Wolffsohn, Michael Wem gehört das Heilige Land?

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Das Buch erschien zuerst 1992 im Verlag C. Bertelsmann und 1997 als aktualisierte Neuausgabe in der Edition Ferenczy bei Bruckmann.

 

Dieses Buch widme ich allen Menschen, die im Heiligen land leben wollten und wollen – ohne andere zu töten.

 

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Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Kein Ende im 130-jährigen Krieg?

In Nahost nichts Neues. Nur immer wieder neue Krisen, Kämpfe und Kriege. Dann sogenannte Lösungen, die nichts lösen. Seit über 130 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg zwischen Juden und Arabern um das Heilige Land, und heilig kann ohnehin kein Krieg sein. Wie unheilig (nicht nur Nahost-)Kriege sind, zeigte erneut, im Sommer 2014, der Gaza-Krieg zwischen der Hamas und Israel.

Angesichts der wissenschaftlich belegten Tatsachen entpuppt sich auch die Heilsgeschichte im Heiligen Land als ganz reale, oft unheilvolle und rational nachvollziehbare Geschichte. Manch Heiliges ist auch nur Mythos, also sagenhafte und eben keine nachweisbare Geschichte. Das gilt zum Beispiel für die biblische, alttestamentliche Landnahme. Es gab sie nicht. Zumindest nicht so, wie in der Bibel erzählt. Auch das vermeintlich so große Königreich unter David und Salomon war anders, ganz anders, nämlich klein, um nicht zu sagen, winzig. Die Verbindung von Archäologie und moderner Technologie hat hierzu in den vergangenen Jahren Bemerkenswertes aufgedeckt. Historisch handfest wird die Volksgeschichte Israels frühestens um ca. 900 v. Chr. Immerhin, das geschah auch nicht gerade vorgestern. Die im Anhang genannten Bücher von Finkelstein und Silberman bieten zu jenem Alten spannend Neues.

Seit Wem gehört das Heilige Land? erstmals erschien, 1992, gab es zwischenzeitlich Hoffnung – und dann wieder Enttäuschungen, Gewalt und Gegengewalt. Hier einige Stichworte: 1993 das Abkommen von Oslo bzw. Washington. Im November 1995 wurde Friedenspremier Rabin ermordet – von einem nationalistisch-fundamentalistischen Juden. Dem Friedenspremier folgte ein kurzes Intermezzo des eigentlichen Friedensarchitekten Schimon Peres. Der wurde im Jahr 1996 abgewählt. Es folgte der Falke Netanjahu. Der scheiterte bis 1999 krachend. Die Mehrheit der Israelis gab dem Frieden im selben Jahr mit dem Hoffnungsträger Barak erneut eine Chance. Er räumte den besetzten Süd-Libanon. »Land für Frieden« – das hatte die Internationale Gemeinschaft von Israel verlangt. Schon bald feuerte die Hisbollah-Schiitenmiliz Raketen auf NordIsrael. Die Nord-Front wurde – ohne Zutun der Palästinenser – heißer. Im Sommer 2006 explodierte sie.

Zurück zu Barak. Mit PLO-Chef Arafat und US-Präsident Clinton verspielte er die Friedensmöglichkeit im Sommer 2000 auf dem Gipfel von Camp David, USA. Im Oktober 2000 brach daraufhin die Zweite Intifadah aus. Nun setzten palästinensische Aktivisten wieder auf Gewalt. Der Falke Scharon wurde 2001 Ministerpräsident. 2004 starb Arafat. Der gemäßigte Mahmud Abbas folgte ihm als Palästinenserpräsident. 2005 hatte Israel die Intifadah niedergeschlagen, indem Terroristen nicht mehr eindringen konnten. Durch eine hohe Mauer entzog sich das Land als Terrorobjekt – und schuf bei den Palästinensern neue Verbitterungen.

2005 erkannte der Falke Scharon, dass Gewalt kein dauerhafter Politikersatz ist, und setzte gegen massiven Widerstand seiner eigenen Anhängerschaft den vollständigen Rückzug aus dem Gazastreifen durch. Kein jüdischer Siedler war mehr dort. »Land für Frieden«? Nun flogen Raketen der palästinensischen Hamas-Fundamentalisten auf Israel.

2007 tobte im Gazastreifen ein Bürgerkrieg zwischen Hamas und der Fatah von Präsident Abbas. Die islamistische Hamas besiegte und vertrieb ihre »Brüder«. Es erreichten noch mehr Raketen aus dem Gazastreifen Israel, das zur Jahreswende 2008/09 hart zurückschlug. Es folgte wieder eine kurze Ruhe, dann erneuter Sturm: der Gazakrieg im Sommer 2014 und im Mai 2021.

War das neue Gewalt? Nein, es war die Fortsetzung der alten mit anderen Mitteln und aus verschiedenen Anlässen.

Strukturell hat sich in diesem über 130-jährigen Krieg nichts geändert. Die Überwindung des Kriegskreislaufs kann nur gelingen, wenn neu gedacht wird: Sowohl bezogen auf die Vergangenheit(en) als auch die Gegenwart und Zukunft.

Dieses Buch führt zu den Wurzeln des Streits. Es bietet handfeste Informationen und in der Schlussbetrachtung eine praktikable föderative Friedenslösung. Das wäre eine Utopie, gar Eselei, sagen sicher manche. Ich halte dagegen: Die Realität bedeutet seit 130 Jahren Krieg. »Etwas Besseres als den Tod finden wir überall«, sagt der Esel im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten, dessen vermeintliche Eselei sich als Lebensrettung erweist.

»Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.« Mit diesem Satz schloss Theodor Herzl, der Vater des politischen Zionismus, seinen visionären, wenngleich literarisch wenig überzeugenden zionistisch-utopische Roman »Altneuland«. Ein halbes Jahrhundert später war das Märchen Wirklichkeit. 1948 wurde Israel gegründet.

Nochmals: Wenn in und über Nahost nicht neu gedacht wird, kann nichts Neues bzw. Friedliches gemacht werden. Das falsch Gedachte und Gemachte betrifft leider nicht nur (nur?) Nahost, sondern einen Großteil der gegenwärtigen Staatenwelt. Deshalb zerfällt sie. In Nahost und anderswo. In meinem nächsten Buch »Zum Weltfrieden«, das im Jahre 2015 erschien, versuche ich zu zeigen, wo in und außerhalb Nahost was und weshalb falsch gedacht und falsch gemacht wird. Es liegt wirklich nicht an »den« Juden oder »den« Muslimen, sondern am falschen Ansatz, der falschen Konzeption. Das jedoch ist ein »weites Feld«, ein noch weiteres, sicher ein anderes.

Ich beschreibe in diesem Buch Geschichte, ich schreibe kein Märchen und mein scheinbar utopisches Lösungskonzept ist allemal besser als der bislang sehr reale Massentod. Das Buch bleibt allen gewidmet, die im Heiligen Land leben wollen, ohne andere zu töten.

München im Juni 2021

Information statt Agitation

Gut meinend, wenig wissend, stark wertend – so verlaufen die meisten Diskussionen über den israelisch-arabisch-palästinensischen Konflikt. Nicht nur in Deutschland findet man bei den Debatten an Stammtischen, bei Politikern, Journalisten und selbst an Universitäten kaum Unterschiede im Niveau der Argumentation. Jeder Konfliktpartner verfügt auch bei uns über treue Parteigänger. Der Kampf um die öffentliche Meinung tobt seit Jahren, und er wird weitergehen, unabhängig davon, ob und wie der seit 1993 sichtbare, mit dem Hebron-Abkommen von Netanjahu und Arafat im Januar 1997 bekräftigte Friedensprozeß weitergeht.

Gewarnt werden muß immer wieder vor den vermeintlichen oder auch den tatsächlichen Fachleuten. Ihre politische, parteiliche Botschaft verpacken sie wissenschaftlich. Sie liefern der jeweiligen Partei eher Beweismaterial für den eigenen Standpunkt als unabhängige und vollständige Informationen.

Der Begriff »Parteilichkeit« kommt vom lateinischen Wort »pars«, auf deutsch: der Teil. Ein Teil des Mosaiks ist nie das vollständige Bild. Vollständigkeit kann auch ich nicht bieten, aber wenigstens versuchen, Einseitigkeiten, also Parteilichkeit, zu vermeiden.

Um das vollständige Bild zu erhalten, müssen Vorurteile überwunden werden. Das ist für jede Seite schmerzlich, aber auch notwendig, wenn Kompromisse Konflikte dämpfen sollen. Für den Außenstehenden, der sich informieren möchte, ist es unerläßlich.

Wer auf einseitige Parteilichkeit und Eindeutigkeit in der Argumentation verzichtet, verwirrt scheinbar. Es sei hier zwar vermieden, die Dinge kompliziert darzustellen, trotzdem muß hier und dort der Geist scheinbar verwirrt werden, wenn das Geflecht der Vorurteile im Dienste der Information entwirrt und geklärt werden soll.

Information statt Agitation in der Sache zu bieten bedeutet, Mehrdeutigkeit an die Stelle parteilicher Einseitigkeit und Eindeutigkeit in der Bewertung zu setzen. Für manche ist das eine Provokation. Ich habe dieses Buch jedoch nicht für Parteigänger und Propagandisten geschrieben.

Daß die Schreibweise der hebräischen und arabischen Namen nicht den Regeln der Wissenschaft entspricht (es fehlen die üblichen Haken und Ösen, die das Lesen zur Tortur werden lassen), hat einen guten Grund: Ich möchte, daß das Buch lesbar wird.

Heiliges Land? Israel? Palästina?

Was bedeuten uns Namen? Sind sie Schall und Rauch? Sie sind es sicher nicht in Bezug auf Menschen oder auf Staaten und Städte. Indem wir Jerusalem oder Al-Quds sagen, entscheiden wir uns für die jüdisch-israelische oder für die arabisch-islamische Verknüpfung. Wir beschäftigen uns also nicht mit Namen- oder Wortspielen, sondern mit explosiver Politik.

Man denke an unsere eigene Geschichte: Die Deutschen nannten die Stadt Danzig, die Polen Gdansk. Aus Chemnitz machte die DDR Karl-Marx-Stadt, und das Ende der DDR war der Neubeginn für Chemnitz. Aus St. Petersburg wurde nach der Bolschewistischen Revolution Leningrad, und Leningrad erwachte 1991 wieder als St. Petersburg. Namen sind Inhalte, sind politisches Programm, sind Hinweise auf Sieger und Besiegte. Das gilt auch im Heiligen Land: Ist Israel das Land der Juden? Ist Palästina das Land der Palästinenser?

»Das Land« – auf diese knappe Formel brachten es die Juden am Ende der Epoche des Zweiten Tempels, also um die (christliche) Zeitenwende. Aber auch vorher findet man Hinweise auf »das Land«. Zum Beispiel im Dritten Buch Mose (Leviticus) 19,23: »Und wenn ihr in das Land kommt…« Oder: »Und Josua nahm das ganze Land ein…« (Josua 11,23). Aber es wurde hier eher als Abkürzung denn als Name benutzt. Damit sollte ausgedrückt werden, daß es viele Länder auf der Welt gibt, aber für Juden eben nur dieses eine, das »Land Israel«, auf hebräisch: »Eretz Israel«. Die verschiedenen Teile des Landes trugen auch vorher schon verschiedene Namen. Erst in jener Zeit sprach man von »dem Land«. Es knüpfte eine Einheit von Land, Volk und Religion: Israel, Juden, Judentum.

Zu Beginn, bei den Ägyptern, hieß es bis zum 14. beziehungsweise 13. Jahrhundert v. Chr. Retenu. Dazu gehörten auch das heutige Syrien und der Libanon. Dann nannten sie es Hurru – nach den Hurritern, die seit dem 17. Jahrhundert v. Chr. vor allem in Syrien lebten. Bis in das 3.Jahrhundert v. Chr. findet man in ptolemäischen Texten diese Bezeichnung.

Vom Ende des 14. bis in das 12. Jahrhundert v. Chr. sprachen die Ägypter von P-Knaana, also vom Land Kanaan. Nun endlich bewegen wir uns auf vertrauterem Boden, denn wir kennen diese Bezeichnung aus der Bibel. Dort ist damit im engeren Sinne das Land westlich des Jordans gemeint, im weiteren Sinne auch der westsyrische Bereich. Ein kanaanitischer Stamm waren die Amoriter, deshalb wurde ein Teil der Region »Land der Amoriter« genannt. Auf der Suche nach Juden oder Hebräern hören wir also zunächst von anderen Völkern und anderen Namen für bestimmte Landesteile.

Völker kommen und gehen. Die Hebräer kamen, und zu den Hebräern zählten unter anderem auch die Israeliten. »Denn gestohlen bin ich worden aus dem Land der Hebräer«, berichtet Joseph im Ersten Buch Mose (Genesis), 40,15.

Die vielbeschworene und ebenso umkämpfte Einheit von Land, Volk und Religion zeichnet sich mit der Landnahme durch die Israeliten erst spät ab. Vom Land der Kinder Israels ist im Buch Josua 11,22 die Rede. Hierhin führte Josua die Kinder Israels. Hier bekämpfte er die ansässigen Völker, ermordete und vertrieb sie allmählich. Die Tradition der gewaltsamen Landnahme durch die Juden begann.

Von »Eretz Israel«, vom Land Israel, lesen wir in 1. Samuel 13,19. Aber hier ist nur das Siedlungsgebiet der Kinder Israels gemeint, nicht das ganze Land. Saul, David und Salomo herrschten über das Königreich Israel, lesen wir in der Bibel. Aber die Forschung ist sich weitgehend darüber einig, daß die Bezeichnung »Land Israel« für die Zeit Davids nachträglich eingeführt wurde (1. Chronik 22,2 oder 2. Chronik 2,16).

Schon zu Zeiten König Davids ist sowohl von Israel als auch von Judäa die Rede. Beide kennzeichnen das von den Juden bewohnte Land. Allerdings werden auch schon im Buch Josua 11,21 sowohl Israel als auch Judäa genannt; Judäa allerdings nur als Gebirgslandschaft. Die Wissenschaft wertet dies als Vorgriff, denn erst nach dem Tod von König Salomo wurde das Reich in zwei Teile gespalten: eben in »Israel« und »Judäa«.

Es handelt sich also um keine babylonische, sondern um eine jüdisch-israelitische Sprachverwirrung. Sprachliche Begriffe sind ein Spiegel, nicht die Wirklichkeit selbst. Diese vielen Bezeichnungen und Namen spiegeln die Verwicklungen, den Kampf, die politisch und historisch unklaren oder ungeklärten Verhältnisse der Region. Angesichts der Mehrdeutigkeiten können nur Propagandisten behaupten, alles sei eindeutig.

Im Jahr 538 v. Chr. erlaubte der Perserkönig Kyros den Juden die Rückkehr ins Land, nach Judäa. Jetzt erst bilden die Wörter »Jude« und »Hebräer« eine Einheit. Judäa ist nun der Juden Land, und zwar der Juden, die nach Zion zurückgekehrt waren. Als Rückkehr nach Zion bezeichnen die Juden diese 538 v. Chr. einsetzende Rückwanderung in die Heimat.

Zion ist der Name für die alte Jebusiterstadt, die man heute als Jerusalem kennt. Selbst das scheinbar so exklusive, rein jüdisch-hebräische Wort »Zion« ist also eigentlich ein Fremdwort. Schon dieser zentrale Begriff jüdischer Religion und Staatlichkeit enthält die Spannung von Eigenem und Fremdem, Universalem und Partikularischem. Wenn die jüdischen Propheten von »Zion« sprachen, dann verstanden sie darunter Jerusalem als geistiges und religiöses Symbol. »Denn aus Zion wird die Thora kommen und Gottes Wort aus Jerusalem.« Erst in der Diaspora, außerhalb Israels, wurde Zion den Juden zugleich zum Symbol für ihr »Heiliges Land«.

Der im 19. Jahrhundert gegründete Zionismus war also die Nationalbewegung des jüdischen Volkes, das die Rückkehr in sein Land plante, oder, vorsichtiger ausgedrückt, in das Gebiet, das es als sein Land betrachtete. Doch wir eilen der Geschichte um Jahrtausende voraus.

Seit 538 v. Chr. war Judäa sozusagen ganz amtlich das autonome Gebiet der Juden in ihrer Heimat, aus der sie erstmals 722 v. Chr. von den Assyrern und dann 586 v. Chr. von den Babyloniern verschleppt worden waren. Im 2. Jahrhundert v. Chr. gelang es den Juden Judäas unter den Hasmonäern sogar, wieder einen eigenen Staat zu schaffen: das Königreich Judäa. Auch unter König Herodes blieb dieser Name erhalten. Dieses Judäa war wesentlich größer als das einstige Königreich gleichen Namens, das 586 v. Chr. zerstört worden war.

Schon zu Herodes’ Zeiten waren die Römer die eigentlichen Herrscher des Landes. Gegen dieses Joch erhoben sich die Juden. Ihr Aufstand war jedoch vergeblich. Sie verloren ihn im Jahr 70 n. Chr. und endgültig im Jahr 135. Verloren ging zur Strafe auch der Name. Der römische Kaiser Hadrian nannte das Land Syrien-Palästina. Bald hieß es nur noch Palästina, das Land der Philister. Und jeder, der sich an David und Goliath erinnert, wird wissen, daß der Riese ein Philister war.

Die von den Römern gewählte Symbolik erlaubte keinen Zweifel. Die Juden hatten ihr Recht auf dieses Land verwirkt – zumindest in den Augen Roms. Verwaltungsbezirke und einzelne Gebiete wurden diesem »Palästina« im Lauf der folgenden Jahrhunderte von Byzantinern, Arabern oder Osmanen das eine Mal abgezwackt, das andere Mal hinzugefügt. Aber Palästina blieb im Grunde unangetastet – bis zur Errichtung des Jüdischen Staates. Dieser besteht bekanntlich seit dem 14. Mai 1948 und heißt Israel.

Nicht ganz Palästina wurde Israel. Östlich des Jordans war 1921 durch einen Federstrich der Briten (Winston Churchill) das »Emirat Transjordanien« entstanden. Ab 1946 hieß es »Königreich Transjordanien«. Dieses Königreich verleibte sich im Dezember 1948 das Westjordanland und Ost-Jerusalem ein. Fortan hieß diese Verbindung von Ost- und Westjordland »Königreich Jordanien«. Außer Großbritannien und Pakistan erkannte kein anderer Staat diese Annexion an. Seit 1967 haben die Israelis Ost-Jerusalem und das Westjordanland besetzt. Der Gaza-Streifen fiel 1949 unter ägyptische Verwaltung; er war aber nie ein völkerrechtlicher Bestandteil Ägyptens. Auch der Gaza-Streifen wurde 1967 von den Israelis besetzt.

Der Name Israel steht heute für das 1948 entstandene Gebiet des Jüdischen Staates. Die Einverleibung Ost-Jerusalems wird von den Israelis als »Wiedervereinigung« bezeichnet; die Palästinenser (und die meisten Staaten dieser Welt) sprechen von »Annexion«. 1981 annektierte Israel zudem die 1967 eroberten Golan-Höhen. Auch hier sagte die Welt: nein.

Woher stammt der Name Heiliges Land? Für Juden und Christen ist er ein Ausdruck der Ehrerbietung und Liebe gegenüber dem Land. Er gehörte natürlich nie zur Amtssprache. Für die Juden bedeutet er in Verbindung mit der Symbolik von Zion, dem geistig-religiösen Zentrum der Juden, eine Steigerung der Bezeichnung »das Land«. Der Apostel Paulus spricht vom »Land der Verheißung«, das Abraham von Gott als »Erbteil« erhalten habe (Brief an die Hebräer 11,9).

Die Muslime verehren heilige Stätten in diesem Land, aber das Land in seiner Gesamtheit war für sie nicht das »Heilige Land«. Der Islam orientiert sich (wir erläutern es später) an Arabien und der arabischen Sprache. Der Islam zeigt sich ursprünglich »arabozentrisch«. Die Konzentration auf Palästina ist ein Ergebnis der Politik und aus der Sicht der Muslime verständlich, nachvollziehbar und berechtigt. Doch immer wieder gilt, daß Berechtigtes nicht automatisch richtig sein muß. Meistens ist es parteilich; es soll eher provozieren als informieren. Das gehört zum Ritual von Konflikten und sei damit den Konfliktparteien überlassen, nicht jedoch der folgenden Darstellung.

I – Religiosität und Politik

Fromme, Frömmler und der »tote Gott«

Wem gehört das Heilige Land? »Natürlich uns«, sagen Israelis und Juden. »Nein, selbstverständlich uns«, entgegnen Araber und Muslime. »Das Land gehört uns zwar nicht, aber auch uns ist es heilig. Wir wollen ebenfalls mitbestimmen, wer Zugang zu den heiligen Stätten erhält, und wie«, erklären Christen.

Sind das die Antworten von Frommen oder Frömmlern? Zweifellos geben sie auch die Überzeugung der Frommen wieder. Ansprüche, Sehnsüchte und Hoffnungen in bezug auf das Heilige Land können religiös motiviert werden – von Muslimen und Christen, vor allem aber von Juden. Die Verknüpfung von Volk, Religion und diesem Land als ihrem Land, ihrem »Heiligen Land«, ihrem von »Gott Gelobten Land«, ist bei den Juden am stärksten ausgeprägt.

Weder Muslime noch Christen behaupten, daß es ihr Land wäre. Es ist aber, ebenso zweifelsfrei, unauflöslich mit ihrer Heilsgeschichte verknüpft und daher auch ihnen heilig.

Wer religiös argumentiert, müßte religiös sein, ist es aber häufig nicht. Wahrlich, nicht der Fromme, sondern viele Frömmler argumentieren in bezug auf das Heilige Land religiös. Sie verkennen, daß jegliche Religion Menschenleben schützen, nicht jedoch vernichten will. »Du sollst nicht töten«, heißt es in den Zehn Geboten, deren Verbindlichkeit von Juden, Christen und Muslimen anerkannt wird. Wörtlich übersetzt lautet dieses fünfte Gebot: »Du sollst nicht morden.« Das hebräische Original ist also noch eindeutiger.

Der Mensch sei, lesen wir in der Bibel, das »Ebenbild Gottes«. Sollte dessen Ermordung ein religiöser Befreiungsakt sein? Vertreten diesen Glauben nicht letztlich nur solche Menschen, für die Gott tot ist? Im Originalton klingt es jedoch alles andere als säkular: »Diejenigen, die für die Befreiung Palästinas kämpfen, kommen direkt in den Himmel.« Ähnliche Parolen kennt man aus der Zeit der Kreuzzüge.

Es ist schon ein Kreuz mit den »Heiligen Kriegen« – von Christen, Muslimen oder jüdisch-israelischen Siedlungsfanatikern. Letztere bezeichnen sich zwar nicht als »Heilige Krieger«, aber von der Heiligkeit ihrer Mission sind sie ebenfalls durchdrungen. Daß dabei Gewehrkugeln Palästinenser verletzen und töten, nehmen sie in Kauf.

Schon hier stellen wir fest, daß wir Kompromisse ebenso wie starre Positionen religiös begründen können. Die Religion ist jedoch als politisches Instrument und Argument untauglich. Religion soll dem Leben eigentlich moralische Tiefe und Schärfe verleihen, nicht aber den Tod von Menschen durch Menschen auslösen. Tödliches Unheil braute sich jedoch in vielen Kriegen gerade um das Heilige Land zusammen. Manchmal scheint das Heilige Land der Mikrokosmos einer unheilvollen Welt zu sein.

Seltsam ist, daß immer mehr Menschen (auch) in der jüdischen, islamischen und christlichen Welt von der Religion nichts wissen wollen, aber ihren Anspruch auf das Heilige Land nicht zuletzt durch die Religion rechtfertigen. In Israel bezeichnen sich seit Jahrzehnten rund siebzig Prozent der jüdischen Einwohner als »nicht religiös«. Manche sind sogar militant antireligiös und fühlen sich von den extrem Religiösen (wörtlich!) »vergewaltigt«. Sie entkleiden das Judentum seiner religiösen Substanz. Die jüdische Religion ist für sie lediglich die Hülle des jüdischen Volkes. Die Verbindung zu »ihrem« Land zeigt sich für sie nur durch die Geschichte. Der jüdische Anspruch wird also historisiert.

Die arabisch-islamische Welt präsentiert hingegen immer heftiger ihr religiöses Empfinden. In der jüdisch-israelischen Gesellschaft schreitet die Säkularisierung (die Entfernung und Entfremdung von der Religion) ebenso wie in der christlichen voran, von orthodoxen (und auch immer militanter agierenden) Gruppen abgesehen.

Die säkularisierte jüdisch-israelische Seite entzieht sich dadurch selbst ihre Daseinsberechtigung. Sie steht wirklich nackt vor den Arabern. In dem Maße nämlich, wie das Volk der Bibel nicht mehr zur Bibel und ihren Geboten hält, verliert es den Anspruch auf das biblische Land, das Heilige Land, das ihnen Gelobte Land. Der jüdische Anspruch wird historisch, und wie alles Historische ist dann auch dieser Anspruch nicht mehr absolut, unangefochten und unanfechtbar, sondern relativ und höchst zweifelhaft. Die mehrheitlich säkularisierten, »modernen«, eher nichtreligiösen jüdischen Israelis müssen also einen Kurs zwischen fundamentalistischer Orthodoxie und totaler Verweltlichung steuern. Es ist ein Drahtseilakt zur Rechtfertigung der eigenen Ansprüche auf das Land.

Die Entfernung und Entfremdung von der Religion provoziert Gegenreaktionen. Fundamentalisten haben deshalb bei Juden, Muslimen und Christen Zulauf. Aber konnten sie die von ihnen gefürchtete Säkularisierung wirklich bremsen oder gar umkehren? Zweifel sind erlaubt. Die Säkularisierung geht unaufhaltsam weiter, zumindest im technisch-organisatorischen Bereich, weniger im geistig-kulturellen.

Vielleicht ist der religiöse Fundamentalismus lediglich eine offensive Spielart der Defensive. Wir haben vergleichbare Aktionen und Reaktionen in den vergangenen zweihundert Jahren sowohl in der jüdischen als auch in der islamischen und christlichen Welt mehrfach beobachten können. Die These von der offensiven Defensive mag so lange gelten, bis sie nicht eindeutig widerlegt ist.

Fundamentalismus als Schutzschild der Kultur?

Der Grund für den scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der religiösen Fundamentalisten ist in dem Versuch zu sehen, eine kulturelle (also auch religiöse) Eigenständigkeit wiederherzustellen oder zu erreichen. Eigenständigkeit wird angestrebt; in einer zunehmend standardisierten Welt. Dies ist ein altbekanntes Motiv in der jüdischen und islamischen Welt. Die jüdische Religion war wie der Islam von Anfang an auf Abgrenzung bedacht. Der Prophet Mohammed pflegte enge Kontakte zu Juden und Christen. Als Religionsstifter mußte er freilich auf (durchaus nicht unfreundlich gemeinte) Distanz zu ihnen gehen. Auch politische Gründe sprachen dafür. Das Christentum war zu seiner Zeit die Religion des Byzantinischen Reiches, das Judentum war durch sein Zentrum in Mesopotamien, in Babylonien, eng mit persischen Interessen verbunden. Der Islam trat sozusagen als Religion der Blockfreien auf.

Die heutige Welt wird zunehmend vom »Westen«, also von der europäisch-amerikanischen Zivilisation, geprägt. Es handelt sich dabei vornehmlich um eine materialistische und technologische Zivilisation – so erscheint es jedenfalls vielen islamischen, jüdischen und christlichen Fundamentalisten. Diese moderne, technische, »westliche« Zivilisation verunsichert und verwirrt viele Menschen. Sie fühlen sich geistig und seelisch bedroht und empfinden diese Zivilisation als Angriff auf ihre Kultur, zu der sie die Religion als untrennbaren Bestandteil zählen. Für sie ist die moderne Zivilisation ein kultureller Einheitsbrei, der einzugrenzen ist. Einer der von ihnen dagegen errichteten Dämme ist der Fundamentalismus.

Kultur betrifft das Sein, also das Wesentliche. Zivilisation regelt und organisiert das Dasein. Fundamentalisten leben in dieser Polarität von Sein und Dasein. Ihre Angst besteht darin, daß ihr Volk wie alle anderen werden könnte, um schließlich in der Masse aufzugehen. Die Vorstellung, »wie alle anderen Völker« zu sein, löst bei orthodoxen Juden eine Gänsehaut aus. Aber es sind eben nicht nur orthodoxe Juden, die sich gegen diese zivilisatorische Vereinheitlichung wehren. Einen »Krieg der Zivilisationen« (Samuel Huntington) und Kulturen braucht man deshalb nicht zu befürchten, aber der Zusammenprall (clash) ist offenkundig. Zu einem Zerbrechen (crash) kann, muß es aber nicht führen. Doch um im Bild zu bleiben: Einen Crash-Test haben beide Seiten zu befürchten, die westlich-moderne ebenso wie die nichtwestlich-fundamentalistische.

Der Mißerfolg fundamentalistischer Philosophie ist jedoch vorprogrammiert, weil die positiven Errungenschaften der Zivilisation offensichtlich sind. Diese Zivilisation erlaubt es durchaus, daß die Menschen ihre Kultur erhalten und auch weiterentwickeln. Zivilisation muß lediglich als das erkannt werden, was sie ist: als ein Instrument zur Daseinsregelung. Das Dasein bestimmt das Sein eben nicht oder nicht ausschließlich. Unterschiedliche Kulturen und eine einheitliche Zivilisation schließen einander keineswegs aus – wenn man zwischen beiden unterscheidet und beispielsweise die Einheit von Politik und Religion auflöst.

Viele entdecken, daß man die Vorzüge der Zivilisation übernehmen kann, ohne auf sein eigenständiges kulturelles Erbe zu verzichten. Die jüdische Neuorthodoxie (sie entstand im 19. Jahrhundert in Deutschland) hat dies ebenso erkannt wie neuorthodoxe Christen und Muslime.

Die Formel der jüdischen Neuorthodoxie lautet: »Thora im Derech Eretz.« Sinngemäß übersetzt: »Bibel und die weltlichen Dinge« – das heißt, das eine kann man tun, ohne das andere zu lassen. Ein strenggläubiger Jude trägt zum Beispiel sogar im Hochsommer den schwarzen Mantel, den großen, ebenfalls schwarzen Hut und natürlich Schläfenlocken. Er hält die religiösen Gesetze haargenau ein, verbindet also in seinem Alltag jüdische Kultur und Religion. Und gleichzeitig unterhält er ein High-Tech-Geschäft, das modernste Hardware und Software verkauft. Entscheidend in bezug auf diese Neuorthodoxie ist die Trennung des politischen und des religiösen Bereichs.

Als Beispiel aus der muslimischen Welt seien zwei Namen genannt. Es handelt sich allerdings um zwei militante Persönlichkeiten, die eben nicht die Trennung der Bereiche Politik und Religion vollzogen haben. Sie strebten eine Modernisierung der Religion an, um politisch und militärisch schlagkräftiger zu sein. Es sind die islamischen Modernisten des 19. Jahrhunderts: Gamaladdin Afghani (1839 bis 1897) und sein Schüler Muhammad Abduh (1849–1905). Sie funktionierten den Islam in eine antikolonialistische Ideologie um. Diese sollte »zur politischen Aktion gegen Europa« aufrufen (Bassam Tibi). Beide waren »Europa gegenüber nicht verschlossen; sie waren aber nur bereit, Elemente der bürgerlichen Zivilisation und Kultur zu übernehmen, sofern diese den Islam gegen Europa stärken könnten« (Bassam Tibi).

Zu den weniger militanten neuorthodoxen Vertretern könnte man den ersten Ministerpräsidenten Khomeinis, Bazargan, zählen. Er war ein überzeugter Muslim und zugleich ein Techniker, deshalb auch eher ein Pragmatiker, also kein wilder Ideologe. Aus diesem Grund blieb er nicht lange Khomeinis Ministerpräsident. Die Mischung aus Technokrat und Theokrat (Anhänger des Gottesstaates) personifizierte auch Abdelkader Hachani, der Chef der »Islamischen Heilsfront« in Algerien. Hachani ist Ölingenieur.

Es gibt diese Neuorthodoxen also auch in der islamischen Welt, wenngleich dort die Verweltlichung, zumindest die Trennung von Religion und Politik, nur unvollständig vollzogen wurde. Religion war und blieb hier ein Mittel zum politischen Zweck. In der jüdisch-israelischen Welt wurde sie dieses erst relativ spät.

Der Fundamentalismus ist ein Signal für die Krise der Zivilisation und ihres drohenden Zusammenbruchs. Der ursprünglich christlichen, zunehmend nichtreligiösen und dafür technologisch geprägten europäisch-amerikanischen Zivilisation stehen der jüdische und islamische Fundamentalismus gegenüber. Die Einsturzgefahr ist bei den Muslimen heute am größten, denn die religiösen Wälle sind bei den meisten Christen und Juden längst gebrochen. Letztere sind säkularisiert oder haben moderne Zivilisation und Kultur durch die Neuorthodoxie harmonisiert. Nur ihre Fundamentalisten wehren sich noch. Daß und wie sehr sie sich wehren, sehen wir an der Iranischen Revolution. Und wir erkennen es auch am mörderischen Widerstand der islamischen Fundamentalisten. Diese bekämpfen nicht nur (»nur«?) den jüdischen Staat, sondern auch eigene muslimische »Abweichler«. Letzteren wird vorgeworfen, dem Westen und Israel gegenüber weich geworden sowie vom »Pfad der Tugend« abgewichen zu sein.

Auch jüdische Fundamentalisten leisten erbitterten mörderischen Widerstand gegen den Kompromiß (das heißt: gegen den Frieden). Hat sich der Mörder des israelischen Ministerpräsidenten Rabin etwa nicht auf die jüdische Religion berufen? Diese, so behauptete er, verbiete es bei Todesstrafe, jüdisches Land an Nichtjuden zurückzugeben. Weil Rabin dies plante, hätte er getötet werden müssen, so die konfuse Logik des Attentäters. Ob der Rabin-Mörder Jitzchak Amir den genauen begrifflichen Vorgaben des »Fundamentalismus« entspricht, interessiert dabei weniger als eine andere Tatsache: daß er sich, genau wie islamische Fanatiker, der anderen Seite gegenüber völlig verschließt und »notfalls« auch die offenen Geister des eigenen Volkes erschießt.

Ist Zionismus Gotteslästerung?

Die jüdische Religion stellt wahrhaftig kein Handbuch für Ansprüche auf jüdische Staatlichkeit im Heiligen Land zur Verfügung. Fundamentalisten meinen sogar, daß eben diese Heiligkeit die jüdische Staatlichkeit bis zum Eintreffen des Messias verbiete.

Bei den jüdischen Fundamentalisten gibt es, grob gesprochen, zwei Gruppierungen: die »nachhelfenden Aktivisten« und die »passiv Abwartenden«. Am Ziel ihrer Wünsche sind fromme Juden erst, wenn der Messias gekommen sein wird. Er wird den Gottesstaat errichten. Die nachhelfenden Aktivisten im Lager der jüdischen Fundamentalisten haben schon mit dem Aufbau des Staates begonnen, der dann ein Gottesstaat, ihr Gottesstaat, werden soll. Die passiv abwartenden jüdischen Fundamentalisten halten bereits diesen ersten Schritt zur Staatlichkeit für einen Beweis des Unglaubens. Für sie beweist dieser Aktivismus mangelndes Vertrauen in Gott und ist daher »Gotteslästerung«.

Die passiven jüdischen Fundamentalisten sind tief religiös und in manchen Bereichen durchaus modern. Politik betreiben sie allerdings (wenn überhaupt) nur als Religionspolitik, letztlich in Form von Gemeindepolitik. Jüdische Staatlichkeit hat für sie mit der Heiligkeit des Heiligen Landes nichts zu tun. Im Gegenteil, sie behaupten: »Zionismus ist Gotteslästerung.« Wer jemals das orthodoxe jüdische Viertel Mea Schearim in Jerusalem besucht hat, dürfte dort diese Parole mehrfach an Häuserwänden gesehen und sich dabei gewundert haben, warum orthodoxe Juden als Gegner des Jüdischen Staates, als Gegner der Jüdischen Nationalbewegung auftreten.

Extreme und religionspolitisch militante orthodoxe Juden sind im israelisch-arabischen Konflikt friedlicher. »Uns stört es nicht, wenn Araber in Jerusalem leben«, verkündete zum Beispiel der fundamental-religiöse Rabbiner Schach und dachte dabei wahrscheinlich an das Talmudtraktat Ketubbot 110 b: »Unsere Meister lehrten: Stets solle ein Mensch im Land Israel wohnen, sogar in einer Stadt, deren Mehrheit aus Fremden [= Nichtjuden] besteht.« Er wohnte nicht im Ausland. Nicht einmal in einer Stadt, deren Mehrheit aus Juden besteht. Warum? Talmudtraktat Sota 14 beantwortet diese Frage zum Teil: »Viele Gebote wurden [dem Volk] Israel vorgeschrieben, die sich nur im Land Israel erfüllen lassen.« Und Rabbi Simlai, einer der talmudischen Weisen, fügte hinzu: »Ich möchte das Land Israel betreten, damit ich sie [die Gebote] alle erfülle.« Das religiöse Leben der Juden sei entscheidend, nicht ihre Staatlichkeit. Auf die jüdische Qualität, nicht auf die Quantität der Juden komme es an.

Rabbiner Schach war als nachhelfender Aktivist im Lager der jüdischen Fundamentalisten das Oberhaupt einer höchst einflußreichen radikalreligiösen Partei in Israel. In den 1990er Jahren war er sogar der »Königsmacher« israelischer Politik, indem er auf die Wahl des Ministerpräsidenten Einfluß nahm.

 

Bei der Madrider Friedenskonferenz im Herbst 1991 saßen erstmals Israelis, Palästinenser, Jordanier, Ägypter, Syrer und Libanesen vor den Kulissen an einem Gesprächstisch, anstatt aufeinander zu schießen. Gerührt und voller Ahnungslosigkeit präsentierte eine deutsche Zeitung ein Foto, das Rabbiner Hirsch und Faisal Husseini zeigt. Der folgende Text wurde hierzu gedruckt: »Zum Beginn einer schwierigen Konferenz eine Begegnung in Jerusalem, die einen Funken Hoffnung signalisiert: Rabbi Hirsch, Führer der ultraorthodoxen ›Neturei Kartha‹, trifft mit dem Palästinenserführer Faisal Husseini zusammen.« Offensichtlich wußte die Redaktion nicht, daß die radikalreligiöse Gruppe Neturei Kartha militant antizionistisch ist, den Jüdischen Staat Israel als »Gotteslästerung« beschimpft und seit Jahrzehnten enge Kontakte zur palästinensischen Nationalbewegung pflegt. Rabbi Hirsch vertritt die passiv Abwartenden im Lager der jüdischen Fundamentalisten, für die jeder Schritt zum Aufbau eines (Gottes-)Staates ein Beweis des Unglaubens ist.

Zur israelisch-arabischen Friedenskonferenz entsandte Neturei Kartha deshalb zwar drei Berater – aber als Teil der palästinensischen Delegation. Doch auch auf die Größenverhältnisse kommt es an. Wenn siebzig Prozent der jüdischen Israelis nichtreligiös sind, bilden die Religiösen also eine Minderheit. Unter dieser religiösen Minderheit sind die Orthodoxen ihrerseits eine Minderheit. Und eine Minderheit dieser Minderheit ist die winzige Gruppe der Neturei Kartha. Nur weil ihre Männer so malerisch aussehen und weil sie zudem religionspolitisch äußerst militant sind, werden sie von der Außen- und Innenwelt beachtet. Friedfertig sind sie gegenüber muslimischen und christlichen Palästinensern. Auf nichtreligiöse Juden sind sie dagegen durchaus bereit, Bomben zu werfen, wenn diese zum Beispiel Schwimmbäder eröffnen, in denen Männer und Frauen nicht voneinander getrennt sind. »Ein Funken Hoffnung«?

 

Für aufgeklärte, »moderne« Menschen ist keine Form der Orthodoxie nachvollziehbar, auch nicht für den Autor dieses Buches. Wer jedoch wissen will, ob der Kampf um das Heilige Land ein Krieg der Religiösen und der Religionen oder gar ein Kampf für die Religionen ist, muß die diversen Verästelungen kennen. Diese Verästelungen sind gewiß verwirrend – weil auch die Konfliktlinien wirr sind. Eindeutig ist nur die Vieldeutigkeit. Und das zu wissen ist letztlich die Voraussetzung dafür, den Konflikt zu überwinden; zumindest geistig zu durchdringen.

Für strenggläubige Menschen ist Geschichte zugleich auch eine Heilsgeschichte. Diese Aussage gilt für Juden ebenso wie für Moslems, Christen oder andere. Der Gang der Geschichte ist für sie nicht Menschenwerk, sondern Gotteswerk: Der Mensch soll Gottes Gebote erfüllen, nicht politisch aktiv sein.

Wenn also Gott einem Volk das Land schenken oder wiedergeben möchte, so wird er schon dafür sorgen. Menschliche Nachhilfe benötigt er nicht, so das orthodoxe Denkmuster. Um sich von dieser Theorie überzeugen zu lassen, muß man allerdings wirklich ein gläubiger Mensch sein. Säkularisierte Menschen werden dieses Denkmuster zumindest intellektuell nachvollziehen können, den Sprung in eine eigene Religiosität aber vermutlich verweigern. Diese Reaktion ist verständlich. Auch ich gehöre nicht zu den Fundamentalisten. Doch sie zu verstehen ist unerläßlich, wenn man die religiöse Dimension des Kampfes um das Heilige Land andeutet.

Die entscheidende These lautet: Das Betonen der religiösen Dimension führt keineswegs zwangsläufig zur Forderung nach einem Staat für die eigene Religionsgruppe – sei sie jüdisch, muslimisch oder christlich. Über die Heiligkeit des Heiligen Landes entscheidet nicht die jeweilige Staatlichkeit. Diese Aussage gilt sowohl für die religiöse als auch für die historische Dimension des Konflikts. Denn die Juden waren sogar während ihrer Anwesenheit im Heiligen Land nur die kürzeste Zeit staatlich unabhängig organisiert. In der rund fünfhundertjährigen Epoche des Zweiten Tempels (520 v. Chr. - 70 n. Chr.) entwickelten die Juden im Heiligen Land Religion und Gesellschaft fort, aber politisch verfügten sie nur über Autonomie, also Selbstverwaltung und Selbstbestimmung nach innen. Sie besaßen keine Souveränität, also keine Verfügungs- und Entscheidungsgewalt nach außen. Von einem »Kampf um das Heilige Land« (um es provokativ zu formulieren) reden also eher die Nichtreligiösen als die Religiösen.

Doch bei aller Meinungsfreiheit müssen Thesen, erst recht ketzerische dieser Art, bewiesen werden. Im folgenden werden deshalb die Geschichte und die Spannungen der Juden zwischen jüdischer Religion und Zionismus skizziert.

 

Die Zionistische Bewegung wurde im Jahr 1897 von Theodor Herzl ins Leben gerufen. Die Gründerväter des Zionismus waren alles andere als religiöse Menschen. Ihre Sehnsucht nach Zion war politisch. Sie strebten eine jüdische »Heimstätte« an und sprachen dabei ausdrücklich nicht von einem »Staat«.

Die Zionisten der ersten Stunde wollten verfolgte und bedrohte Juden retten, nicht das Judentum. Nicht um religiöse Bedürfnisse ging es ihnen also, sondern um das nackte Überleben. Deshalb waren viele Zionisten gar nicht auf das Heilige Land fixiert. Auch von Argentinien und sogar von Uganda war anfänglich die Rede. Diese Pläne ließen sich jedoch nicht durchsetzen. Uganda und Argentinien wären ein jüdisches Wolkenkuckucksheim gewesen, religiös und historisch. Das Heilige, Gelobte Land mußte es sein, auch für die nichtreligiöse Mehrheit der Zionisten.

Vorsichtig blieben sie trotzdem. Aus gutem Grund verzichteten sie anfangs auf die Forderung nach einem eigenen Staat, denn außenpolitisch wäre dies ebenso illusorisch wie selbstmörderisch gewesen. Wie sollte dieser kleine Verein, »Zionistische Weltorganisation« genannt, dem damals in Palästina herrschenden Osmanischen Reich das Land für einen eigenen Staat entreißen?

Dieser Forderungsverzicht war auch innenpolitisch eine kluge Entscheidung. Die religiösen Juden wären durch den Zionismus noch mehr provoziert worden, eben weil die Rückkehr der Juden nach Zion in den Augen der Religiösen eigentlich das Werk Gottes sein müsse und nicht von Menschen betrieben werden dürfe. Doch die religiösen Juden waren sich über die Verquickung von Heilsgeschichte und Geschichte ebenfalls alles andere als einig. Deshalb meinten einige Religiöse, man solle die Zionistische Bewegung stärker an das Judentum binden. Der ursprünglich nichtreligiöse, geradezu antireligiöse Zionismus sollte von innen mehr jüdische Religiosität erhalten. Diese Religiösen nannten sich Nationalreligiöse. Sie wollten eine Judaisierung des Zionismus. Hierfür mußten sie sich in die Zionistische Bewegung integrieren. Sie traten den »Marsch durch die Institutionen« an, während die streng Gottgläubigen dieses Vorgehen bereits als »Gotteslästerung« betrachteten und sich von der Zionistischen Bewegung fernhielten.

Auch die Nationalreligiösen sprachen in bezug auf ihr Ziel in Zion nicht von einem Staat, sondern vielmehr von einem geistigen Zentrum, auf hebräisch »Misrachi«, und so nannten sie ihre Organisation. Zion sollte wieder das geistige und religiöse Zentrum des jüdischen Volkes werden.

Für die Zionisten war Zion (Jerusalem) zugleich eine Ortsangabe und das Ziel ihrer politischen Absicht. Nicht als Seelenretter, sondern als Lebensretter der Juden wollten sie sich betätigen. Dabei provozierten sie die religiösen Juden immer heftiger. Die Erziehungspolitik, eine traditionelle Bastion der Religiösen, sollte eine weltlich-nationalistische, also zionistische Angelegenheit werden, beschlossen die Zionisten im Jahr 1902. Auch die Nationalreligiösen fühlten sich herausgefordert. Erst jetzt wandelten sie ihre eher lose Gruppierung in eine innerzionistische »Partei« um. Das Überleben des jüdischen Volkes hängt nicht nur von der »Rückkehr in das Land unserer Väter« ab, sondern auch von der »Beachtung der religiösen Vorschriften«, verkündete die Misrachi-Partei in ihrem Preßburger Gründungsprogramm von 1904.

Unverdrossen drehte die nichtreligiöse Mehrheit der Zionisten weiter an der religionspolitischen Spirale. Nicht nur Erziehungspolitik, sondern ganz allgemein Kulturpolitik verlangte sie im Jahr 1911. Die jüdische Orthodoxie betrachtete diese Entscheidung als regelrechte Kriegserklärung. Nun organisierten auch sie sich. »Agudat Israel« nannten sie ihren Bund. Die von den Nationalreligiösen angestrebte Judaisierung des Zionismus hielten sie für eine reine Augenwischerei, bestenfalls für vergebliche Liebesmühe. Die Prinzipien des Zionismus, so die Agudatisten, richteten sich gegen die jüdische Religion. 1940, während in Polen die deutsche Mordmaschinerie gegen die Juden auf Hochtouren lief, polemisierte der agudatistische Rabbiner Isaak Breuer: »Es ist der Nationalismus, der uns vom Zionismus trennt… Der Nationalgedanke in der Thora ist dem des Zionismus entgegengesetzt… Der zionistische Nationalgedanke ähnelt mehr dem englischen als dem des Gottesvolkes.«

Jüdische Anwesenheit im Heiligen Land wollten auch die Orthodoxen, aber jüdische Staatlichkeit im Heiligen Land widersprach nach ihrer Meinung dessen Heiligkeit. Solange der Messias noch nicht gekommen sei, fügten sie hinzu, seien sie bereit, sich jeder weltlichen Herrschaft unterzuordnen. Eine zionistische Herrschaft aber lehnten sie nach wie vor ab, denn diese verlagere die eher jenseitige, messianische Erwartung ins Profan-Politische und gleiche daher einer »Gotteslästerung«.

Das nationalreligiöse Denkmuster unterschied sich von dem der Orthodoxen insofern, als die Erlösung des jüdischen Volkes vom Joch der Diaspora und der Geschichte zwar als ein Teil der Heilsgeschichte (und somit als Gotteswerk) angesehen wurde – doch der Mensch könne sich durchaus am »Beginn der Erlösung« aktiv beteiligen. Zionismus und Israel blieben für die Nationalreligiösen ein Übergang zwischen dem Leid der Diaspora und der vollständigen Erlösung.