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© 2017 Regine Reichwein

Umschlag, Innenteil: Angela Herold, HEROLDDESIGN

Illustration: www.pixabay.com

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7439-4790-0
Hardcover: 978-3-7439-4791-7
e-Book: 978-3-7439-4792-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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REGINE REICHWEIN

Gespräche mit Valentino

Kleine Anregungen zu größerer Bewusstheit

Über die Autorin

Regine Reichwein lebt mit ihrem Kater Valentino in Berlin und Portugal. Sie hat Mathematik und Physik, aber auch Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Politik studiert und war mehr als zwanzig Jahre Professorin an der Technischen Universität Berlin

Durch die Arbeit mit den Studierenden wurde ihr bewusst, dass sie zusätzliche Qualifikationen brauchte, um ihren eigenen Ansprüchen an ein umfassenderes Angebot für diese zu genügen. In diesem Zusammenhang hat sie sich unter anderem intensiv mit den neuesten Ergebnissen der Biophysik und Hirnforschung auseinandergesetzt und eine Ausbildung als Gestaltpsychotherapeutin gemacht.

Inzwischen arbeitet sie als Trainerin, Beraterin und Supervisorin für Einzelpersonen, Gruppen und Institutionen. Außerdem malt sie, entwirft und näht Kleider und schreibt.

Seit 2010 sind vier sehr unterschiedliche Bücher von ihr erschienen und dieses ist ihr fünftes Buch.

Für Miriam

Inhalt

Vorwort

Das neue Denken und Handeln

1. Die eigene Wirklichkeit ist die einzige, die man hat

2. Selbstorganisation

3. Wirklichkeitsstrukturierungen I

4. Wirklichkeitsstrukturierungen II

5. Gefühle I Unzufriedenheit, Ärger, Wut

6. Gefühle II Hilflosigkeit, Ekel, Trauer, Bitterkeit und Verzweiflung

7. Denken

8. Wünsche I

9. Wünsche II

10. Unerfüllbare Wünsche

11. Kinder

12. Die Liebe zum Identischen

13. Die Angst vor dem Andersartigen

14. Kontrollillusionen

15. Die Grenze des Kontakts

16. Autonomie

17. Der Einfluss von Mustern

18. Dynamiken zwischen Menschen

19. Vorstellungen und Gefühle

20. Prozessorientierung

21. Ergebnisorientierung: Richtig und Falsch

22. Wunscherfüllungen

23. Interpretationen als Selbstausdruck

24. Opfer sein und bleiben

25. Selbstsein und Selbstausdruck

Nachwort

Das neue Denken und Handeln

Hinweise auf die zugrundliegenden Sachbücher weitere Bücher der Autorin und Bestellmöglichkeiten

Das neue Denken und Handeln

Vorwort

Durch das hier vorgestellte Modell kann man das eigene Leben von unnötigen Belastungen und Stress befreien und durch vielfältige neue Erfahrungen bereichern.

Es ist ein neues und ungewohntes Modell – basierend auf dem Phänomen der nichtlinearen dynamischen Systeme oder der Selbstorganisation.

Die grundlegenden wissenschaftlichen Forschungsergebnisse habe ich in den beiden Sachbüchern Lebendig sein… und Verantwortlich handeln… ausführlich beschrieben und die zugehörigen Hinweise finden sich im Nachwort. Hier möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse auf verkürzte und vereinfachte Weise vorstellen. Deswegen habe ich die Form Gespräche mit Valentino gewählt.

Valentino ist mein Kater. Er ist silbergrau und hat das weichste Fell, das ich je angefasst habe. Seine Augen sind groß und goldgelb und er lebt mit mir zusammen. Seine Anwesenheit hat mich dazu angeregt, mir vorzustellen, wie man – in diesem Falle Valentino – mit den neuen Erkenntnissen umgehen könnte.

Jedes Kapitel kann zwar für sich allein gelesen werden, aber die einzelnen Kapitel bauen aufeinander auf und es ist sinnvoll, sie nacheinander zu lesen. Einige der Aussagen in den Texten erschließen sich erst im Verlauf und im Zusammenhang der Kapitel. Es ist deshalb empfehlenswert, auch bei zunächst nicht ganz verständlichen Behauptungen einfach weiterzulesen. Alles Weitere steht im Nachwort. Dieses kann man allerdings auch gleich im Anschluss an das Vorwort lesen.

1. Die eigene Wirklichkeit ist die einzige, die man hat

Valentino springt auf meinen Schreibtisch, setzt sich neben meinen PC und sieht mich ernst an. Allerdings guckt er meistens so. Manchmal glaube ich, er kann nur ernst gucken.

„Sag einmal, weswegen betonst du immer wieder, dass jeder Mensch nur in seiner eigenen Wirklichkeit lebt? Es ist doch immer etwas Wirkliches um uns herum, da leben wir doch beide drin. Im Moment sitzt du am Schreibtisch und ich sitze oben drauf. Das ist doch eine Art gemeinsamer Wirklichkeit. Also wieso bestehst du darauf, dass ich in meiner Wirklichkeit lebe und du in deiner?“

„Es gibt mehrere Gründe“, sage ich, „einer ist der Glaube an ‚eine Wirklichkeit für alle‘. Dieser Glaube hat in den vergangenen Jahrhunderten, wenn Menschen unterschiedliche Sichtweisen, Annahmen und Vorstellungen vertraten, immer wieder zu teilweise sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen darüber geführt, wessen Wirklichkeit die richtige ist.

Deswegen finde ich – unter anderem – die Vorstellung von ‚einer Wirklichkeit für alle‘ sehr problematisch.

Ein weiterer Grund sind die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Funktionsweise der Wahrnehmungssysteme verschiedener Lebewesen. Wir leben wahrscheinlich in ein und demselben Umweltfeld, aber wir können mit unseren Sinnen nur Materie und Energie auf individuell unterschiedliche Weise von diesem Umweltfeld wahrnehmen, sonst nichts.

Und diese materiellen und energetischen Prozesse werden dann im Inneren der Lebewesen und damit auch von verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich zu für sie wichtigen Informationen verarbeitet.“

„Kannst du das auch noch mal ein bisschen einfacher ausdrücken?“, fragt Valentino.

„Ich versuche es! Also, wenn ich mit dir rede, dann mache ich nur Schallwellen. Diese kommen in deinen Ohren an, werden weitergeleitet und in elektrische Signale umgewandelt. Du stellst in deinem Gehirn dann daraus die für dich wichtigen Informationen her. Deswegen hörst du nur, was du hörst, und nicht unbedingt das, was ich gesagt habe.

Mit dem Sehen ist es ähnlich. Du kannst im Dunkeln viel besser sehen als ich, weil deine Augen anders ausgestattet sind als meine, aber was du siehst, ist das, was dich interessiert und was wichtig für dein Überleben ist. Dein Gehirn sortiert selbstständig aus den vielen verschiedenen elektromagnetischen Wellen, die auf deine Augen treffen, das aus, was für dich in dem Moment von Bedeutung ist.“

„Das kann ich kaum glauben. Du meinst also, aus allem, was du sagst, oder was ich sehe, stelle ich mir etwas zusammen, was mir passt?“

„Es ist noch viel krasser, nicht du – als bewusstes Lebewesen – wählst das aus. Es ist deine Selbstorganisation, die aufgrund deiner bisherigen Erfahrungen alles für dich auswählt. Wenn du selbst daran beteiligt sein willst, brauchst du dazu bewusste Aufmerksamkeit und intensives Nachdenken. Ansonsten läuft alles mehr oder weniger automatisch ab.“

Valentino schüttelt den Kopf. Er fragt vorsichtshalber noch einmal nach, ob ich das auch wirklich ernst meine. Und als ich das bejahe, meint er, darüber müsse er noch einmal nachdenken.

Ich füge noch hinzu: „Weißt du, Valentino, nur materielle Dinge, wie Essen und Trinken, Medikamente, Schläge, Schallwellen usw. oder Energie, zwie Wärme, Gravitation, Licht und andere elektromagnetische Wellen, können in dich eindringen, sonst nichts. Und das wollen die meisten Menschen nicht akzeptieren.“

Plötzlich ist Valentino wieder sehr interessiert.

„Wieso wollen sie das nicht akzeptieren?“, will Valentino wissen, „ich finde das richtig gut. Dann kann niemand in mich eingreifen und irgendetwas in mir ändern. Weder meine Gefühle, noch meine Gedanken und schon gar nicht irgendeinen meiner körperlichen Prozesse. Stelle dir vor, jemand würde meine Reaktionen langsamer machen oder mir schlechte Laune verpassen. Furchtbar! Ich bin sehr froh, dass niemand und nichts aus meinem Umweltfeld mich gezielt – wie du das nennst – beeinflussen kann.“

„Das gilt aber auch für dich“, sage ich, „du kannst auch niemanden – und auch mich nicht – gezielt beeinflussen.“

„Aber das ist doch gar kein Problem“, Valentino ist ganz gelassen, „du hast mich gern, du sorgst gut für mich und du freust dich, wenn es mir gut geht. Mehr brauche ich doch nicht.“

Falls man hätte sehen können, wenn Valentino lächelt, dann hätte ich wohl bei seinem letzten Satz ein Lächeln gesehen. Aber leider ist sein kleines Gesicht bis auf seine Augen und Ohren meistens ziemlich bewegungslos.

Aber irgendetwas beschäftigt ihn noch. „Ich höre doch, was du sagst, und ich sehe dich doch“, sagte er, „wie kann das gehen, wenn keine Informationen von dir zu mir kommen können. Irgendwie ist es schwierig zu verstehen. Erkläre es noch einmal.“

„Im Grunde ist es einfach“, sage ich, „wie gesagt, ich spreche und erzeuge dadurch Schallwellen. Diese werden in elektrische Signale umgewandelt und anschließend in deinem Gehirn auf der Grundlage der Worte oder der Dinge, die du bereits kennst, entschlüsselt. Du stellst also den Inhalt dessen, was ich sage, in deinem Gehirn selbst her, weil du Vorerfahrungen hast. Worte und Bilder, Mimik und Gestik und so weiter. Alles, was du schon kennst, ist in deinem Gehirn gespeichert und bildet die Grundlage für das Neue.

Deshalb kannst du nur hören, was du hörst, aber das stimmt nicht unbedingt mit dem überein, was gesagt wurde und was – vielleicht für andere – zu hören ist. Und dasselbe gilt für das Sehen. Wir stellen aus allem, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, unsere eigene persönliche Wirklichkeit her. Du deine und ich meine!“

Und dann füge ich noch hinzu: „Menschen wollen allerdings meistens lieber gemeinsam in einer Wirklichkeit leben und finden die Vorstellung nicht gut, dass jeder in seiner eigenen Wirklichkeit lebt.“

„Ich finde das gut“, meint Valentino, „ich verstehe nicht, was man dagegen haben kann. Eine eigene Wirklichkeit zu haben, ist doch toll. Ein eigenes Universum, das man ganz allein bewohnt und das man mit allem Neuen immerzu größer, weiter und reicher machen kann und in dem mir keiner etwas hinterlassen kann, was ich nicht will. Findest du das nicht auch toll?“

Valentino scheint richtig begeistert zu sein, nur ich kann mich nicht so richtig entscheiden.

Am liebsten würde ich ja und nein sagen. Einerseits würde ich gern auch eine eigene Wirklichkeit für mich allein haben. Ich möchte aber auch teilhaben an der Wirklichkeit anderer. Ich würde gern wissen, was und wie sie fühlen und denken, und auch, was ihnen wichtig ist und was sie wollen. Wenn es nur eine Wirklichkeit für alle gäbe, wäre das wahrscheinlich einfacher.

Aber wenn jeder in seiner eigenen Wirklichkeit leben würde, müsste ich immer nachfragen, wie es denn in der Wirklichkeit der anderen gerade aussieht, was sie fühlen, denken und sich wünschen. In diesem Fall hilft mir raten nicht viel, ich bin abhängig davon, ob sie mir auf meine Fragen antworten können und wollen. Und ich weiß nie, ob sie auch meinen, was sie sagen.

Ich denke, das Leben wäre vielleicht viel ungefährlicher, wenn wir alle in einer gemeinsamen Wirklichkeit lebten und glauben würden, wir wüssten, was in den anderen Menschen vorgeht. Dann könnten wir uns – vermeintlich – leichter auf ihr Handeln einstellen. Ich glaube, ich würde unter diesen Umständen auch weniger Angst vor ihnen haben. Aber wie Valentino sagt, die anderen Menschen würden dann eventuell auch denken, sie wüssten, was mit mir los wäre. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das immer gut finden würde.

Und in der Vorstellung steckt ja auch noch, dass manche Menschen behaupten könnten, sie würden diese Wirklichkeit besser kennen als andere. Das gäbe ihnen dann die Möglichkeit, sich mit anderen darüber zu streiten oder sich über sie zu stellen und zu versuchen, sie zu beherrschen.

Dagegen hat die Vorstellung, dass jedes Lebewesen in seiner eigenen Wirklichkeit lebt, schon etwas Faszinierendes. Ich würde gerne wissen, wie die persönlichen Wirklichkeiten anderer Lebewesen aussehen. Aber so, wie es im Moment zu sein scheint, kann man das offensichtlich nicht wissen, sondern man kann die anderen nur danach fragen, wenn man etwas darüber erfahren will.

Allerdings gibt es so etwas Wunderbares wie die Spiegelneuronen. Die kennt man erst seit 1995. Sie ermöglichen es, mit Hilfe der ankommenden materiellen und energetischen Daten und auf der Grundlage der bisherigen eigenen Erfahrungen in uns Simulationen in Bezug auf den Zustand des Gegenübers herzustellen.

Ich teile Valentino alle meine Überlegungen mit. Er sieht mich an und schweigt. Ich vermute, er denkt nach. Schließlich sind das ja auch alles ziemlich neue Gedanken.

Nach einer Weile beendet Valentino sein Schweigen. „Jetzt will ich es doch noch einmal genau wissen“, sagt er, „wie sollen sich zum Beispiel zwei Menschen, die in zwei verschiedenen Wirklichkeiten leben, miteinander verständigen?

Erklär mir doch mal ganz einfach, was geschieht, wenn zwei Personen etwas miteinander zu tun haben.“

„Gut“, sage ich, „auch auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole: Stell dir zwei Kreise vor, jeweils einen für eine Person und dazwischen einen senkrechten Strich. Der Strich soll die Kontaktgrenze zwischen diesen beiden Personen sein. Diese Grenze ist nur offen für Energie und Materie, aber ansonsten für alles anderes geschlossen. Es gehen beispielsweise keine Worte von einem Kreis oder einem Menschen zum anderen. Nur Schallwellen, materielle Einwirkungen, wie Essen, Trinken, Streicheln, aber auch Schläge oder so etwas und auch Licht und andere elektromagnetische Wellen können durch die Kontaktgrenze hindurchgehen. Der Strich zwischen den beiden Kreisen ist die Grenze.

Die zugehörigen Informationen werden dann in den einzelnen Personen – in dem einen oder anderen Kreis – hergestellt. Die eine Person hat keine Möglichkeit, gezielt Informationen über diese Grenze hinweg in der anderen Person hervorzurufen, weil jede Person diese in ihrem eigenen Inneren selbst herstellt. Allerdings ermöglichen die Simulationen der Spiegelneuronen in uns zumindest Vermutungen über den Zustand der anderen Person auf der anderen Seite der Grenze.“

Valentino schweigt wieder. Ich befürchte, ich habe wieder einmal zu viel geredet. Aber dann meint er: „Du meinst sicher diese Ahnungen. Wenn ich eine andere Katze sehe, dann merke ich sofort, ob sie freundlich oder aggressiv gestimmt ist. Das sehe ich einfach daran, wie sie guckt, wie sie sitzt oder geht.“ Ich nicke und füge hinzu: „Schnell zu erkennen, ob jemand angriffslustig ist, kann lebensrettend sein.“

Anschließend an diesen Austausch hängen wir beide unseren jeweiligen Gedanken nach.

Schließlich frage ich Valentino: „Weißt du, was eine Frau bei einer Lesung einmal zu mir gesagt hat?“ „Woher denn?“, fragt Valentino zurück. Diese Genauigkeit von ihm gefällt mir. Ich lächle ihn an und sage: „Also, sie hat gesagt: ‚Das kann ich auf keinen Fall akzeptieren, dass ich keinen Einfluss darauf haben soll, ob jemand mich liebt.‘

Sie wollte auf diese Einflussmöglichkeit nicht verzichten. Wahrscheinlich hätte sie sich sonst zu hilflos und ausgeliefert gefühlt.“

Und dann sage ich noch: „Ich kann ja verstehen, dass es sehr schwer zu akzeptieren ist, keinerlei gezielten Einfluss auf die Gefühle, Gedanken, Meinungen und Handlungen von anderen Menschen zu haben. Gegenseitige Wechselwirkung findet zwar – vor allem auch mithilfe der Spiegelneuronen – ununterbrochen statt, aber gezielt Einfluss auf jemand anderen zu nehmen und ihn damit kontrollieren zu können, wenn dieser nicht will, funktioniert nicht. Irgendwie kann ich verstehen, dass die meisten Menschen das nicht wahrhaben wollen.“

„Haben die Menschen denn vergessen, wie oft sie gescheitert sind, wenn sie es versucht haben?“, fragt Valentino, „Ich weiß noch, wie oft du versucht hast, jemanden von schädlichen Handlungen abzuhalten oder bei anderen ein Vorurteil zu entkräften, und wie selten du Erfolg hattest. Eigentlich nie“, fügt er überflüssigerweise noch hinzu.

Es stimmt. Früher habe ich dann immer gedacht, ich wäre nicht gut genug gewesen. Heute weiß ich, dass es die Entscheidung meines Gegenübers ist, ob es ein Angebot von mir annimmt oder nicht. Deshalb ist es nicht mein Erfolg. Meine Leistung liegt nur in den Angeboten und ein Angebot ist nur dann erfolgreich, wenn die andere Person es akzeptiert hat.

Valentino redet inzwischen weiter: „Wenn andere das bei dir versucht haben, sind sie meistens auch gescheitert.“

Ich stimme Valentino zwar zu, ich habe meistens nur das getan, was ich selbst wollte, aber die Angebote der anderen haben mir oft geholfen, genauer herauszufinden, was ich wollte. Deshalb sage ich zu ihm: „Auch wenn immer die andere Person entscheidet, ist es wichtig, wenigstens zu versuchen, andere zu überzeugen, wenn einem etwas wichtig ist. Aber wir können niemanden überzeugen, der es nicht will. Es geht einfach aus neurophysiologischen Gründen nicht.“

„Und weshalb glauben die meisten Menschen, sie könnten andere ärgern, verunsichern oder verrückt machen oder sie könnten durch andere Menschen verletzt oder unglücklich werden?“ Valentino will es genau wissen.

„Ich denke, weil wir es so gelernt haben. Menschen glauben dies seit Jahrhunderten und bringen es von Generation zu Generation ihren Kindern bei.“

„Das ist ja schrecklich.“ Valentino ist ganz betroffen.

„Ich glaube, bei Katzen ist das ganz anders“, sagt er nach einiger Zeit, „wir glauben nicht an solche Ideen. Katzen wissen, dass sie unabhängig von anderen sind und dass niemand sie kontrollieren oder zu irgendetwas zwingen kann. Und nebenbei, ich denke, das gilt für alle Tiere. Sie wollen alle nur das machen, was sie selbst wollen, und sind deshalb durch andere nicht kontrollierbar.“

Ich stimme Valentino zu und erzähle ihm von den vielen TV-Sendungen über Tiere im Zoo, die ich gesehen habe, und wie oft die Tierpfleger gesagt haben, dass sie die Tiere nicht zwingen können. Ich sage: „Einmal sagte einer der Tierpfleger: ‚Wenn die Nashorndame Friederike nicht in den Stall will, können wir gar nichts machen‘. Und dann hat er bedauert, dass sie oft die größeren Tiere narkotisieren müssten, um sie medizinisch zu versorgen, weil sie sich sonst wehrten und sich nichts gefallen lassen wollten.“ Ich erzähle ihm auch, dass die Tierpfleger stattdessen viel mit Belohnungen arbeiten. Und wenn die Tiere Lust auf die Leckerbissen haben, dann tun sie auch etwas dafür. „Genau wie Menschen“, füge ich noch hinzu, „wir tun auch viel dafür, dass andere uns unsere Wünsche erfüllen.“

Leider funktioniert es auch mit Drohungen, denke ich. Tiere und auch Menschen machen aus Angst manches, was sie sonst nicht machen würden. Ich habe auch schon oft aus Angst die Erwartungen anderer Menschen erfüllt, obwohl ich es eigentlich nicht wollte: Aus Angst, angegriffen, ausgegrenzt oder verlassen zu werden, oder aus anderen Gründen.

Wenn ich damals schon gewusst hätte, dass man Menschen sowieso nicht gezielt beeinflussen kann, hätte ich sicher manches davon nicht getan.

Heutzutage fühle ich mich durch diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über selbstorganisierende Systeme viel freier.

2. Selbstorganisation

„Warum ist dir denn das Modell der Selbstorganisation so wichtig?“, fragt mich Valentino. Ich bin erstaunt darüber, dass er das wissen will.

„Das ist nicht einfach zu beantworten, ich glaube, dafür brauche ich richtig Zeit. Willst du wirklich solange zuhören?“, frage ich zurück und als er nickt, fange ich an zu reden.

„Die Idee, dass aus Chaos spontan Ordnung entstehen kann, ist schon sehr alt, ebenso wie die Erkenntnis, dass sich lebendige Prozesse nicht wirklich kontrollieren lassen, weil die Zukunft – zumindest bei lebendigen Prozessen – stets unbestimmt ist.

Aber in unserer Kultur haben sich seit vielen Jahrhunderten bestimmte Vorstellungen über Kontrolle, Berechenbarkeit und Beherrschbarkeit festgesetzt. Mit Hilfe der sich immer weiter entwickelnden Wissenschaften und den daraus resultierenden technischen Errungenschaften haben sich auch die Illusionen ausgebreitet, alles sei erreichbar und es gäbe dafür keine Grenzen. Und es gibt noch mehr Illusionen als nur diese.

Leider führen alle diese Illusionen sowohl in persönlichen als auch in wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereichen zu sehr gefährlichen Entscheidungen und Handlungen. Deshalb möchte ich, dass Menschen mehr über selbstorganisierende Prozesse wissen und darüber nachdenken, wie sie entscheiden und was sie tun.“

„Dass du das willst, kann ich gut verstehen. Wenn ich die täglichen Nachrichten höre, frage ich mich ganz oft, wer eigentlich auf die Idee gekommen ist, Menschen für intelligent zu halten, so dumm, wie sie sich oft aufführen und sich das dann auch noch schönreden.“

Valentino ist richtig aufgebracht und ich kann es ihm nicht verdenken. Ich denke das auch ganz oft. Aber ich gehöre zu dieser Gattung dazu und habe selbst lange Zeit an diese Illusionen geglaubt, obwohl ich vor allem deshalb damals sehr unglücklich war.

„Weißt du“, sage ich, „die bisherigen Ideen unterstützen die Vorstellung, Menschen könnten einander gezielt beeinflussen, z. B. einander ärgern, verunsichern, verletzen, glücklich machen und vieles anderes mehr. Das führt oft dazu, dass sich Menschen wechselseitig als Täter und Opfer wahrnehmen, sich dementsprechend bekämpfen und sich gegenseitig sehr misstrauisch betrachten. Und Menschen, die sich eher feindselig gegenüberstehen, suchen nach Sicherheit und Orientierung und lehnen daher das ihnen Fremde und Unbekannte ab. Das kann leider dazu führen, dass sie sich leichter auf politische Richtungen einlassen, die ihnen Sicherheit versprechen. Das missfällt mir alles sehr. Und dazu kommt noch viel mehr, was mir auch missfällt.“ Und dann sage ich noch: „Ich merke, ich könnte mich jetzt immer so weiter empören.“

„Dann mach doch“, sagt Valentino.

„Ich will nicht so herumklagen“, sage ich. Aber da Valentino mich dazu auffordert, weiterzureden, tue ich das auch: „Es ist im Grunde wirklich ernst. Es muss sich dringend etwas ändern. Wir erziehen unsere Kinder immer noch auf der Grundlage dieser jahrhundertealten Vorstellungen und wundern uns, wenn sie aufgrund der Unterdrückung ihrer Autonomie rebellieren, sich verweigern oder sogar gewalttätig werden.“ Ich halte einen Moment in meiner Rede inne und merke, dass ich diese Prozesse ziemlich schlimm finde und beim Weiterreden immer wütender werde: „Offensichtlich wollen wir diese veralteten Vorstellungen behalten. Wir Menschen wollen Sicherheit – und das finde ich auch verständlich – und deshalb wehren wir uns gegen Verunsicherungen durch Unbekanntes, Andersartiges oder Fremdes. Wir wollen eine sichere Umwelt, obwohl wir im Grunde wissen, dass es so etwas gar nicht gibt.

Was nicht so ist wie wir, bekämpfen wir. Wir sorgen allerdings durch solche Kämpfe gleichzeitig dafür, dass unsere Umwelt immer unsicherer wird. Das lässt sich leider überall beobachten. Wir haben nicht gelernt, wie wir mit selbstorganisierenden Systemen umgehen müssen, damit sie – und damit auch wir – überleben können. Wir missachten immer wieder die dazu notwendigen grundlegenden Bedingungen und das tun wir in allen Lebensbereichen. Leider führt das meistens zu Eskalation und Zerstörung.“

Ich habe mich richtig in Rage geredet und da Valentino schweigt und ich den Eindruck habe, dass er mir noch zuhört, rede ich einfach weiter: „Nicht nur die Beziehungen zwischen Menschen allüberall auf der Welt sind ständig in Gefahr zu eskalieren, auch die Beziehungen zur Umwelt sind davon geprägt. Viele Menschen haben meist nur geringe Hemmungen, alles auf unserem Planeten auszubeuten, was gewinnversprechend zu sein scheint, und nehmen dafür irreversible Schäden der Umwelt in Kauf.

Möglicherweise tun sie dies auch, weil sie keinerlei Kenntnisse über die grundlegenden Überlebensbedingungen selbstorganisierender Systeme haben, beziehungsweise diese nicht ernst nehmen. Schließlich wird weder in den Schulen noch in den Hochschulen darüber geredet und auf den Ernst der Situation hingewiesen. Und das wundert mich nicht. Die meisten Menschen wollen die vermeintliche Macht und Kontrolle nicht aufgeben.

Aber selbstorganisierende Systeme sind nicht kontrollierbar, sondern nur in Echtzeit beobachtbar – und es können wegen der hohen Komplexität keine eindeutigen Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen hergestellt werden. Weil die wissenschaftliche Erforschung dieser Systeme daher nicht zu mehr Kontrolle über diese Systeme führt, gibt es für solchen ‚Luxus‘ – der Beobachtung ihrer Veränderungen im Verlaufe der Zeit – meistens auch keine Forschungsgelder…“

Valentino unterbricht meine lange Rede: „Aber das könnte doch interessant sein. Mich fasziniert, was manche Lebewesen so machen, denn wenn ich ihre Verhaltensweisen besser kenne, erhöht das meine Jagdchancen.“

„Das sehe ich auch so“, sage ich, „aber bei Menschen kommt noch etwas hinzu. Selbstorganisierende System gehen stets mit Unbestimmtheit einher und sind daher immer gut für Überraschungen. Das erzeugt Unsicherheit und wir alle wollen lieber Sicherheit. Daher bestehen keine guten Chancen dafür, dass das Modell der Selbstorganisation die notwendige Bedeutung im Bewusstsein der Menschen erhält.“

Aber Valentino hat einen Einwand: „Auch wenn ich Sicherheit will, kann sie mir doch keiner versprechen. Es kann doch immer irgendetwas passieren, womit ich nicht gerechnet habe. Wissen Menschen das denn nicht?“

„Ach, Valentino, ich glaube, irgendwie wissen sie es schon. Aber es macht Angst und deswegen wollen wir es nicht wahrhaben. Und es gibt ja noch andere Schwierigkeiten.“

Ich seufze und Valentino guckt mich an und fragt: „Was hast du denn? Es ist doch nicht alles so schlimm, wie du befürchtest.“ Und dann fügt er hinzu: „Denk doch mal an alle die Menschen, die sich für den Schutz der Umwelt einsetzen und sich für neue nachhaltige Konzepte engagieren. Die wollen alle auch – genau wie du – die Welt verbessern und müssen – genau wie du auch – abwarten, dass sich diese Prozesse selbstorganisiert entwickeln. Du hast es doch selbst gesagt, dass man selbstorganisierende Systeme nicht von außen gezielt beeinflussen kann. Dass man ihre Veränderungen nur in Echtzeit beobachten kann.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er dann noch hinzu: „Obwohl man es ja trotzdem immer versuchen kann.“

Damit hat Valentino recht.

Ich streichele ihn und sage: „Danke, Valentino, dass du versuchst, mich zu trösten. Es hilft mir, wenn du mich an die Grenzen erinnerst, die wir alle haben. Dann kann ich selbst auch geduldiger sein.“

Allerdings denke ich, „vielleicht geduldiger sein“, denn ich glaube doch nicht wirklich an meine Geduld. Ich will unbedingt, dass sich Menschen mit diesem Modell beschäftigen.

Ich habe auch zwei sehr persönliche Gründe: Ich mache mir Sorgen um die Entwicklungen auf diesem Planeten und ich weiß aus eigener Erfahrung, wie frei und autonom ich mich fühle, seitdem ich die wesentlichen Grundlagen dieses Modells begriffen habe.

Ich bin mir inzwischen bewusst, ich lebe in meiner persönlichen Wirklichkeit, die mir ganz allein gehört. Allerdings bin ich in ständiger Wechselwirkung mit meiner Umgebung. Niemand kann mich gezielt beeinflussen, wenn ich aufmerksam darauf achte, was ich will, und mir bewusst mache, was ich nicht will. Als selbstorganisierendes System bin ich nur offen für Materie und Energie und für alles andere geschlossen. Alle meine inneren Prozesse, meine Gefühle und Gedanken entstehen nur in mir und werden nicht von anderen hervorgerufen. Wechselwirkung findet zwar immer statt, aber eben mithilfe materieller und energetischer Prozesse, die ich über meine Sinne, besser mithilfe meines Wahrnehmungssystems wahrnehme.

Ich kann andere nicht kontrollieren und habe keine Macht über sie und andere können mich nicht kontrollieren und haben keine Macht über mich. Wie schön! Wie frei!

Wenn nur nicht die vielen vor allem während der Kindheit und Jugend gelernten Verhaltensmuster wären!

Sie erschweren es mir und anderen, die neuen Erkenntnisse in realen Situationen anzuwenden. Ich weiß auf einer kognitiven Ebene, dass meine Gefühle in mir entstehen, aber auf der emotionalen Ebene – wenn ich das jetzt einfach einmal so trennen kann – fühle ich mich ganz oft in verschiedenen Situationen „nicht gesehen“, „schlecht behandelt“, „zurückgewiesen“, „ausgegrenzt“, „ohne Bedeutung“ oder „ohne Wirkung“ und das tut mir weh und ich werde wütend. Leider habe ich nach wie vor die Tendenz, ab und an den anderen dafür die Schuld daran zu geben, weil ich ihre Verhaltensweisen auf mich beziehe, obwohl sie sich nur selbst und ihre momentanen Intentionen ausgedrückt haben.