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Marie Luise Knott

Dazwischenzeiten

1930. Wege in
der Erschöpfung
der Moderne

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Für Simon und Jakob

Inhalt

Die Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt

Eine Nummer sein
Erwin Piscators politisches Theater

Der Tod des Einzelnen | Aus einer anderen Zeit | Kein Nichts zu sein | Der Mensch, ein panisches Tier | Das stärkere Erlebnis des Daseins | Mitten im Lager der Bourgeoisie | Einstürzende Neubauten | Die Augen stopfen | Kommt alles untern Besen | Ach armer Yorick! | Spieglein, Spieglein | Epilog

Erwartet werden
Karl Wolfskehl und die Überlieferung

Vorgeschichten | Geheimes Deutschland | Enterbung, Neubeginn | Im Sound der Zeit | Erinnern, einbürgern | Vom Barock | Nachdichten, neudichten | 1930 – Der Paria | Das äußere Auge | Bloß zum Guck! | Schlagworte, Schlagreime, Schlagzeilen

Den Mut barbarisieren
Bertolt Brechts Zeit der Lehrstücke

Den Fragen auf den Fersen | … und dann kommt die Moral | Das Theater unkonsumierbar machen | Arbeiterkampftag 1. Mai | Vom Lehren und Lernen | Einverständnis – Hass – Verdächtigung | Das Jasagen | Über Unschuld, Schuld und Mut | Das Sterben lernen | Vom Individuum | Theater im Dividuellen | Der wohlige Seufzer der erschöpften Weinpflücker | Über das Mitleid | Die Motorisierung der Sprache | Damit ihr ausrechnen könnt, wo ihr steht | Der destruktive Charakter | Krisis und Kritik | Die Liebe – eine Ware

Erfinde! Erfinde!
Paul Klees Solidarität

Köstliche Bananen und Ananas | Sachlich, unsachlich | Reise ins Land der besseren Erkenntnis | Über Solidarität | Individuum, Dividuum | Das Jawort | Am Bauhaus | Kolleg halten an Feiertagen | Die Bauhaus-Krise | Tohuwabohu oder Über die Kunst der Subtraktion | Hand und Arm und Leinwand und Leben | Hab Sonne im Herzen | Das eigene Kraftfeld

Weiß vor Augen

Anhang

Die Wirklichkeit einer erfahrbaren Welt

Wenn ich etwas sage, verliert es sofort und endgültig seine Wichtigkeit (Fluch des Sprechens), wenn ich es aufschreibe, verliert es sie auch immer, gewinnt aber manchmal eine neue.

Franz Kafka

Es gab einmal eine Emilie, die wohnte in einem Raum. Wenn sie morgens aufwachte und aufstand, nahm sie sich zwei Fenster und hängte sie auf irgendeine Wand. Schon war es hell im Zimmer und sie konnte in eine Landschaft hinausschauen. War es ihr zu grell, zog sie die Vorhänge noch einmal zu und dann wieder auf. So kam Sonne hinein. Mit den Türen ging sie ähnlich vor. Doch da sie im 3. Stock wohnte, gab es Probleme, und so erdachte sie sich einen Balkon und definierte sich eine Leiter herbei, um rüstig zwischen Erde und Himmel herumzuklettern.

Emilie ist eine Kopfgeburt, erfunden von Kurt Schwitters. Ihre Fenster und Türen sind Schwellen – Dazwischenorte, Dazwischenwelten; Momente des Übergangs, in denen alles möglich scheint. Nicht erst Paul Valéry nannte solche Schwellen points de discontinuité – Orte der Plötzlichkeit, wenn man so will; und auch Emilie kann uns ein Liedchen singen von den Grenzen plötzlichen Erkennens im Dazwischen. »Wenn sie mit ihrem Fenster eine Innenwand traf«, so erzählt Schwitters, »blieb es natürlich dunkel.«

Tag für Tag bewältigen wir unser Dasein. Die reale Welt okkupiert uns. Wir essen, kochen, kaufen ein, wir arbeiten, verhandeln dies, entscheiden jenes. Das Dickicht der Gegenwart hält Schocks und Nöte bereit; wir verstricken uns in den unerbittlichen Anforderungen des gewöhnlichen Lebens und dabei bleibt es nicht selten dunkel. Doch da ist noch eine andere Welt: die Welt der Vorstellungen und Sinneseindrücke, die Welt der Anschauungen und der Begriffe, das Reich, das sich hinter Fenstern und Türen auftut. Hätte Emilie nicht die Fenster gehabt, hätte sie wohl zu anderen Mitteln greifen müssen, wie die jüngste Schwester in dem Märchen Fitchers Vogel der Gebrüder Grimm, die sich vor der Gewaltherrschaft des Zauberers nur in die Freiheit retten kann, indem sie ihren Körper erst in Honig und dann in Bettfedern wälzt. Doch in welche Fitchersvögel verwandelten sich die Künstler angesichts der gewaltigen Krise und wohin gelangten sie?

Nach wie vor beunruhigt die Frage, wie es geschehen konnte, dass der Sieg der Nationalsozialisten 1933 so beschämend einfach war. Und sie beunruhigt umso stärker, je mehr heutzutage einzelne Augenblicke Parallelen zur Zeit vor dem Ende der Weimarer Republik wachzurufen scheinen. Und je mehr heute selbsternannte Alarmisten und Autokraten Parallelen herbeireden.

Jedes Jahr besteht bekanntlich aus Milliarden lebendiger Augenblicke. Doch allzu lange haben wir uns, was das Jahr 1930 anbetrifft, weniger auf die Augenblicke denn auf den sich rapide beschleunigenden Strom der Geschichte konzentriert und darauf, wie er die Menschen in Deutschland erfasste – vom Börsencrash 1929 bis zur Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. »Unmerkbar« änderten sich die Vorzeichen, »unsichtbar« lagerten sich die Begriffe um, notierte Carl Einstein im Jahr 1930. Um einen Zipfel davon zu erheischen, was damals unmerkbar und unsichtbar geschah, werden in diesem Buch einige wenige der Milliarden lebendiger Augenblicke des Jahres 1930 stillgestellt. In jenem Jahr der Notstandsverordnung und der Verabschiedung des Young-Plans, der Auflösung des Parlaments und der Gründung der Frankfurter Schule erschienen Bücher wie Vom Gelde (Keynes), Die Angestellten (Kracauer), Einbahnstraße (Benjamin) und Der Mann ohne Eigenschaften (Musil). Mascha Kaléko – von der der Satz »Sie fühlen alle mit dem Gehirn!« überliefert ist – erschien im selben Jahr als neue Stimme am Dichterhimmel: »Gehöre keiner Schule an / Und keiner neuen Richtung, / Bin nur ein armer Großstadtspatz, / Im Wald der deutschen Dichtung. // Weiß Gott, ich bin ganz unmodern. / Ich schäme mich zuschanden: / Zwar liest man meine Verse gern, / Doch werden sie – verstanden!«

Wer wollte nicht verstanden sein in diesen Zeiten tiefer Verwirrung? Die alte Welt mit den alten Sitten war damals sowieso rapide im Niedergang: 1930 wurde die Ledigensteuer eingeführt und Papst Pius XI. bekämpfte in seiner Enzyklika Casti connubii das Vordringen der Knaus-Ogino-Verhütung – ein Kampf, der, wie man heute weiß, erfolglos war. Angesichts wachsender politischer Unruhen (oder war es pure öffentliche Geldnot?) wurde in Köln der Rosenmontagszug verboten; und aus der Angst heraus, Hollywood könne sich im Wettstreit um die Tonfilmtechnik auf dem europäischen Markt durchsetzen, tobte 1930 eine erste antiamerikanische Welle durch die hiesigen Feuilletons.

In Deutschland herrschte ein Vakuum, nicht nur im Magen und im Geldbeutel der Arbeiter und Arbeitslosen, nicht nur in den Gemeinde- und Staatskassen; nicht nur in den Theatersälen und politischen Ideen. Notverordnungen unterhöhlten die parlamentarische Demokratie; Straßenschlachten verheerten den öffentlichen Raum. Die Welt zwischen den Menschen erodierte: »Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute«, sang Ernst Busch, bedichtete Bertolt Brecht 1932 die Lage. Während die Gemeinschaft zusammenbrach und den Menschen angesichts von Furcht und Elend die Vorstellungen ausgingen, boomte die technische Moderne, die Moderne der Industrialisierung und Arbeitsteilung, der Wirtschaftspläne, der Medien und der Massen-Manipulationen: 1930 war das Jahr der ersten Tönenden Wochenschau und Gödels Aufstellung des Unvollständigkeitssatzes; das Jahr der Postulierung der Antimaterie und der Entdeckung von Pluto. Es war das Jahr, in dem über Kurzwelle das erste Bildtelegramm von Berlin nach Nanking übertragen wurde, Manfred von Ardenne im Laborversuch die weltweit erste vollelektronische Fernsehübertragung mit einer Kathodenstrahlröhre gelang, das Jahr des Pariser Tonfilmabkommens und das Jahr, in dem Wolfgang Pauli die Existenz von Neutrinos behauptete. In welchem rettenden Honig und in welchen Gänsefedern wälzten sich die Künstler in dieser Dazwischenzeit?

Das wahre Bild der Vergangenheit husche vorbei und es gelte, sich immer neu einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitze, so formulierte es Walter Benjamin. Das Buch stellt die Frage, ob man sich des Vergangenen wieder und anders bemächtigen kann, wenn man die Zeit fixiert wie in einem Film-Still. Ob wir uns einen neuen Begriff der Gegenwart machen können, wenn wir in unseren Denkversuchen wie in Zenos Paradox die Zeit einstehen und zum Stillstand kommen lassen? Und vor allem: Kann man, wenn man nicht vom Gang der Geschichte, sondern vom Augenblick her denkt, auch die den Augenblicken einst innewohnenden Freiheiten zurückgewinnen?

Die vier hier versammelten Essays sind Versuche, Momente des Jahres 1930 aus der Kontinuität der Geschichte herauszulösen. Sie erkunden das Tun und Lassen von vier Künstlern – Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee. Diese Personen repräsentieren nichts als sich selbst; ihre Auswahl ist in der Sache kontingent, sie folgt keiner Notwendigkeit und hat doch ihre eigene Melodie. Die vier künstlerischen Wege sind nicht repräsentativ, doch exemplarisch: Dem großen modernen Theater von Erwin Piscator und seiner motorisierten und elektrifizierten Mehr-Etagen-Bühne ging das Licht aus. Dem Schriftsteller Karl Wolfskehl zerstob sein »geheimes Deutschland«. Bertolt Brecht begrüßte die Krise und barbarisierte das Theater, in der Hoffnung, die Kräfte der Gegenwart zu stärken. Ein Paradox. Und Paul Klee erfand in diesen Zeiten, in denen die Leute zu ahnen begannen, dass ihnen Hören und Sehen ebenso wie Gehört- und Gesehen-Werden vergehen könnte, ein neues Spiel.

Alle Beiträge handeln vom Abhandenkommen von Welt, von unmerklich gebliebenen Verschiebungen und von den vielen kleinen Vertreibungen, die es bereits im Jahr 1930 gab: Karl Wolfskehl stieg in einen Zug nach Italien, Erwin Piscator begab sich unter Schutz und Schirm der Partei der Arbeiterklasse, Bertolt Brecht trieb sein Theater in den Ausnahmezustand und Paul Klee vertrieb sich aus dem Reich seines bildnerischen Komponierens. Kräfte der Destruktion waren am Werk. Das Neue, das in der Kunst aufschien, infizierte sich an den sich barbarisienden Verhältnissen. Die Fenster und Türen waren von keiner günstigen Sonne beschienen, sie boten sich dem Sturm der Auseinandersetzungen dar. Das radikal Neue, das es 1930 in der Kunst tatsächlich – auch – gab, fand nach 1930 keinen Raum mehr, sich weiter zu entfalten. Der Sieg der Nazis war die Zerstörung einer Zukunft, die Zerstörung all dessen, was im Jahr 1930, in der Erschöpfung der Moderne, neu versucht und bedacht wurde, und all dessen, was eigentlich, wäre es mit rechten Dingen zugegangen, neue Anfänge hätte stiften können. Doch die Avants dieser Zeit fanden keine Garde. Auch davon handelt das Buch.

Eines der Experimente beim Forschen, Konzipieren und Schreiben der vier Essays bestand darin, sich von den dramatischen Bildern des Zeitgeschehens nicht anziehen und nicht blenden zu lassen, sondern die Stills nach und nach immer »stiller« werden zu lassen. Man muss sich, will man dem Verlorenen auf die Spur kommen, davor hüten, in die große Politik auszuweichen. Auch 1930 ging das Leben weiter, es radikalisierte sich; beinahe täglich gab es dramatische Nachrichten: vom drohenden Scheitern der Umschuldungsverhandlungen, vom bevorstehenden Staatsbankrott und von den Sturzflügen der Börsenkurse. Die Wirtschaftspläne, so formulierte es Walter Benjamin, waren im Moment ihres Entstehens bereits Makulatur und dennoch schlossen die Menschen immer weiter Wetten aufs bankrotte Heute.

Kunst mit ihrem Apell an alle Sinne hat die Fähigkeit, tektonische Verschiebungen auch dann zu erfassen und ins Bild zu setzen, wenn sie nicht (oder noch nicht) bezeichnet und begriffen – in Begriffe gefasst – werden können. Gerade von diesem Ringen handelt das Buch. Es lebt vom Hinhören und Hinsehen. Und davon, sich in der Sache »plump« zu stellen. Der Essay entflamme sich, hat Adorno einmal gesagt, ohne Skrupel an etwas, was andere schon getan haben. Und tatsächlich: Was ist nicht alles über das Ende der Weimarer Republik schon geschrieben worden? Über die vier Protagonisten existieren großartige Expertisen. Insofern ist nichts in diesem Buch neu. Neu ist die Art der Erzählung, die Stillstellung inmitten des rasanten Tempos der Zeit, davon ausgehend, dass die Künstler vielleicht – frei nach Hannah Arendt und Walter Benjamin – die Einzigen sind, die sich auch in finstersten Zeiten ihren Glauben an die Welt erhalten müssen. Sie können sich Weltentfremdung nicht leisten. Oder doch? Wie nahmen die Künstler die Krise wahr, die Krise ihrer Zeit und vor allem: die Krise ihres Schaffens in dieser Zeit? Was erkannten und erspürten sie, wie viel ihrer Moderne zerbröselte ihnen quasi zwischen den Fingern, was ahnten sie?

Wir erzählen uns in die Welt und aus ihr heraus. Auch wenn es den Künstlern nicht immer gelingt, uns Fenster, Türen und Himmelsleitern zu erfinden: Ihre Werke tragen wesentlich dazu bei, den öffentlichen Raum, also das verlorene Terrain gemeinsamer Übereinkünfte, zurückzuerobern. Wir können teilhaben an ihren Weltbefragungen, können gemeinsam mit ihnen gegen das Vordringen all der tyrannischen Bilder das Vorhandensein einer erfahrbaren Welt verteidigen. Mit jeder kleinen Erzählung, welche die große Erzählung des Scheiterns und Zusammenbruchs unterbricht und sich dem Augenblick der Gefahr aussetzt, kann »neues Spiel« (Klee) aufscheinen.

Die Frage nach der Parallele der Zeiten – 1930 und heute – schwingt hinein. Und man stellt fest: Das Buch liefert keinerlei Rückschlüsse, aber viel Stoff. Als die Nazis die Konzentrationslager errichteten, hatte der europäische Geist längst jene Geisteswelt erschaffen, die Auschwitz möglich machte. Doch indem wir – und sei es für den Moment einer Erzählung – vom Ende absehen und aus dem Strom der Geschichte Dazwischenzeiten herauslösen, erhalten die (damals wie heute) jedem Augenblick innewohnenden Möglichkeiten neue Konturen, die Gegenwart wird frei und die Zukunft wieder, was sie ist: rätselhaft, unerwartet, unvernünftig.

Eine Nummer sein

Erwin Piscators politisches Theater

Hoffnung ist immer eine Fessel, Hoffnung ist immer Unfreiheit. Ein Mensch, der auf etwas hofft, ändert sein Verhalten und verstellt sich öfter als ein Mensch, der keine Hoffnung hat.

Warlam Schalamow

Es ist ein Phänomen, welch schillerndes Dasein im Deutschen das Wort »Nummer« führt. Zuallererst ist eine Nummer einfach eine Nummer, also eine Zahl, die einen einmal gesetzten Wert bezeichnet: 1 + 1 = 2. Zum Zweiten ist eine Nummer nicht nur ein Geschlechtsakt, es gibt sie auch in Zirkus oder Varieté. Und dann gibt es noch die Nummer, die der Kleinverbrecher schiebt. Daneben aber hat sich im Volksmund die Personenbeschreibung »Das ist ’ne Nummer« eingebürgert, womit man sagen möchte, dass jemand eine spezielle Person ist, also ein eigenwilliges Wesen, manchmal auch leicht verrückt. In diesem »eine Nummer sein« schwingt neben Distanz immer auch Hochachtung mit, weil der- oder diejenige zumindest einen Charakter hat. Vielleicht gar eine »große Nummer« ist. Anders ist es, wenn jemand »nur eine Nummer« ist, also austauschbar, nichts als eine Zahl in einem fremdherrschaftlichen Ordnungssystem. Eine Stempel-Nummer. Eine Lager-Nummer. Das kleine Wörtchen »nur« trennt die Person, die sich öffentlich exponiert, von der Person, die genichtet ist, bei der also nichts Eigenes mehr »durchtönen« soll.

In der Geschichte des großen Bühnenrevolutionärs der Weimarer Republik, Erwin Piscator, fließen mehrere dieser Aspekte ineinander. Er war »’ne Nummer«. So aufregend neu und kontrovers wie bei ihm ist politisches Theater in Deutschland nie gewesen. Dann, am 30. Januar 1931, als er vom Gerichtsvollzieher und von Polizeibeamten in seiner Wohnung verhaftet wurde, war er eine Vorgangsnummer. Diese Nummer ließ sich die Presse nicht entgehen. Eine Nacht lang saß der große Piscator, der 1927 in Berlin mit hohen Erwartungen und entsprechendem Tusch sein eigenes Theater, die Piscator-Bühne, eröffnet hatte, im Charlottenburger Schuldturm ein, weil er die angefallene Lustbarkeitssteuer in Höhe von 16 000 Reichsmark nicht hatte zahlen können. Zu dem Zeitpunkt, da er 1930 den ökonomischen Offenbarungseid hätte leisten sollen, war er in Moskau. Als die Beamten mit der grünen Minna schließlich vorfuhren, in seine von Walter Gropius ausgebaute Wohnung eindrangen und ihn mitnahmen, prangten Fotos der Festnahme auf der ersten Seite der Abendzeitung und im Interview klagte Piscator lautstark gegen das seinem Theater widerfahrene Unrecht: Warum war ein Konsortium wie das Theater von Max Reinhardt von diesen Steuern befreit?, so beschimpfte er das, was er Klassenjustiz nannte.

Piscator merkte es offensichtlich nicht: Schon vor der Verhaftung in Berlin-Grunewald war seine Ära nicht nur finanziell sondern auch theatralisch zu Ende – auf den Tag genau 2 Jahre bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Piscator verbrachte nur eine Nacht im Turm. Am nächsten Tag, welch Ironie der Geschichte!, kaufte der Großindustrielle Ludwig Katzenellenbogen den Begründer des proletarischen Theaters frei.

Der Tod des Einzelnen

»Der Krieg! Ich kann das nicht so schrecklich finden! Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik«, so kommentiert bei Kurt Tucholsky ein französischer Diplomat 1925 zynisch seine Zeit.1 Piscator selbst fasste das eigene Erleben des Ersten Weltkriegs in Zahlen, allerdings nicht aus Zynismus, sondern um es sich auf Distanz zu halten. Am 4. August 1914 habe jene Tragödie begonnen, die sein ganzes Kunstschaffen bestimmen sollte; mit der Bewilligung der Kriegskredite durch die Sozialdemokratie also: »Von da ab stieg das Barometer: 13 Millionen Tote, 11 Millionen Krüppel, 50 Millionen Soldaten, die marschierten, 6 Milliarden Geschosse, 50 Milliarden Kubikmeter Gas. Was ist da ›persönliche Entwicklung‹?«2 In den Chiffren also fasste Piscator die Katastrophe und kaschierte zugleich Grauen und Ängste, weil er, selbst Soldat im Ersten Weltkrieg, durch die Uniform zur Nummer gemacht, den Schock über die Entpersönlichung und das sinnlose Sterben ebenso wenig fassen konnte wie das eigene zufällige Überlebt-Haben. Und weil er wie so viele das Gesehene nicht loswurde. Überall gab es jetzt die Bettler und Krüppel auf den Straßen. Der Krieg überschattete die gesamte Weimarer Republik. Wie kann man sich von etwas lösen, was man nicht als Erfahrung denken kann? Wie aber soll man ihn bedenken, den Blick in den Abgrund, über den sich die Menschen hangelten?

1914, als der Kaiser dazu aufrief, keine Parteien, sondern »nur noch Deutsche« zu kennen, war Piscator 21 Jahre alt. Er war dabei gewesen – beim dreckigen Sterben im Schützengraben, beim Massensterben im Gaskrieg, als man sich »einen Weg der ›Idee‹ durch lebendige Menschen«3 (Tucholsky) hackte. Der Schock darüber, dass nichts mehr unmöglich schien, was Menschen einander antaten, der Schock auch darüber, wie gleichgültig die Menschen einander gemacht wurden – die Erfahrung solcher Überwältigung prägte Piscators Theaterschaffen.

Aus einer anderen Zeit

Anfang 1919 ist die Münchner Alte Pinakothek eine Pilgerstätte. Hunderttausend Menschen drängeln sich auf den Treppen und durch die Flügeltüren und schieben sich drinnen an einem Bildensemble vorbei, das während des Krieges – aus Sicherheitsgründen, wie es hieß – aus dem Elsass nach Bayern verbracht worden war: Matthias Grünewalds Isenheimer Altar, um 1510 für ein Antoniterkloster gemalt. Thomas Mann, Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke und Claire Goll sollen dort gewesen sein. Eine Offenbarung. Da hatte jemand Jahrhunderte zuvor dem Schmerz seiner Zeit leibhaftigen Ausdruck verliehen und nun, in ihrem eigenen Leid, wurden die Menschen magisch davon angezogen; wieder und wieder besahen sie sich die Dämonen, die an die eigenen Schreckensgesichte gemahnten. Ihre Augen betasteten die gepeinigten Kreaturen, fühlten mit der ohnmächtigen Maria, erkannten die Demut des zeugnisgebenden heiligen Johannes, sahen den als Sonnenlicht auferstehenden Christus, der vom morgigen Tag oder vom Jüngsten Gericht kündete.

Grünewalds Gemälde sind Gleichnisse und nichts benötigten die sprachlosen Menschen 1918 so dringend wie gleichnisgebende Bilder, Töne oder Worte, um mit Leid, Schmerz, Apathie und ihrer ganzen bleiernen Zeit nicht allein zu sein. »So reiß mich aus den Ängsten«, hieß es bei Bach, »kraft deiner Angst und Pein.« Ob das half? Der Schriftsteller Nikolaus Schwarzkopf erinnert sich: »Hier in München stand eine Riesenschlange von Menschen, die von Polizisten truppweise eingelassen wurde. Wer herauskam, war gerührt, erbaut, ergriffen, war erregt wie nach einem Verhör. In den Augen eines Frontsoldaten (…) sah ich Tränen.«4 Da die Tafeln, ursprünglich für Altarhöhe gefertigt, auf dem Fußboden standen, knieten viele der Besucher nieder. Sie suchten und erkannten sich und die eigene apokalyptische Zeit. Ihr Leid, hier war es vorhergesehen. »Der Finger des Johannes«, schreibt Canetti später, »weist darauf hin, das ist es, das wird es wieder sein.«5

Ob Erwin Piscator den Isenheimer Altar damals in München gesehen hat, ist unbekannt. Er war im Krieg an der Front gewesen. Während andere, wie Gottfried Benn und Carl Sternheim, in Brüssel in der Verwaltung hockten und wieder andere fürs Rote Kreuz arbeiteten, schrieb »Landsturmmann Erwin Piscator« unmittelbar von der Front Gedichte. In der Zeitschrift Die Aktion erschien unter der Rubrik »Verse vom Schlachtfeld« 19156:

DENK AN SEINE BLEISOLDATEN

Mußt nun weinen, Mutter, weine –

War ein Knab, als er noch kleine,

Spielte mit den Bleisoldaten,

Hatten alle scharf geladen,

Starben alle: plumps und stumm.

Ist der Knab dann groß geworden,

Ist dann selbst Soldat geworden,

Stand dann draußen in dem Feld.

Mußt nun weinen, Mutter, weine –

Wenn du’s liesest: »Starb als Held.«

Denk an seine Bleisoldaten …

Hatten alle scharf geladen …

Starben alle: plumps und stumm …

Ob seine Bleisoldaten und die ganze Weltgestaltersehnsucht seines Kindheitszimmers der Anfang von Piscators großem Theater waren? Im illusionären Theater daheim waren die Bleisoldaten, den Einbildungswelten des Jungen gehorchend, gestorben, um am nächsten Tag – Hastdusnichtgesehen! – in neu entworfenen Schlachtordnungen zu neuem Spiel-Leben wieder aufzuerstehen. Im Krieg erfuhr Piscator das real finale Sterben, plumps und stumm und uniform. Soldaten wohnen in Kanonen. »Der Soldat als ›Kämpfer‹ verschwand hinter der Maschinerie der Technik, sein Beitrag als Einzelner wurde irrelevant. Ihm blieb beim Beschuss durch den Gegner nur das Abwarten, was den Eindruck des hilflosen Ausgeliefertseins an eine nicht beeinflussbare Gewalt provozierte.«7

Wer an einer Front steht, mechanisiert sich. Er tut sich angesichts der unmittelbaren Lebensgefahr schwer, die eigene Situation in einen Gedanken oder gar eine Handlung zu überführen. Er macht sich allzu bereitwillig uniform. Denn eine Uniform gibt dem gebrechlichen Menschenkörper Halt und Auftrag. Man ist schließlich nicht mehr man selbst – wie sollte man auch, angesichts der Allgegenwart von Gewalt.

Ende der 1920er Jahre lebten in Deutschland die Bilder aus der Kriegszeit gespenstisch wieder auf: in Straßenaufmärschen wie in der Beschwörung vom »Kameradschaftsgeist«; die Worte wurden immer lauter, sie uniformierten sich. Feindbilder wucherten und sorgten dafür, dass der Einzelne sich ebenso wie den Anderen mehr und mehr aus den Augen verlor.

Kein Nichts zu sein

Mit dem Ersten Weltkrieg, diesen »letzten Tagen der Menschheit«, wuchs die Sehnsucht nach rettenden Utopien. Für Piscator waren die traumatischen Kriegserfahrungen Antrieb von allem, was er später tat und dachte, wie er schrieb. Sein Proletarisches Theater wollte aufbegehren, sich der Idee der Revolution unterstellen. Der russische Separatfriede hatte große Zeichen der Hoffnung gesetzt in einer Zeit, da die Einbildungskraft des Einzelnen im Schützengraben zerstob. Konnte man vom Standpunkt der Zukunft, also der Arbeiter- und Soldatenherrschaft, die Wirklichkeit neu ins Bild setzen – die (bildlich gesprochen) unvorstellbare Schützengraben-Erfahrung in ein politisches Theater überführen und so, sich der Arbeitersache verschreibend, das Proletariat und die eigene Einbildung probe- und stückweise ermächtigen? Als Revolte? Mochten die Verhältnisse tausendmal stärker sein als der Einzelne, das »politische Theater«, das »seine Arbeit in den Dienst des Kampfes der proletarischen Klasse stellt«, schrieb er noch 1930, stehe »unverrückbar«.8

Schon 1919 hatte Tucholsky geäußert, dass man zu einem Volk nicht ja sagen könne, das noch immer in einer Verfassung war, die, »wäre der Krieg zufälligerweise glücklich ausgegangen«, das Schlimmste hätte befürchten lassen. Ein Land, das »von Kollektivitäten besessen« war und dem »die Korporation weit über dem Individuum« stand, damit machte man keinen Staat für alle.9 Und er hatte recht: Tatsächlich brauchte die junge Weimarer Republik keine Kollektive oder Korporationen, die das Bewusstsein der Menschen regierten. Sie brauchte dringend Menschen, die sich nicht als Uniformträger betrachteten, die wegen keiner »Idee« über Leichen zu gehen bereit waren, sondern sich hier und heute dafür ausrüsteten, an die res publica glaubend, sich in ihrer Einzigkeit als Handelnde und Urteilende zu imaginieren. Die Republik brauchte Menschen, die sich als demos verstanden; Menschen, welche die demokratischen Ideale und die Verfassung kraftvoll hätten verkörpern können und kraft ihrer Einbildungs- und ihrer Urteilskraft Pluralität hätten walten lassen wollen. Doch tatsächlich war die Republik bei ihrer Gründung von Kriegs wegen unterminiert. Sosehr Kaiser Wilhelm auch gemahnt hatte, es gelte, den Platz zu bewahren, auf den Gott »uns« gestellt habe – die Menschen hatten im Krieg nicht nur ihren Gott, sondern auch ihren gedachten Platz in der Welt verloren. Das Ich schien unrettbar. Einst hatte der christliche Glaube, der jeden Menschen als Geschöpf und Ebenbild Gottes begriff, die Einzigkeit und Gleichwertigkeit eines jeden Menschen behauptet, doch diese göttliche Idee, die sich zur Zeit der Aufklärung in der Erklärung der Menschenrechte fortgesetzt hatte, sie war zerstoben. Umsturz, Putsch, Streik, Inflation, Gewalt, Hunger und Not hielten die Bürger in Bann.

Piscator wollte dem proletarischen Theater überantworten, was der Gesellschaft fehlte: »Aus Mangel an Phantasie erleben die meisten Menschen nicht einmal ihr eigenes Leben, geschweige denn ihre Welt. Sonst müsste die Lektüre eines einzigen Zeitungsblattes genügen, um die Menschheit in Aufruhr zu bringen. Es sind also stärkere Mittel nötig. Eins davon ist das Theater«10, schrieb er später in seiner Autobiografie und fühlte sich in bester Gesellschaft mit den sowjetischen Theaterrevolutionären. So dringlich wie Meyerholds: »Ich möchte im Zeitgeist brennen. Ich wünschte, alle Diener der Bühne wären sich ihrer hohen Mission bewusst. Ja, das Theater könnte eine riesige Rolle beim Umbau alles Bestehenden spielen«11, so brannte auch Piscator dafür, Theater im Dienste des Umsturzes zu machen.

In den Stürmen Ende der 1920er Jahre spitzte sich auch die Krise um die Einzigkeit des Menschen zu. Die Republik stand bereits im Zeichen ihrer Niederlage; und in steigendem Tempo ging den Menschen die Arbeit aus. Neben Not und Apathie wuchsen Wut und Empörung. Am 20. Januar 1930 musste sich Deutschland in der Haager Schlussakte verpflichten, seinen internationalen Schuldnern bis 1988 jährlich zwei Milliarden Reichsmark in Devisen zu zahlen. Wie dieses Land das leisten sollte, zumal damals die Auslandsinvestitionen schwanden, wusste niemand. Der von der NSDAP initiierte Volksentscheid gegen die Haager Akte scheiterte knapp, brachte aber den Nationalsozialisten im Laufe des Jahres 1930 enormen Zulauf.