Peters, Ellis Der Baumeister der Albion

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Übersetzung aus dem Englischen von Marcel Bieger und Barbara Röhl

 

ISBN 978-3-492-98350-1

© 1960 Edith Pargeter

Titel der englischen Originalausgabe: »The Heaven Tree«

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2000

© dieser Ausgabe: Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

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Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Teil EINS

DIE WALISISCHEN MARKEN

1200

KAPITEL EINS

Der Engel mit seinen geschwungenen Flügeln würde bis in alle Ewigkeit in dieser Position verharren: Seine zierlichen, nach unten ausgestreckten Füße würden ewig dem Boden zustreben und seine Handflächen sich dem Strahlenkranz entgegenstrecken. In feierlicher Demut beugte er das jugendlich schmale Haupt, während das lange goldene Haar vom Flug noch immer hinter ihm her flatterte. Das Surren seiner bebenden Schwingen erfüllte endlos die verzückte Luft. Es war, als wären die Flügel gerade im Begriff, zur Ruhe zu kommen, doch dieser Moment schien nie enden zu wollen. Seine Augen waren zwar von der strahlenden Lichtquelle abgewandt, besaßen aber ein eigenes blendendes Leuchten, das man kaum ertragen konnte. Der Gesichtsausdruck des Engels war angespannt und entschlossen, als man ihn im Augenblick seiner Landung festgehalten hatte. Der ganze Körper – von Brust über Lenden und Oberschenkel bis hin zum Fußspann – schien dem Boden zuzustreben. Silbrige Sehnen spannten sich und bebten unter dem erstarrten aufgebauschten Goldgewand. Der Himmelsbote berührte den Boden mit seinen langen, nackten, wohlgeformten Füßen. Da gab die Erde einen ehernen Schrei von sich, und die Luft entlang des absteigenden Bogens seiner Himmelsreise erzitterte wie eine Bogensehne.

Aus dem dunklen All über dem Engel neigte der Schöpfer den Kopf, um auf Sein Werk zu schauen, und Er sah, daß es gut war.

Ebrard erschien an einem frühlingsgrünen Morgen einige Tage nach Ostern, um die beiden von Shrewsbury heimzuholen. Jüngst erst zum Ritter geschlagen, lag die neue Würde glanzvoll und steif wie neue Kleider über ihm. Drei bewaffnete Kriegsknechte ritten hinter ihm her, um seinen neuen Stand vor aller Welt zu bezeugen. Die Knaben warteten am Torhaus, und als er abstieg, begrüßten sie ihn pflichteifrig: Harry gab ihm einen brüderlichen Kuß, und Adam verbeugte sich tief vor ihm. Abt Hugh de Lacy kam über den großen Hof gehumpelt, der von geschäftigem Treiben erfüllt war; schließlich wollte er es sich nicht nehmen lassen, ihnen zum Abschied seinen Segen zu erteilen. Sein linkes Bein lahmte nach einem Jagdunfall, den er in seiner Jugend erlitten hatte: Ein verwundeter Keiler hatte ihn mitsamt seinem Pferd niedergeworfen. An feuchten Frühlingstagen wurde ihm seitdem die Stelle schmerzhaft ins Bewußtsein zurückgerufen, wo die Knochen schief wieder zusammengewachsen waren. Seinerzeit hatte Hugh Keiler, Wolf und Hirsch gejagt, und dies nicht immer mit Erlaubnis der jeweiligen Obrigkeit. Doch das war früher gewesen, als er noch nicht die Mönchskutte getragen und es auf die Bischofsmitra abgesehen hatte.

Der Kirchenmann stellte sich vor die Jungen, legte jedem eine Hand auf die Schulter und erklärte: »Nun, Knaben, ihr seid auf dem besten Wege, richtige Männer zu werden. Haltet an dem fest, was ihr hier bei uns gelernt habt. Wenn ihr das nach bestem Wissen an den Orten anwendet, an die man euch ruft, wird es euch sicher wohl ergehen. Ihr habt doch Latein und auch Französisch gelernt, nicht wahr?«

»Ja, Vater.«

»Und ihr besitzt auch einige Kenntnisse in der Musik und beherrscht ein Instrument?«

»Ja, Vater.«

»Und was eure Talente betrifft, Holz und Stein zu bearbeiten, so waren uns die immer ein Wohlgefallen, haben sie doch unser Haus verschönt und bereichert.« Es war besser, nicht zu viele Worte auf dieses Thema zu verwenden, denn Harry würde Meißel und Locheisen noch früh genug bitter vermissen; da brauchte man ihn nicht unbedingt auch noch daran zu erinnern. Dennoch konnte der Abt ein seliges Lächeln nicht verbergen, als er wieder an den kleinen Holzengel am Marienaltar denken mußte: Er war fünfzehn Zoll hoch und trug die Gesichtszüge seines Schnitzers – dieselben tiefliegenden Lider, dasselbe halbverborgene Glitzern der strahlenden Augen und dasselbe schmale, ernstentschlossene Antlitz.

Jeder Künstler schuf wohl, sobald er zum ersten Mal ein Werk begann, zunächst ein Abbild seiner selbst, ganz gleich ob bewußt oder unbewußt. Schließlich hatte auch Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, da befand Harry sich doch in der besten Gesellschaft. Dem Subprior hatte der kleine Engel nie gefallen wollen. Die Ähnlichkeit zum Holzschnitzer war ihm nie so recht aufgegangen, aber sie war gleichwohl unbewußt der Grund des Unbehagens, das ihn beim Betrachten dieses Werks ergriff. Außerdem fand sein gerader, ordentlicher Verstand, daß es sich nur für Dämonen, nicht aber für Abgesandte der Göttlichen Gnade ziemte, so abgehetzt und angespannt dargestellt zu werden.

»All diese Gaben empfingt ihr von Gott, deshalb geht getreulich mit ihnen um und achtet sie wert. Außerdem gehe ich davon aus, daß ihr fest im Glauben ruht und euch den himmlischen Wegen gehorsam unterwerft. Dieses Wissen soll euch stets das Allerwichtigste sein. Vergeßt es niemals und nirgends.«

»Ja, Vater«, entgegneten der dunkelhaarige und der blonde Junge wie aus einem Munde. Auch dies zeigte, wie tief sie miteinander verbunden waren. Hugh wußte, daß die beiden ihm nur mit halbem Ohr zuhörten. Welcher fünfzehnjährige Jüngling hörte schon gern moralische oder theologische Ermahnungen, und das auch noch an dem Tag, an dem er endlich der Schule den Rücken kehren durfte?

Schulter an Schulter standen sie vor ihm. Harry war dunkel, sehnig und klein; er hatte das starke Kinn, die spitzen Knochen und den geraden, abenteuerlustigen Mund seines Geschlechts; Adam war fröhlich und blond und einen halben Kopf größer als sein Herr. Aus seinem Gesicht, das einer weitgeöffneten Blüte glich, strahlten blaue lustige Augen. Die Jungen hielten sich an der Hand. Immer wieder tauschten sie rasch beredte Blicke aus, die jedes Wort überflüssig machten. Die beiden zu trennen, und sei es auch nur für eine Stunde, hätte bedeutet, ein und denselben Körper zu zerreißen. Dabei war der eine nur der Sohn eines unfreien Handwerkers, während der andere ein entfernter Verwandter des großen Grafen selbst war, des Begründers des Geschlechts, der unter der schweren Steinplatte in der Kapelle der Heiligen Jungfrau lag und somit im Schoß des heiligen Hugh vermoderte.

Die Talvaces von Sleapford stammten in direkter Linie von einem unehelichen Halbbruder von Graf Rogers erster Gattin ab. Dieser hatte sich während Williams Eroberung Englands dem Grafen angeschlossen. Zum Lohn für seine Dienste hatte er aus der Hand des Königs das Gut Montgomery erhalten und es sich dort in einem stattlichen Herrenhaus bequem gemacht. Er war zum Ritter geschlagen worden, besaß das Hegerecht über alle Wälder auf seinem Besitz und war mit einer Sächsin verheiratet gewesen, die zwei Dörfer, welche ihr zu Lehen gegeben waren, mit in die Ehe gebracht hatte. Das hatte ihm eine gute finanzielle Stabilität gegeben. Seine Familie war immer noch stolz darauf, daß in jeder neuen Generation seine Gesichtszüge und sein Name weitervererbt wurden. Des weiteren erforschten die Talvaces sehr genau ihren Verwandtschaftsgrad mit den Lords von Belesme, Ponthieu und Alengon.

Ebrard trug zwar den Namen des teuren Vorfahren, Harry aber dessen Züge. Seine Augen, welche von langen und dichten Wimpern beschattet wurden, waren überraschend schön, wenn er sie hob und den Blick auf jemanden heftete. Wimpern und Brauen waren tiefschwarz, wohingegen die Augen, wenn sie einen ansahen, die Farbe des Meeres hatten und zwischen Blau und Grün changierten. Sie wiesen graue und goldene Reflexe auf, welche sich ständig veränderten und ohne Zweifel von dem mitgiftlosen Mädchen aus der Bretagne stammten, das vor langer Zeit den Begründer dieses Geschlechts zur Welt gebracht hatte.

»Gehorche deinem Vater, Harry, wie es deine Pflicht ist, und diene ihm treulich, sobald er dich in dein Amt eingesetzt hat, dann wirst du Gott ein Wohlgefallen sein.«

»Ja, Vater«, antwortete er mit unterwürfiger Stimme.

Der Frühling und das neue Jahrhundert standen gerade in den Anfängen, und der sonnige Morgen schien für einen Neubeginn wie geschaffen zu sein. Und Harry, das mußte man ihm lassen, hatte Gespür für die Besonderheit dieser Stunde gezeigt; er hatte nämlich seine beste Cotte angezogen und abgebürstet und sich sorgfältig gewaschen und gekämmt. Kurzum, Ebrard konnte in ihm kaum den halsstarrigen Bengel wiedererkennen, den er vor fünf Jahren in die Obhut des Abtes von Shrewsbury gegeben hatte; damals war er mit schmerzendem Hinterteil angekommen, aber mit seinem Nennbruder an der Hand – das eine als Lohn für seine Widerspenstigkeit, das andere für seine Tränen. Sein Vater Eudo, der alte Narr, hatte ihm seinen Willen gelassen. Doch wie viele weisere Männer hatten vor ihm und nach ihm in ihrer Erschöpfung den gleichen Fehler begangen?

»Und du, Adam, arbeite strebsam in deinem Gewerbe und zweifle nie daran, daß Gott an einem ehrlichen Steinmetz genau solche Freude hat wie an einem ehrenwerten Ritter oder einem gebildeten Schreiber; denn die Aufgaben des Herrn sind mannigfaltig.«

Vielleicht war es nicht sehr klug, auf die unterschiedliche Herkunft der beiden Jünglinge hinzuweisen. Was konnte damit schon erreicht werden, außer daß Harry sich noch enger mit seinem Milchbruder zusammentat? Der Abt strich ihm über die glatte, vornehme Wange und wünschte von Herzen, dem Jungen wäre nie erlaubt worden, sich auf Botelers Hof herumzutreiben, wo er die Geschicklichkeit seiner Hände und die Kühnheit seiner Vorstellungskraft kennenlernte. Denn vom heutigen Tag an würde Harry die Buchführung auf Sleapford übernehmen müssen. Er würde mit anderen Worten von den freien Pächtern seines Vaters die Pacht eintreiben müssen und dafür sorgen, daß die Leibeigenen ihre drei Tage Arbeit für den Herrn leisteten und zur Ernte fünf Tage zur Verfügung standen; auch oblag es ihm, von den Leibeigenen den Merchet – die Gebühr für die Vermählung einer Tochter –, den Heriot – also die Sterbegebühr – und schließlich den Zehnten einzufordern. Welches bessere Schicksal konnte ihm, dem jüngeren Sohn, überhaupt widerfahren?

Zumal auf einem Besitz, der zu klein war, um ihn unter den Kindern aufzuteilen? Wenigstens hatte Harry die Ausbildung erhalten, die dem Erben seines Vaters vorenthalten worden war, weil sie als unnütz erachtet wurde. Infolgedessen konnte jener kaum seinen aristokratischen Namen und Titel schreiben. So blieb Ebrard der Ritterstand, seinem Bruder aber das Latein.

»So, ihr zwei, ich habe genug gesprochen. Schließlich weiß ich, daß ihr beide genug guten Willen und Verstand in euch tragt. Vergeßt jedoch nie, daß hier stets ein guter Freund auf euch wartet, zu dem ihr kommen mögt, wann immer ihr in Not seid, ganz gleich zu welcher Zeit. Und Ihr, Ebrard, begegnet Euren Schützlingen mit Freundlichkeit und Geduld, hat doch auch Eure hohe Stellung ihre Verpflichtungen.«

Ebrard beugte sich vor, um die ausgestreckte Rechte Hughs zu ergreifen, und zeigte dabei seine flachsblonde Mähne. Mit seinen neunzehn Jahren maß er bald sechs Fuß und besaß die blühende rosige und weiße Haut seiner hübschen Mutter und deren lange und feine Gliedmaßen. Die Ritterwürde des Erstgeborenen hatte er gerade erst ein paar Monate zuvor bekommen, und so ganz schien er sich noch nicht daran gewöhnt zu haben.

Hugh de Lacy konnte sich noch gut an die Weihnachtsfeier in der Großen Halle der Burg Shrewsbury erinnern. Auch an das schallende Gelächter aus den hinteren Reihen, wo die jungen adligen Besucher standen. Denn nach seiner Erhebung in den Ritterstand erhob sich Ebrard bleich und aufgeregt und trat auf den Saum seines Gewands. Nicht viel hätte gefehlt, und er wäre vor dem Kastellan des Königs aufs Gesicht gefallen. Sir Eudo Talvace hatte glücklicherweise an der Stimme des Lachenden nicht seinen jüngeren Sohn wiedererkannt. Wohl aber Abt Hugh, und leider auch Ebrard, der sich nach dem Mißgeschick rasch und rotgesichtig wie eine Pfingstrose aus der Halle entfernt hatte. Gerüchten zufolge hatte seine erste Handlung als frischgebackener Ritter darin bestanden, Harry eine tüchtige Tracht Prügel zu verabreichen; und wer wollte ihm daraus schon einen Vorwurf machen? Die beiden waren immer schon viel zu verschieden gewesen. Dem Abt war vorhin auch nicht der harte Blick aus Ebrards blauen Augen entgangen, mit dem er Harry vom Scheitel bis zur Sohle gemustert und den Trotz des Jüngeren herausgefordert hatte; genausowenig wie das hart vorgeschobene Kinn, mit dem Harry Ebrard begegnet war. Hugh konnte sich nicht mehr daran erinnern, was zuerst dagewesen war. Dabei verhielt es sich beileibe nicht so, daß die beiden sich gegenseitig haßten. Sowohl Ebrard als auch Harry wären zutiefst verblüfft gewesen, wenn jemand behauptet hätte, daß sie sich nicht so liebten, wie es sich für Brüder gehörte. Vielmehr verhielt es sich zwischen den zweien wie zwischen Öl und Wasser: Die zwei Substanzen hassen sich nicht, können aber auch wenig miteinander anfangen. Dennoch konnte man davon ausgehen, daß die Brüder, noch bevor sie nach Sleapford gelangten, sich einen Faustkampf liefern würden.

»Gott begleite euch auf euren Wegen, Kinder; ich wünsche euch die allerangenehmste Reise. Wenn eure Schritte euch das nächste Mal nach Shrewsbury führen, freue ich mich schon darauf, euch an meiner Tafel bewirten zu dürfen.«

Die Art, wie beide Brüder sich im Sattel hielten, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Harry saß locker und bequem auf dem Pferd. Der Ältere dagegen hielt sich betont gerade und aufrecht, was auf seinen Status als Ritter verweisen sollte.

Hugh betrachtete die beiden. Deutlich war ihnen anzumerken, daß der eine das Waffenhandwerk gelernt hatte und der andere nicht. Für den Jüngling stellte ein Pferd nur ein Fortbewegungsmittel dar. Ein Roß zu besteigen rief bei ihm keine besondere Erregung hervor, genausowenig, wie es ihm schändlich erschiene, von einem Pferd zu fallen. So etwas konnte schließlich jedem Reisenden widerfahren. Ganz anders Ebrard, für den ein Pferd das Symbol seiner Ritterschaft darstellte. Sollte er je von seinem Roß stürzen, verlöre er damit jegliche Selbstachtung. Der Sturz wäre für ihn wahrhaftig tief.

Der Abt sah ihnen hinterher, wie sie durch das Tor hinausritten. Ebrard vorneweg, dann Harry und Adam, die bereits miteinander lachten und sich balgten. Der Handwerkersohn war mit seinem offenen Lächeln, dem gelbblonden Haupt, von dem er die Kapuze abgestreift hatte, und dem kräftigen braunen Nacken von den dreien der hübscheste. Auch besaß er das dazugehörige Wesen, das sonnig und liebenswürdig war wie sein Gesicht. Kein Wunder, daß Harry ihm nicht von der Seite wich.

Die Zeit würde schon alles richten, sagte sich der Kirchenmann, doch beruhigte ihn dieser Gedanke nicht sehr. Lange hätte die Zeit Gelegenheit gehabt, die beiden auf natürliche Weise und ohne Schmerzen voneinander zu trennen; doch statt dessen hatte sie die zwei noch hartnäckiger aneinandergeschmiedet. Warum, dachte Hugh schweren Herzens, als er sich umdrehte und zum Kloster zurückhumpelte, war nicht Eudos Weib eine so frische und muntere Frau wie Botelers Gemahlin? Warum hatte das Schicksal es ihr verwehrt, ihr eigenes Kind zu nähren? Und warum schließlich hatte Eudo sich danach Harry gegenüber wie ein Narr anstellen müssen? Der Moment, in dem man die beiden Jungen problemlos voneinander hätte trennen können, war längst verstrichen; spätestens seit sie reiten und laufen konnten. Aber dieser vertrottelte Greis von einem Ritter hatte ja nur Augen für seinen Erben gehabt und dabei übersehen, wie sehr sein zweiter Sohn es brauchte, daß man sich um ihn kümmerte. Hätte Eudo doch nur zu gegebener Zeit seine väterliche Sorge auch dem Jüngeren zugewandt; hätte er Harry doch, trotz dessen Tränen und Wutanfällen, mit einem anderen Knechtsohn hierher ins Kloster geschickt, dann würden ihm und auch seinem jüngeren Sohn sicher einige der Prüfungen erspart bleiben, welche die Zukunft für sie bereithielt.

Oder warum waren diese beiden Jungen, die einander so zugetan waren, als hätte das Schicksal sie füreinander geschaffen, warum waren sie nicht als leibliche Brüder geboren, und sei es als Maurersöhne, denen im Leben nichts übrigblieb, als ebenfalls die Maurerkelle zu ergreifen? Was wäre dann gewesen, selbst wenn sie beide als Unfreie ihr Dasein hätten fristen müssen?

Was ist überhaupt Freiheit? fragte sich Hugh, blieb stehen und warf einen letzten Blick auf die beiden Jungen, welche man für Zwillinge hätte halten können, auch wenn sie alles andere als das waren. Sage mir doch einer, wer von den beiden der Freie und welcher der Leibeigene ist; das vermag niemand auf den ersten Blick zu erkennen.

Sie kamen an der Mühle vorbei, wo der Abfluß des Abtei-Teichs wieder in den Bach zurückfloß; von dort wand sich und plätscherte dieser nur noch wenige Schritte weiter, bevor er den Fluß erreichte. Schwere Wagen kamen dort an oder fuhren wieder ab; die meisten von ihnen rumpelten über die Steinbrücke aus der Stadt heran. Die Abteimühle ließ sich vom ganzen Ort Mahlgeld entrichten, weil nur dort Korn gemahlen werden durfte, und der Prior achtete streng darauf, daß die Rechte des Klosters nicht verletzt wurden; schließlich brachte die Mühle mehr ein als alle Pachten auf dieser Seite des Flusses.

Das Wasser des Severn stand hoch, floß aber gemächlich dahin: silberblau unter dem offenen Himmel und graubraun, wo die Sträucher an den Ufern waren. Seit gestern war der Wasserstand um fast einen Meter gesunken, sichtbares Anzeichen dafür, daß die Frühlingsfluten abklangen. Jenseits der Brücke stieg der Hügel an, auf dem sich Shrewsbury erhob und zweifach umrundet wurde: vom Fluß und von dem Wall mit seinen Türmen. Zur Rechten, wo ein Bogen des Severn eine Landenge entstehen ließ, ragte die breite und wuchtige Burg des Grafen Roger auf. Unübersehbar hockte sie auf dem Hügelland, und ihre zinnenbewehrten Türme schienen das Himmelszelt selbst aufzureißen. Alle Hänge zwischen Feste und Brücke, die sich außerhalb der Festungsmauern befanden, waren terrassenförmig angelegt und mit den Rebstöcken des Abtes bestanden. Für die Blüte war es noch zu früh, und so ähnelten die schwarzen und verkrümmten Pflanzen eher einem Dornengestrüpp.

»Du und dein geschnitzter Engel!« rief Adam gutgelaunt, als sie von Süden kommend den Steg erreichten und den Bach überquerten. »Was soll an dem schon so Besonderes sein? Du würdest ihn bestimmt am liebsten stehlen, wenn sich dir nur die Möglichkeit dazu böte. Der Engel, das ist alles, was ich von dir höre, und kein Wort über deine übrige Arbeit! Gefallen dir die Säulenkapitelle denn nicht, welche du gemeißelt hast?«

»Doch, die sind schon ganz in Ordnung, aber leider nur Nachbildungen. Nein, eigentlich nicht so richtig. Erinnerst du dich noch an Meister Roberts Zeichnungen aus Canterbury? Die hatte ich im Kopf, als ich die Entwürfe anfertigte. So gesehen habe ich wohl kaum wirklich etwas kopiert, aber auch nichts richtig Neues geschaffen. Aber das ist mir erst aufgefallen, als die Kapitelle an Ort und Stelle angebracht wurden. Ganz ehrlich, jeder hätte so etwas meißeln können.«

»Danke, sehr nett von dir. Glaubst du nicht, daß jeder Künstler, der etwas schnitzt oder meißelt, sich nach dem richtet, was andere vor ihm geschaffen haben? Muß denn wirklich alles, was du tust, ganz neu und noch nie dagewesen sein? Eines muß ich dir allerdings lassen«, bemerkte Adam dann mit einem schelmischen Grinsen, »für die Stechpuppe am Nelkendienstag vergangenen Karneval hast du dir wirklich etwas Neues einfallen lassen. Lag es an dir, oder war der Schwenkarm falsch eingelegt? Du hast vielleicht einen Anblick geboten! Mann, ich habe noch nie jemanden so über die Festwiese fliegen sehen …«

Der Vorfall war nicht das erste grandiose Mißgeschick gewesen, das Harrys Bemühungen, sich in den männlichen Tugenden hervorzutun, begleitet hatte. Und es würde wohl auch nicht die letzte Panne bleiben. Zwar kümmerte es den Jüngling nicht, daß er damals von dem Sack der Holzpuppe vom Pferd geworfen worden war, dennoch durfte er es dem Freund nicht durchgehen lassen, ihn einfach so zu hänseln. Harry beugte sich zur Seite, legte Adam einen Arm um den Hals und versuchte, ihn vom Roß zu ziehen. Der hielt sich verzweifelt mit einer Hand am Sattelknauf fest, während er mit der anderen Harry an der Hüfte packte. So rangen sie miteinander, keuchten und kicherten. Ihre Pferde, die solches närrisches Treiben zur Genüge kannten, blieben einfach stehen und berührten sich sanft mit Maul und Nüstern. Genauso wie Adam beklagten sie sich nicht, obwohl sie nicht recht verstanden, was los war. Als es dem Handwerkersohn dank seiner Größe und seines Gewichts endlich gelang, wieder fest im Sattel zu sitzen, versuchte er seinerseits, den deutlich leichteren Gegner vom Pferd zu heben. Doch Harry fuhr mit der freien Hand in das braune Hemd seines Freunds, fand die Rippen und kitzelte ihn, bis der sich vor Lachen wand und völlig wehrlos war.

»Aufhören! Nicht doch! Harry! Ich fall’ ja noch aus dem Sattel!«

»Genau das habe ich vor, und rechne nicht mit Gnade! Sofort bittest du mich um Vergebung! Na, wird’s bald? Gibst du auf? Ja?«

Ebrard hatte sich im Sattel umgedreht und befahl ihnen, sofort mit dem Unsinn aufzuhören und weiterzureiten. Seine Stimme klang so ernst, daß die beiden sich auf der Stelle voneinander lösten. Obwohl der Ritter sich ein ganzes Stück weiter weg befand, konnten sie seine finstere Miene und die gerunzelte Stirn erkennen. Die Jünglinge zupften ihre Kleidung gerade und trieben ihre Rösser an, um den älteren Bruder zu überholen. Was sie allerdings nicht daran hinderte, sich neue Schmähungen zuzuraunen und dabei zu kichern.

»Bei der Liebe Gottes! Müßt ihr euch denn immerzu so kindisch aufführen? Hat man euch denn in all den Jahren nicht genug Gelegenheit zum Spielen gelassen?« Ebrard wartete, bis sie ihn erreicht hatten, und sah sie dann mit gereizter Miene und grimmigem Blick an. »Ich war noch keine Fünfzehn, als ich bereits im zweiten Jahr bei FitzAlan diente. Und dort erwartete man von mir, daß ich mich wie ein Mann benahm, und nicht wie ein sieben- oder achtjähriger Bengel, der sich ständig balgen muß. Und du, junger Harry, solltest dem Beispiel besser auch folgen, denn deine fröhlichen Tage bei den guten Brüdern sind unwiderruflich vorüber. Ich frage mich sowieso, warum Vater dich so lange dort gelassen hat, wo du doch nur deine Zeit vertrödelt und sinnlos vertan hast. Gewiß habe ich von deinen Steinarbeiten und deinen Holzschnitzereien gehört, aber auch von deinen anderen Grillen. Ebenso kam mir zu Ohren, du hättest Verse geschmiedet, doch leider hörte ich wenig über vernünftige Dinge, die du erreicht und vollbracht hättest. Glaubst du etwa, Vater hätte dich auf die Klosterschule geschickt und dich so lange vor den Härten des Lebens geschont, nur damit du wie ein Welpe herumzutollen und mit dem Messer Holz zu schaben lerntest?«

»Das waren doch nur ein paar Minuten Herumalberei, wozu denn diese lange Predigt?« entgegnete Harry in versöhnlichem Ton, während er brav und gehorsam neben seinem Bruder her ritt. »Ich versichere dir, daß mein Latein gut genug ist, um mit dem des alten Edric zu konkurrieren. Und aufs Rechnen verstehe ich mich gut genug, um all das aufzulisten, was du noch von deinen Schuldnern zu bekommen hast. Glaub mir, ich habe nicht meine ganze Zeit in der Schule vergeudet.«

»Aber es will einem so vorkommen, als hätte man dir dort nicht genug zu tun gegeben, sonst wärst du heute aus deinen Kindereien längst herausgewachsen. Oder meinst du, es würde dir oder den Klosterlehrern zur Ehre dienen, wenn du als Sohn der Talvaces wie ein Bauernlümmel über die Straße flegelst? Und du, junger Herr Adam, laß dir von mir den guten Rat geben: Unterstütze ihn nicht so bereitwillig bei all seinen Schandtaten. Deine Hände solltest du lieber bei dir behalten.«

Noch während der Ritter sprach, holte er mit der kurzen Reitpeitsche aus, die er ständig bei sich trug. Mit der Spitze traf er leicht den Rücken von Adams Zügelhand. Der Hieb war eher ermahnend gedacht als züchtigend, aber in seiner maßlosen Überraschung legte der Jüngling unwillkürlich seine linke auf die leicht brennende rechte Hand. Harry hingegen hielt vor Schrecken den Atem an. Er wurde bleich vor Wut und richtete sich im Sattel auf, als wolle er seinem Bruder an die Gurgel gehen. Ebrard ritt zwischen den beiden Jünglingen, und so hatte Adam keine Möglichkeit, dem Freund in den erhobenen Arm zu fallen oder ihm fest genug gegen den Knöchel zu treten, um ihn zur Vernunft zu bringen. In seiner Not beugte der Handwerkersohn sich weit vor, schüttelte heftig den Kopf und verzog das Gesicht, um seinem Freund zu verstehen zu geben, er solle sich beruhigen. Für einen Moment sah es so aus, als steckten alle drei die Köpfe zusammen. Die Spannung zwischen ihnen übertrug sich auf die Tiere, die nervös zitterten und die Köpfe hochwarfen. Und im nächsten Moment war alles vorüber.

Harry ließ die Hand sinken und setzte sich in den Sattel zurück. Rund um Mund und Nasenspitze hatte seine Haut alle Farbe verloren. Er biß die Zähne fest zusammen und schob mit verhaltener Wut seine Kinnlade nach vorne. Für einige Augenblicke wagte er es nicht, die Zähne voneinander zu lösen, weil er sich vor dem fürchtete, was dann über seine Lippen kommen würde. Endlich schluckte er den bitteren Geschmack seines Zorns hinunter und erklärte mit erzwungener Ruhe: »Das war nicht recht. Ich habe ihn zuerst angegriffen, und er tat nichts anderes, als sich an mir festzuhalten, um nicht vom Pferd zu rutschen.«

»Ich will gern glauben, daß du den Zank angefangen hast. Doch wird es für Adam Zeit, selbst etwas gesunden Verstand zu entwickeln, da du ja keinen zu haben scheinst. Der Knabe nimmt sich zu viele Freiheiten bei dir heraus, und er betrachtet dies schon als selbstverständlich. Hüte dich bloß davor, Vater zu zeigen, wie würdelos du dich benimmst, indem du zusammen mit diesem Jungen den Narren spielst.« Der Ritter gab seinem Pferd die Sporen, ritt ein Stück voraus und warf ihnen dann einen Blick über die Schulter zu. »Nun macht schon, wir haben bereits zuviel Zeit vertrödelt!«

Adam, der vor langem gelernt hatte, bei solchen vorüberziehenden Stürmen lieber den Kopf einzuziehen, erwartete jetzt, daß Harry das Schicksal herausfordern und seinem Bruder wütend etwas entgegenschreien würde. Verwundert stellte er jedoch fest, daß sein Freund diesmal den Mund hielt. Eine ganz neue Erfahrung. Hatte Harry wirklich genug Verstand, um zu erkennen, wann es besser war zu schweigen? Die beiden Jünglinge ritten schweigend nebeneinander her, fanden Trost in der Nähe des anderen und litten unter der bedrückten Stimmung, die ihnen angesichts des nichtigen Anlasses unangebracht erschien. Harrys Kummer lastete schwer auf Adams Herz. Warum mußte der Freund auch immer aus einer Mücke einen Elefanten machen?

Noch vor einem Jahr hätte Adam ihn, ohne nachzudenken, an den Schultern gepackt, ihn durchgeschüttelt und ihm auf den Kopf zu gesagt, er solle sich nicht wie ein Dummkopf aufführen. Auch jetzt streckte Adam, wenn auch mit ungewohnter Furchtsamkeit, eine Hand aus, um sie Harry auf den Arm zu legen. Doch dann blickte er auf den Rücken des furchtbaren Ebrard, zögerte und zog die Hand zurück, bevor sie den grob gesponnenen grünen Ärmel auch nur berühren konnte. Gerade eben war er gewarnt worden, sich nicht zu viele Freiheiten herauszunehmen, und das letzte, wonach ihm jetzt der Sinn stand, war, dem Ritter eine Gelegenheit zu geben, sich noch einmal und in aller Strenge über dieses Thema auszulassen.

Harry verfolgte die unvollendete Geste aus dem Augenwinkel. Blitzschnell und geräuschlos drehte er sich jetzt um, packte Adams Rechte und hielt sie fest. Sein Druck verstärkte sich noch, als der Freund warnend in Richtung Ebrard nickte und sich aus dem klammernden Griff zu befreien versuchte. Der Abdruck der Peitschenspitze, ohnehin kaum mehr als eine kleine rote Schlangenlinie auf dem Handrücken, war fast verschwunden. Aber Harry starrte darauf, als handele es sich dabei um eine tödliche Verletzung, und wollte die Rechte des Freundes nicht loslassen.

Mitten am Nachmittag erreichten sie den Steinbruch von Rotesay. Ein Karren mit einem Pferdegespann rollte mühsam aus dem Steinbruch auf die Straße. Das Gefährt war mit taubengrauen Blöcken beladen und versank fast bis zur Achse im Schlamm. Der Dreck spritzte von den Hufen der Tiere, die inzwischen dieselbe graue Farbe wie der Stein angenommen hatten. Der Karren ächzte in der schwierigen Kurve, und hinter jedem Rad schob ein Mann mit. Endlich gelangte er mit großem seufzendem Schmatzen auf den festeren Grund der Straße. Ebrard ritt langsamer, um das Hindernis zu umrunden. Als die Jünglinge sich auf derselben Höhe mit dem Wagen befanden, rollte der aus dem Schatten der Bäume ins helle Sonnenlicht heraus. Die Blöcke fingen die Sonnenstrahlen auf und schienen dann in Flammen zu stehen. Ihr zartes Grau war von einem goldenen Glühen umgeben.

Harrys Gesicht fing ebenfalls Feuer. Er griff nach Adams Arm und schien alle Vorschriften des Bruders vergessen zu haben. »Schau nur! Hast du jemals eine so wunderschöne Farbe gesehen? Ja, das ist der Stein, mit dem ich bauen möchte. Stell dir eine Kirche vor, die ganz aus diesen Blöcken errichtet ist. Und das dann an einem Frühlingstag, an dem die Sonne mal da ist und mal hinter den Wolken verschwindet! Die Fassade würde sich ständig verändern – wie das Gesicht einer Frau, immer anders. Jeden Morgen würde diese Kirche von neuem zum Leben erwachen.«

»Ja, das ist guter Stein«, entgegnete Adam und maß ihn mit dem Maurerblick seines Vaters. »Auch gut zu bearbeiten. Hart, aber weich genug, um ihn schneiden zu können. Man sagt, er halte der Witterung stand wie Granit. Ich kenne einen anderen Steinbruch mit einem ähnlichen Fels, der dieselbe oder sogar eine bessere Bearbeitung zuläßt. Aber der Ort befindet sich zu dicht an der walisischen Grenze, und deswegen ist er nicht sicher. Einmal bin ich mit meinem Vater dort gewesen, und ich kann mich noch gut daran erinnern, wie sich das Licht auf den Blöcken brach, es sah aus wie eine Quelle voller Sonnenschein.«

»War der Steinbruch denn so groß wie der hier?«

»Ach was, mindestens dreimal so groß!«

»Dann merk ihn dir, für den Tag, an dem wir unsere Kirche bauen. Ich brauche einen ausreichenden Vorrat.« Seine Finger bohrten sich in Adams Arm, und in seiner Erregung schüttelte er den Freund. »Jetzt weiß ich’s. Ich weiß, wie meine Kirche aussehen soll.« Nicht wie die Abteikirche, schwor er sich und lehnte zum ersten Mal bewußt deren schwerfällige, undurchdringliche Bauart ab. Ihre großen Bögen führten den Blick des Betrachters zwar zuerst himmelwärts, zogen ihn aber bald wieder in die Tiefe, wie einen fallenden Stein. Eine Kirche durfte dem Betrachter nicht das Gefühl vermitteln, vor einem versiegelten Grab zu stehen; und auch nicht den Eindruck einer starren und bleifarbenen Frostlandschaft machen.

»Weißt du, Adam, was ich heute morgen in der MarienKapelle gedacht habe? Ich sagte mir, wenn ich hier das Sagen hätte, würde ich Graf Rogers Steinsarg aus ihrem Innern entfernen lassen. Da stand ich, starrte das klobige Gebilde an und wurde richtig wütend. Der Sarg befindet sich nämlich dort, wo der Weg frei sein müßte, damit die Gläubigen vom Mittelgang aus direkt zum Altar gelangen können –«

»Und zu deinem Engel«, warf Adam frech ein.

»Ach, vergiß den Engel, mir ist es ernst. Die Bögen würden dann einen einzigen Lichtkörper umschließen. Aber nein, statt dessen steht dieses häßliche Ding dort, zerstört alle Flächen und schafft Enge, wo eigentlich Raum herrschen sollte; schafft Finsternis, wo Licht sein sollte. Ich würde den Sarg sofort nach draußen befördern und keinen Moment damit zögern.«

»Gut, daß du das für dich behalten hast. Selbst Vater Hugh wäre von solchen Worten schockiert gewesen.« Adam lenkte sein Roß an dem sich langsam fortbewegenden Karren vorbei und dämpfte seine Stimme noch mehr; denn Ebrard befand sich nur ein paar Schritte vor ihnen, und er würde sich noch mehr als der liebenswürdige Abt über solch lästerliche Rede aufregen. »Erinnerst du dich noch, wie du dem Vater Subprior einmal deine Ansicht über das Kruzifix über dem Lettner gesagt hast? Du hast ihm erklärt, diese Schranke zwischen Chor und Langhaus störe die Linien des Daches und solle abgerissen werden. Bei meiner Seele, wie hat er dir daraufhin die Linien deines Rückens gebleut!«

»Ich war vielleicht etwas zu offen, hatte aber dennoch recht. Und ich habe nie auch nur ein Wort davon zurückgenommen.« Harry drehte sich im Sattel um und liebkoste sehnsuchtsvoll die glatten, honigfarbenen Steine mit seinen Blicken.

»Ach, Adam, ich will dir eines sagen: Stein ist das Material! Holz ist zwar nicht schlecht, aber Stein ist besser! Nichts übertrifft den Stein!«

KAPITEL ZWEI

Nach einem langen und glühendheißen Tag auf den Erntefeldern herrschte in der Ecke, die sich neben der Treppe in der Halle befand, einschläfernde Wärme. Harrys Kopf kippte immer wieder nach vorn, während er über dem Haushaltsbericht der Burg hockte.

»Das Dorf Sleapford hat achtundzwanzig Unfreie, und der Flecken Teyne dreizehn; jeder von ihnen bewirtschaftet ein eigenes Yardland. Das sind bis zu vierzig Morgen. Sleapford weist weiterhin zwölf Halbfreie oder Hintersassen auf, und Teyne fünf, mit jeweils einem halben Yardland, das heißt bis zu zwanzig Morgen. Die Leibeigenen leisten bis zum Tag des heiligen Peter, dem 29. Junius, an drei Tagen in der Woche Frondienst und ab dann bis zum Tag des heiligen Erzengels Michael, dem 29. September, an fünf Tagen in der Woche. Die Halbfreien leisten ihre Fron gemäß dem aus unserer Hand empfangenen Pachtbesitz. Sleapford zählt vierzehn freie Bauern oder Gutsbesitzer, Teyne fünf …«

Er kannte die Zahlen in- und auswendig, wußte sogar, wie viele Schweine, Schafe und Zugochsen auf dem Grafengut gehalten wurden, konnte selbst die geringsten Pachteinnahmen, oft nur wenige Pennies, aus den Hügeln nennen, wo man der Ödnis Ackerland abgetrotzt hatte. Dort fanden meist wagemutige jüngere Bauernsöhne ihr Auskommen, welche, ebenso wie Harry, nicht mit dem Erbe des Vaters rechnen durften.

Der Jüngling hielt es für reine Zeitverschwendung, diese Besitzverhältnisse immer wieder abzuschreiben; denn der vorliegende Bericht war bereits einige Jahre alt. Viel lieber hätte Harry alle Daten auf den jüngsten Stand gebracht und eine ganz neue Zusammenfassung geschrieben. Aber offensichtlich meinte sein Lehrmeister, die endlosen Wiederholungen seien eine gute Übung. Es war wohl nicht angebracht, genau zu wissen, wieviel die einzelnen Gewerbe des Vaters abwarfen oder wieviel die Pächter und Unfreien ihm einbrachten.

Also riß sich der junge Schreiber zusammen, setzte eine unverdrossene Miene auf und brachte dieselben Zahlen Mal um Mal zu Pergament; dann würden sich Vater und Lehrer auf die Schulter klopfen und sich dazu beglückwünschen, was für eine schnelle Auffassungsgabe der junge Mann doch habe. Ohnehin würde die Sonne bald untergehen, und dann hatte er endlich den Rest des Abends frei. Ein wunderbarer Tag lag hinter Harry. Er mußte nur die Augen schließen, um wieder die Reihen von goldschimmerndem Korn vor Augen zu haben. Sanft schaukelten die Ähren in ihren s-förmigen Alleen auf dem schier endlosen sonnenbestrahlten Feld; er sah die staubigen, unbestellten Grünflächen noch vor sich, die zwischen diesem gelben Meer hervorlugten; oder die blassen Stoppeln, dort, wo man die Halme bereits geschnitten und auf die Wagen geworfen hatte. Harry erinnerte sich an Adam, der an diesem Tag anstelle seines Vaters Fronarbeit geleistet hatte, wie er mit seinen bloßen Beinen und der rotbraunen Haut lachend und pfeifend die Sichel geschwungen hatte. Der junge Schreiber spürte immer noch das Stechen der Stoppelhalme an seinen Fußknöcheln, sah immer noch den trägen Flug der Schmetterlinge über dem Stroh. Und auf dem sonnenverbrannten Brachland waren Schwärme kleiner dunkelroter und schwarzer Käfer herumgeschwirrt, welche man hier Erntemotten nannte; wie Blumen im Wind hatten sie sich hin und her bewegt. Die echten Blumen, die Kornblume und die Pimpernelle, hatten mit ihrer zarten Farbe gegen den goldenen Staub des Sommers fast stumpf gewirkt. Harry hatte noch den besonderen Geschmack des Feldes im Mund und den warmen Körnergeruch in der Nase.

Der alte Edric, seit dreißig Jahren der Schreiber von Sir Eudo, schaute unablässig auf Harrys Werk und verzog das Gesicht oder schüttelte bei der runden, jungenhaften Schrift des Jünglings den Kopf. Seit einer Woche führte der junge Mann nun die Schriftrollen, aber nicht der Lehrling, sondern der Meister würde bei dem Lord für die Richtigkeit der Angaben Rede und Antwort stehen müssen.

»Hier hast du dich geirrt, Harry. Du führst Lambert unter den Unfreien auf, die heute im Dreiecksland bei den Wiesen gearbeitet haben. Er war aber nicht dort. Ich habe ihn jedenfalls da nicht gesehen.«

Dieser Teufel! dachte Harry, der sehr genau wußte, wo Lambert den Tag verbracht hatte, nämlich mit seinen beiden wilden Windhunden und dem Bogen auf der Jagd. Während alle anderen Männer in der Grafschaft dabei geholfen hatten, die Ernte einzubringen, hatte Lambert sich in die Wälder verdrückt. Schließlich wußte jeder, daß es fürs Wildern keinen besseren Monat gibt als den August. »Aber nein, Meister, natürlich war er dort. Wir sind ihm doch begegnet. Er kam mit dem Ochsenwagen zum Feld gefahren. Sicher wirst du dich daran erinnern, oder?«

»Nein, Leofric war bei dem Ochsengespann«, entgegnete der Alte, etwas verunsichert von Harrys überzeugter Miene.

»Meister, es waren doch zwei Männer bei dem Fuhrwerk. Lambert lief hinten, mit dem Treibstock. Er hat laut gesungen. Das kannst du doch nicht vergessen haben!« Harry erkannte, wenn auch mit einiger Verblüffung, daß er Edric in die Enge getrieben hatte. Konnte es denn möglich sein, daß der alte Trottel seinem eigenen Gedächtnis nicht mehr traute? »Lassen wir es doch einfach stehen«, meinte der Jüngling nun rasch, denn schon näherte sich aus dem Söller der Herr, sein Vater. Gewichtig polterte sein schwerer Körper die Stufen herab. »Gleich morgen in der Früh bitte ich den Vogt, mir das zu bestätigen, was ich hier aufgeschrieben habe. Und wenn ich irgendwo einen Fehler gemacht haben sollte, werde ich den sofort verbessern. Aber glaub mir, in dieser Liste findest du keinen Irrtum.« Diese Lüge hätte ihm eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben müssen, aber er konnte Lambert doch nicht den Förstern ausliefern. Natürlich würde Harry am Morgen losziehen, aber nur um Lambert und dem Vogt einzuschärfen, was sie sagen sollten. Allerdings würde er dem Missetäter auch das Versprechen abnehmen, von nun an bis zum Ende der Ernte jeden Frontag zur Arbeit zu erscheinen. Wenn es Lambert gelungen war, auch nur ein Stück Wild einzupökeln, mußte er Harry dafür dankbar sein.

»Na gut, meinetwegen, lassen wir den Namen stehen, aber du kümmerst dich dann in der Früh darum. Du machst ja sonst wenig Fehler, mein Junge, das will ich dir gern zugestehen.« Edric schloß die Rolle, als Sir Eudo die letzten Stufen hinter sich gebracht hatte und sich ihnen näherte. Die Binsen, mit denen der Boden bestreut war, raschelten bei seinen Schritten. Ebrard war bei ihm. Sein Gesicht war bis zum Rand seiner Kappe von Sonnenbrand gerötet, und sein helles Haar wirkte noch bleicher. Harrys älterer Bruder hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, den erst halbtrainierten Zwergfalken an der Leine auszubilden. Er trug die zusammengerollte Leine immer noch in der behandschuhten Hand und brachte eine zufriedene Wärme in die Halle, zusammen mit dem Geruch von Stall und Mauserkäfig.

Sir Eudo schob einen Schemel mit einem Fuß durch die Binsen und ließ sich mit dem gewaltigen, erleichterten Seufzer eines zu beleibten und in die Jahre gekommenen, ansonsten aber sich bester Gesundheit erfreuenden Mannes darauf nieder. »Nun, wie macht sich unser Schreiberlehrling?«

»Er zeigt Fortschritte, Sir Eudo, sehr große sogar. In der vergangenen Woche hat er ganz allein die Rollen beschriftet, ohne daß ich ihm dabei helfen mußte. Und ich kann in seinen Einträgen nur wenige Fehler entdecken. Nur seine Handschrift will mir noch nicht recht gefallen, aber das werden schon Zeit und Übung besorgen.«

»Also bekommt er die Buchführung ordentlich hin«, brummte der Burgherr nur und kratzte sich mit harten Fingern im struppigen, angegrauten Bart. Das Geräusch erinnerte Harry an die Stoppeln, die auf dem Feld an seinen Schuhen geschabt hatten. »Es wäre mir egal, selbst wenn er die verkritzeltesten Buchstaben krakeln würde, die je auf ein Stück Pergament gebracht wurden.« Er sah seinen Zweitgeborenen aus glänzenden braunen Augen an, die aus behaarten Wangen lugten. Sie waren vom alten Bier und vom ausländischen Wein etwas blutunterlaufen und tief in die fetten Wangen eingebettet, die von einem ausschweifenden Leben zeugten. Dennoch blickten sie immer noch klar und scharf drein.

»Nun sage mir, Harry, ob irgend etwas meiner Aufmerksamkeit bedarf und ich mich darum kümmern muß. Hat Walter Wace mir wieder seinen schwachsinnigen Sohn geschickt, damit er für ihn die Arbeit des Frontages leistet? Ich lasse ihn das Fell gerben, wenn er mir noch einmal diesen Trottel überläßt, wo er doch vier weitere Söhne hat, welche allesamt bei Kräften und Verstand sind.«

»Nein, Sir, Sohn Michael kam, und ich glaube, das ist das tüchtigste seiner übrigen Kinder. Auf gar keinen Fall konnte er Euch Nicholas schicken, denn der arme Bursche liegt krank danieder. Ihr wißt doch, daß er immer schon an einer schwachen Seele litt…«

»Ich weiß, daß der Bursche nichts zustande bringt«, fiel der Burgherr dem Jungen ins Wort. »Weder Vogt noch oberster Richter noch Truchseß könnten ihn dazu bringen, seine plumpen Glieder in Bewegung zu setzen!«

»Meines Wissens plagt Nicholas dieses Leiden schon seit seiner Geburt, Herr, und es ist eine Schande, daß Walter ihn überhaupt zur Arbeit aufs Feld schickt.« Harry griff nach der Rolle und breitete sie vor den Augen seines Vaters aus, um Zeit zu gewinnen und die Rührung in seiner Stimme zu unterdrücken, die ihn jedesmal überkam, wenn er von dem freundlichen Schwachsinnigen sprach, der sich niemals beklagte. Wace hätte es sicher nicht ungern gesehen, wenn Nicholas gestorben wäre; denn damit wäre sein Haus ein hungriges Maul und zwei untaugliche Hände losgeworden. Harry hatte allerdings als Vierjähriger, als er mit Adam über die Wiesen getollt war, aus eben dem Mund dieses Geistesarmen die Namen aller Feldblumen gelernt; und dieselben untauglichen Hände hatten ihn liebevoll aus einem Bach und aus einem Marderbau gezogen. Er betrachtete jetzt mit gerunzelter Stirn die Pergamentrolle, denn er wußte, daß die Gelegenheit nun günstig war. Er durfte sie nicht verstreichen lassen: »Herr Vater, da wären nur einige Kleinigkeiten, die Ihr wissen solltet. Als erstes wäre da die Angelegenheit mit Thomas Harnett, dessen Pachtzins seit langem überfällig ist. Ihr erinnert Euch gewiß, daß er einen Unfall hatte und sich seitdem seiner Arbeit nicht mehr widmen konnte. Daher hattet Ihr ihm damals einen Zahlungsaufschub gewährt. Nun, bislang hat er den Zins immer noch nicht entrichtet, aber wenn Ihr …«

»Aber wenn was?« unterbrach Ebrard ihn, der gerade dabei war, das Ende der Falkenleine festzubinden. »In diesem Fall können wir gern auf alle Wenns und Abers verzichten. Wenn der Mann seine Pacht nicht bezahlen kann, so hat er doch immer noch sein schönes Pferd. Damit ließen sich seine Schulden gut und gern begleichen. Wozu braucht ein Stellmacher wie er schon ein solches Roß?«

»Wenn ich etwas sagen dürfte, Sir«, meldete sich Harry gleich wieder zu Wort, »so würde ich sein Pferd nicht beschlagnahmen. Wenn Ihr ihm einen Aufschub von weiteren zwei Monaten gewährt, dann habt Ihr am Ende einen guten Gewinn. Sein Weib und seine Tochter haben sich nämlich tüchtig abgerackert, um seine Felder zu pflügen und zu eggen und die Aussaat zu besorgen. Dank ihrer Mühen erwartet Thomas nun die beste Ernte seit Jahren. Noch steht ihr Korn. Wenn Ihr ihm nun sofort die Schuld abverlangt und ihm das Pferd abnehmt«, schloß der Jüngling und bemühte sich, den triumphierenden Ton in seiner Stimme zu unterdrücken, »wird seine Familie länger brauchen, um die Ernte einzubringen, und wer weiß schon, wie lange sich das Wetter noch hält? Die Harnetts könnten alles verlieren, und Ihr verliert dann Euren Zins ebenfalls; denn ohne Roß wird er Euch als Pächter deutlich weniger einbringen.«

Der alte Ritter sah ihn streng an, schaute dann wieder auf die Rolle und schwieg zunächst. Dann schob er den Ärmel hoch, entblößte seinen mächtigen Arm und grunzte: »Also gut, dann will ich Thomas in Frieden lassen, bis er die Ernte eingebracht hat. Er soll zwei weitere Monate Aufschub bekommen. Was steht noch an?«

»Giles aus Teyne steht bei Euch immer noch in der Kreide. Er hat weder in diesem Jahr zu Ostern seine Pacht an Eiern abgeliefert noch die schuldigen zwei Shillings zum Festtag des heiligen Petrus entrichtet.«

»Und wahrscheinlich können wir darauf bis zum Sankt Nimmerleinstag warten«, brummte Ebrard. »Ihr könntet jeden jämmerlichen Topf in seiner Hütte pfänden und würdet die Schuld doch nicht bezahlt bekommen. Der Bursche tut den lieben langen Tag nichts anderes als saufen und angeln. Sein ganzes Yardland würde ihm keinen Penny einbringen, wenn er es allein bewirtschaften müßte. Sein Sohn ist’s, der sich abplagt, um dem Boden etwas abzugewinnen. Hat er sich zum Erntedienst eingestellt?«

»Giles? Aber nicht doch. Er hat an seiner Statt seinen Sohn Wat geschickt, und der arme Junge ist vor Erschöpfung beinahe im Stehen eingeschlafen; denn nachdem sein Dienst bei uns gestern beendet war, hat er noch bis zum Einbruch der Dunkelheit auf dem Land seines Vaters gearbeitet. Und ich könnte mir gut vorstellen, daß Wat heute abend ähnliches erwartet. Vater, laßt mich mit dem Vogt sprechen. Wenn der Knabe sich morgen wieder zur Fronarbeit zeigt, soll er ihn gleich nach Hause schicken. Der Junge ist noch keine vierzehn Jahre alt. Wir hätten Fug und Recht, ihn vom Dienst zurückzuweisen, erfüllt er doch aufgrund seines Alters nicht die Voraussetzungen.«

»Und Giles damit aus seinen Verpflichtungen entlassen? Nein, nicht für das ganze Land Salop, mein Sohn. Was soll das überhaupt für ein närrischer Vorschlag sein?«

»Nein, Sir, so habe ich das doch gar nicht gemeint. Wir könnten Giles vor Gericht stellen, damit er dort für sein Versagen die Verantwortung tragen muß. Zeigt ihn an, und nehmt von seinem Besitz, was.«

»Bei dem ist nichts zu holen, und das weißt du auch. Ein so fauler Strick hat selten Forellen aus dem Bach da hinten gelockt. Auf die Weise würde ich nie etwas von Giles bekommen.«

»Der Bursche ist stark und hat das Gesicht eines Gauners«, meinte Ebrard. »Damit ließe er sich leicht verkaufen. Und wenn sich kein Käufer findet, kann man ihn immer noch dem Kloster überlassen. Es wäre gewiß kein Verlust, ihn loszuwerden.«

»Und sein Yardland gleich dazu? Die Betbrüder würden sich schön bedanken, wenn sie ihn ohne das Stück Land erhielten, das kann ich dir aber versichern.«