Gill, John Freeman Die Fassadendiebe

PIPER

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Für Julina, die glaubte.

ISBN 978-3-8270-7949-7

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Gargoyle Hunters« bei Alfred A. Knopf/Random House LCC, New York

© John Freeman Gill 2015

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: gettyimages/ © Michael S. Yamashita

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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PROLOG

Gespenster von
New York

Warum bleiben wir? Was hält uns Volk von Exzentrikern namens New Yorker Jahrzehnt um Jahrzehnt hier, obwohl um uns herum so viel von der Stadt, die wir lieben, der Stadt, die uns in all unserer besserwisserischen, großtuerischen Überspanntheit geprägt hat, bis zur Unkenntlichkeit zerstört wird?

Da sind wir nun an so viel Chaos, so viel tägliche exotische Ablenkung gewöhnt, und doch erstaunt und schmerzt es uns jedes Mal aufs Neue, wenn eine Wunde in die Straßenlandschaft geschlagen wird. Das Gekreisch der vorbeirasenden Krankenwagen oder den Mann im Tintenfischkostüm, der alle seine Arme durchs Subway-Drehkreuz zu zwängen versucht, nehmen wir kaum noch wahr, aber lass sie das Howard Johnson’s am Times Square, das Cedar Tavern oder Rizzoli abreißen, lass sie H&H Bagels, CBGB oder das Ziegfeld verrammeln, und wir zucken zusammen, als würde uns selbst eine Gliedmaße abgetrennt.

»Überall diese verdammten Gespenster, Block für Block«, sagte meine große Schwester Quigley letztes Jahr zu mir, als sie es endgültig satthatte und beschloss, der Stadt für immer den Rücken zu kehren. »Ich habe keine Lust mehr, in New York ständig Heimweh nach New York zu haben.«

Und warum bin ich, dessen Gespenster mindestens so aufsässig sind wie ihre, dann immer noch da? Warum ist diese aberwitzige, sich selbst verschlingende, herzzerreißende Stadt der einzige Ort, an dem ich das Gefühl habe, ich zu sein?

Und Sie? Wenn Sie schon lange genug in New York leben, um sich über ein funkelnagelneues Apartmenthaus aufzuregen, das mit Ihrem Lieblingsrestaurant oder -deli oder -buchladen Godzilla gegen Bambi gespielt hat, dann ist dies auch Ihre Stadt, mit Ihren höchstpersönlichen, maßgeschneiderten Gespenstern.

Was mich und meine Geister betrifft, spielten sich die Dinge, von denen ich erzählen muss, größtenteils in den 1970er Jahren ab. Aber schon Ende 1965, kurz bevor ich fünf wurde, bekam ich zum ersten Mal zu spüren, was es bedeutet, eine Stadt zu lieben, die diese Liebe nie so richtig erwidert.

Dabei waren wir bei der Gelegenheit gar nicht in New York City. Wir saßen vor Morgengrauen in unserem VW Käfer und machten eine Fahrt ins Blaue, deren Ziel mein Vater uns partout nicht verraten wollte. Ich wachte von der scharfen Linkskurve beim Schlachthaus auf, durch deren Schwung mein Kopf sich noch tiefer in die geriffelte Wärme seiner Cord-Achselhöhle grub. Vor dem Fenster unseres kleinen Autos, in einer Insel aus gelbem Licht, in dem alle Dinge Verstecken spielten, spritzten Männer in blutverschmierten Kitteln das Straßenpflaster ab, und Dampfwolken stiegen in die Nacht auf. An einer breiten Mauer, über die unsere Scheinwerfer hinwegglitten, das verblasste Bild eines grinsenden Cartoonschweins mit Sprechblase: »Schwein gefällig? Schwein gehabt!«

Wir fuhren ein paar Minuten weiter durch die immer noch eher dunkle als helle Welt. Ich hörte Mom und Quigley hinten todmüde miteinander murmeln. An einer verzauberten Stelle, die für mich haargenau so aussah wie der Rest des Highways, fuhr Dad entschlossen an den Rand und parkte auf morastig weichem Grund. Drei oder vier weitere Wagen folgten seinem Beispiel, doch Dad rannte zu Fuß los, ohne die anderen zu rufen oder auf sie zu warten. Er brachte die Leute lieber dazu, mit ihm Schritt zu halten.

Die Sumpfgräser waren exakt so hoch, dass sie mir beim Gehen andauernd ins Gesicht peitschten, und wie der feuchte Boden an meinen Keds saugte, behagte mir auch nicht besonders. Also nahm Dad mich auf den Arm und ließ mich an seiner Schulter dösen, wo ich zufrieden auf die Muskelerhebung unter seinem Hemd sabberte. Ich war ein Teil von ihm, mein ganzer schlaffer Körper hob und senkte sich mit seinen Atemzügen. Als ich die Augen wieder aufmachte, hatte sich die Dunkelheit gelichtet und wir gingen durch eine Schattenlandschaft, die mit gigantischen länglichen Formen übersät war. Wo ich hinsah, ragten sie in die Höhe, kreuz und quer übereinander wie riesige Mikadostäbe. Der Boden knirschte unter Dads Füßen, als er sich vorsichtig einen Weg über das trügerische Gelände bahnte, seine breite Hand flach auf meinem Rücken. Es roch verbrannt.

Vom Rand des Sumpflands her sickerte das Tageslicht jetzt sekündlich schneller in den Himmel, bis die kolossalen schrägen Schatten sich als Ruinen imposanter klassizistischer Säulen entpuppten, umgestürzt, zerbrochen und in einem Reich der Trümmer sich selbst überlassen. Dad setzte mich ab. Wir standen mitten zwischen den Überresten irgendeiner prächtigen untergegangenen Zivilisation – selbst ich, der Kleinste von uns, konnte das begreifen. Und wir würden hier ein Picknick machen.

Dad stellte einen Bastkorb auf den Boden, und Mom holte ein rot-weiß kariertes Tischtuch heraus und breitete es auf dem kegelförmigen Bruchstück einer Säule aus, das kaum höher war als unser runder Küchentisch in der Stadt. Ihre Freunde, der Rest unserer erweiterten Sippe, kamen jetzt nach und nach durch das majestätische Trümmerfeld gekraxelt und schauten sich mit breitem, dümmlichem Lächeln um.

Und es gab eine Menge zu sehen, zerbröckelte Ziegel, verbogene Eisengeländer, enorme, aus rosa-weißem Stein gemeißelte Blatt- und Schnörkelfragmente. Hier und da schwelte es, und Rauchfäden kräuselten sich himmelwärts. Aus einem Schutthaufen, nicht weit von Moms behelfsmäßigem Picknicktisch entfernt, stak diagonal ein weißer, kompliziert geäderter steinerner Frauenarm heraus, dessen Mittel- und Ringfinger am zweiten Gelenk abgebrochen waren.

Es war eine tolle Party. Quig und einige der anderen größeren Kinder rannten durch die Gegend und hüpften von Säule zu Säule, die Arme ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten. Ein schlaksiger, bärtiger Mann zupfte mit Silberkrallen an einer Gitarre herum. Mom, dunkeläugig, in einem kurzen weißen T-Shirt-Kleid mit gelbem Schal als Gürtel, verteilte grinsend ein Sammelsurium von Trinkgefäßen – ein paar alte Mets-Becher aus dem Polo-Grounds-Stadion und jede Menge dieser kleinen Senfgläser ihrer Lieblingsmarke. Aber im Mittelpunkt stand Dad, unverkennbar der Kopf der Expedition, schenkte Rotwein aus, schnitt große Stücke Chorizo ab und warf den Leuten erstaunlich süße Feigen zu, die er in Little Italy aufgetrieben hatte.

Sein kleiner Sohn zu sein war was ganz Besonderes. Ich war zwar mit Abstand der Jüngste hier, dafür aber das Prinzchen, das direkt neben ihm saß, sich in seinem Glanz sonnte und ihm half, mit so einem Korkenzieher, der Hampelmann machte, die Weinflaschen zu öffnen. Alle schauten auf uns und wetteiferten um seine Aufmerksamkeit. Mir wuschelten sie durchs Haar.

Irgendetwas Wichtiges, ein Schmortopf oder eine Kühlbox, war in einem der Autos vergessen worden. Mom erklärte sich bereit, es zu holen. Der Mann mit den Silberkrallen legte seine Gitarre beiseite, um sie zu begleiten. Ein Frisbee flog hin und her.

Die Erwachsenen hatten eine Menge Gesprächsstoff. Sie wanderten zu zweit oder zu dritt zwischen den Ruinen umher, stießen mit der Fußspitze halb vergrabene Gegenstände an und taten ihre Meinung dazu kund. Dad war der Einzige, der schon einmal hier gewesen war. Er führte mich und ein Ehepaar mit identisch gelockten Haaren einen von LKW-Spuren gefurchten Weg entlang, links, rechts, links, bis er gefunden hatte, was er suchte: das größte Zifferblatt, das ich je gesehen hatte. Es steckte schräg in einem Schutthaufen wie eine fliegende Untertasse nach der Bruchlandung, eine große weiße Scheibe mit eleganten Buchstaben aus schwarzem Metall anstelle der Zahlen: vor allem I, aber auch das eine oder andere V und X war dazwischen. Zeiger gab es nicht.

Dad kletterte den Schutthügel bis zu der Uhr hinauf und zog eine Gripzange aus der Gesäßtasche, deren glänzende Zähne mich immer an ein grinsendes Alligatormaul denken ließen. Mit Hilfe einer kleinen Schraube an einem der Griffe stellte er den Abstand zwischen den Zähnen richtig ein und packte damit ein I: das einzige, das ganz für sich stand.

»Versuch doch mal, es abzuzwacken, damit wir es deiner Mutter schenken können«, sagte er zu mir. »Wenn ich ein Loch oben reinbohre, kann sie es an einer Kette tragen.« Mom hieß Ivy.

An einer Seite des Schutthaufens, halb unter anderem Zeug begraben, war so etwas wie ein steinerner Adlerflügel. Diese schiefe Ebene benutzte ich als Rampe, um auf die Uhr zu klettern, die ungefähr doppelt so groß war wie ich. Zwei schwarze Metallringe umrandeten das Zifferblatt, einer innerhalb des anderen, wie die kreisförmige Strecke einer Spielzeugeisenbahn. Zwischen diesen Ringen steckten die Buchstaben. Sie waren kalt und ein bisschen scharf, aber ziemlich gute Haltegriffe, also kletterte ich vorsichtig an der Rundung der Uhr entlang bis zu dem I, das in Dads Gripzange klemmte. Von nahem konnte ich sehen, dass es oben und unten an den Metallringen befestigt gewesen war, bis jemand – bestimmt Dad bei seinem ersten Besuch – sie am oberen Ende losgesägt hatte. Man brauchte es nur noch mit der Gripzange hin und her zu bewegen, bis der Buchstabe unten abbrach.

Ich hielt das Werkzeug mit beiden Händen fest und drehte es abwechselnd nach links und rechts, links und rechts, während Dad dem gelockten Ehepaar erklärte, wie schwierig es gewesen war, diese Schutthalde auf der anderen Hudsonseite zu finden – das in Jersey ansässige Abbruchunternehmen der Bahn, »Lipsetts Leute« nannte er sie, halte den Standort aus Sicherheitsgründen geheim oder so ähnlich. Allmählich taten mir die Handgelenke weh, und als ich mich bei Dad beklagte, entschuldigte er sich bei den anderen und kam mir zu Hilfe.

Er packte meine Hände mitsamt der Gripzange, bog das I kraftvoll hin und her und tat dann so, als könne er nicht mehr, so dass ich die letzte, triumphale Drehung ganz allein ausführen konnte. Der störrische Buchstabe brach ab und fiel mir direkt in die Hand. Er fühlte sich fast überall kühl an, nur ganz unten an der Abbruchstelle war er heiß. Ich konnte es kaum erwarten, ihn Mom zu geben. Sie würde begeistert sein.

Vorsichtig stiegen Dad und ich über einen umgekippten schwarzen Pfeiler, der mit GLEIS 3 gekennzeichnet war, und machten uns auf den Rückweg. Wir hatten uns weit von den anderen entfernt, und hier war alles so ein wildes Durcheinander, dass ich mich fragte, wie wir je den richtigen Weg finden sollten. Ein Schutthaufen glich dem anderen, die kreuz und quer verlaufenden LKW-Wege kamen mir alle gleich vor, und die vielen Trümmer und Steinsäulen machten es schwer, weiter als zehn oder fünfzehn Schritte vorauszuschauen. Aber Dad sah so gut und so selbstsicher wie immer aus, und ich fand es herrlich, mit ihm durch diese kaputte Landschaft zu streifen, niemand da außer uns, die beiden größten lebenden Forscher der Welt, dabei, Seite an Seite das Unbekannte zu bezwingen.

Ab und zu drangen Geräuschfetzen zu uns, Möwengeschrei, fernes Maschinengebrumm, und legten sich über das Knirschen unserer Schritte. Dad hielt mit seinem gewohnt sicheren Gang ein gleichmäßiges Tempo, bis eine leichte Verzögerung seines Schritts, irgendwo zwischen einem Ruck und einem Stolpern, mich zu ihm aufblicken ließ, und an seinem Gesicht sah ich sofort, dass sich etwas verändert hatte. Ein mir bis dahin völlig unbekannter Ausdruck von Schwäche, ja fast Panik lag darauf. Ich folgte seinem Blick, schaute auf denselben Schutthaufen wie er, sah aber nichts als einen Hügel aus narbigen Bruchsteinen und einigen langen, glänzenden Marmorquadern, die von Schuhen polierten Stufen einer prächtigen Treppe vielleicht.

Dann entdeckte ich es. Mitten in einer verdrehten Messingkonstruktion, die möglicherweise einmal ein Treppengeländer gewesen war, hatte sich Moms gelbes Tuch um einen verbogenen Pfeiler gewickelt. Irgendwo dahinter, wie weit entfernt, konnte ich nicht sagen, glaubte ich, ihr Lachen zu hören, eine Art gekeuchtes Kichern. Es war ein freudiger Laut, nur irgendwie erstickt, so als ob sie ihn unterdrückte. In der Hoffnung, etwas für mich Verständliches zu erkennen, schaute ich lange dorthin, aber ich sah nur das Tuch meiner Mutter in der Brise wehen, das jetzt zart und fast durchsichtig war, da es sich nicht mehr um ihre Taille bauschte.

Als ich aufblickte, um vom Gesicht meines Vaters abzulesen, was ich empfinden sollte, entdeckte ich etwas Neues. Mein Vater war nicht mehr bei mir.

Teil I

The City
We Have Lost

Kapitel 1

Jeder New Yorker hat sein ureigenes kartografisches System, seine persönliche Methode, die Übereinstimmungen zwischen der Stadt draußen und den Marksteinen des Straßenbilds in seinem Inneren aufzuzeichnen. Dazu ist kein Landvermessungsgerät nötig, man braucht nur nüchtern die Vergänglichkeit zu akzeptieren. Für viele von uns ist die so entstehende Karte eine zwar verzerrte, aber doch der Wahrheit entsprechende Darstellung New Yorks, in der verschwundene Gebäude und Geschäfte mindestens so gegenwärtig sind wie noch existierende. Laufen Sie mal anhand Ihrer selbstverfassten Karte durch die Stadt, und Sie werden staunen, wie viele unbesungene Orte Ihnen aus der verrückten, permanenten Rushhour entgegenspringen und Ihre Aufmerksamkeit fordern – ein Mietshaus ohne Fahrstuhl, wo Sie einst wohnten, bevor Sie sich selbst sonderlich gut kannten, oder die Stätte einer längst verschwundenen Bar, Schauplatz vieler Treffen mit einer engen Freundin, die Sie seither aus den Augen verloren haben. Und all das sieht niemand als Sie selbst. Alle anderen hasten daran vorbei, haben Dinge zu erledigen, Wäsche aus der Reinigung abzuholen, wichtigen, in Handarbeit hergestellten Käse zu kaufen. Jenen so entscheidenden Markstein Ihres früheren Selbst nehmen sie gar nicht wahr. Sie haben ihre eigenen Marksteine.

Ich ja auch. Das gefledderte Kapitol meines New Yorks wird immer jenes Queen Anne Brownstone an der 89th Street zwischen Lex und Third sein, wo meine Familie in den späten 1960er und den 70er Jahren wohnte. Ein Machwerk aus rotem und braunem Backstein, mit Mansardenfenstern, Erkern und schmiedeeisernen Schnörkeln aufgeschickt und nur vier Meter breit, stand es wie ein groß herausgeputzter Kobold inmitten eines rempelnden Sechsertrupps ebenso überspannter Nachbarn.

Man kann es sich heute noch ansehen. Zusammen mit dem Rest der Reihe, 1887 von dem Enkel des Zuckerfabrikanten William Rhinelander erbaut, taucht es in fast allen Architekturführern der Stadt auf (in den dreien, die ich geschrieben habe, glänzt es allerdings ebenso durch Abwesenheit wie in allen meinen Zeitschriftenartikeln). Und es gehört zu den kolossalen New Yorker Ironien, dass mein Kindheitsbrownstone uns samt und sonders überleben wird. Nachdem alles vorbei, das ganze sorgfältige Zerstörungswerk vollendet war, beschloss die Stadt, ausgerechnet diese Häuserreihe unter Denkmalschutz zu stellen.

Wenn Sie sich für Architektur interessieren, würden Sie den Anblick meines ehemaligen Elternhauses vermutlich zu schätzen wissen und, falls Sie zufällig daran vorbeikämen, vielleicht sogar einen Moment stehen bleiben, um seine schrullige Eleganz zu bewundern. Aber es wird für Sie nicht vor Bedeutung schillern wie für mich, genauso wie ich an jenem alten Coffee-Shop vorbeilaufen kann, wo Sie damals vor dem wichtigen Bewerbungsgespräch Spiegeleier gegessen haben oder wo die Geliebte mit dem wunderschönen Hals Sie zur Verzweiflung brachte, als sie sagte, es sei aus – ohne auch nur zu ahnen, dass dies das Kapitol Ihres New Yorks ist.

Alle paar Jahre mal steige ich die schartigen Stufen zu unserem alten Brownstone hinauf, allerdings nur, wenn ich ziemlich sicher bin, dass niemand zu Hause ist. Dann beuge ich mich über das verschnörkelte schmiedeeiserne Geländer, lege die Hände an die Augen wie Scheuklappen und spähe durch die Buntglasfenster.

Für mich bleibt es da drinnen immer 1974, das Jahr, in dem ich dreizehn war, das Jahr, bevor Präsident Ford einen einzigen Blick auf unsere lebhaft zerbröckelnde Stadt warf und VERRECKT DOCH sagte. Damals wurde es in jenem Brownstone allmählich verdammt eng. Meine Mutter, müssen Sie wissen, hatte einen weiteren Streuner aufgenommen, ihren fünften, seit mein Vater uns ein paar Monate davor verlassen hatte. Dieser hieß Mr Price und sollte das zweite Stockwerk mit mir teilen, also die Hälfte meines Spiegelschranks, meine ganze Klobrille und wahrscheinlich sogar meinen Luffaschwamm.

Ich betete zum Teufel, dass er nicht einer von diesen haarigen Typen war. Es war schlimm genug, warten zu müssen, bis irgendwelche hergelaufenen Untermieter ihre Weichteile fertig abgetrocknet hatten, bevor man selbst duschen konnte, aber wenn sie sich auch noch mauserten und ständig Haare auf der Seife hinterließen, also, dann wäre ich immer am liebsten in Moms Zimmer hinuntergestampft und hätte ihr gesagt, jetzt reicht’s.

Ich spähte durch die Stäbe des Geländers im ersten Stock, während Mom unten mit Mr Price quatschte. Sie hatte die Finger fest um sein Handgelenk gelegt, wie eine Krankenschwester, die seinen Puls suchte, und log munter drauflos, von wegen, Quigley und ich seien ja so froh, dass er sich zu »unserer kleinen improvisierten Familie« hinzugeselle und so weiter. Er trug einen zerknitterten grauen Anzug mit tadellos gebügeltem Einstecktuch, zwei weißen Gipfeln, die flach und perfekt wie die Alpen auf einer Ansichtskarte aus seiner Brusttasche ragten. Er nickte andauernd mit dem kahl werdenden Kopf und nannte meine Mutter mit seinem betulichen englischen Akzent Mrs Watts.

Ich fragte mich, was wohl mit ihm nicht stimmte. Er wirkte halbwegs kultiviert – auch nicht allzu haarig –, aber ich traute diesem Eindruck nicht, denn Moms Untermieter waren allesamt nicht gesellschaftsfähig. Als Mr Price also einige schöne Momente in meinem Bad verbracht hatte und anfing, in seinem neuen Zimmer am Ende des Flurs herumzuwirtschaften, schloss ich mich im Scheißhaus ein und begann, sein Zeug zu durchwühlen. Ausländer wie Mr Price hatten immer solche überkandidelten Kulturbeutel aus butterweichem Leder, mit angeberischen Sachen wie Eau de Cologne darin.

»Griffin!« Meine Mutter hämmerte gegen die Badezimmertür. »Bist du da drin?«

Ich drehte den Wasserhahn auf, damit sie nicht hörte, wie Mr Price’ persönliches Hab und Gut in seinem Beutel klöterte. Als ich nicht antwortete, pochte Mom noch ein paar Mal an die Tür, allerdings weniger selbstgewiss als vorher. Ihre Knöchel klangen weich und fleischig, so wie die Hühnerbrüste, die Dad immer mit einem hammerförmigen Fleischklopfer bearbeitet hatte, bevor er sie fürs Abendessen zubereitete.

»Pass auf, Griffin«, sagte sie durch die Tür, »ich habe mich entschieden, was mit unserer Ruine werden soll – und das betrifft auch dich. Wenn du also da drinnen fertig bist, könntest du vielleicht so freundlich sein, mal runterzukommen und Mr Price seine Privatsphäre zu lassen.«

»Ja, klar«, sagte ich. »Ich verstehe.«

Das sagte ich immer, wenn ich sie ignorieren wollte. Ich war so gut darin geworden, dass ich im aufrichtigen Ton des guten Sohnes »Ja, klar, ich verstehe«, sagen konnte, während ich meiner Mutter so wenig Beachtung schenkte, dass mein Gehirn die Geräusche, die sie mit dem Mund machte, überhaupt nicht als Wörter registrierte.

»Du hörst mir gar nicht zu, stimmt’s?« Sie klang ziemlich gereizt.

»Doch. Doch, klar.« Ich spulte im Kopf schnell noch einmal die letzten dreißig Sekunden unseres Gesprächs ab. Manche Leute haben ein fotografisches Gedächtnis. Ich hatte schon immer ein fonografisches.

Ich räusperte mich. »Du hast … dich entschieden, was mit der Ruine werden soll«, wiederholte ich, »und wie’s aussieht, betrifft das auch mich. Also … wenn ich hier fertig bin und alles, dachtest du dir, ich könnte ja vielleicht so freundlich sein, mal runterzukommen und Mr Price seine Privatsphäre zu lassen.« Ich holte tief Luft. »Siehst du, ich hab doch zugehört.«

»Das zählt nicht! Ich habe mit dreizehn genau denselben Wiederkäutrick benutzt. Auch wenn du Wort für Wort wiederholen kannst, was ich sage, heißt das noch lange nicht, dass du mir zuhörst. Hast du mich verstanden?«

»Na ja, ich weiß ja nicht, Mom, aber für mich klang es so, als hättest du im Wesentlichen gesagt, dass du mit dreizehn genau denselben Wiederkäutrick benutzt hast, und auch wenn ich Wort für Wort wiederholen kann, was du gesagt hast, heißt das noch lange nicht, dass ich dir zuhöre.«

»Mensch, kannst du einem auf die Nerven gehen. Komm einfach in mein Zimmer, wenn du fertig bist.«

»Ja, klar«, sagte ich. »Ich verstehe.«

Nachdem ich mich bemüht hatte, Mr Price’ Sachen wieder in Ordnung zu bringen, drehte ich das Wasser ab. Aber ich ging nicht gleich runter. Erst wollte ich mich noch des zerknüllten Zettels in meiner Cordhose annehmen.

Kurz bevor Mr Price aufgetaucht war, hatte ich mal wieder eine von den fiesen Nachrichten gefunden, wie mein Vater sie meiner Mutter andauernd hinterließ. Ich hatte sie ganz schnell in meine Hosentasche gestopft, weil ich es nicht aushielt, wie unglücklich Dads Zettel sie machten. Noch bevor sie auch nur ein, zwei Sätze gelesen hatte, kam immer dieser total niedergeschlagene Ausdruck in ihre Augen, und dann wurde ihr Gesicht ganz zerknautscht und wasserspeierig, weil sie sich so anstrengen musste, nicht zu weinen. Es war im Grunde mehr, als man mitansehen wollte, und man musste machen, dass man aus dem Zimmer kam, um nicht selbst ganz wasserspeierig zu werden.

Ich zog die zusammengeknüllte Papierkugel aus der Tasche, setzte mich auf den Klodeckel und strich sie auf meinem Knie glatt. Es war vielleicht die neunte oder zehnte wütende Dad-Nachricht, die ich seit seinem Auszug abgefangen hatte. Er war jetzt unser Vermieter (»Unser Herr und Vermieter«, wie Mom ihn nannte) und kam ständig zu Überraschungsinspektionen vorbei, bei denen meine Mutter nie gut abschneiden konnte. Inzwischen erinnerten seine Besuche an eine endlose Reihe unangekündigter Tests eines übellaunigen Lehrers, der einen scheitern sehen will, nur damit er sich gekränkt fühlen kann, weil man ihn so herb enttäuscht hat. Andauernd entdeckte Dad irgendetwas, das ihn zur Weißglut brachte, zückte dann jedes Mal seinen Stift und hinterließ Mom an exakt der Stelle, wo er von seinem Ärger angesprungen worden war, eine bitterböse Nachricht.

Ich verbrachte keinen geringen Teil meiner Freizeit damit, das Haus abzusuchen, um diese kleinen Kuhfladen seines Missmuts aufzuschaufeln, bevor Mom darauf stieß. Manchmal hatte ich in jedem einzelnen Zimmer unserer Untermieter solche Zornesbotschaften entdeckt, dazu in Moms Unterwäscheschublade, in ihrem Schrank und an ihrer Künstlerpalette, als Röllchen in das Daumenloch gesteckt und mit einer hart gewordenen weißen Farbkaulquappe versiegelt.

Die Nachricht, die jetzt auf meinem Bein lag, hatte ich allerdings neben dem Küchentelefon gefunden. Dads Wut wurde allmählich salonfähig, eine alltägliche Notiz neben Nachrichten von Quigs Theaterfreunden und Moms Rahmer:

Ivy –

Irgend so ein salbungsvoller Brite hat angerufen, während ich hier war, um den Gasherd auf undichte Stellen zu untersuchen. Angeblich heißt er Price und zieht diese Woche hier ein. Ich hoffe, du kriegst wenigstens ein bisschen Miete von dem Kerl. Ich habe ihn gefragt, womit er seinen Lebensunterhalt verdient, und er sagte immer nur, »ich mache in Zeitungen«.

Letzteres war, wie ich später erfuhr, einer von Mr Price’ kleinen Scherzen auf eigene Kosten. Betont vage, so dass seine Zuhörer zu der Vermutung verleitet wurden, er sei der verschollene Erbe von William Randolph Hearst, erzählte Mr Price allen und jedem, er mache in Zeitungen. Er fand sein heimliches Vergnügen daran, das zu sagen, weil er oft auf einer Parkbank schlief und sich gegen die Kälte Teile der Daily News in den Hosenboden stopfte.

Der Rest der Nachricht war unter Volldampf hingekritzelt und mündete in einer Tirade: »Bei dem Tempo, in dem du diese Männer unter mein Dach holst, bist du bestimmt viel zu sehr damit beschäftigt, ihnen allen einen zu blasen, um meine Kinder anständig zu erziehen.«

»Griffin!« Meine Mutter wieder, diesmal von unten. »Kein Mensch braucht so lange auf dem Klo!«

Mit der Erinnerung ist es so eine Sache, und wenn Quigley und ich uns über die Jahre austauschen, in denen wir in jenem Brownstone aufwuchsen, gibt es zwangsläufig einen Haufen Einzelheiten, über die wir uns uneinig sind. Aber an eines erinnern wir uns beide gleichermaßen: In dem Haus wurde ständig gebrüllt. Der Grund dafür war einerseits, dass wir permanent stinksauer aufeinander waren, und andererseits, dass es sich um ein großes altes, fünfstöckiges Haus handelte und derjenige, mit dem man gerade reden wollte, sich nie im selben Stockwerk zu befinden schien wie man selbst. Außerdem waren wir alle Experten darin, einen kleinen, unbedeutenden Streit eskalieren zu lassen. Man brauchte beim Brüllen im Treppenhaus nur genau das richtige Maß an genervter Nachsicht in die Stimme zu legen, um ziemlich deutlich werden zu lassen, dass man sich ausgenutzt fühlte und den Abstand zwischen sich und dem anderen nicht nur als lästig, sondern als Symptom eines abscheulichen Charakterfehlers seinerseits erachtete.

Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Ist ja gut! Ich komme ja gleich!«

Mit meiner Adidas-Schuhspitze klappte ich den Klodeckel auf und zerriss Dads Nachricht dann einmal, zweimal, dreimal, viermal, bis seine Feindseligkeit gegenüber meiner Mutter nur noch aus zweiunddreißig Fetzen bestand. Die streute ich in die Kloschüssel und ließ sie einige Sekunden auf dem blauen Sani-Flush-Wasser treiben, bevor ich den Hosenschlitz aufmachte und sie bepinkelte. Es war ein gutes Gefühl: Ich war ein PI-51-Kampfflieger über dem Pazifik, der Zerstörung auf die feindliche Flotte hinabregnen ließ. Tod von oben.

Moms Zimmer war wie üblich in Schatten getaucht. Vor ein paar Monaten hatte sie die Decke schwarz und die Wände in einem düsteren Ziegelrot angestrichen, so dass dort zu allen Tageszeiten eine Atmosphäre wie kurz vor Einbruch der Nacht herrschte. Ihre Vorhänge, auf die verwitterte italienische Türme mit schartigen, wie angefressenen Ecken gedruckt waren, blieben immer zugezogen. Sie wollte nicht, dass die Leute in den Wohnungen hinter unserem Brownstone ihr ins Fenster schauten.

»Schon bei dem bloßen Gedanken fühle ich mich geschändet«, sagte sie.

Den Blick in unseren Garten einzubüßen störte sie dagegen kein bisschen. Sie war ein Stadtkind, gebürtige New Yorkerin, und ich glaube, sie fand die Natur fast kitschig und sah sie als trivialen Zeitvertreib für Landeier wie meinen Vater an.

An diesem Nachmittag saß Mom erstaunlicherweise nicht auf dem Bett, wo sie sonst ihre meiste wache Zeit mit Lesen, Telefonieren oder der Arbeit an ihren Holzschnitten verbrachte. Deshalb fuhr ich fast aus den Sportsocken, als ihre Stimme von der anderen Seite des Zimmers her ertönte: »Ist mit Mr Price’ Toilettenartikeln alles in Ordnung?«

Sie stand beim Fenster, in einem ziegelroten Rollkragenpullover, der sie mit der Wand verschmelzen ließ. Eine Brise kam auf, teilte die Vorhänge ein wenig und schuf einen schmalen Lichtspalt im Bauch eines italienischen Festungswalls.

»Was sollte damit nicht in Ordnung sein?«, antwortete ich.

Sie ließ es dabei bewenden. »Hör zu«, sagte sie, »dein Vater weigert sich nach wie vor, jemanden für den Abriss des Klohäuschens zu bezahlen, deshalb hatte ich gehofft, du würdest das für mich machen.« Mit einem eleganten, kastanienbraunen Fingernagel bearbeitete sie ein Stück Schorf an ihrem Daumen. »Ich meine, schließlich ist es total verfallen, und ich gebe mir große Mühe, die Dinge hier auf Vordermann zu bringen.«

Sie zog die italienischen Ruinen beiseite und gab die New Yorker Ruine dahinter frei. Das hereinströmende Sonnenlicht blendete mich, aber einen seltenen Moment lang sah ich, was sie sah.

Das besagte Klohäuschen war immer da gewesen, ganz am Rand des Gartens. Im Moment fielen Lichtstrahlen durch die vergammelten Latten seiner Wände. Es war noch älter als das Brownstone und angeblich schon für die Holzhütte errichtet worden, die im damals ländlichen Dorf Yorkville an der Stelle unseres Hauses gestanden hatte. Dad vermutete, dass man es für die Handwerker und Arbeiter, die das Brownstone bauten (in dem es Wasserklosetts gab), stehen gelassen und das alte Ding dann aus irgendeinem Grund – Kosten, Sentimentalität oder Faulheit – nie abgerissen hatte.

1878, nach der Fertigstellung des Brownstone war das Klohäuschen aufgegeben, verriegelt, sich selbst überlassen worden. Nichts ging seitdem dort hinein, nichts kam heraus. Das heißt, außer einem Baum, dessen Samen klammheimlich durch die vergitterten Fenster und das Loch in der Klobrille geweht und auf den fruchtbaren Boden der menschlichen Exkremente gefallen war. Mit der Zeit war dieser Baum immer dicker und gröber geworden, in die Höhe geschossen und auf der Suche nach Licht zum Fenster hinausgewachsen. Schwer zu sagen, wie lange er für diesen Gefängnisausbruch gebraucht hatte, aber die Gewaltsamkeit seiner Flucht war im Fensterrahmen verewigt, wo der Baum sich durch die dünnen Eisenstäbe geschoben und sie wie eine große, knorrige, aus dem Bauch einer Gitarre hervorkommende Faust auseinandergedrückt hatte. Ein Baum, anders als ein Mensch, kann seine Vergangenheit nicht verbergen.

»Okay, wenn du willst, haue ich es kurz und klein«, sagte ich. »Aber dafür musst du mir morgen Frühstück machen – ein Omelett.«

»Ein Omelett?« Mom verschlief das Frühstück seit Jahren und überließ Quig und mich Morgen für Morgen unserem Schicksal.

»Ich meine, wenn du weißt, wie das geht. Mit Marmelade vielleicht. Oder irgendwas anderem. Egal.«

»Nein, Marmelade ist okay. Ich mach dir ein Marmeladen-Omelett.«

»Soll ich dir den Wecker stellen?«, fragte ich. »Oder einen Hahn mieten oder so?«

Sie schenkte mir ein widerwilliges Lächeln. »Und den Ast sägst du natürlich auch ab.«

Ich wusste, welchen Ast sie meinte. Es war ein unkontrollierter Auswuchs, ein missgestalteter, äderiger Borkenarm, den der Drecksbaum quer durch den Garten streckte, bis knapp unter den Rand ihres Fensters.

Seit Dad abgehauen war, hatte Mom die Ordnungswut gepackt. Putzen, Kalken, Ausmisten. Aber da sie jede Aufgabe scheute, für die man Maschinen oder Werkzeug brauchte, war sie wegen des Astes seit Monaten hinter mir her. Er hatte keine Blätter, blühte nie. Er war hässlich.

Es nervte mich (das war mein neues Lieblingswort), dass sie immer davon ausging, ich würde alle »Männerarbeiten« übernehmen, die Dad zu erledigen ablehnte, seit er ihr Vermieter war und nicht mehr ihr Mann.

»Was soll das heißen, dass ich ihn ›natürlich‹ auch absäge?« Ich ließ meine Stimme gereizt klingen. Es war ein alter Klang, aber er hatte einen neuen Namen: genervt.

»Na ja, du hast gesagt, du reißt die Ruine ab, und die gehören doch zusammen, oder etwa nicht?«

»Viele Dinge gehören zusammen, Mom. Meine Finger und meine Fingernägel zum Beispiel, aber das heißt nicht, dass ich mir dir zu Gefallen mit einem Bolzenschneider gleich den ganzen Daumen abkatsche, wenn du sagst, ich soll mir die Fingernägel schneiden.«

»Sei nicht so frech. Ich bitte dich bloß, einen Ast abzusägen.«

»Ich bin nicht dein Gärtner, Mom, also hör auf, mich zu schikanieren.« (Schikanieren hieß auch nerven, aber es klang viel toller.) »Ich meine, du kannst einen wirklich nervtötend schikanieren.«

Sie sah mich an, einen Anflug von Wasserspeierigkeit im Blick. »Und du bist kein besonders netter Junge.«

»Kann sein, aber ich bin der Junge, der entscheidet, ob dieser Baum gestutzt wird, schließlich wissen wir beide, dass du nicht gerade bündelweise Extra-Bargeld rumliegen hast, um jemanden dafür anzuheuern.«

Mom erschlaffte. Ihr Hals und ihre Schultern gerieten aus der Form, als wäre der Bilderdraht, an dem ihre Selbstbeherrschung hing, vom Haken gerutscht. Meine Geldbeleidigung war ein Schlag unter die Gürtellinie. Mom war pleite, und laut der Trennungsvereinbarung meiner Eltern, einem Dokument von nahezu biblischer Kraft, gehörten Dad drei Viertel unseres Hauses. Sie könne sich sogar noch glücklich schätzen, dass seine Anwälte ihr überhaupt das eine Viertel gelassen hätten, sagte sie, denn auf allen relevanten Papieren und Vermögenswerten ihrer Ehejahre habe allein Dads Name gestanden. Das sei aus Steuergründen besser so, habe er immer behauptet.

Nachdem er ausgezogen war, hatte Mom eine Teilzeitstelle im Kunstressort der Zeitschrift Life gefunden, ihre erste Stelle seit einem Studentenjob als Galerie-Assistentin. Nach den ersten Redaktionsschluss-Phasen kam sie immer mit rotgefleckten Händen nach Hause, vom Kampf mit der Heißklebemaschine, die sie für den Umbruch benutzten. (Ihre Weigerung, auch nur einen ihrer 37 Ringe abzunehmen, machte die Aufgabe nicht einfacher.) Obwohl sie binnen kurzem den Bogen bei der Sache raushatte – eine Leistung, die sie sichtlich mit Stolz erfüllte –, war die Stelle auf zwei Wochen im Monat begrenzt und brachte offenbar nicht viel ein.

Mom und ich hatten uns wohl ziemlich laut gestritten, jedenfalls streckte ein ganz zappelig und verlegen wirkender Mr Price den Kopf zur Tür herein.

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte er übertrieben fidel. »Ich hoffe, ich störe nicht, aber wenn es irgendwelche häuslichen Dinge zu erledigen gibt, würde ich mich liebend gern nützlich machen. Ich habe heute noch keine großen Pläne geschmiedet.« Und das alles mit diesem hochnäsigen britischen Akzent.

Ich wandte mich Mom zu. »Pass auf«, sagte ich, bemüht, wie der vernünftigste Junge der Welt zu klingen. »Lass mich erst mal die Ruine abreißen. Ob ich dann auch noch Lust habe, den Ast abzusägen, sehen wir später.«

Mr Price stand immer noch in seinem zerknitterten Anzug im Türrahmen und machte ein Gesicht wie die verdatterte Zweitbesetzung eines Butlers aus Masterpiece Theater, der seinen Text vergessen hat.

»Wir brauchen Ihre Hilfe nicht«, sagte ich und drängte mich an ihm vorbei.

Der Zutritt zu Dads Werkzeugschuppen war immer strengstens verboten gewesen – er war ein notorischer Geheimniskrämer –, deshalb machte es umso größeren Spaß, darin herumzustöbern. Zwischen den Beuteln mit Düngemittel und den Tontöpfen voll farbloser toter Pflanzenstängel gab es hier eine kunterbunte Werkzeugsammlung: einen verrosteten Spaten, einen Spachtel, ein krallenartiges Gerät mit weit gespreizten Fingern und etliches mehr. Als ich einen Sack Blumenerde verschob, um an die Brechstange heranzukommen, geriet einiges in Bewegung, hinter einem Karton mit Knochenmehl löste sich ein Brett aus der Wand, und ein weißer Plastikkasten kam zum Vorschein. Ich befreite den Kasten aus seinem Versteck und öffnete ihn. Er enthielt drei kleine chirurgische Sägen, jede in einer exakt ihrer Form angepassten Mulde. In der Mitte, ebenfalls ins Plastik gedrückt, war so ein Ärzte-Wappen mit zwei Schlangen, die sich um einen Asklepiosstab wanden.

Die krasseste Säge hatte einen dünnen Silbergriff mit einem fiesen Zahnrad am Ende, das sie wie eine Art morbiden Pizzaschneider aussehen ließ. Die gekrümmten Zähne waren mit einem körnigen, weißgrauen Pulver bedeckt, das sich ekelhaft anfühlte. Ich wischte mir schnellstens die Hand an der Jeans ab, machte den Kasten zu und schob ihn wieder in sein Versteck. Aus irgendeinem Grund kamen mir die Sägen wie Konterbande vor, oder Schlimmeres: Gegenstände, von denen man sich etwas einfangen konnte.

Wozu um Himmels willen mein Vater chirurgische Sägen brauchte, war mir ein Rätsel, aber ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Es schien mir das Beste, einfach das Brecheisen zu nehmen und anzufangen.

Vor sich hin faulend und nutzlos stand die Ruine am Rand unseres eingezäunten Gartens, eine düstere graue Lattenkiste, die den Stamm eines dicken, fetten Baums umschloss. Der Türknauf war vor Ewigkeiten entfernt worden, und eine Kette, die durch das so entstandene und ein weiteres, in die Wand gebohrtes Loch führte, hielt die Tür am Rahmen fest. Die Kette zu sprengen erwies sich als unmöglich, also rammte ich die Brechstange gegen die alten Angeln, die untere zuerst, die in einem Sprühregen aus Rost nachgab. Als auch die obere Angel brach, öffnete sich die Tür etwa einen Fußbreit. Ich zog sie ganz auf, wobei die Kette die Scharnierfunktion übernahm und die untere Türkante einen feuchten Blätterbogen über den Boden zerrte.

Und da stand er, der grobborkige Baumstamm, füllte den Türrahmen aus wie ein trotziger Märchentroll, der aus dem Mittagsschlaf geweckt worden war. Unwillkürlich strich ich über die harte Rinde, und meine Hand verharrte auf einem klumpigen, warzenartigen Auswuchs von der Größe und Form eines Gesichts.

Wie sich zeigte, war die Ruine in noch schlechterem Zustand als gedacht. Wo auch immer ich mit dem Brecheisen zustieß, zersplitterte das Holz augenblicklich, und ich ging wie ein Wahnsinniger auf die Bretter los, schwang das Eisen wie eine Axt, rammte es in die Wände wie einen Speer, trat schließlich die vordere Wand der Ruine ein und machte ihr mit wilden Karateschreien den Garaus: kiaaaaaawuuuuuu- HAA ! Als das Dach schließlich einstürzte, den schrägen Baumstamm hinunterrutschte und in den Dreck fiel, sprang ich zurück und begaffte das seltsame Bild, das ich geschaffen hatte.

Das Klohäuschen gab es nicht mehr, nur noch eine Kreuzschraffur aus verrotteten Holzteilen, die planlos um den dicken Stamm herum lagen. Dafür schien der Baum selbst vor neuer Kraft zu strotzen, aus dem Boden hervorzubrechen, sich nach links zum verschwundenen Fenster hin zu krümmen, durch das Eisengitter zu schießen und dessen schwarze Streben auseinanderzubiegen, die jetzt gut zwei Meter über dem Boden in der Luft hingen und eifersüchtig über eine Abwesenheit wachten. Innen war außen war innen.

Mir wurde gleich klar, dass ich keinen einzigen Teil dieses Baumes absägen würde, denn wie ich jetzt sah, konnte er mir dabei helfen, an meinem Bizeps zu arbeiten, um Dani Gardner auf mich aufmerksam zu machen, ein Mädchen aus der neunten Klasse, auf das ich ein Auge geworfen hatte. Nicht weit oberhalb des Fenstergitters wuchs jener deformierte Ast aus dem Baumstamm, der sich auf groteske Art und Weise bis zum ersten Stock unseres Hauses hinaufwand. Ein Teil von ihm verlief fast horizontal, wie ein natürliches Reck, und hier beabsichtigte ich mich zu dem gefürchtetsten Dreizehnjährigen von ganz New York City heranzubilden.

Mein Plan war es, einarmige Klimmzüge zu trainieren wie mein unangenehm sportlicher bester Freund Kyle. Aber ohne Hilfsmittel kam ich nicht an den Ast heran, also ging ich noch einmal in den Werkzeugschuppen zurück, wo ich eine Plastikkühlbox mit der Aufschrift DeCARLO FUNERAL HOME & CREMATORY gesehen hatte. Ich kannte Tony DeCarlo. Er war ein raubeiniger, stiernackiger Freund von Dad, der manchmal mit uns zu Mets-Spielen ging; einmal hatte er uns sogar in einem Leichenwagen zum Shea Stadion kutschiert. Er und mein Vater hatten viel füreinander übrig und zogen sich gern gegenseitig auf. Dad nannte Tonys Beerdigungsinstitut in der Mulberry Street immer den »Leichenladen«, und Tony sagte, sie verstünden sich so gut, weil sie beide mit Antiquitäten handelten. Aber bei aller Witzelei verdankte mein Vater DeCarlo eine Menge Kunden. Wann immer eine Witwe oder ein Witwer starb, gab Tony ihm frühzeitig Bescheid, damit Dad den trauernden Hinterbliebenen seine Dienste bei der Bewertung und dem Verkauf der Möbel und Erbstücke anbieten konnte.

Die Frage, warum Dad eine Kühlbox von DeCarlo hatte, kam mir gar nicht in den Sinn. Für mich zählte nur, dass sie genau die richtige Höhe hatte, um mich bei meinen einarmigen Klimmzügen zu unterstützen. Also schleppte ich sie durch den Garten bis unter das horizontale Aststück, stieg auf die Box und sprang hoch, um den Ast mit beiden Händen zu packen. Dann ließ ich mit der linken los und hing dort weniger als eine Nanosekunde lang, bevor ich abrutschte und auf der Kühlbox landete, woraufhin ein Haufen komischer eingepackter Klumpen aus deren Innenleben herauskullerten.

Mann!, sagte ich zu mir selbst. Was für eine schikanöse Kühlbox!

Aber sie war mehr als das; sie war ekelerregend. Den eingepackten Klumpen entströmte der Gestank von verwesendem Fleisch, und ich musste heftig würgen. Mit dem Turnschuh stupste ich sie wieder in die Kühlbox – wie ekelhaft –, knallte den Deckel zu und zerrte die Box in den Schuppen zurück. Ich ließ sie stehen, wo ich sie gefunden hatte, und machte, dass ich wegkam.

Kapitel 2

Im Heizkessel wohnten Dämonen, wütende Kreaturen mit Hammerhänden, die von Rostbröckeln lebten und unsere Familie mit ihrem Zorn warmhielten. Zu Zeiten ihrer schlimmsten Anfälle konnte man sie noch im obersten Stock unseres Brownstone zischen und poltern hören. Das war es auch, was mich am nächsten Morgen so brutal aus dem Schlaf riss.

Als der Mann im Haus war ich persönlich für die Pflege und Fütterung dieser Heizkesselbewohner verantwortlich, das hatte mein Vater hinreichend klargemacht. An dem Abend, als er auszog, war er mit mir in den klammen Keller gegangen und hatte mit seinem fleischigen Zeigefinger vor einem Rohr herumgefuchtelt, das an der Seite des Heizkessels klebte und mit rostbraunem Wasser gefüllt war.

»Egal was passiert«, sagte er, »du darfst den Wasserpegel niemals unter die waagerechte Linie auf diesem Rohr sinken lassen. Wenn du das nämlich tust …«

Er hatte seine Wangen wie ein Kugelfisch mit Luft gefüllt und mit den Händen eine dramatische Geste gemacht, die wohl in etwa so viel heißen sollte wie Krawumm!

Meine Aufgabe war es also, alle paar Tage den alten blauen Knauf am Kessel aufzudrehen und Wasser nachzufüllen, aber das laute Geschepper, das im Moment durch die Rohre des Brownstone bis in mein Zimmer im zweiten Stock herauf hallte, erinnerte mich daran, dass ich genau das seit Wochen nicht getan hatte. Außerdem hatte ich schon wieder verschlafen.

Ich schlüpfte schnell in meine Mokassins und lief in meinem kanariengelben Schlafanzug die dunkle Treppe hinunter, am Zimmer meiner Mutter vorbei, wo ich wie üblich nur einen schlafenden Kloß ausmachte. Klar. Ich hätte wegen des versprochenen Omeletts gar nicht erst auf sie zählen sollen. Aber ehe ich die ganze enttäuschende Erhabenheit ihrer Apathie überhaupt erfassen konnte, wurde ich beinahe von Quigley über den Haufen gerannt, die in einer billigen Unique-Clothing-Version des geblümten Morgenmantels, den Liza Minnelli in Cabaret trug, mit Riesenschritten die Treppe heraufgestürmt kam. Dies war einer jener Tage, an denen Quig sich sogar Lizas Showbiz-Leberfleck auf den linken Wangenknochen geschminkt hatte. Viel besorgniserregender allerdings war, dass sie einen Liter Milch und die, wie ich zufällig wusste, letzte Schachtel Carnation Instant Breakfast in den Händen hielt.

»Viel Glück dabei, was Essbares zu finden, Lahm…arsch!«, krähte Quig, kniff mir zur geistreichen Untermalung ihrer Worte im Vorbeiflitzen ins Gesäß und sauste in ihr Zimmer.

Dann sah ich auch schon, mit welcher Konkurrenz ich es zu tun hatte, denn aus dem WC im Erdgeschoss trat ein graugesichtiger Mann, warf einen Blick auf mich und schlurfte in seinen zerfledderten Espadrilles schnell ins Esszimmer. Das war Monsieur Claude, der Untermieter, der im dritten Stock wohnte. Er kratzte sich am Hintern und gähnte.

Monsieur Claude kratzte sich immer am Hintern und gähnte. Angeblich war dieser gelangweilte Franzose mit dem zottigen, schulterlangen Haar und den tiefliegenden Schlaglochaugen ein wahnsinnig faszinierender Globetrotter – »Er ist ein echter Lebenskünstler«, sagte Mom –, aber ich sah ihn immer nur in dieser schlabberigen grauen Jogginghose, aus der seine Poritze oben herausguckte, und die einzige Kunst, von der ich je etwas bei ihm mitbekommen hatte, bestand darin, dass er gleichzeitig den Rauch seiner Gauloise aus- und Rührei einatmen konnte.

Monsieur Claudes Neigung, jedes Ei in Sichtweite auf der Stelle zu inhalieren, wurde im Nu zu meiner Hauptsorge. Denn so sehr die Heizkesseldämonen meine Aufmerksamkeit benötigen mochten, mein leerer Magen war noch drängender.

Als ich ins Licht des Esszimmers trat, wurde mir sofort klar, was für ein Kampf es sein würde, etwas Essbares zu erbeuten. Auf dem großen runden Tisch lag eine bereits bezwungene Schachtel Count Chocula, und Mathis, der schwabbelige Nachrichtenschreiber von Associated Press, beugte sich wie eine halbzahme Seekuh über seine Schüssel.

»Kleiner Mann!«, verkündete er großspurig, als er mich sah. »Einen wunderschönen Morgen wünsche ich dir!« Und damit blickte er wieder nach unten und beschleunigte sein Tempo, ja schaufelte sich mit solcher Dringlichkeit Schokobällchen in den Mund, dass ich mich wunderte, warum die braune Milch keine kleinen Spritzer auf den runden Gläsern seiner Brille hinterließ.

Ich ging zögernd durchs Esszimmer. In der Küche hinter Mathis war Monsieur Claude schon dabei, eine Pfanne vom Herd zu nehmen und sich einen matterhorngroßen Berg Rührei auf einen meiner Hamburglar-Teller zu häufen. Er sang ein fröhliches französisches Lied, dessen Text wahrscheinlich so etwas bedeutete wie: »Verhungere doch! Verhungere doch! Du omelettloser, dummer kleiner amerikanischer Langschläfer, ha-HAA

Links von ihm war noch ein letztes, schwitzendes weißes Ei im Karton. Doch als ich mich in die Küche schlich, um es mir zu nehmen, trat Mr Price vor, der in einem schäbigen blauen Samtmorgenmantel außerhalb meines Blickwinkels beim Kühlschrank gestanden hatte, und schnappte sich das kostbare Rund. Mit einer einzigen geschickten Bewegung schlug er es in ein langes Glas, in dem sich irgendein Tomatensaftgebräu befand, und würzte dieses üble Elixier mit ein paar Tropfen dunkler Sauce aus einer in Braunpapier gewickelten Flasche. Dann reckte er das Kinn in die Höhe, setzte das Glas an die Lippen und trank den Inhalt mit straußenartigen Schlucken, die sich deutlich unter seinem dünnen, stoppeligen Hals abzeichneten, aus. Als der letzte Rest des Getränkes verschwunden war, würgte er, fing sich wieder, wischte sich den Mund an seinem Samtärmel ab und seufzte erleichtert auf.

»Ahhhhhh«, rief er gutgelaunt aus und sah mich mit derart blutunterlaufenen Augen an, dass es wehtat, seinen Blick zu erwidern. »Genau das Richtige!«

Die Rohre des Brownstone brachten sich jetzt mit einem lautstarken Rattern in Erinnerung und mahnten mich zur Eile, also schob ich mich wortlos an Mr Price vorbei und spähte in den Kühlschrank. Eine ziemlich öde Vorstellung: mickrige Gläser mit Kapern und Meerrettich, zwei vertrocknete Zitronen, ein Sortiment Käserinden.

Aber dann fiel mein Blick auf etwas wahrhaft Aufregendes: Oben auf dem Kühlschrank, nicht weit über meinem Kopf, befand sich, warum auch immer, noch ein zweiter Eierkarton, der einen Spalt offen stand.

Wer spät aufsteht, muss sehen, wo er bleibt, also langte ich, ohne meine Konkurrenz eines Blickes zu würdigen, nach dem Karton – bemerkte meinen groben Schnitzer aber sofort, weil mir tausend winzige Eierschalenstückchen wie Konfetti mitten ins Gesicht und auf meine Schlafanzugbrust regneten.

»Du liebe Güte!«, rief Mr Price, kam herbeigeeilt und half mit zögernder Hand, die Stückchen von mir abzufegen. »Wozu sind die denn gut?«

»Die sammelt meine Mutter für ihre Kunst«, sagte ich und versuchte, mir mit dem kleinen Finger ein spitzes Schalenstück aus dem Augenwinkel zu wischen. Es tat höllisch weh.

»Das verstehe ich nicht.«