Daniel Defoe

Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge

Aus dem Englischen von Heide Lipecky

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Mit einem Vorwort von John Robert Moore

Über Daniel Defoe

Daniel Defoe (1660–1731), selbst Urenkel kontinentaler Auswanderer, kämpfte als Journalist gegen soziale Missstände. Als Satiriker warf man ihn ins berüchtigte Newgate-Prison, als Autor des Romans Robinson Crusoe wurde er unsterblich.

 

Heide Lipecky, geboren 1943, war vierzig Jahre lang Redakteurin der Zeitschrift Sinn und Form. Sie übersetzte u.a. Werke von Richard Yates und René Girard. Sie lebt in Berlin.

Über das Buch

Am 11. August 1709 erscheint in England ein Text, der die unbedingte Aufnahme deutscher Flüchtlinge fordert. Das Argument: Die Aufnahme werde England zu nationaler Ehre gereichen und einen beträchtlichen wirtschaftlichen Gewinn mit sich bringen. Der Autor: Daniel Defoe.

Zu Zehntausenden kommen die Menschen aus der Pfalz, um Armut und religiöser Verfolgung zu entgehen. Auch damals werden Rufe nach Obergrenzen, Kontingenten und Flüchtlingskolonien laut, und auch damals gibt es gute Gründe dagegen. Defoe verschafft sich Zugang zu offiziellen Dokumenten und Statistiken, er führt zahlreiche Interviews. Was er in Erfahrung bringt, ist erschütternd, aber nicht aussichtslos. Er berichtet von fremdenfeindlicher Hetze gegen die Deutschen ebenso wie von der Zivilcourage vieler Privatleute, die versuchen, den Heimatlosen neue Hoffnung zu geben. Ein Zeitzeugnis ohnegleichen.

Impressum

Defoes Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge sowie John Robert Moores leicht gekürztes Vorwort erschienen auf Deutsch erstmals in der Zeitschrift Sinn und Form (März/April 2016).

 

Originaltitel

A Brief History of the Poor Palatine Refugees

1709

 

 

Deutsche Erstausgabe

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© Vorwort: 1964 John Robert Moore

Trotz sorgfältiger Recherche konnte der Rechtsnachfolger nicht ermittelt werden.

Umschlaggestaltung: dtv

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43240-5 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14591-6

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423432405

Fußnoten

[1]

Familienruhm ist nichts als Trug

Nur eigene Tugend macht uns groß.

[2]

Zur Verteidigung des Rheinlands ließ Ludwig der XIV., Allerchristlichster König von Frankreich und Navarra, nachdem er die Kriege in beiden Deutschland beendet und den Frieden überall wiederhergestellt hatte, diese Festung auf Seine eigenen königlichen Kosten mit Wällen und Mauern verstärken, als ein Denkmal seiner Tapferkeit und der Wiederherstellung der deutschen Freiheit. 1666. Er vollendete sie zum Schrecken seiner Feinde, zur Unterstützung seiner Verbündeten und zur Sicherheit für die Franzosen, da es das zweite Bollwerk Frankreichs diesseits des Rheins war und ein Schlüssel nach Deutschland, niedrig in der Lage, aber nicht in Stärke. Was er zuschließt, macht keiner auf; und was er öffnet, macht keiner zu.

[3]

Freiheit ist eine ernste Angelegenheit.

Vorwort

von
John Robert Moore

Im Frühsommer 1709 trafen weiterhin Flüchtlinge aus der Unterpfalz in England ein – des Englischen nicht mächtig und ohne Aussicht auf Broterwerb, fast oder völlig mittellos. Ein Hungerjahr, die Verheerungen durch die französischen Truppen oder religiöse Verfolgung hatten viele aus ihren Orten in der Rhein-Neckar-Region vertrieben.

Über ihre Religion und ihre Herkunftsländer bestand Unklarheit. Ein englischer Beobachter, der ihr Lager auf Blackheath bei London besucht hatte, berichtete, sie »kamen nicht wegen religiöser Verfolgung herüber, denn die meisten von ihnen lebten unter der Herrschaft protestantischer Fürsten«. Eine beträchtliche Anzahl der aus der Unterpfalz Gekommenen erwies sich als katholisch; und da viele von ihnen vermutlich ehemalige Protestanten waren, die ihren Glauben aufgrund von Zwang oder Überredung seitens des Kurfürsten gewechselt hatten, legte man ihnen nahe, der Church of England beizutreten, anstatt sich zurückschicken zu lassen. Doch im Sommer 1709 war die allgemeine Meinung, dass die meisten Flüchtlinge aus der Unterpfalz stammten und wegen ihres protestantischen Glaubens Verfolgung gelitten hatten.

Als Pfälzer bezeichnete man alle, die den Rhein hinunter zur holländischen Kanalküste zogen und von dort nach England übersetzten. Mit einer einfachen Alliteration nannte man sie »poor Palatines«, arme Pfälzer. Bei den Anhängern von Godolphins Ministerium – zumeist Whigs, Low-Church-Mitgliedern und Dissentern – deutete diese Bezeichnung auf Mitgefühl mit ihrem Ungemach. Bei Godolphins Gegnern – zumeist Tories und High-Church-Mitgliedern – war sie mehr eine Erinnerung, dass sie keinen materiellen Reichtum nach England gebracht hatten und Objekte öffentlicher und privater Wohltätigkeit waren.

Viele Engländer (darunter Defoe), erinnerten sich daran, dass eine wunderschöne und beliebte englische Prinzessin vor fast hundert Jahren den Kurfürsten von der Pfalz geheiratet hatte und dass sie und ihr Mann die Kurwürde durch die Feigheit und Torheit ihres Vaters, Jakobs I., verloren hatten. Eine Tochter des unglücklichen Paares lebte noch als Sophie, Kurfürstin von Hannover, designierte britische Thronfolgerin und Mutter Georgs, des künftigen Königs von Großbritannien. Im Spanischen Erbfolgekrieg, in dem Großbritannien von der deutschen Grenze bis zu den Feldern Spaniens operierte, hatten pfälzische Soldaten einen glänzenden Ruf.

Für die Ankunft der Pfälzer wurden damals unterschiedliche Gründe genannt. In den Vorjahren hatte William Penn um deutsche Siedler für Pennsylvania geworben; doch in letzter Zeit war er in juristischen und finanziellen Schwierigkeiten gewesen, sodass er 1709 nicht in der Lage war, sie wirkungsvoll zu unterstützen, obwohl das Einbürgerungsgesetz, das er vor allem wegen der französischen Hugenotten befürwortet hatte, am 23. März in Kraft getreten war. Agenten der Carolina Proprietors luden deutsche Auswanderer auch dann noch ein, als London die Pfälzer bereits zur Rückkehr drängte. Königin Anne selbst hatte durch ihr Wohlwollen gegenüber in Not geratenen Lutheranern den Glaubensgenossen ihres verstorbenen Mannes Zuspruch erwiesen. Nach dem Sturz von Godolphins Ministerium berichtete ein feindlich gesonnener Unterhaus-Ausschuss, in der Pfalz werde ein Buch mit dem Porträt der Königin als Frontispiz verbreitet, als Ermutigung, nach England zu kommen, um sich nach Carolina oder in eine andere Kolonie schicken zu lassen.

Flüchtlinge strömten weiterhin nach England, im Ungewissen über ihren letztlichen Bestimmungsort. Königin Anne beteiligte sich großzügig an den Kosten für Beförderung und Ernährung. Und fast zum letzten Mal verschaffte Godolphins zu Ende gehendes Ministerium der Königin eine persönliche Befriedigung, indem es zur Unterstützung der Pfälzer die Finanzen der Regierung schwer belastete. Am 14. Juni ließ der britische Sekretär in Den Haag verlauten, »bei Fortsetzung von Ihrer Majestät Freigebigkeit oder irgend sonst einer Ermutigung, kann man, wenn man möchte, halb Deutschland haben, denn sie fliegen alle weg, nicht nur aus der Pfalz, sondern auch aus allen anderen Staaten im Rheinland«.

Den Vereinigten Niederlanden fiel es schwer, ihre zahlreichen Gäste zu ernähren, die auf die Beförderung nach England warteten. Und der Kurfürst von der Pfalz, ein Verbündeter Großbritanniens im Krieg gegen Frankreich, empörte sich über die Flucht so vieler Untertanen. Im Juli war der Strom der Auswanderer am Rhein und in den Niederlanden weitgehend eingedämmt; doch England stand vor dem Problem von 10000 Ausländern, die auf Blackheath und in Camberwell in Hütten oder Heereszelten kampierten. Öffentliche oder private Subskriptionen hatten reichliche Spenden erbracht, und die offizielle Gazette rief zu Vorschlägen für die Unterbringung der Flüchtlinge auf. Doch für deren ständige Ansiedlung oder Beschäftigung waren keine geeigneten Regelungen getroffen worden.

Godolphins Ministerium und die Sympathisanten der Pfälzer mussten auf Schritt und Tritt Schwierigkeiten gewärtigen. Die meisten Flüchtlinge wollten nach Amerika – doch dies war nicht die Zeit zum Entsenden der üblichen Flotten, Begleitschiffe waren in Kriegszeiten hoffnungslos knapp, und 10000 Pfälzer zu befördern, war schlicht unmöglich. Großbritannien blockierte rivalisierende Industrien in der Neuen Welt, und amerikanischer Tabak traf auf einem übersättigten europäischen Markt auf neue Konkurrenz vom Kontinent. Einige Arbeitskräfte konnte man für besondere Projekte wie die Herstellung von Teer und anderem Marinebedarf in den Wäldern New Yorks hinüberschicken. Doch solche geringfügigen lokalen Tätigkeiten boten keine wirkliche Lösung. Defoe befürwortete jahrelang eine englische Ansiedlung am Unterlauf des Rio de la Plata in Südamerika. Doch die Ansiedlung derart vieler Flüchtlinge in so großer Entfernung war in Kriegszeiten unerschwinglich, und deutsche Flüchtlinge (die kein Englisch konnten, das Projekt ablehnten und mit Großbritannien nicht durch Treuebande verknüpft waren) wären von Anfang an eine ausländische Kolonie.

Viele Flüchtlinge pochten darauf, sie hätten sich nach Nordamerika eingeschifft und kein Interesse, woandershin geschickt zu werden. Wenn man sie in etablierten Industrien in England unterbrächte, wären sie eine Konkurrenz für die einheimischen Arbeiter. Auf Gütern würden sie die Löhne der Landarbeiter drücken und (in künftigen guten Erntejahren) vermutlich einen Überschuss produzieren, den die englischen Landwirte gerade zu vermeiden suchten. Das meiste Ackerland lag in traditionellen Sprengeln, deren Amtsträger jede neue Verpflichtung für die Armen oder Arbeitslosen fürchteten. Öffentliche Besitzungen wie der New Forest waren durch Übergriffe immer mehr beschnippelt worden, sodass die Grundherren Futter und Brennstoff aus den umliegenden Wäldern in den Pachtzins einrechneten.

In Irland hatten das Parlament und Einzelpersonen Hunderte Pfälzer zur ständigen Ansiedlung eingeladen, doch Ausländer zum Einschiffungshafen nach Chester zu bringen, war schwierig. Nur wenige Sprengel waren bereit, den Fremden ohne Garantie, sich nicht aufzuhalten, den Durchgang zu erlauben; jeder Konflikt mit den Einheimischen wurde aufgebauscht und den Auswanderern angelastet. Der Bericht eines High-Church-Mitglieds von einer Auseinandersetzung zeigt die Vorurteile des waschechten Engländers:

»2640234