Cover

Kurzbeschreibung:

Der Tag, an dem das Ende beginnt ...

Berlin im Hier und Jetzt: Ein rätselhafter Virus ist ausgebrochen. Die Infizierten fallen zunächst in ein Koma und erwachen dann wieder – regiert vom rasenden Instinkt, alles und jeden zu töten. Erste Medienberichte verunsichern die Bevölkerung: Angeblich sind nur Mitbürger mit Migrationshintergrund betroffen, Kreuzberg und Neukölln gelten als kontaminiert. In einer Blitzaktion wird eine Mauer um das betroffene Gebiet errichtet, Innensenator Sentheim verhängt den Ausnahmezustand. In diesen dunklen Stunden erhält der investigative Journalist Robert Truhs einen politisch hochbrisanten Hinweis, der die noch bestehende Ordnung endgültig kippen könnte …


Peter Huth

Berlin Requiem

Roman

Edel Elements

You kill what you fear

And you fear what

You don’t understand

Genesis, »Duke’s Travels«

PROLOG

Das Wasser war schwarz vor lauter Ölschlieren. Hier lebten keine Fische, das hatten sie schon vor Jahren festgestellt.

Der kleinere der beiden Jungen nahm einen Kiesel und warf ihn im flachen Winkel, doch der Stein versank sofort.

»War ja klar«, sagte der andere Junge und lachte. Er wandte sich ab und setzte sich auf einen alten Autoreifen.

»Blödmann«, sagte der Werfer, suchte eine Handvoll geeignete Steine und machte sich erneut an die Arbeit. Als es ihm schließlich gelang, einen gleich viermal springen zu lassen, zog er zufrieden Rotz in der Nase hoch und spuckte ins Wasser.

»Wir machen ein Spiel«, bestimmte der Junge auf dem Autoreifen. Er nahm seine Brille von der Nase, zog ein sauberes Taschentuch aus der Hosentasche und begann, das rechte Brillenglas zu putzen. Das linke war mit einem braunen Pflaster verklebt, um die Sehstärke im rechten Auge zu trainieren.

Das gibt sich, hatte der Augenarzt gesagt.

Einauge, schrien die Kinder auf dem Schulhof.

»Okay«, sagte der Steinewerfer. »Wie geht das Spiel?«

»Ich stelle dir Fragen. Es gibt immer zwei Antworten.«

»Wie ein Quiz?«

»Nein. Keine Antwort ist falsch, es ist ein Entscheidungsspiel.«

Der Kleinere setzte sich ebenfalls auf einen Autoreifen und sah den Jungen mit der Brille an. Der stellte seine erste Frage:

»Was willst du lieber: drei Tage nichts essen oder drei Tage nichts trinken?«

Der Kleinere nickte, er hatte das Spiel verstanden.

»Ach so. Okay, nicht essen oder trinken ...«

»Genau.«

»Essen«, sagte der Steinewerfer. »Lieber nichts essen. Weil nach drei Tagen ohne Trinken bist du fast schon tot. Ich meine, viele Leute in Afrika essen wochenlang nichts, weil sie gar nichts haben.«

»Gut.«

»Und du?«

»Ich auch: lieber nichts essen.«

»Jetzt ich«, sagte der Kleinere. »Was willst du lieber: sitzen bleiben oder dass du dir das Bein brichst und humpelst?«

»Moment. Wie lange muss ich humpeln?«

»Für immer. Für dein ganzes Leben.«

»Trotzdem: lieber humpeln als sitzen bleiben. Auf gar keinen Fall will ich sitzen bleiben.«

»Echt? Lieber ein Krüppel als ein Jahr länger auf der Schule?«

»Damit hat das nichts zu tun.«

»Sondern?«

»Dann müsste ich dich ja auch noch jeden Tag in der Schule ertragen.«

Der Kleinere grinste und warf noch einen Stein ins Wasser. Doch der Brillenjunge lachte nicht mit. Vielleicht, weil er es ernst meinte, vielleicht auch, weil er sich eine neue Frage überlegte. Dann sagte er:

»Und: Willst du lieber verbrennen oder ertrinken?«

»Das ist schwer.«

»Sag jetzt.«

»Okay. Ich glaube, ich will lieber ertrinken. Verbrennen ist fürchterlich. Wenn du da stehst und die Flammen kommen ... Erst an den Füßen, dann an den Beinen ... Ertrinken geht schneller. Zwei Minuten ... vorbei.«

»Falsch. Beim Verbrennen wirst du total schnell ohnmächtig. Vom Rauch. Du bekommst nichts mit.«

»Aha. Sagst du. Aber du hast doch keine Ahnung. Oder bist du mal verbrannt?«

»Habe ich gelesen.«

»Aha. Erschossen oder aufgehängt werden?«

»Hmmm«, machte der Junge mit der Brille.

»Auch nicht schlecht, oder?«

»Mal gucken. Wie denn erschossen? So eine Hinrichtung oder überraschend, wenn einer eine Bank überfällt und ausflippt.«

»Ist doch egal.«

»Ist überhaupt nicht egal. Wenn du zufällig erschossen wirst, geht das total schnell. Aber bei einer Hinrichtung weißt du ja schon die ganze Zeit vorher, was passiert. Das ist noch mal schlimmer.«

»Okay, ich hab’s schon verstanden.« Der kleinere Junge wurde ungeduldig.

»Also: Hinrichtung.«

»Dann trotzdem erschießen. Denn wenn beim Erhängen das Genick nicht bricht, dann baumelst du eine halbe Stunde, und die Augen quellen dir aus dem Kopf, und meistens gucken da Leute zu. Und außerdem ...«

»Ja?«

»Außerdem weiß ich zufällig, dass du dir in dem Moment, wenn du beim Aufhängen stirbst, in die Hose machst. Und kotzt.«

»Ekelhaft.«

Die Jungen lachten beide. Der kleinere dachte jetzt nicht mehr an seine Steine und der andere nicht mehr an seine Brille.

Köpfen oder Vierteilen?

Vom Hochhaus fallen oder vom Laster überfahren werden?

Von einem Löwen zerfleischt oder vom Zug mitgeschleift werden?

Lepra oder Pest?

»Wer soll eher sterben? Du oder ich?«

Der Kleinere nickte langsam. Er überlegte eine Minute und streckte dann seine Hand aus, mit der Unterseite nach oben.

»Komm, lass uns nach Hause gehen. Es fängt an zu regnen.«

Wikipedia

Version: 14:05, 24. September

Tod Der Tod ist der endgültige Verlust der für ein Lebewesen typischen und wesentlichen Lebensfunktionen. Der Übergang vom Leben zum Tod wird Sterben genannt. Die genaue Grenze zwischen Leben und Tod ist schwer zu definieren. Je weiter man von der Grenzzone zwischen beidem entfernt ist, desto klarer scheint der Unterschied, je näher man an der Grenze ist, desto unschärfer wird sie: So können Lebewesen, bei denen bereits Herzstillstand eingetreten ist, durchaus erfolgreich wiederbelebt werden. Ebenfalls können einzelne Zellen und Gewebe während des sogenannten intermediären Lebens noch vielen Stunden nach eingetretenem Hirntod auf äußere Einflüsse reagieren.

Version: geändert am 23:11, 1. Oktober

Tod Bullshit.

1

In der Stadt, in der die Toten sich erheben, geht das Leben seinen Gang. Noch schläft Robert, unruhig, aber immerhin, er schläft. Das schwarze Bettlaken hat sich um seine Beine gewickelt, die Füße zucken in kurzen Abständen. Das blonde Haar verklebt, verfilzt von dem Schaum, der seine Strähnen tagsüber fast wie einen Helm nach hinten bändigt. Nachts eine Katastrophe. Ein Speichelfaden läuft aus seinem Mundwinkel, rinnt am Kinn mit den Bartstoppeln entlang und tropft auf das Kissen. Er sollte sich mal rasieren, wirklich. Kein schöner Anblick, der schlafende Robert. Aber immerhin, er schläft. Schon bald könnte das Luxus sein: durchschlafen. In einem Bett, in einer Wohnung, in einem Haus, in einer friedlichen Straße, mit Geschäften, Autos, Menschen.

Lebenden Menschen.

Roberts Kopf zuckt, er träumt. Wer schläft, verarbeitet die Wirklichkeit. Kein Wunder, dass Roberts Kopf zuckt.

Sarah ist schon eine ganze Weile wach. Erst hat sie Robert beim Schlafen zugesehen, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Jetzt starrt sie aus dem Fenster über dem Bett. Der Mond steht gelb am Himmel, rot und weiß blitzen die Lichter an der Spitze des Fernsehturms. Der Himmel ist das Einzige, was sich nicht verändert hat.

Robert schnarcht leise – ein gedämpftes Rasseln, wie durch Watte. Aber bald wird er aufwachen, sich duschen und in den Sender fahren. Dort werden sie sich wieder treffen. Das wird unangenehm. Im Moment gibt es nur Fragen.

Der Fernseher läuft, ohne Ton. Die flackernden Bilder sind immer dieselben. Die Sender zeigen sie seit Tagen: drei Gestalten, taumelnd, wie betrunken oder im Halbschlaf. Dann zoomt die Kamera zurück, man erkennt, dass der Fotograf auf einer Art Aussichtsposten steht. Das Bild wackelt, ein Polizist legt seine Hand auf die Linse, es wird dunkel, der Ton läuft weiter. Jetzt hört Sarah ihn nicht. Aber sie hat den Film tausendmal gesehen, sie weiß, was der Polizist schreit:

»Was machen Sie hier? Sie haben keine ... Sie dürfen hier nicht ... Also, verlassen Sie umgehend das Sperrgebiet! Sofort!«

Sie zeigen den Film mehrmals hintereinander, auch in Zeitlupe. Er ist nur ein paar Sekunden lang, fantastisches Material. Ihr Sender hat es von Renner, einem freien Kameramann, gekauft. Weiß der Teufel, wie er auf den Turm gekommen ist. Aber er war oben, der einzige, der einen Blick auf die andere Seite werfen konnte. Die Kollegen erzählen, er hätte gekotzt, nachdem er sein Material abgeliefert hatte.

Renner war nach Hause gefahren, und Christian hatte ihm eine Flasche Whisky per Boten hinterhergeschickt. Seine Art, Danke zu sagen. Die Bilder sind Gold wert, erst vierundzwanzig Stunden exklusiv gesendet, dann verkauft, landesweit, weltweit. Sie zeigen es immer noch, nach drei Tagen, überall, als Beweis dafür, dass diese endlosen Expertenrunden, Ein-Stunden-Sondersendungen, Talkshows, Verlautbarungs-Pressekonferenzen und Außenreporter-Reportagen wirklich nötig sind. Als Beweis, dass es richtig ist, nicht das Traumschiff zu zeigen oder Wer wird Millionär? oder Frauentausch oder Die Deutschen, Teil 2.

Der Titel des Logos links oben ist auf fast allen Kanälen gleich.

Der Lazarus-Virus.

Der Sender, für den Sarah arbeitet, zeigt das Material in starker, grob aufgepixelter Vergrößerung. Die Augen, der Mund. Das Blut.

Robert schläft weiter. Sarah ist wach. Die Toten laufen. Die Stadt begreift erst langsam. Bäcker backen Brot, Lastwagen beliefern Supermärkte, es gibt natürlich noch immer Hummer, Schnittblumen und die neuesten Killerspiele für die Playstation 4. Der Müll wird abgeholt.

Die Fernsehbilder sind nah und doch weit weg. Angst schleicht sich langsam an, bevor sie zur Panik wird. Und es wird zur Panik kommen, aber so weit ist es noch nicht. Der Bürgermeister hält eine Rede, der Innensenator spricht. Es gibt einen Krisenstab. All das soll zeigen: Sie wissen, was sie tun. Und es gibt eine Erklärung, die beruhigen soll: Nicht jeder kann es bekommen!

Das Leben geht weiter. Die Zeitungen erscheinen. Sarah fischt nach dem iPhone und surft durch die Schlagzeilen von heute Morgen.

»Ihre Toten laufen!«

»Wie Experten sich den Lazarus-Virus erklären.«

»Meine Nacht an der Mauer zum Reich der Toten. Ein Berliner Polizist erzählt.«

Noch scheint alles beherrschbar, unter Kontrolle. Noch kann man analysieren und reden und sich einig sein, dass es bald eine Lösung geben wird. Vielleicht ist der Virus ja ein Zeichen, eine Strafe. Das denkt jedenfalls Sentheim. Wenn er in ihrem Studio sitzt, in weniger als fünf Stunden, wird sie ihn darauf ansprechen.

Sarah hat Angst. Vor dem Virus, aber auch vor den Theorien. Gefährlicher als die Krankheit sind die Menschen.

Robert schläft. Was macht sie hier? Warum ist sie nackt? Sie haben gevögelt, den kurzen Rest der Nacht, ohne Verstand. Genau das hätte nie mehr wieder passieren sollen. Das hatte sie sich geschworen, damals, in diesem Schleier aus Blut, in Warschau. Sie tastet nach ihrer rechten Wange, dahin, wo die Narben sind. Sie streicht ihre schwarzen Locken auf die Seite.

Sarah steht auf, sie wickelt sich ihr Laken um den Körper. Nackt will sie nicht sein, obwohl es niemand sieht. Ihr Fuß stößt Robert an, erst leicht, dann fest. Doch er schläft weiter. Sie beugt sich zu der Fernbedienung hinunter, greift sie mit der rechten Hand.

Sie drückt auf die Volume-Taste, die Stimmen der Nachrichtenleute werden lauter und lauter.

»... erreicht die Zahl der Infizierten nach ersten Schätzungen mittlerweile eine fünfstellige Höhe. Bis heute sind ausschließlich Fälle bekannt, in denen Mitbürger mit Migrationshintergrund betroffen sind. Während mit Hochdruck an einer wissenschaftlichen Erklärung dieses Phänomens gearbeitet wird, sind die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln jenseits des Columbiadamms bis zur Spree und dem Oranienplatz bis nach Treptow weiterhin gesperrt und nicht mehr zugänglich.«

Sarah zappt.

»Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, alle erdenklichen Mittel anzuwenden, um eine Ausweitung des Infekts zu stoppen, und haben vom Krisenstab des Innensenators die Erlaubnis erhalten, im Notfall von Schusswaffen Gebrauch zu machen. Nach dem Ablauf der Frist für die Evakuierung ist das Gebiet zwischen ...«

Sarah zappt.

»... werden seit einer Woche die provisorischen Sicherungsanlagen entlang der sogenannten Kontrollierten Zone durch massive Betonfertigteile verstärkt. Der Bereich innerhalb dieser Grenzanlage wird von fünfunddreißig Wachtürmen aus rund um die Uhr überwacht ...«

Sarah zappt.

»... ein internationales Expertenteam arbeitet in der Charité an der Entschlüsselung des Virus ...«

Sarah zappt.

»... haben die Sicherheitskräfte vom Krisenstab des Innensenators den Schießbefehl erhalten, wie ein Senatssprecher auf Nachfrage der Nachrichtenagentur dapd einräumte ...«

Sarah zappt.

»... erklärte Regierungssprecher Teller ausdrücklich, dass es sich bei der Evakuierung des Regierungsviertels nur um eine Vorsichtsmaßnahme handele. Das operative Geschehen liegt nach wie vor bei den Behörden des Berliner Senats. Die Kanzlerin sagte gegenüber der Deutschen Presseagentur, dass die Vorfälle nach wie vor als regionales Phänomen und nicht als nationale Krise zu bewerten seien.«

Ab wann wird es wohl als nationale Krise bewertet werden? Wenn die Reporter nicht mehr darüber sprechen können, was sie sehen, sondern nur noch das nachplappern, was ihnen die Behörden erzählen? Wenn alle Fernsehstationen die gleichen Bilder senden, die Talkshows die gleichen Gäste haben, wenn da plötzlich Leute sind, die behaupten, sie hätten die Lösung? Eine ganz einfache Lösung?

Olaf Sentheim sagt, er wisse, was zu tun sei. Er hat sich nicht geändert, seit Robert ihn im Januar zu Fall brachte.

Sarah zündet sich eine von Roberts Zigaretten an, obwohl sie nicht raucht. Schaltet den Fernseher aus und sieht sich um. Eine gute Wohnung. Edel, aber nicht protzig. So eine, wie Robert sie immer haben wollte. Robert hat seine Träume wahr gemacht. Einen Moment überlegt sie, nach der Pistole aus Warschau zu suchen. Sie reibt sich die Narbe unter ihrem rechten Ohr. Sie zieht, wie immer. Scheiß Warschau! Scheiß Robert! Scheiß Christian!

Sarah tritt auf die Planken der Holzterrasse. Die Stadt liegt vor ihr.

Im Südwesten ein Schuss. Sarah zieht an der Zigarette. Erstaunlich, wie schnell man sich an das Geräusch von Schüssen gewöhnt. Etwas stirbt, und man hört weg.

Sie wirft die Zigarette über die Brüstung, klaubt ihre Sachen zusammen, streift sich das Kleid über und schlüpft in die Schuhe. Robert schläft immer noch. Sie sieht den roten Bart, den Speichelfaden, aber auch sein Lächeln. Warum lächelt er? Weil er glaubt, dass er unschuldig ist. Dass er alles richtig macht. Das hat er immer geglaubt, und damals hat sie ihm das auch abgenommen – und deswegen hat sie ihn geliebt. Damals.

Sie hätte den Job nicht annehmen sollen.

Zeit heilt keine Wunden. Zeit heilt gar nichts.

Sie geht zur Tür und tippt eine SMS, während sie die Treppe hinuntereilt.

Der nächste Schuss hallt über die Straße, als sie schon unten ist.

2

Die Schüsse, die Sarah hört, werden aus einem SG-550-Präzisionsgewehr abgefeuert, Schweizer Fabrikat. Mike Fegin stellt das Gewehr neben sich ab. Er spuckt auf den Boden. Der junge Polizist sieht sich zu Polizeihauptmeister Karsten Seiks um, Schichtführer des Berliner PSK, des Präzisionsschützenkommandos.

»Das war’s. Gut gemacht, Junge«, sagt Seiks.

Fegin nickt, greift zum Feldstecher und betrachtet sein Opfer aus der Nähe. Die Leiche liegt genau auf der roten Linie, die exakt hundert Meter vor der Mauer auf den Boden gemalt ist.

Fegin holt ein Aufnahmegerät hervor. »Männlich, etwa fünfunddreißig Jahre alt. Schwarze Haare, Bartträger. Offensichtlich Migrationshintergrund ...«

»Was auch sonst, Junge?«, unterbricht ihn Seiks.

Mit träger Beamtenstimme spricht Fegin weiter auf den Rekorder.

»Der erste Schuss wurde um 5:38 Uhr abgegeben, als sich das Subjekt langsam auf die Demarkationslinie innerhalb der Kontrollierten Zone zubewegte und auf mehrmalige Warnrufe nicht reagierte. Das Projektil traf gezielt das rechte Bein, trat wieder aus. Mobilität sollte final unterbunden werden. Das Subjekt bewegte sich dennoch kriechend weiter in Richtung der D-Linie. Der nach Rücksprache mit PHM Seiks abgegebene Schuss traf die Stirn im seitlichen Bereich. Durch den Austrittsdruck wurde der größte Teil des Schädels zerstört. Das Subjekt wurde somit in seiner Vorwärtsbewegung gestoppt und endgültig eliminiert.«

»Genau so, mein Junge.«

Seiks zieht sich die schwarze Sturmmaske, die zur Standardausrüstung des PSK gehört, vom Kopf und klopft Fegin auf die Schulter.

»Noch drei Stunden, dann haben wir es für heute geschafft.«

Die beiden Männer sind seit neun Stunden auf dem provisorischen Wachturm, schon den siebzehnten Tag in Folge. Jeder von ihnen beobachtet die Häuserflucht der Oranienstraße für genau sechzig Minuten durch das Zielfernrohr, dann wechseln sie sich ab, wie es Vorschrift ist. Die Person, die Fegin vor wenigen Minuten ausgeschaltet hat, wird unter der Ziffer 364 dokumentiert werden. Fünfundzwanzig davon hat Fegin getötet, achtzehn Seiks, alle von diesem Wachturm aus. Die übrigen Todesschüsse wurden von den anderen Schichten sowie an den Kontrollstationen Oberbaumbrücke, Mehringdamm Süd und von der Bahnlinie aus abgegeben. Insgesamt sind mehr als hundertfünfzig Beamte des PSK im Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, zu verhindern, dass die Infizierten die rote Linie überqueren, sich der Mauer also auf weniger als hundert Meter nähern.

Fegin lehnt sich mit dem Rücken gegen die Brüstung und blickt auf den anderen Teil der Stadt, den Teil, »den es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt«, wie es in der Dienstweisung Nr. 64/80907743/a heißt.

Wenn er nach Hause kommt, wird ihn Sabine fragen, wie die aktuelle Lage ist, so wie jeden Tag, wenn er müde am Küchentisch sitzt. Seine Hand wird sie nehmen und erzählen, was sie in den Nachrichten gesehen hat, was dieser und jener Experte gesagt hat. Die kleine Falte auf ihrer Stirn wird größer werden, das ist Sabines Sorgengesicht. Vor den Kindern kann sie es verstecken. Vor ihm nicht. Sie wird sagen: »Du musst es doch wissen.«

Er weiß, was er sieht: Die Toten laufen.

Zu Sabine sagt er jeden Abend: »Mach dir keine Sorgen, wir haben alles im Griff.«

Aber er hat Angst. So wie Seiks, so wie alle anderen auch. Letzte Woche ist ein Reporter auf einen der Türme geklettert und hat mit seiner verfluchten Kamera ein Video gedreht, das jetzt rund um die Uhr im Fernsehen zu sehen ist. Polizeihauptmeister Fegin denkt: Wenn ein Journalist einen der Türme stürmen kann, dann können es die Toten von der anderen Seite vielleicht auch.

Noch sind sie langsam. Leichte Beute.

Fegin wendet sich seinem Kollegen zu.

»Was, wenn sie schneller werden?«

Seiks liegt in vorbildlicher Körperspannung über der Brüstung, das Gewehr aufgesetzt auf den mit Granulat gefüllten Sandsack, das rechte Auge nur Millimeter vor dem Zielfernrohr. Der rote Laserpunkt liegt genau in der Mitte der Oranienburger Straße. Drei Autos, ein Opel und zwei BMW, stehen auf der Fahrbahn, die Türen offen. Die Leuchtreklamen der Dönerbuden und Restaurants flackern, wie immer, bei Tag und bei Nacht. In seinem Blickfeld taumeln insgesamt acht Personen ziellos umher. Zwei Frauen laufen aufeinander zu. Die beiden verfehlen sich um Zentimeter, vielleicht berühren sie sich auch, das kann man bei dem schwankenden Gang kaum erkennen, aber sie nehmen voneinander keine Notiz. Träge stolpern sie weiter, jede für sich.

»Diese Dinger? Warum sollten sie schneller werden?«

Fegin lacht. »Und vor vier Wochen? Wenn dir da einer gesagt hätte, dass die Toten überhaupt laufen können? Was hättest du da gesagt?«

Seiks zuckt mit den Schultern.

»Ich hätte ihn für verrückt erklärt, Kleiner.«

Um acht Uhr ist es fast taghell. Auf dem Oranienplatz hinter dem Turm nehmen die Bautrupps wieder ihre Arbeit auf. Die Mauer, die sie errichteten, besteht aus drei Meter hohen und einen Meter breiten Betonfertigteilen. Es musste schnell gehen vor zwei Wochen, noch klaffen gefährliche Lücken. Eine zweite Verteidigungslinie soll vor der ersten Mauer errichtet werden, dann werden die Türme genau dazwischen stehen, in einem neuen Todesstreifen.

Insgesamt gibt es entlang der Absperrung fünfunddreißig Wachtürme. Wo Gebäude den Übergang zur Kontrollierten Zone markieren, sind die Fenster meist noch provisorisch mit Holz verrammelt, doch die Maurer kommen gut voran. Spätestens Ende des Monats, so der Plan, ist die Zone komplett versiegelt. Das größte Problem ist der Bahndamm im Süden, wo eine Strecke von acht Kilometern abgeriegelt werden muss; am einfachsten ist es im Osten, wo die Spree eine natürliche Barriere bildet. Die Toten können nicht schwimmen. Zumindest haben sie es noch nicht versucht.

All das hat Fegin Sabine gestern Abend erzählt und sich dabei Mühe gegeben, optimistisch zu klingen. Mauern, Wachtürme, die Kontrollierte Zone, die Demarkationslinie ... Gute Worte, Polizeiworte. So ein Scheißdreck.

Dann war das Essen fertig gewesen, und sie hatten sich an den Tisch gesetzt. Es gab Knacker und Kartoffelsalat. Für die Kinder waren die hart gekochten Eier mit Tomatenhälften und Mayonnaisetupfern wie Fliegenpilze zurechtgemacht.

Sabine glaubt, dass so etwas hilft. Julie ist drei, Max acht.

Der Fernseher lief, Spongebob in seiner lustigen Unterwasserwelt. Spongebob verliebte sich in eine Hamsterfrau, die auf dem Meeresboden unter einer Käseglocke lebte. Als Spongebob sie besuchte, musste er sich entscheiden: Liebe oder Leben. Der kleine Kerl gab sich alle Mühe, doch er vertrocknete bei lebendigem Leib, wurde faltiger, fasriger, dünner. Rote Blutadernstriche in seine Augen. Spongebob kotzte. Spongebob musste dringend raus aus der Sauerstoff-Käseglocke. Er war jetzt nur noch ein staubig-gelbes Ding.

Julie fragte: »Geht Sponschbob tot?«

Max schaute nicht vom Fernseher auf.

»In der Schule hat Melvin gesagt, dass wir es nicht kriegen können. Das Schlimme.«

Ja, genau, dachte Fegin. So ist es, mein Sohn.

Sabine aber reagierte, wie Mütter reagieren.

»Max, wen meinst du denn mit wir

»Na, uns. Die, die es nicht kriegen. Die, die keine Türken sind oder Araber.«

Richtig wütend wurde Sabine. Als wenn Max »Scheiße« gesagt hätte oder »Neger«.

»Das weiß man alles noch gar nicht. Und es ist nicht richtig, ›Türken‹ zu sagen, Max.«

Was für ein Schwachsinn! Warum durfte man denn jetzt nicht mehr »Türken« sagen?

»Papa, aber es stimmt doch, dass wir es nicht kriegen können, oder?«

Er sah seinen Sohn an, den dünnen Jungen mit seinen Sommersprossen und dem blonden Scheitel. Ein Kind, das von seinem Vater hören wollte, dass alles gut sei.

Ist doch so, oder, Papa?

Julie heulte, sie wollte wissen, ob Spongebob stirbt.

»Nein, Max, wir kriegen es nicht. Nur die.«

Sabine stampfte aus dem Zimmer, jetzt auch wütend auf ihn, aber das war es ihm wert. Als er später ins Bett ging, waren ihre Augen geschlossen, aber er wusste, dass sie noch wach war. Und natürlich konnte auch er nicht einschlafen. So hatten sie noch lange nebeneinander gelegen und sich ohne Worte angelogen.

»Da kommen welche.« Seiks reißt Fegin aus seinen Gedanken. Er zeigt in Richtung Kottbusser Tor. Drei Männer – oder das, was von ihnen übrig geblieben ist – schleppen sich die Oranienstraße entlang. Schwarze Lederjacken, gebleichte Jeans, diese fetten Nikes, von denen ein Paar locker 200 Euro kostet. Einer von ihnen ist widerlich fett. Fegin kennt solche Typen, solche Gangs. In ihren tiefergelegten, lächerlich aufgemotzten BMW. Die fremde Musik, kreischend aus den Riesenboxen im Kofferraum. Diese Typen sind die schlimmsten, ganz und gar unerträglich. Fegin denkt: Die benehmen sich so, als ob die Stadt ihnen gehören würde. Genau wie die grinsenden Gemüsehändler, die kichernden Kopftuchmädchen – geschminkte Lippen, billige Stilettos – und deren Mütter – Kinderwagen schiebend und keifend –, zwei Meter hinter ihren Männern, die rauchen, den ganzen Tag, und sich dann in ihre Teestuben verziehen, an denen draußen ein Schild hängt, auf dem auf Türkisch steht, dass er, Fegin, hier nichts zu suchen habe.

Dieser Blick: Was willst du, Alter?

Komm doch her, Alter.

Fegin legt an. Sieht die Männer im Zielfernrohr ganz nah. Sehr nah. Fegin betätigt den Abzug.

Sein erstes Opfer torkelt.

Ein schneller zweiter Schuss hebt den nächsten von den Beinen.

»Um Himmels willen, Fegin! Was soll die Scheiße? Was machst du denn da?«

Schuss Nummer drei trifft den Fetten, ins Bein.

Er kriecht weiter. Sie kriechen immer weiter. Das ist, was ihn so verrückt macht.

Drei Kopfschüsse, schnell abgefeuert, machen der Sache ein Ende.

»Kannst du mir bitte erklären, was das soll? Sie einfach so über den Haufen zu schießen?«

Seiks’ Stimme zittert. Aber Mike Fegin kennt seinen Partner lange genug, um zu wissen, dass da nicht nur Wut ist. Sondern etwas anderes: Erregung.

Fegins Stimme bleibt ruhig: »Sag mir einen Grund, warum ich warten sollte, bis die Arschlöcher bis zur Linie gerobbt sind. Einen einzigen, Seiks. Wenn du mich fragst: Je eher wir sie fertigmachen, desto besser.«

Weit hinten schälen sich weitere Silhouetten aus dem Schatten der Wohnhäuser. Auf der Straße ein leichter Nebel. Fegin lädt sein Gewehr nach, packt sich zwei Munitionstaschen und steht auf. Er geht zur Brüstung und sieht nach unten. Ein schneller Blick zu Seiks. Der nickt. Mike Fegin springt.

»Wie du meinst, Kleiner«, sagt Karsten Seiks und legt an.

3

Robert wirft die Jacke auf den Tisch und lässt sich in seinen abgeschabten Drehstuhl fallen, nestelt eine Zigarettenschachtel aus der Jeans. Er hält sie dem Techniker hin, einem Pferdeschwanzträger, den alle Zacko nennen. Zacko zeigt auf das Schild hinter ihm. »Rauchen verboten.«

»Ehrlich?«, fragt Robert und zündet sich eine Zigarette an.

»Nee. Natürlich nicht«, sagt Zacko und greift zu. »Ist doch jetzt eh scheißegal.«

Vor den Männern, raumbreit und raumhoch, eine Glaswand, dahinter das Studio. Die Kulisse ist die Skyline der Stadt, von Funkturm bis Fernsehturm. Mini-Lichter in den Papp-Fenstern. Sieht billig aus, denkt Robert. Das hätte ich Sarah ja gestern eigentlich auch mal sagen können. Drei Barhocker stehen in der Mitte, sonst ist das Studio leer. Nichts soll Zuschauer und Gäste ablenken, das ist Christians Konzept. Talk pur. Berlin hautnah. Aber diese blöden Lichter!

Ein Techniker im Holzfällerhemd und kurzen Cargohosen legt Ansteckmikrofone auf die Stühle. Zacko schiebt ein paar Regler auf dem Mischpult hoch und runter. Die Zigarettenasche fällt zwischen die Knöpfe, er bläst sie weg.

»Scheißegal«, sagt er.

»Jetzt sei doch nicht so weinerlich«, meint Robert und sucht nach einem Aschenbecher. »Noch ist kein Fall bekannt, bei dem ...«

»Ja, klar. Bei BSE waren’s am Anfang auch nur die Chinesen.«

»Das war die Vogelgrippe, Zacko. Das verwechselst du.«

»Was auch immer ... «

Über dem Regietisch hängen ein Dutzend Bildschirme von der Decke. In der Mitte das Programm des eigenen Senders, links und rechts die Konkurrenz, der Videotext und auf einem weiteren Monitor die Homepage der größten Zeitung der Stadt. Immer noch läuft überall das Material von Renner.

»Ich möchte echt gern wissen, wie der raufgekommen ist«, sagt Robert. Sein fester Kameramann und bester Freund Ben Lieving ist kaum mehr ansprechbar, seit Renner den Film angeboten hat. Neid ist gar kein Ausdruck. Solche Jobs sind normalerweise Bens Ding. Oder richtiger: sind ihr gemeinsames Ding. Aber seit ein paar Wochen läuft es einfach nicht mehr.

»Ich denke, er hat einen von den Bullen bestochen oder so«, sagt Zacko.

Robert schüttelt ungeduldig den Kopf. Was weiß ein Techniker, wie so was geht?, denkt er. Was weiß denn ich über diese ganzen Knöpfe da auf seinem Mischpult? Tatsache ist: Renner hat die Bilder, diese fantastischen Bilder, und wir haben sie nicht.

Hinter der Glasscheibe tauchen jetzt immer mehr Leute auf, auch Sarah. Sie sieht gut aus. Nicht vertrautgut, sondern profigut. Ausgeruht, lässig. Wie sie das wohl angestellt hat, nach der kurzen Nacht? Sie bemerkt ihn, hebt aber nur den Arm zu einem schnellen Gruß. Was auch sonst?

»Wir sind Idioten. Komplette Idioten«.

Diese SMS schickte sie ihm um 4:55 Uhr, wahrscheinlich aus seiner Wohnung, als er noch schlief. Roberts schlechtes Gewissen ist wieder da, natürlich, obwohl die Nacht sein Plan war, seit Christian ihn vor vier Monaten in sein Büro geholt hatte und Sarah dasaß und er mit offenem Mund vor den beiden stand und nichts sagen konnte. Vor Überraschung, vor Glück und vor Angst. Weil es wieder losgehen würde mit ihnen. Nicht ganz von Anfang an, dafür kannten sie sich zu lange, aber mit dem unvermeidlichen, ewig gleichen Ausgang: Sarah verzweifelt, Robert demaskiert als das Monstrum, das er schon immer gewesen ist.

»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, sagt Zacko. Ja, natürlich, denkt Robert und fragt sich, ob der Techniker bekifft ist. Alle Techniker kiffen. Aber, mein Gott, es ist noch nicht mal elf Uhr morgens! Zacko nickt zum mittleren Bildschirm, auf dem n-tv läuft. »Breaking News« steht auf dem Nachrichtenband.

»Mach mal lauter«, sagt Robert, und Zacko tippt auf die Fernbedienung.

»... zweiundzwanzig Tage nach dem erstmaligen Auftreten der Erkrankung scheinen die Behörden nach wie vor keine Erklärung für oder eine Strategie gegen den sogenannten Lazarus-Virus zu haben. Der Krisenstab der Bundesregierung, die Kanzlerin und die wichtigsten Minister haben die Hauptstadt verlassen, um in Bonn über das weitere Vorgehen zu entscheiden ...«

Die Bilder: schwarze Limousinen vor dem Kanzleramt. Die Kanzlerin steigt ein, ein paar Minister. Alle in schwarzen Anzügen, nur Baron von Tendy wie immer in Zivil. Ernste Miene, superprofessionell und eine Spitzenfrisur. Er ist der Einzige, der den Reportern ins Mikro spricht:

»... sind wir in der ehemaligen Hauptstadt auf eine solche Situation bestens vorbereitet und durch die Nähe zu den europäischen Behörden in Brüssel vielleicht sogar an einem noch idealeren Ort, um zielgerichtet ...«

»Die Ratten verlassen das sinkende Schiff«, wiederholt Zacko, wohl aus Sorge, dass Robert den Gag beim ersten Mal nicht gehört hat. Er nickt und deutet ein Lächeln an. Wie alle anderen Journalisten war auch Robert auf Tendy hereingefallen, auf seine verbindliche Art, seine vornehme Herkunft, seinen unverhohlenen Drang nach Aufstieg, Führung und Verantwortung. Es hatte ihn ehrlich beeindruckt, wie offen der Politiker mit ihm über seine Ambitionen sprach. Erst als der Provinzfürst, mittlerweile Bundesminister, genau das nicht mehr tat, erkannte Robert, dass er nur einer der vielen Steigbügelhalter gewesen war, nutzlos ab dem Moment, als Tendy die nächste Stufe erklommen hatte. Es war zwar nicht das erste Mal gewesen, dass Robert von einem Politiker benutzt worden war, diesmal aber hatte es wehgetan, denn er hatte wirklich geglaubt, dass da so etwas wie Freundschaft im Spiel gewesen war.

Im vergangenen Jahr hatte ihn Tendy in seinen Brandenburger Wahlkreis eingeladen, auf das Landgut seiner Familie. Der Baron hatte Robert überredet, mit auf die Jagd zu gehen. Im Morgengrauen waren sie aufgebrochen, in einem Audi Q7. Die einzige Waffe, die Robert jemals in der Hand gehalten hatte, war die verfluchte Pistole in Warschau gewesen, jetzt drückte ihm Tendy eine Flinte in die Hand, mit in den Schaft geschnitztem Familienwappen. Auf einer Lichtung trafen sie einen Waldhüter, stiegen zu dritt auf den Hochsitz und warteten, bis eine Rotte Wildschweine herantrottete, angelockt von ausgelegten Ködern. Ihr Moschusgestank strömte über den ganzen Platz. Seit seiner Jugend hatte Robert so etwas nicht mehr gerochen, düster wie der Wald, geil wie ein schweres Parfüm. Der Abgeordnete ballerte als erster, eine Bache und zwei Frischlinge brachen blutend zusammen, dann schoss der Wildhüter und schließlich auch Robert, immer und immer wieder, er konnte nicht anders, obwohl er ständig an Sarah und Christian und Warschau denken musste. So aber hatten sie etwas besiegelt, der Politiker und der Journalist, mit dem Blut dieser armen Wildschweine, ein Männerding, für das sich Robert schämte und das ihn doch auch stolz machte. Anschließend reichte ihnen der Wildhüter Schnaps aus einem Flachmann in einer Lederhülle. Sie tranken mit gierigen Schlucken, es war noch nicht einmal sieben Uhr morgens.

Ob er mit der Kanzlerin wohl auch zum Jagen war?, fragte Robert Christian, als sie ein paar Monate später gemeinsam die Bilder von Tendys Ministereid in der Tagesschau sahen. Es sollte spöttisch klingen, tat es aber nicht, sondern enttäuscht, denn die Treffen mit dem Jagdkumpanen waren immer seltener geworden. Und als er vergangene Woche wegen eines Interviews anfragte, vertröstete ihn Tendys Vorzimmerdame auf Montag. Das Gespräch, das er hatte führen wollen, las er dann schon am Sonntag im Vorabdruck des Spiegel – dem Magazin, das mit der Frau des Politikers wegen ihrer Tätigkeit für eine dubiose Pharmafirma zwar hart ins Gericht gegangen war, aber eben überregional erscheint und nicht, wie Christians Sender, nur in Berlin zu sehen ist.

Robert drückt die Facebook-App auf seinem Telefon, die blaue Seite öffnet sich. Nicht, dass ihn der Müllmix aus Erlebnissen, Gedankenfetzen und Einladungen von Freundesfreunden sonderlich interessierte; er will nur jede weitere Unterhaltung mit Zacko verhindern, bis die Aufzeichnung beginnt.

Seine Mutter postet ein Foto von einem neuen Hotel, das ihrer Meinung nach den Strand verschandelt, Bands kündigen Konzerte an, ehemalige Kollegen schicken Links zu Artikeln, die sie bemerkenswert finden. Menschen, die er nicht kennt, wollen ihm virtuelle goldene Eier und Zauberpflanzen für Spiele schenken, die er nicht spielt, amerikanische Hausfrauen schicken Fotos von Katzen, die aussehen wie Adolf Hitler. Roberts Finger schiebt die Meldungen weiter und weiter, dann ist da ein Foto, das von einer Facebook-Gruppe namens »Darwins Freunde« gepostet wurde: das bekannte Bild mit den drei wankenden Gestalten, dazu eine Überschrift in Schnörkelschrift: »Was, wenn sie der nächste Schritt der Evolution sind?« Das wiederum ist so krank, dass Robert für einen Moment überlegt, es Zacko zu zeigen, der würde sich sicher freuen.

Dann klopft es an der Glasscheibe, und Sarah steht vor ihm, ganz nah. Sie verdreht die Augen und macht eine Halsabschneidergeste. Aber es geht nicht um die Kanzlerin und Tendy auf dem Bildschirm. Es geht um ihren Studiogast.

Ganz großer Auftritt.

Olaf Sentheim, im billigen, blauen Anzug, an den Ärmeln schon glänzend, und doch fürstlicher, als es von Tendy je werden könnte. Die weißen Haare zerzaust, perfekter Albert-Einstein-Look und natürlich Sentheims Markenzeichen, die schwarze Klappe vor dem linken Auge. Die Magnum-Flasche Armand de Brignac, die der Chefredakteur des Stern für den Journalisten ausgelobt hatte, der ihm die Geschichte über Sentheims verlorenes Auge bringen würde, ist nach wie vor ungetrunken.

Aber es ist jedes Mal Sentheims Gang, stolz und doch leicht, federnd und bestimmt, der Robert imponiert. Diesen Gang hat man oder man hat ihn nicht. Solche Männer straucheln, aber sie fallen nicht, und wenn sie fallen, werden sie zur Legende. Vor weniger als einem Jahr hatte Robert ihm ein Bein gestellt. Jetzt aber ist Sentheim wieder obenauf.

Der Mann, der hinter Sentheim ins Studio kommt, hat eine Glatze, trägt einen weißen Kittel und eine rahmenlose Brille. Das ist also der »wissenschaftliche Experte«, den jede Talkshow braucht. Wahrscheinlich ein Genie, wenn es darum geht, innerhalb einer Woche vier Generationen von Meerschweinchen um die Ecke zu bringen und das Ganze als Triumph der Medizingeschichte zu verkaufen, aber in einem Fernsehstudio ein hilfloser Fall. Er klettert auf den Barhocker mit einer Konzentration, als wäre es der Mont Blanc.

»Siehst du das? Der gibt Sarah noch nicht einmal die Hand! Was ist denn das für ein Arschloch! Sentheim, du Wichser!«

Zacko zeigt dem Weißhaarigen durch das Glas den Finger. Das ist nicht sonderlich mutig, weil die Studiogäste jetzt nicht mehr sehen können, was im Regieraum passiert. Dann muss sich der Techniker auf seinen Job konzentrieren, denn der Vorspann der Sendung läuft bereits. Robert zündet sich eine zweite Zigarette an.

»... begrüßt Sarah Samir nun Professor Andreas Schadeck, den Chefvirologen der Charité, und den ehemaligen Justizsenator von Berlin, Olaf Sentheim, dessen Buch Debatte Deutschland seit einem halben Jahr die Agenda sowohl im Bundestag als auch an den Stammtischen bestimmt. Herzlich willkommen bei Streitzeit Mitte

Das Telefon klingelt. Zacko sagt: »Scheiße «, und hebt ab. Dann wirft er Robert den Hörer zu. »Ist für dich. Führerhauptquartier.«

»Mist.«

Der Techniker zuckt mit den Schultern.

Die Stimme im Hörer gehört Emma. Christians Sekretärin. Sie säuselt: »Robert, er will dich sehen.«

Robert fragt: »Hat das nicht Zeit?«

Emma antwortet: »Ich glaube eher nicht. Nein. Er hat gesagt, sofort.«

Robert wirft den Hörer neben den Apparat und macht eine abfällige Geste. Zacko schaut nicht hin, er ist mit der Sendung beschäftigt. Durch das Glas sieht Robert Sentheim, der lächelt, Sarah zieht die Augenbrauen hoch. Das kann ja was werden, denkt Robert und stemmt sich aus dem Sessel.