im Lauf der Evolution vermutlich durchgesetzt, weil Kratzen die Chance erhöht, Parasiten von der Haut zu entfernen. Sie sollten sich möglichst nicht darin einnisten.

Daneben handelt es sich wohl auch um einen Kontrollmechanismus, der Phantomempfindungen stoppt. Forscher haben die Nervenfasern in der Haut mit einzelnen Nadeln der Juckbohne gereizt. Diese Nadeln sind so fein, dass sie nur ein winziges Hautareal erregen. Der Kratzreflex bleibt dennoch nicht aus, ähnlich der Situation, in der wir uns schon bei leichtem Kribbeln über die Haut streichen.

Missempfindungen der Haut sind häufig. Womöglich wird deshalb die Alarmschwelle immer wieder neu festgelegt. »Mit dem Kratzen gibt sich das Nervensystem eine Art Reset«, so Schmelz. Wenn sich unser Signalsystem nicht sicher ist, ob wirklich ein Reiz vorliegt, wird mit dem Kratzreflex überprüft, ob die Sensoren in der Haut noch alle in Ordnung sind.

Warum machen Querstreifen dick?

»Da müssen Sie Obelix fragen«, antwortet eine Expertin für visuelle Informationsverarbeitung. Auch ihr Kollege, Wahrnehmungspsychologe an derselben Universität, kommt ohne Umschweife auf die blau-weißen Hosen des Galliers zu sprechen, der den Stoff für seine Kleidung wohl einst frei nach der Devise »Längsgestreift macht schlank« wählte. Stimmt das? »Ein schönes Thema für eine Diplom- oder Masterarbeit«, lacht der Leiter eines Instituts für kognitive Psychologie und versichert mir, bisher gebe es dazu keine verlässlichen Studien.

Ein Streifzug durch die Welt der Wissenschaft bringt immerhin ans Licht, dass der naive Glaube, die Dinge seien so, wie wir sie sehen, nicht stimmt. Das eigene Auge kann uns täuschen, auch bei der Betrachtung von Quer- und Längsstreifen.

Horizontale und vertikale Reize werden von unserem Gesichtssinn unterschiedlich verarbeitet. So ist zum Beispiel bei fixiertem Blick das Feld gleicher Sehschärfe in horizontaler Richtung größer als in vertikaler. Auch seien Blickbewegungen nach rechts und links weit häufiger und erfolgten mit weiteren Amplituden als Blickbewegungen nach unten oder gar nach oben, sagt Jochen Müsseler, Kognitionspsychologe an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.

All dies bestimmt unsere Wahrnehmung. Eine Folge: Wir überschätzen vertikale Strecken. Fachleute sprechen deshalb von der »Horizontal-vertikal-Täuschung«. Versuchen Sie doch einmal, ein Quadrat auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Beim Nachmessen stellen die meisten Probanden fest, dass die senkrechten Linien zu kurz geraten sind. Unterteilen Sie das Quadrat in der Mitte nun noch einmal durch eine vertikale Linie. Es wirkt dann schmaler, als wenn Sie eine horizontale Mittellinie einzeichnen. Oder vermessen Sie die Höhe eines Türrahmens mit einem Zollstock und legen diesen dann auf den Fußboden. Sie werden ins Zweifeln geraten, ob es sich wirklich um gleichlange Strecken handelt.

Es ist daher plausibel, dass wir auch Quer- und Längsstreifen auf Kleidung unterschiedlich wahrnehmen. »Ein quergestreifter Pullover könnte deswegen bei gleicher Breite dicker machen als ein längsgestreifter Pullover, weil die Längsstreifen seinen Träger länger erscheinen lassen oder zumindest die Proportionen seines Rumpfes verändern«, so Müsseler. Der Nadelstreifenanzug ist ein schönes Beispiel dafür, wie wir dieses Phänomen vorteilhaft ausnutzen. Dagegen tragen Bodybuilder gerne T-Shirts mit einem Schriftzug auf der Brust. Folgen wir der Schrift mit dem Blick von links nach rechts, entsteht der Eindruck eines breiten Brustkorbs.

Modemacher spielen gerne mit optischen Effekten – etwa der Müller-Lyer-Täuschung bei der Nahtführung von Kleidern, um einen Körper länger oder kürzer erscheinen zu lassen, oder mit Farbgebungen, die die Taille schlanker und das Dekolletee üppiger machen. Ob Längs- oder Querstreifen den Körper strecken oder verbreitern, hängt allerdings auch vom Schnitt, den Farben und der Streifenbreite ab. Sehr breite Querstreifen zum Beispiel unterteilen ein Kleidungsstück in verschiedene Partien. Sie können daher von Problemzonen ablenken.

Warum haben Männer Brustwarzen?

Um dem exklusiven Club der Säugetiere zugerechnet zu werden, genügen dem weiblichen Geschlecht normalerweise ein paar Zitzen. Die Milch macht’s. Katzen, Kaninchen und Schweine werfen mehrere Junge und haben viele Zitzen. Selbst Elefantenkühe besitzen zwei Zitzen, obschon sie meist einzelne Junge zur Welt bringen.

Frauen haben ebenfalls zwei Brüste. Das reicht, einstweilen. Trotz einer Zunahme von Mehrlingsschwangerschaften konkurrieren nur drei Prozent der Neugeborenen mit einer Zwillingsschwester oder einem Zwillingsbruder um die Muttermilch. Drillinge sind noch seltener. Glücklicherweise! Denn Väter können beim Stillen nicht mal eben einspringen, obwohl auch sie mit Brustwarzen ausgestattet sind. Bei ihnen läuft nichts.

Mit ihren unzweckmäßigen Brustwarzen stehen Männer nicht alleine da. Auch Kater und Rüden haben zur Überraschung mancher Haustierbesitzer Brustwarzen. Ein Fehler im Design?

Der Mann muss sich wohl damit abfinden, dass es zu aufwendig gewesen wäre, eigens für ihn einen Bauplan zu entwerfen. Zwei Seelen schlagen in seiner Brust. Soweit bekannt ist, verläuft die Entwicklung männlicher und weiblicher Embryonen in den ersten Wochen nach der Befruchtung völlig identisch. Zwar ist das Geschlecht durch Erbanlagen festgelegt, doch anatomisch gibt es zunächst keine Unterschiede.

»Alle Organe werden bis zur achten Woche angelegt«, sagt Christoph Viebahn, Leiter der Abteilung Anatomie und Embryologie der Universität Göttingen. Auch die Zellen, aus denen Brüste und Brustwarzen hervorgehen, bilden sich in dieser Zeit. »Danach beginnt der Wachstums- und Ausreifungsprozess.«

Von einer spezifisch männlichen Entwicklung kann erst gegen Ende der frühen Embryonalphase die Rede sein. Eines der Gene auf dem Y-Chromosom löst nun die Bildung der Hoden aus. Diese produzieren Testosteron, das die Entstehung von Samenleitern und Nebenhoden einleitet.

Zusammen mit anderen Hormonen gibt Testosteron das eigentliche Signal für ein Umschwenken auf Männlichkeit. Hormone sorgen auch dafür, dass die »Müllerschen Gänge« verkümmern, aus denen sonst Eileiter, Scheide und Gebärmutter heranwachsen würden. Dagegen haben die Brustwarzen bereits angefangen, sich zu entwickeln. Sie sind ziemlich resistent gegen jene Hormone, die die männliche Entwicklung vorantreiben. So bleiben die Brustwarzen dem Mann ein Leben lang erhalten.

Aber warum verschwinden sie nicht wieder? Viebahn vermutet, die Einrichtung eines entsprechenden Rückbildungsmechanismus’ wäre zu gefährlich. Durch unser evolutionäres Erbe sind männliche und weibliche Entwicklung zu eng verknüpft und Milch spendende Brustdrüsen lebensnotwendig für den Nachwuchs. Und damit für die Erhaltung der Art.

Warum vertauscht ein Spiegel rechts und links?

Wenn die Tage kürzer werden, verliert sich die Welt schon am Nachmittag in der Dunkelheit, das Fenster vor meinem Schreibtisch verwandelt sich in einen Spiegel. Fensterglas ist nicht völlig transparent. Es wirft etwa acht Prozent des Lichts zurück. Das merkt man tagsüber nicht. Erst in der Dunkelheit wird die Reflexion sichtbar.

Genauso wie der Badezimmerspiegel vertauscht das spiegelnde Fenster vorne und hinten. Ich sehe darin ein umgedrehtes Telefon und die Rückseite des Computerbildschirms. Zeige ich mit dem Arm nach vorne, zeigt das Spiegelbild in die umkehrte Richtung, zeige ich dagegen nach Westen, macht mein Spiegelbild das Gleiche.

Die Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild hat etwas sehr Direktes: Ich betrachte mich nun selbst so von außen, wie andere mich wahrnehmen. Sehen und Erkennen führen daher zu einem eigenartigen Doppelspiel der Reflexion:

»Dadurch, dass ich mich selbst im Spiegel sehe, identifiziere ich mich stärker mit dem Spiegelbild und mache im Geiste eine Pirouette um 180 Grad«, sagt Heiko Hecht, Leiter der Abteilung für experimentelle Psychologie an der Universität Mainz. »Das interpretieren wir dann als Vertauschung von rechts und links.« Doch die Spiegelfläche wirft das Licht lediglich zurück. Statt rechts und links vertauscht sie hinten und vorne.

Ähnlich ist es, wenn die Spiegelfläche parallel zum Boden verläuft. Eine ruhige Wasserfläche kann auch zum Spiegel werden. Auch sie reflektiert Lichtstrahlen und kehrt ihre Richtung um. Da die Spiegelfläche nun horizontal ausgerichtet ist, werden für den Betrachter oben und unten vertauscht. Daher liegt die gespiegelte Spitze eines Baumes tief unten am Grund des Sees, der Baum scheint auf dem Kopf zu stehen.

Wie aber ist es mit der Spiegelung der Schrift? Wenn ich ein Blatt Papier beschreibe und es vor den Badezimmerspiegel halte, werden dann nicht sehr wohl rechts und links vertauscht?

Richtig! Aber das passiert nur, weil ich das Blatt zuvor umdrehe. Benutze ich stattdessen eine transparente Folie, schreibe darauf »Jetzt nicht umdrehen!« und halte sie hoch, kann ich die Zeile auch im Spiegel lesen.

Und was ist mit der Spiegelschrift? Um eine Spiegelschrift wie die von Leonardo da Vinci zu entziffern, hält man einen Spiegel an die Längsseite des beschriebenen Blattes, sodass seine Außenkante zum Betrachter zeigt. So verwendet, vertauscht der Spiegel tatsächlich rechts und links – im Hinblick auf die Spiegeloberfläche aber wieder nur vorne und hinten.

Warum gibt es mehr Rechts- als Linkshänder?

Papageien können ihre Füße wie Hände benutzen. Da jeweils zwei ihrer Zehen nach hinten und zwei nach vorne zeigen – was für Vögel durchaus ungewöhnlich ist –, sind sie in der Lage, nach Früchten und Gegenständen zu greifen und sie geschickt zu bearbeiten. Dabei ist der eine Fuß eher Stand-, der andere eher Greiffuß, es gibt Rechts- und Linksfüßer unter ihnen. So kann sich jeder Fuß und damit jede Gehirnhälfte auf bestimmte Aufgaben spezialisieren. Kein anderes Tier ist dem Menschen in dieser Hinsicht so ähnlich.

Homo sapiens hat seit jeher eine Präferenz für die rechte Hand. »Selbst Vormenschen vor 2 bis 2,5 Millionen Jahren waren vorwiegend Rechtshänder«, sagt Onur Güntürkün, Leiter des Instituts für Kognitive Neurowissenschaft der Universität Bochum. Anhand von Steinsplittern haben Forscher nachweisen können, dass schon bei der Herstellung der ersten bekannten Steinwerkzeuge Rechtshänder in der Mehrheit waren. »Man sieht das auch sehr schön an Höhlenmalereien, etwa in Kimberley in Australien.« Demnach wurden vor 40 000 Jahren 85 bis 90 Prozent der Feinmanipulationen mit rechts ausgeführt.

Die Rechtshänder-Quote ist seither ziemlich stabil. Allerdings waren westliche Gesellschaften gegenüber Linkshändern zeitweise ausgesprochen intolerant. Diese wurden meist umgeschult, denn Linkshändigkeit galt als Zeichen von Schwäche. »In den letzten 80 Jahren hat sich der Prozentsatz der Linkshänder jedoch wieder von 3 bis auf etwa 15 Prozent erhöht«, so der Psychologe.