periplaneta

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Für Ulla, Wolfgang, Sarah und ToM.

Und für Dich.

Ihr seid meine Inspiration, lasst mich die eure sein.

Marion Alexa Müller

Marion Alexa Müller wurde in Bayreuth geboren, studierte dort Germanistik und Islamistik und sammelte erste Bühnenerfahrungen bei szenischen Lesungen.

2001 begann sie ihr Studium im Fachbereich Gestaltung an der HTW Berlin. Währenddessen jobbte sie als alles Mögliche und war Redakteurin für Buch und Film bei einem Online-Magazin. Irgendwann begann sie mit dem Schreiben eigener Texte – vornehmlich Märchen, Fabeln und Gleichnisse, weil sie schon immer fand, dass Tiere die Welt viel besser erklären können (weshalb man sie auch nicht essen sollte).

Nach ihrem Diplom-Abschluss 2007 arbeitete sie zunächst freiberuflich als Restauratorin für audiovisuelle Medien. Im selben Jahr und durch die Verquickung glücklicher Umstände gründete sie den Periplaneta Verlag Berlin, der mittlerweile zu einer Mediengruppe herangewachsen ist und zu der auch ein Literaturcafé im Prenzlauer Berg gehört.

Marion Alexa Müller ist Mitglied der Lesebühne Vision & Wahn.


www.marionalexa.wordpress.com

MARION ALEXA MÜLLER

„Die unterschätzte Kunst des Scheiterns und weitere Mysterien im Leben von Menschen und anderen Kleintieren“

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MARION ALEXA MÜLLER: „Die unterschätzte Kunst des Scheiterns und weitere Mysterien im Leben von Menschen und anderen Kleintieren“
1. Auflage, August 2017, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung,
kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art,
auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Charaktere sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle, Thomas Manegold
Coverzeichnungen: Marion Alexa Müller
Autorinnenbild: Gert Schober
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-070-0
epub ISBN: 978-3-95996-069-4

E-Book-Version: 1.1


„Auschwitz fängt da an, wo einer steht und denkt,

es sind ja nur Tiere.“


Theodor W. Adorno







„Mehr Licht!“, rief der Maulwurf.

Der erste Ritter

Die Luft ist warm und schwer und feucht. Genau so mag er es – wenn sich so ein zarter Wasserfilm über seine Haut legt. Jeder Lufthauch jagt ihm dann wohlige Schauer über den Rücken. Lediglich die zwei weißen Lichter, die auf ihn zurasen, beunruhigen ihn etwas.

Schon oft wurde er von derartigen Erscheinungen geblendet. Jedes Mal, wenn sie ganz nah waren, wurde es schlagartig dunkel, über ihm ertönte ein furchterregendes Getöse, die Luft tanzte und wirbelte um ihn herum, und nach der kurzen sternenlosen Schwärze und dem kalten Schauer auf dem Rücken verschwanden die Lichter rotglühend in der Nacht.

Die zwei Feuerbälle werden größer, das Brummen lauter. Er versucht noch einmal, sich zu bewegen, aber die mit Grashalmen verknoteten Steine halten seine Beinchen fest am Boden. Er schließt die bernsteinfarbenen Augen und weiß, dass sie ihn vom Straßenrand aus, hinter den Büschen, beobachten. Ihre funkelnden, mitleidlosen Blicke brennen auf seiner Haut und der Gedanke an ihre vorwurfsvoll hängenden Mundwinkel macht ihn schier wahnsinnig.

Noch vor kurzem war bei Artus alles in Ordnung gewesen. Er lebte friedlich am Rande des Teichs und sein Leben war vor allem eines: unspektakulär. Wie jeder andere seiner Art war er irgendwann geschlüpft, wuselte mit den anderen im Wasser herum, und weil er seine Eltern nicht kannte – und sie ihn ganz sicher auch nicht –, hatte er keinerlei pubertäre Autoritätsprobleme. Er genoss seine antiautoritäre, innerkollektive Erziehung, die einem Montessori-Jünger Freudentränen in die Augen getrieben hätte. Wenn er die Entenküken beobachtete, die wie hypnotisiert immer auf den Pürzel ihrer Mutter starrten und ihr devot hinterherpaddelten, durchflutete ihn ein maximales Freiheitsgefühl.

Als er schließlich an Land kroch, war dies der erste große Erfolg in Artus’ Leben. Schließlich hatte ihn kein Fisch gefressen, kein Vogel zerhackt und bei seiner Metamorphose traten keine jener unschönen Mutationen auf, die einen ungewollt zum Sterben zwangen. Viele seiner Brüder und Schwestern hatten weniger Glück oder eben schlechtere genetische Voraussetzungen – je nachdem, welche Ideologie man vertrat.

Damals hatte Artus noch nicht mal einen Namen. Er war nur eine von vielen anonymen Erdkröten am Ufer irgendeines blöden Teiches, in dem jedes Jahr eine beispiellose Sexorgie stattfand. Da ging es nicht um Qualität, sondern um Quantität und die Fittesten seiner Art legten massenweise Eier ab, auf dass die Stärksten überleben würden – oder eben diejenigen, die Glück hatten.

Niemand hatte ihm einen Namen gegeben, weil es einfach nicht nötig war, zwischen ihnen zu differenzieren. Jede Kröte sah genauso unspektakulär aus wie die andere, jeder hatte diese hässlichen Pickel und Pusteln im Gesicht, keiner war etwas Besonderes, die Weibchen waren alles andere als wählerisch und niemand scherte sich um Hierarchien. Es waren paradiesische Zustände, ein Woodstock für Kröten. Lediglich mit diesem Dachs hatten sie so ihre Probleme. Fast jede Nacht schlich er sich an und holte einen von ihnen.

Und dann kamen eines Tages wie aus dem Nichts die Menschenkinder an den Teich. Wenn es Artus so recht bedenkt, sind die Kinder an allem schuld gewesen. Sonst wäre er ja nie auf diese Idee gekommen, hätte nie sein wahres Selbst entdeckt.

Hinter dichtem Gestrüpp verborgen hatte er gehockt und die kleinen Jungs ganz aufmerksam und schreckensstarr beobachtet, wie sie mit Holzschwertern und Pappschilden bewaffnet das Ufer unsicher machten und Frösche meuchelten.

Die Frösche waren ihm egal. Frösche fand er sowieso schon immer doof. Die sagten immer „Pockengesicht“ zu ihm und den anderen Kröten und waren furchtbar aufgeblasen.

Bedeutungsschwer hatten die kleinen Menschen ihre Fäuste in die Seiten gestemmt und etwas von Ritterlichkeit und Heldentum fabuliert und von einer Tafelrunde, unter der sich die damals noch namenlose kleine Kröte nur ein großes, erhaben auf dem Wasser schaukelndes Seerosenblatt vorstellen konnte.

Und dann passierte Folgendes: Einer der Jungen machte einen Ausfallschritt, ein erschrecktes „Quaaa!“ schallte durch die Luft und dann reckte er sein Holzschwert mit einem aufgespießten Frosch in die Höhe. Im Gestrüpp versteckt liefen der kleinen Erdkröte wohlige Schauer über den Rücken, die weder mit Luftfeuchte noch mit Wind zu tun hatten.

„Ich bin Lanzelot und der grüne Drache ist tot!“, schrie der Junge und die anderen johlten, hoben ihre Schilde in die Höhe und dann skandierten sie: „Wir sind die Ritter von dem König Artus, wir sind ihm ganz treu bis in den Tod. Für ihn gehen wir über Leichen.“

„Lanzolottel, Artus und Laichen …“, hatte die kleine Erdkröte flüsternd wiederholt. In diesem Moment trafen sie mehrere Erkenntnisse:

Erstens: Verschiedene Geschöpfe können unterschiedliche Namen und unterschiedliche, populationsspezifische Positionen haben.

Zweitens: Artus war wohl irgendwie wichtiger als der Lanzolottel mit dem Holzschwert.

Drittens: Mit Laichen kannte er sich als Amphibie auch aus.

Die kleine Erdkröte wollte auch so etwas Besonderes sein, ein Held mit Schild und Schwert. Die Idee mit dem Schwert verwarf er allerdings bald wieder. Er hatte sich zwar ein Stöckchen ausgesucht, das ganz passabel aussah, aber er hätte es ja nur im Maul tragen können. Das fand er albern und sicherlich hätte kein Ritter der Welt sein Schwert im Maul getragen. Aber das mit dem Schild, das ging!

Aus Gras, Blättern und Sumpfdotterblumen bastelte er sich in mühevoller Kleinarbeit einen Schild, band ihn sich auf den Rücken und nun endlich war er Artus, die ritterliche Schild-Kröte.

Er fand sein neuerworbenes Selbstbewusstsein ganz großartig. Die anderen Erdkröten hatten allerdings keine Sympathien für seinen Evolutionssprung. Sie hielten das für absolut unnötig und rieten ihm, lieber das zu tun, was seine Aufgabe sei: sitzen, unken, Käfer und Libellen fressen. Basta! Jeder müsse seinen Platz im Leben kennen und sollte sich nicht in irgendwelchem Unsinn verlieren.

Aber Artus war noch lange nicht bereit, klein beizugeben. Denn ein Held ohne Heldentat war kein Held. Und so berief er eine Konferenz der Kröten ein.

Wegen jener, doch jeder Spezies eigenen Neugierde und einer Neigung zu Klatsch und Tratsch, sobald man intellektuell die Möglichkeit dazu entwickelt hatte, waren sie alle gekommen. Mit hängenden Mundwinkeln hockten sie da und warteten auf Artus’ Auftritt. Ein grüngelber Sumpfdotterblumenschild mit pickligen braunen Schenkeln hüpfte auf den Platz. Artus brachte sich in Position.

„Brüder und Schwestern!“, begann er und spitzte die schmalen, beigefarbenen Lippen. „Wir haben ein Problem. Ihr kennt es! Es ist der Dachs. Fast jede Nacht kommt er und holt einen von uns. Aber ich, ich werde ihn zur Strecke bringen. Für euch, für uns und für unseren Laich!“

Ein Raunen ging durch die Versammelten. Würde dieser halbstarke Irre mit der Persönlichkeitsstörung ihnen wirklich den Dachs vom Halse schaffen? Das wäre ja … das wäre ja … unglaublich!

„Wir haben da nichts dagegen, aber wir glauben nicht, dass du das kannst“, unkte einer von ihnen.

„Ich kann das. Ihr müsst nur still sein, wenn ich es sage, und dürft nicht quaken.“

„Wir können das nicht. Quaken ist unsere Bestimmung.“

„Das ist doch Quak! Ihr könnt das.“

„Keiner hat uns zu sagen, was wir können!“

„Aber es ist doch zu unser aller Wohl! Ihr müsst einfach nur das Maul halten und ich mach den Rest. Ich bin dazu geboren, ein Held zu sein!“

Siebzehn Nächte und fünfzehneinhalb gefressene Kröten später setzte Artus seinen Plan in die Tat um. Mit einem frisch zusammengebastelten neuen Schild saß er neben dem ersten Produkt seiner Heldenhaftigkeit: Unter einer dünnen Schicht Blätter lag ein, in Krötengröße gemessener riesiger Abgrund. Die Tage zuvor hatte Artus wie besessen Erde ausgehoben und am Boden der kleinen Grube warteten spitze Äste auf den weichen, flauschigen Bauch des Dachses. Im dichten Gras um die kleine freie Fläche hockten die anderen Erdkröten und glotzten gebannt. Es herrschte Totenstille.

Artus holte tief Luft und dann quakte er wie besessen. Und zwar mit einer Inbrunst und Penetranz, dass zum einen so manches Krötenweibchen seinen Hang zu bedingungsloser Polygamie überdachte und zum anderen der Dachs einfach kommen musste, auch wenn er keinen Hunger hätte, nur, um den Lärm zu beenden und der Welt ihren unspektakulären Frieden wiederzugeben.

Alles verlief wie geplant. Der Dachs kam, wunderte sich kurz über die Erdkröte mit Salatbeilage und Kräutertopping, ahnte aber nichts, schlich sich heran, brach ein und war tot. Artus verstummte augenblicklich. Und hätten es seine herabhängenden Mundwinkel zugelassen, hätte er gelächelt.

Leider erzielte dieser Befreiungsschlag nicht ganz die Wirkung, die er sich erhofft hatte. Die Kröten verließen ihre Deckung, hüpften heran und sie starrten zwar halbwegs beeindruckt in die Grube mit dem aufgespießten Fressfeind, ein Jubel jedoch blieb aus.

„Warum freut ihr euch denn nicht?!“, fragte ihr Retter.

Entgeistert starrten ihn alle an. „Wir freuen uns über dicke Käfer und fette Libellen, aber doch nicht über etwas, was gar nicht mehr da ist. Sich über etwas zu freuen, was gar nicht mehr da ist, ist doch absurd.“

Artus schüttelte nur den Kopf, er fand sich trotzdem sehr heldenhaft.

Die darauffolgenden Tage knüpften allerdings nahtlos an sein früheres Leben an: Sie waren unspektakulär. Ja, viel schlimmer: Sie waren noch unspektakulärer als zuvor. Kein Dachs bedeutete keine Angst, keine Verluste, keinen Tratsch, keinen Grund, sich zu unterhalten. Es wurde still am Teich, und irgendwie auch gähnend langweilig.

Doch dann wurde eines Nachts wieder einer von ihnen gefressen. Ein neuer Dachs hatte sich das freigewordene Revier unter die Pfote gerissen. Schlagartig kam wieder Leben in die Bude. Alle Kröten quakten entsetzt, empört und verängstigt durch die Gegend.

Nur Artus war begeistert. Wenn es die Kröten das erste Mal nicht kapiert hatten, dass er ein mit allen Wassern gewaschener Held war, dann ganz sicher jetzt, wenn er sie abermals von der Gefahr befreien würde. Doch noch bevor er erneut zur Tat schreiten konnte, wurde er von seinen Brüdern und Schwestern umringt.

„Alles im Leben hat seinen Platz. Im großen System hat alles seine Ordnung. Ein gemeinsamer Feind ist das Schönste, was einer Gemeinschaft passieren kann. Und du wirst ihn uns nicht wieder kaputtmachen!“

Genau deshalb liegt Artus nun auf dem rauen Asphalt der Straße, mit Steinen an den Füßchen. Er sieht die Lichter auf sich zurasen, schließt die Äuglein und versucht, ein letztes Mal den kühlenden Lufthauch auf seiner Haut zu genießen.

Ein Held ohne Heldentat ist kein Held und ein Held ohne Heldentod ist nicht unsterblich. Da muss er jetzt eben durch.

Die Romantik bei den Bufonidae

Das Erdkröten-Männchen gehört nicht zu den wählerischsten Tieren. Vor allem während der Paarungszeit werden sie schier blind vor Liebeslust. Dieses Phänomen wird durch den massiven Männerüberschuss (auf ein Weibchen kommen mindestens drei Männchen) noch verstärkt. Sie umklammern dann nicht nur die Kröten-Weibchen, sondern hängen sich an alles, was sich im Wasser herumtreibt: Hölzer, Kunststoff oder sogar Fische. Das mag seltsam erscheinen, doch auch bei den Menschen gibt es Exemplare, die in Liebesdingen – wenn kein geeigneter Partner zugegen ist – Plastik oder Gehölz durchaus tauglich finden.

Stars and Stripes

Zwischen Dajan und seinen Homies lagen Welten. Nicht nur weltanschaulich oder im Temperament – er sah auch anders aus als die anderen. Er war eindeutig nicht von ihrer Art.

Dass er kein Zebra wie sie war, wollten sie aber einfach nicht wahrhaben. Dabei hatte er es doch selbst gesehen! Als er sich eines Tages niedergebeugt hatte, um aus einem ungewöhnlich klaren Wasserloch zu trinken, hatte er seine Spiegelung gesehen. Und da war es ihm wie Krokodilsschuppen von den Augen gefallen. Anfangs konnte er es gar nicht fassen, etwas derart Besonderes zu sein. Er, der von den anderen nie beachtet worden war und – nach dem frühen Tod seiner Mutter durch die Löwen – wie ein Sonderling behandelt wurde.

Unmittelbar nach seinem Erleuchtungserlebnis, das ihn ja letztendlich während des Trinkens ereilt hatte, war er freudestrahlend zu seiner Herde gelaufen, die genüsslich an der Böschung weidete. Stolz hatte er ihnen seine Erkenntnis mitgeteilt. Die Zebras hoben die Köpfe, abgeknicktes Gras hing noch aus ihren Mundwinkeln, dann sahen sie sich gegenseitig an und brachen zeitgleich in wieherndes Gelächter aus. Gelbe Zahnreihen blitzten ihm entgegen. So einen guten Witz hätten sie Dajan nie zugetraut, dröhnten sie, ob ihn die Fingerhirse gestochen hätte. Dajan hatte sich noch nie so beschämt und unverstanden gefühlt.

Monatelang redete er auf den Märschen von Wasserloch zu Wasserloch ununterbrochen auf sie ein, aber genützt hatte es nichts. Im Gegenteil, sie waren zuerst amüsiert, dann genervt gewesen und irgendwann wurden sie richtig gemein zu ihm. Sie wollten ihm einfach nicht glauben, doch Dajan wusste es besser. Seine Herde war einem billigen evolutionären Trick aufgesessen. Bei seiner Geburt war das so wie bei den Küken der Helmperlhühner – nur eben umgekehrt:

Wenn ein Helmperlhuhn-Küken schlüpft, dann erkennt es das erste Lebewesen, das es sieht, als seine Mutter an. Selbst wenn das ein Erdferkel wäre und ganz eindeutig keine Helmperlhenne. Das Küken denkt sich nur: „Mama!“ Und: „Meine Güte, wenn meine Mama so hässlich ist, dann bin ich’s ja auch.“ Und dann wächst dieses arme kleine Küken in dem Bewusstsein heran, ein Erdferkel zu sein, und wundert sich sein Leben lang, warum es von seinen angeblichen Artgenossen kaum beachtet wird.

Nur die wenigsten Lebewesen auf dieser Erde finden ein sauberes Wasserloch oder einen Spiegel und die allerwenigsten schnallen dann auch, dass sie sich selbst sehen – und keinen Alien. Die meisten Helmperlhuhn-Küken, die als erstes nach dem Schlüpfen ein Erdferkel zu Gesicht bekommen, werden auch als Erdferkel sterben. Nur die wenigsten werden den Fehler in ihrer Selbstwahrnehmung erkennen und selbst dann werden sie glauben, lediglich ein verirrtes Erdferkel zu sein, das im Körper eines hässlichen Vogels sein Dasein fristen muss.

Und genauso muss es kurz nach Dajans Geburt auch gewesen sein – nur eben umgekehrt. Die Herde hatte ihn auf den ersten Blick als Zebrafohlen erkannt und diese Klassifizierung nie wieder in Frage gestellt. Wie Dajan dieses Ignorantentum hasste!

Dabei war es doch offensichtlich, dass er vielleicht die Form eines Zebras hatte, allerdings war er eindeutig nicht schwarz-weiß gestreift. Die Evolution hatte mit ihm eine weitere Hürde genommen, wahrscheinlich war er der erste, der zukünftige Urahn einer neuen, herausragenden Rasse.

Er fand es vermessen, dass ihn alle auslachten, ihn kleinreden wollten und die Anerkennung versagten. Es war einfach lächerlich! Dajan war kein Nullachtfünfzehn-Zebra, nein, er war etwas Besseres. Er war nicht wie seine Homies, er hatte vollkommen andere Skills, bessere Skills! Er war nämlich nicht schwarz-weiß gestreift, sondern weiß-schwarz. Und auf seinen weißen Balken unter den Nüstern war er besonders stolz.

Und irgendwann würden diese Idioten das schon erkennen … aber dann, dann würde es zu spät sein. Dann würde er ihren schwarz-weißen Fressen einfach seinen weiß-schwarzen Arsch entgegenstrecken und seine eigene Gang gründen. Aber so was von. Yo, Mann!

Die Einsamkeit des Orycteropus’

Das Erdferkel, das bis zu siebzig Kilo schwer werden kann und am liebsten Ameisen frisst, sieht mit seinen hasenähnlichen Ohren, dem schweineartigen Rüssel und dem Rattenschwanz aus, wie ein sehr gewagtes Genexperiment. Lange wusste man nicht, wohin man es biologisch einsortieren sollte. Nach molekulargenetischen Untersuchungen ist nun klar, dass das Erdferkel mit keinem anderen lebenden Säugetier verwandt ist – und das schon seit circa neunzig Millionen Jahren. Es ist wahrlich des Letzte seiner Art.

Aus grosser Kraft folgt grosse Verantwortung

Schon als kleines Kind fühlte sich Fiejte Schmittchen zu Großem berufen und war sich sicher, dass sein vorgeblicher Vater Harald Schmittchen niemals sein Erzeuger gewesen sein konnte. In seinem Stammbaum sah sich Fiejte in direkter Verwandtschaft zu Superman, Spiderman oder Mister Fantastic; auch wenn andere behaupteten, dass – wenn überhaupt – bei seiner Zeugung höchstens Hulk im Spiel gewesen sein könnte. Fiejtes ungesunde Gesichtsfarbe, der klobige Körperbau und sein eher schlichtes Gemüt stützten leider diese These.

In Hinblick auf seine schlechten Noten fragte ihn seine Klassenlehrerin einmal, was er denn zu werden gedächte. „Superheld natürlich“, hatte er geantwortet, und obwohl er aus seiner Berufung nie einen Hehl gemacht hatte, lachten ihn seine Klassenkameraden aus und wurden noch fieser zu ihm als zuvor.

Es ist ein Märchen, dass aus Putzfrauen, die den Aschekübel leeren, Prinzessinnen werden und aus Mobbingopfern starke Persönlichkeiten entstehen. Die wirklich Geknechteten haben immer zu wenig Zeit und Energie, um ihren Peinigern die Stirn zu bieten. Und so wurden Fietjes Schulleistungen infolge seines Geständnisses noch schlechter.

Aber – so tröstete er sich – ein Superheld braucht schließlich keine guten Noten in Mathe, Deutsch oder einer anderen Fremdsprache. Wenn er erst einmal groß in das Weltrettergeschäft eingestiegen sein würde, dann könnte er sich sowieso eine persönliche Assistentin für die banalen Dinge des Lebens leisten.

Allerdings stellte sich der Einstieg in sein Superhelden-Dasein dann doch als sehr schwierig heraus. Niemand ließ sich freiwillig in seiner Gegenwart von einem Bus überfahren und auch die Feuerwehr war immer viel schneller bei einer Brandstätte als er.

Obwohl er immer allen helfen wollte, wollte sich niemand von ihm helfen lassen. Deshalb hatte er auch beschlossen, sein Schicksal als Held selbst in die Hand zu nehmen.

In seiner Frühphase als Menschenfreund-Azubi hatte er die kleine Treppe zum Friedhof mit ordentlich Schmierseife präpariert, saß dann wie zufällig auf der Parkbank daneben und tat betont unbeteiligt, während er darauf wartete, dass ein altes, gebrechliches Mütterchen ausrutschen würde. Er hatte sich die Szene seines ersten großen Erfolgs wie in Zeitlupe vorgestellt: Sie verliert den Halt, ihre Augen schreckensgeweitet, ihr Dutt verrutscht, er springt auf wie eine geschmeidige Katze, fängt sie noch im Fall mit seinen starken Armen auf, sie vergießt dankbare Tränen der Rührung, er bekommt von ihr ein Eis spendiert.

Leider rutschte dann nur der dicke Bürgermeister aus, und Fiejte fing nicht ihn, sondern nur sich eine ordentliche Backpfeife ein.

Seit diesem Vorfall gingen ihm alle aus dem Weg. Denn wo Fiejte mit seinem Erste-Hilfe-Köfferchen herumlungerte, war irgendwo ein Stolperstrick gespannt, ein Türschloss verklebt oder ein Fahrradschlauch zerstochen. In jener Kleinstadt am Rande der Ostsee kannte und fürchtete man ihn. Zumindest das hatte er im Leben schon erreicht: Respekt.

Fiejte hatte irgendwann erkannt, dass er mit dieser Taktik der Eigeninitiative nicht sehr weit kommen würde. Also änderte er seine Strategie und dachte sich einen mehrphasigen Superhelden-Ausbildungsplan aus: klein anfangen und sich langsam von den einfachen Lebensformen hocharbeiten.

Zunächst beschränkte er sich auf die Rettung von Weichtieren und Insekten. Er nahm in Pfützen dümpelnde, schon etwas weißlich gewordene Regenwürmer mit nach Hause und föhnte sie trocken (zugegeben, manchmal auch etwas zu trocken), er klebte Schnecken mit Pattex an Radkappen, weil er sich dachte, dass auch sie einmal dem Rausch der Geschwindigkeit verfallen wollten und er knibbelte noch zuckende Fliegen von Leimbändern, auch wenn die dabei alle ihre Beine (und meistens auch das Leben) verloren. Aber Opfer musste man für die Freiheit eben bringen.

Draußen stürmt und regnet es, als Fiejte Schmittchen beschließt, die Welt heute wieder ein kleines bisschen mehr zu retten als am Tag zuvor.

Der Wind zaust an dem alten Reetdach des Hauses und die altersschwachen Fenster haben Mühe, das schlechte Wetter draußen zu halten. Seit seine Eltern gestorben sind, weht immer eine kühle Brise durch die dunklen, leeren Räume und keine Kerze brennt lange. Fiejte ist das egal, denn heute würde er sich an Größeres wagen, eine komplexere Lebensform retten. Also weg von den Weichtieren, hin zur nächsthöheren Ordnung.

Fiejte zieht sich seinen dunkelgrünen Regenmantel über, packt eine Brotdose mit frisch geschmierten Stullen und eine Thermoskanne mit heißem Kaffee ein und macht sich mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze auf den Weg zum Strand.

Er lächelt, als die erste Böe in beinahe umreißt. Doch Fiejte weiß, was zu tun ist.

Seine Oma hatte ihm diese tolle Geschichte erzählt:

Da war ein Sturm und hatte ganz viele Seesterne an den Strand gespült. Und dann lief da ein Mann mit seinem Freund entlang und warf ein paar Seesterne wieder zurück ins Meer. Aber eben lange noch nicht alle. Wäre auch nie möglich gewesen, weil es ja so viele waren. Der Freund fragte dann den Mann, was das denn soll. Denn schließlich macht es statistisch keinen Unterschied, ob er nun zwanzig von den zwanzigtausend gestrandeten retten würde oder gar keinen. Und der Mann hat dann geantwortet, dass es für die geretteten Seesterne durchaus einen Unterschied machte.

Was für eine tolle Geschichte! Fiejte ist fest entschlossen, es noch besser zu machen, er ist schließlich mitten in seiner Superhelden-Ausbildung (die leider nicht vom Jobcenter finanziell unterstützt wird). Wenn heute Seesterne am Strand lägen, dann würde er ALLE einsammeln.

Ihm ist allerdings klar, dass es da noch eine kleine Hürde zu nehmen gilt: Es gibt an der Ostsee keine Seesterne. Jedenfalls hat er noch nie einen am Strand gesehen.

Am Strand sieht er erst einmal nur endlos grauen Himmel, tosende schaumgekrönte Wellen und braunen feuchten Sand. Fiejte fühlt sich in seinem dunkelgrünen Regenmantel wie Bruce Willis in Unbreakable. Das Einzige, was ihn und Bruce in diesem Moment unterscheidet, ist der Blick auf die Ostsee.

Große Tropfen prasseln auf seine Kapuze, während er nach Weltrettermanier gekonnt die Lage checkt. Zwischen dem angespülten Strandgut liegt noch nicht mal ein toter Ertrunkener, geschweige denn ein gerade noch so lebender.

Fiejte ist enttäuscht. Aber dann vergegenwärtigt er sich wieder seine Hauptsache-größer-als-Weichtiere-Strategie und beäugt noch einmal angestrengt die Umgebung. Durch den peitschenden Regen sieht er fast nichts.

Aber halt! Da! Zwischen dem verknoteten Seetang zuckt etwas im Sand. Ein Fisch! Er lebt! Und er befindet sich in Not. Fiejte jubiliert innerlich.

Das ist seine große Chance! Er würde diesen Fisch retten. Aber nicht so, wie der Mann aus der Geschichte seiner Oma. Er würde es besser machen.

Er hatte gehört, dass Leute, die an den Strand gespült wurden, ganz schnell etwas Warmes brauchten. Und so packt er den glitschigen, zappelnden Fisch, drückt ihn das japsende Maul auf und gießt ihm den dampfenden Kaffee in den eindeutig erwartungsvoll aufgerissenen Schlund. Tatsächlich wird der Fisch plötzlich sehr ruhig. Fiejte ist zufrieden mit sich und seiner Aktion, wirft den beruhigten Fisch wieder zurück ins Meer und schlendert glücklich nach Hause.

Für ihn ist dieser Tag ein voller Erfolg und nur von außen betrachtet scheitert ein ambitionierter Weltretter ein weiteres Mal an der fehlenden Flexibilität seiner Umwelt.

Das Volk der Asteroidea

Nein, obwohl es der Name vermuten lässt, Seesterne sind keine Außerirdischen. In der Ostsee lebt von den weltweit circa eintausendsechshundert Arten aber tatsächlich nur eine einzige, die sich auch nur extrem selten an den Strand spülen lässt. Diese scheue Art gehört dann auch noch zu den „wahren Seesternen“, weil sie nur fünf Arme hat – und nicht mehr. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich, dass man kein „echter“ Seestern ist, wenn man überambitioniert mehr Arme ausbildet – da wird man schnell als untrue disqualifiziert. Nur durch Quantität lässt sich also in diesem Metier niemand überzeugen … Vorbildlich, wie ich finde.