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Kurzbeschreibung:

Eine ergreifende Geschichte über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen der zehnjährigen SS-Tochter Emilie und der achtzehnjährigen KZ-Insassin Anna. Tragisch-komisch erzählt und zu Tränen rührend! Für Leser_Innen von John Boyne und Markus Zusak!

Emilie ist zehn, als sie mit ihrer Familie umziehen muss. Ihr Vater wird Sicherheitsbeamter im sogenannten „Judendorf“ - ein für Emilie rätselhafter Ort mit seltsamen Menschen und Schnee, der sogar im Sommer fällt. Ganz besonders merkwürdig und rätselhaft ist das jüdische Hausmädchen Anna. Sie ist groß, mager wie eine alte Kuh und blass wie ein Gespenst. Aber langsam entwickelt sich eine außergewöhnliche Freundschaft, die einem der beiden Mädchen zum Verhängnis wird ...

Agnes Christofferson

Zwei Leben





Edel Elements

Kapitel 1

Emilie Lauenstein, eine reiche Witwe, war nicht groß und nicht klein. Sie war auch nicht dick oder dünn. Aber sie war alt. Sie war sechsundachtzig. Plus/minus ein paar Jahre, denn sie sprach nicht gerne über ihr Alter. Stattdessen dachte sie sich, dass es sinnlos sei, an Zahlen festzuhalten. Zahlen änderten sich doch nur ständig.

Die Erinnerungen an ihr Leben waren verblasst. Wie ein Traum, an den man sich beim Aufwachen nur noch unvollständig erinnert. Und das war schon schlimm genug.

Nur noch schemenhaft konnte sie sich ihre Kindheit ins Gedächtnis rufen. Ihre Mutter war einst Sängerin gewesen und eine wunderschöne blonde, groß gewachsene Frau mit einem Hang zum Alkohol und schönen Kleidern. Emilie war als Einzelkind aufgewachsen. Ihre Mutter fand, dass eine Schwangerschaft ganz furchtbar die Figur ruinierte. Und das, obwohl damals, in den 1940ern, viele Kinder zu gebären, ein gewisses Ansehen genoss. Doch ihre Mutter wollte eben keine furchtbar ruinierte Figur.

Emilies Vater war zu Lebzeiten ein ebenso fürsorglicher wie strenger Mann gewesen. Und zornig auf die Gesellschaft, weshalb er zur SS ging, wo er eine steile Karriere machte. Ihr Vater konnte sehr zielstrebig sein, was ihm Ansehen bei der feinen Gesellschaft einbrachte. Er trug eine schicke Uniform und die Menschen hatten Respekt vor ihm. Manchmal, wenn es Juden waren, liefen sie sogar weg.

Doch obwohl manche Leute vor ihrem Vater wegliefen und ihre Kindheit politisch geprägt war, wuchs Emilie sehr behütet auf. Ihrem Vater war die Familie sehr wichtig und so sah er darüber hinweg, dass ihre Mutter einen Hang zum Alkohol hatte.

Es gab einige Dinge im Leben Emilies, die sie nicht mochte. Was sie nicht mochte, waren ungebetene Gäste. Vertreter oder Zeugen Jehovas zum Beispiel. Zeugen Jehovas mochte sie nicht, weil sie so schwierige Fragen stellten. Ob man an Gott glaube. Oder ob man die Bibel lese. Die wollten es immer ganz genau wissen. Das Einzige, was Emilie las, waren die Beipackzettel ihrer Medikamente. Und die waren schon kompliziert genug.

Was sie dagegen mochte, war ihre Siamkatze Cleo und ihr neuer Chauffeur Kaya, weil er ein geduldiger, ruhiger Mann war. Er regte sich nie auf, redete nie schlecht über andere und verhielt sich stets diskret. Emilie war sich sicher, dass er von einem anderen Planeten stammte. Doch tatsächlich war er Türke. Für Emilie lief das jedoch auf dasselbe hinaus. Kaya war ein großer, gepflegter Mann Ende dreißig, war verheiratet und hatte zwei Kinder.

Manchmal blickte Emilie in den Spiegel und fragte sich, was aus ihr geworden war. Früher war sie eine echte Schönheit gewesen: groß, mit ansehnlichen Kurven und grandiosem Busen. Nun ähnelte sie einer Rosine; sie war verschrumpelt und vertrocknet. „Ich bin einfach nur eine alte Schachtel“, murmelte sie. „Ja, das bin ich. Eine alte, verknöcherte Primadonna. Das bin ich.“

Ihre Katze schmiegte sich an ihre Beine und miaute leise, als wollte sie ihr zustimmen. Emilie beugte sich zu ihr hinab und kraulte das Tier hinter dem Ohr. „Brave Cleo“, sagte sie leise. „Du bist das Einzige, was mir noch geblieben ist.“

Was so nicht stimmte, denn sie hatte einen Sohn und zwei Enkel. Doch die Enkel waren mittlerweile erwachsen und ließen sich nur an Feiertagen blicken. Und Emilie gehörte zu den Menschen, die ab und an in Selbstmitleid versanken. Wenn auch nur ganz kurz und nicht so oft.

Emilie erhob sich träge. Es zwickte und drückte an verschiedenen Stellen. Die Gelenke knackten wie trockenes Holz. Manchmal hatte sie Angst, ihr würden beim Aufstehen alle Knochen brechen. Zu altern war eben ein Jammer.

Manche behaupteten, Emilie wäre ein wenig verrückt. Vielleicht stimmte es sogar. Schließlich unterhielt sie sich mit ihrer Katze und ihren Pflanzen. Aber sie kam nie mit den Tagen durcheinander. Heute war Samstag. Und sie hatte sich ihren Mantel übergezogen und ihren Gehstock gegriffen. Sie schlurfte zum Fenster und linste hinaus. Kaya wartete bereits vor der schwarzen Limousine.

Im Grunde war die Limousine viel zu protzig für eine verschrumpelte alte Frau. Aber Emilie Lauenstein war extravagant. Nur weil sie sechsundachtzig – plus/minus ein paar Jahre – war, musste sie doch nicht auf die Annehmlichkeiten des Lebens verzichten. Mit einem Gehstock in der einen und einer Handtasche in der anderen Hand machte sie sich auf den Weg. Bis nach draußen war es eine gefühlte Weltreise. Entweder lag es daran, dass die Villa zu groß oder Emilies Beine zu kurz waren. Da war sie sich nicht sicher. Sicher war, dass der Weg nach draußen immer länger wurde.

Kaya hielt ihr die Autotür auf. „Guten Morgen, Frau Lauenstein. Wie geht es Ihnen heute?“

„Kann ich noch nicht sagen“, murrte Emilie, „aber ich bin noch nicht tot. Glaube ich.“

„Soll ich Sie zum Friedhof fahren?“, fragte der Chauffeur höflich.

„Darauf warten Sie doch nur“, murmelte sie, während sie ins Auto stieg. Laut sagte sie: „Sie wissen doch, dass ich samstags das Grab meines Mannes besuche.“ Und ganz leise, kaum hörbar, fügte sie hinzu: „Der mit knapp siebzig auf einer großbusigen Blondine starb.“

„Natürlich. Möchten Sie unterwegs Blumen besorgen?“

„Ja. Wieso eigentlich nicht, junger Mann? Ein bisschen Kraut macht das Grab schöner.“

Die Luft in der Limousine war stickig, denn Kaya hatte die Heizung voll aufgedreht. Seufzend ließ sich Emilie auf den Ledersitz fallen. Mit finsterer Miene lehnte sie sich zurück. „Sorgen Sie bitte für frische Luft“, bat sie.

Der Chauffeur ließ die Fenster ein Stück runter, dann manövrierte er das Auto aus der großen Einfahrt und bog auf die Hauptstraße ab. Hinter der Scheibe erstreckte sich eine gepflegte Straße mit hübschen Häusern. Sanft geschaukelt vom Schnurren der Limousine, entspannte sich Emilie etwas. „Wie geht es Ihrer Frau? Wie war doch noch ihr Name? Ayse? Gülsen?“

Der Chauffeur räusperte sich diskret. „Meiner Frau Daniela geht es gut, danke der Nachfrage.“

Emilie kam ins Grübeln. Und so grübelte sie eine Weile vor sich hin. „Daniela?“, fragte sie dann. „Das ist aber ein ungewöhnlicher Name für eine Türkin, meinen Sie nicht auch?“

Kaya nickte. „Ja, in der Tat. Für eine Türkin ist es ein wirklich außergewöhnlicher Name, Frau Lauenstein. Doch meine Frau ist Deutsche.“

Emilie riss die Augen auf. „Ach! Und das funktioniert?“

„Natürlich. Rein anatomisch betrachtet gibt es zwischen einer deutschen und einer türkischen Frau keinen Unterschied.“

„Ich bin nicht beschränkt“, schnaubte Emilie. „So habe ich das nicht gemeint. Sind Sie da etwa über eine rote Ampel gefahren?“

Kaya sah in den Rückspiegel. Ihre Blicke begegneten sich. „Nein. Natürlich nicht“, sagte er freundlich und lächelte.

„Ganz sicher?“

„Ja. Es war nicht rot, sondern orange“, sagte der Chauffeur. Er blickte erneut in den Spiegel.

Emilie nickte langsam, dann schaute sie aus dem Fenster. „Ja, ist in Ordnung, aber passen Sie beim nächsten Mal auf, wenn Sie über eine rote Ampel fahren.“

Kaya nickte und damit war das Thema abgehakt.

Ein paar Minuten später bog die Limousine auf den Parkplatz des Blumenladens ein. Als Emilie ausstieg, wehte nach Blumen riechende Luft herein. Im Gegensatz zu anderen Menschen mochte sie den Geruch nicht. Er erinnerte sie zu sehr an Beerdigungen und Friedhöfe.

Als Emilie auf die Rosen wartete und aus dem Fenster blickte, sah sie ein etwa zwölfjähriges Mädchen auf der anderen Straßenseite stehen. Einen Augenblick betrachtete sie die Kleine, denn offenbar hatten ihre Eltern nichts für Mode übrig. Für eine Zwölfjährige war das Mädchen unsagbar altmodisch angezogen: Sie trug ein dunkelblaues, verschlissenes Wollkleid, einen cremefarbenen Mantel, weiße Kniestrümpfe und cremefarbene Schuhe. Ihr Haar war zu zwei Zöpfen geflochten. Diese lugten unter einem albernen Strohhut hervor.

„Ihre Eltern sollten die Finger von dem Altkleidercontainer lassen“, murmelte Emilie. „So eine Schande! Wie kann man sein Kind nur so rumlaufen lassen?“

„Wie bitte?“, fragte die Blumenverkäuferin, die sich offenbar angesprochen fühlte.

Emilie verzog das Gesicht. „Nichts, junge Dame. Ich bin eine alte Frau und führe Selbstgespräche. Daran ist nichts Ungewöhnliches.“ Sie spähte wieder über die Schulter und renkte sich beinahe den Hals aus. Das Mädchen stand immer noch da. Und da fiel Emilie das verschlissene blaue Wollkleid erneut auf. Es war nicht zu bestreiten, dieses Kleid hatte sie schon einmal gesehen. Im selben Atemzug fiel es ihr auch wieder ein. „Anna“, sagte sie leise.

„Wer ist Anna?“, fragte die Verkäuferin. „Geht es Ihnen gut?“

Da war sich Emilie nicht ganz sicher. Ab und an bildete sie sich Dinge ein, aber das war ihr Geheimnis. Manchmal meinte sie, Stimmen zu hören oder Menschen zu sehen, die gar nicht da waren. Doch das durfte sie nicht erzählen, denn sie wusste, was mit alten Frauen passierte, die sich ab und an Dinge einbildeten. Sie landeten in einem Pflegeheim und wurden gezwungen, zu singen und zu basteln. Zu altern war eben ein Jammer. Das konnte sich Emilie nicht oft genug ins Bewusstsein rufen.

„Anna war eine alte Freundin, weiter nichts. Anna trug dieses Kleid“, murmelte Emilie.

„Welches Kleid?“, fragte die Verkäuferin verwirrt, doch Emilie schwebte bereits in ihren Kindheitserinnerungen.

O Gott, wie lange war das schon her? Da musste sie zehn Jahre alt gewesen sein. In dem Sommer zog ihre Familie um, weil ihr Vater befördert worden war. Damals hieß es, Vater hätte eine spezielle Arbeit zu erledigen: Er müsse ein Judendorf bewachen.

Anfänglich war Emilie alles andere als begeistert vom Umzug gewesen, denn schließlich musste sie ihre Freundinnen zurücklassen. Und sie hatte wirklich viele Freundinnen.

„Du wirst neue Freunde finden. Dort, wo wir hinziehen, gibt es noch mehr Kinder und sogar eine eigene Schule. Du wirst schon sehen, nach den Sommerferien wirst du das beliebteste Mädchen sein. Außerdem kannst du deinen Freundinnen ja schreiben“, hatte Mutter gesagt, doch Emilie war nicht überzeugt. Was, wenn sie den Ort nicht mochte? Vielleicht fand sie ja keine neuen Freunde. Und vielleicht war die neue Schule blöd. „Wieso muss Papa überhaupt das Judendorf bewachen?“, fragte sie mürrisch.

Nach Vaters Beförderung bekam er oft Besuch von Männern in Uniformen und dann diskutierten sie über Politik und darüber, wie man das Deutsche Reich noch besser machen konnte. Für ihn gab es nichts Bedeutenderes. Einmal sagte er, er würde sogar sein Leben für das Deutsche Reich geben. Er war eben sehr streng mit sich.

Angespannt zog Mutter an dem Zigarettenhalter. „Nun. Dort leben ganz viele Juden. Und dein Vater muss dafür sorgen, dass sie nicht ausbüxen.“

„Wieso dürfen die Juden nicht ausbüxen?“

„Weil sie gefährlich sind und Krankheiten übertragen“, meinte Mutter und zog wieder hastig an der Zigarette.

Emilie fand, wenn Mutter rauchte, sah sie richtig hässlich aus. Ihr Mund verzog sich dann und wurde faltig. „Ist das Judendorf ein schöner Ort?“, wollte sie wissen.

Mutter runzelte die Stirn und überlegte, dann sagte sie: „Ich denke nicht, Liebes. Schließlich leben dort Juden. Aber unser Ort ist schön. Dort gibt es nicht nur eine Schule, sondern auch einen Einkaufsladen, Ärzte und sogar eine Bibliothek. Und weil dein Vater ein so wichtiger Mann ist, bekommen wir ein Hausmädchen.“

Emilie dachte darüber nach. „Ach wirklich? Wir bekommen ein Hausmädchen? Dann muss das neue Haus aber groß sein.“ Denn die meisten Hausmädchen arbeiteten in großen Häusern, fand sie.

„Ja, ja. Das ist es“, wandte Mutter eifrig ein. „Das Haus wird dir gefallen. Es hat einen großen Garten und ganz viele Zimmer.“

Emilie wusste noch nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollte. Vielleicht sollte sie sich ja freuen, schließlich wohnte sie mit ihren Eltern in einer Stadtwohnung und einen Garten gab es nicht. Geschweige denn viele Zimmer. Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Mutter kniff die Augen zusammen. „Sehe ich da etwa Entzücken in deinem Gesicht?“, fragte sie erfreut.

Etwa drei Wochen später waren die Koffer gepackt und die Wohnung war an Bekannte untervermietet. Mit den gepackten Koffern ging es dann zum Bahnhof.

Die Zugfahrt war sehr lang und langweilig. Und das, obwohl Emilie etwas zum Lesen und ein Spiel dabeihatte. Zwischendurch schlief sie ein. Und träumte von dem neuen Wohnort; einem Ort mit farbenfrohen Häusern, einem Schokoladenspringbrunnen auf dem Marktplatz und tanzenden, lachenden Menschen. Als sie später aufwachte, hatte sie von alldem leichte Kopfschmerzen und ihr war übel. Doch die Vorstellung hatte sie froh gestimmt.

Es dämmerte bereits, als der Zug das Ziel erreichte. Kaum ausgestiegen, musste Emilie jedoch feststellen, dass der Ort, an dem sie nun leben mussten, ein merkwürdiger Ort und keineswegs farbenfroh und voller lachender, tanzender Menschen war. Und einen Schokoladenspringbrunnen gab es scheinbar auch nicht. Dafür einen hohen, hässlichen Maschendrahtzaun und Wachtürme mit Soldaten.

Vom Bahnhof aus ging es mit dem Auto weiter. Der Fahrer fuhr langsam durch eine düstere Allee und an kasernenartigen Häusern vorbei. Soldaten mit großen Hunden und Militärfahrzeuge waren auf den Straßen unterwegs. Und dann noch eine Gruppe Männer in gestreiften Schlafanzügen, die brummig und finster aus den Augen schauten. Emilie rümpfte die Nase und die anfängliche Aufregung schlug in Enttäuschung um. Das könnte ja noch was werden! Sie sog heftig die frische Luft ein und rümpfte erneut die Nase. Obwohl die Fenster geschlossen waren, lag ein Geruch in der Luft, der Emilie an verbrannte Gänsefedern erinnerte. Nur noch hundertmal schlimmer.

Eklig.

Abscheulich.

Unwillkürlich zog sich ihr Magen zusammen. „Hier stinkt es!“, murmelte sie ihrer Mutter zu. Doch die schien so in ihre Gedanken versunken zu sein, dass sie gar nichts mitbekam. Kein Wunder, denn seit einigen Wochen schon gingen die Nerven mit ihr durch. Sie war eben keine geborene Umzugsorganisatorin.

„Mir ist übel“, sagte sie erneut, doch niemand beachtete sie. So schmollte sie leise vor sich hin.

Das Judendorf selbst konnte Emilie nicht erkennen. Es lag hinter einem Waldstück versteckt. Und da gab es wenig zu sehen, denn ganz viele hässliche, heruntergekommene Baracken versperrten die Sicht. Besonders farbenfroh schien es dort auch nicht zu sein. Eher wie in einem düsteren Märchen. Ihr lief es eiskalt den Rücken runter.

„Das alles ist gut strukturiert“, bemerkte Vater.

„Ja, ganz nett“, murmelte Mutter sarkastisch. Denn ganz nett konnte man den Ort wirklich nicht nennen. Eher grau und trostlos.