1. Kapitel

Mittwoch, 22. August

Katja

Zu Katjas Füßen lag ihr Mann. Kreidebleich, blutend, tot.

Mausetot.

So manches Mal hatte sie sich gewünscht, ihn tot am Boden liegen zu sehen, doch jetzt wurde ihr angst und bange. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie tun sollte.

Die Polizei anrufen und sagen: Mein Mann ist überfallen worden. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und habe ihn tot in der Wohnung gefunden?

Nein, das würde nur Probleme geben. Sie müsste einen Einbruch vortäuschen, und als leidenschaftliche Krimi-Liebhaberin wusste sie, dass das verdammt heikel wäre.

Nein, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Martina! Ihre älteste und beste Freundin wusste immer, was man in vertrackten Situationen tun musste.

Sie nahm ihr Handy vom Tisch. „Martina, ich bin’s.“

„Katja, wie schön! Ist das nicht ein herrlicher Tag heute? Ein Tag zum Forellenüberfahren, stimmt’s oder hab ich recht?“

Katja druckste ein wenig herum. „Mir ist da was ganz Blödes passiert. Kannst du herkommen?“

„Das passt mir gerade ganz schlecht.“

„Es geht um Leben und Tod. Na ja, mehr um Tod. Es ist wegen Ulf.“

„Was ist mit ihm?“

„Er ist tot.“

Martina schloss sie kurz darauf in die Arme und wiegte sie wie ein Kind. „Ach Mensch, Katja. Du Arme.“

Katja wollte ihr alles erklären, doch bevor sie ansetzen konnte, ging Martina energischen Schrittes an ihr vorbei und begutachtete den am Boden liegenden und am Kopf blutenden Ulf.

„Meine Güte. Wie ist das denn passiert?“

„Ich … ich hab ihn mit dem Kerzenständer dort erwischt.“ Katja wies hinter sich. Dort stand ein schmiedeeiserner Kerzenständer, die weiße, halb heruntergebrannte Kerze lag daneben. Am oberen Ende des Leuchters war etwas Blut zu sehen, aber nur wenn man nahe genug davorstand. „Wir haben furchtbar gestritten. Ich hab ihm gesagt, dass ich längst weiß, dass er mich betrügt. Wieder mal. Das hat doch überhaupt nichts zu bedeuten, Katja, hat er gefaselt. Ich war stinksauer. Und irgendwie hab ich den Kerzenständer in die Hände bekommen und dann … tja …“ Sie seufzte und zeigte auf Ulf.

Martina schwieg, sie sah sehr nachdenklich aus.

„Hab ich ihn erschlagen?“ Katja ahnte, dass es nicht gut für sie aussah.

Für Ulf auch nicht.

„Scheint so. Hätte ich dir nie zugetraut.“ Hatte Martina beeindruckt geklungen?

„Was soll ich denn jetzt bloß machen, Martina?“

Martina dachte offenbar noch immer nach. Dabei lief sie durchs Wohnzimmer bis zum Fenster und wieder zurück. Dann blieb sie abrupt stehen und sah Katja mit einem listigen Grinsen an. „Erst mal müssen wir ihn von hier wegschaffen.“ Sie tätschelte Katjas Arm. „Wir wickeln ihn in irgendwas ein. Und dann packen wir ihn in den Kofferraum.“

Wie stellte sie sich das vor? Ulf war ziemlich groß und nicht gerade ein Fliegengewicht.

Ihre Freundin krempelte die Ärmel hoch. „Wir machen es mit der klassischen Teppichmethode.“ Sie ging zu dem flauschigen, hellen Teppich, den Katja vor Jahren für verteufelt viel Geld erstanden hatte. „Wir werden ihn ruinieren. Das viele Blut …“, gab sie zu bedenken.

Aber Martina hatte ihn bereits aufgerollt. Dabei keuchte sie. „Komm, hilf mir mal.“

Gemeinsam versuchten sie Ulf hochzuheben, wobei Katja an seinem Kopf stand und Martina an seinen Beinen.

„Meine Güte, ist der schwer.“ Martina pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Sie ächzten und schnauften, als etwas Seltsames geschah: Ulfs Augenlider zuckten. Zunächst meinte Katja, sie habe sich das nur eingebildet, doch dann öffnete er erst das rechte Auge und schließlich das linke.

Gellend schrie sie auf: „Ulf!“

„Sagtest du nicht, dass er tot ist?“, zischte Martina.

Sie hörte sich erneut aufschreien.

Zwei Arme griffen nach ihr und hielten sie fest. Eine Stimme, die beruhigend auf sie einredete. „Schsch. Was ist denn los, Katja?“

Sie schlug nach der Hand. „Lass mich …“

Vorsichtig öffnete sie die Augen. Sie hatte geträumt. Ein Albtraum. Ulf saß neben ihr, die Bettdecke halb zurückgeschlagen, und starrte sie entgeistert an. „Du hast laut geschrien.“

„Ich hab schlecht geträumt.“

„War jemand hinter dir her?“

„So ungefähr.“ Sollte sie ihm sagen, dass sie ihn im Traum mit einem Kerzenständer erschlagen hatte?

Und es war nicht das erste Mal, dass sie ihn im Schlaf ermordet hatte. In einem dieser Träume hatte sie ihn mit einem dicken lilafarbenen Sofakissen erstickt. Das war schließlich explodiert und weiße Schaumstoffflöckchen waren durchs Zimmer geflattert.

Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte, wieder einzuschlafen. Ulf wälzte sich neben ihr hin und her.

„Ich kann nicht mehr schlafen“, brummte er und rutschte auf ihre Seite.

Sie gähnte demonstrativ.

„Katja? Schläfst du schon?“

„Ja.“

„Schade. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust auf Sex.“

Sie reagierte nicht.

„Komm schon, nur ein bisschen.“

Ein bisschen, aha.

Sie grunzte und wickelte sich fest in die Bettdecke.

Er brummte noch irgendetwas und rutschte wieder auf seine Seite.

Donnerstag, 23. August

Anna

Anna saß mit ausgestreckten Beinen im Gras und blickte blinzelnd in den Himmel. Kein Wölkchen war zu sehen. Es war ein heißer Tag, vermutlich einer der letzten Sommertage. Der September stand vor der Tür, ein Monat, den sie seit ihrer Kindheit liebte.

Sie überlegte, ob sie schwimmen gehen sollte. Seit Jahren war sie nicht mehr geschwommen. Vielleicht hatte sie es inzwischen verlernt? Aber wie sagte ihre Mutter immer: Schwimmen verlernt man nicht.

Sie schüttelte ihre Locken, legte sich flach ins Gras und schloss die Augen. Eine kleine Hummel flog um ihren Kopf herum.

Als junges Mädchen hatte sie geglaubt, Hummeln seien kleine Elfen und würden ihr etwas ins Ohr flüstern, wenn man sie nahe genug heranließ.

Sie seufzte leise. In wenigen Monaten würde sie vierzig werden.

Wie das schon klang, vierzig! Sie fürchtete sich nicht davor, alt zu werden, nein, ihr wurde nur mehr und mehr bewusst, dass sie viel zu viele Jahre verplempert hatte.

Wann hatte sich Hans so verändert?

Ihre Mutter hatte von Anfang an Bedenken gehabt. Er macht dich nicht glücklich, Anna, hatte sie gesagt.

Sie sollte recht behalten. Bereits nach zwei Jahren war nämlich eine Veränderung mit ihm passiert, eine Wandlung, die damit begonnen hatte, dass er Anna argwöhnisch angesehen hatte, wenn sie auch nur zehn Minuten später nach Hause kam als erwartet. Wo warst du denn so lange? Was hast du denn noch gemacht?

Und wenn sie telefonierte, hatte er hinterher gefragt: Wer war das, Anna? Mit wem hast du so lange gesprochen?

Ständig hatte sie Rechenschaft ablegen müssen. Dabei war sie eine treusorgende Ehefrau gewesen.

Nur leider keine Mutter. Nachdem sie begriffen hatte, dass er keine Kinder wollte, um sie ganz für sich allein zu haben, war auch mit ihr eine Wandlung passiert. Sie zog sich von ihm zurück, jeden Tag ein wenig mehr. Bis sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten und ein paar Sachen zusammengepackt hatte, um zu ihrer Schwester zu ziehen.

Am nächsten Morgen hatte er vor der Tür gestanden. Ich kann mich ändern, Anna.

Sie hatte nachgegeben und es wenig später schon wieder bereut.

Inzwischen wusste sie, dass sich Menschen nicht einfach so ändern. Und Menschen wie er schon gar nicht. Ein heiliges Versprechen nach dem nächsten hatte er ihr gegeben und kein einziges gehalten.

Bei ihrer Schwester konnte sie nicht bleiben, also hatte sie vor ein paar Tagen eine kleine Reisetasche gepackt und war in eine Pension gezogen. Hans wusste weder, wo sie war, noch, dass sie ein eigenes Konto hatte. Und das sollte auch so bleiben.

Sie hatte sich eine Perücke gekauft, die sie immer trug, sobald sie die Pension verließ.

Und heute hatte sie sich an den See getraut. Das Wetter war einfach zu herrlich, um im Zimmer zu hocken.

Der warme Wind wehte über ihre nackten Beine, als würde sie jemand mit sehr sanften Fingerspitzen berühren.

Sie stand auf und ließ ihr Kleid auf die Erde gleiten. Von Weitem sah sie jetzt wahrscheinlich wie eine Nymphe aus, die gerade aus dem Wasser gestiegen war. Eine Nymphe mit langen schwarzen Locken.

Waren Nymphen nicht eher blond?

Sie ging zum Seeufer und schirmte ihre Augen mit einer Hand ab. Sie tauchte einen Zeh ins Wasser und zuckte zusammen. War das kalt! Sie schlüpfte aus ihrer Unterwäsche, ließ sie einfach da liegen, wo sie gerade stand. Es war ganz still, nur das Surren einer dunkelblauen Libelle war zu hören, die wie ein kleiner Helikopter ihre Runden drehte.

Sie ließ sich bäuchlings ins Wasser fallen und schwamm ein paar Züge. Es war wirklich verflixt kalt. Sie machte kehrt und ließ sich auf dem Rücken in Richtung Ufer treiben.

Nackt und triefend nass stieg sie aus dem Wasser und ließ sich auf ihrer Decke nieder. Sie würde sich von der Sonne und dem warmen Wind trocknen lassen.

Selten hatte sie sich so lebendig gefühlt.

Sie ließ sich ins hohe Gras fallen, streckte sich aus und schloss die Augen. Schon als Kind hatte sie über eine lebhafte Fantasie verfügt.

Jetzt stellte sie sich vor, wie ein gut aussehender Mann vor ihr stand und sie ansah. Oh, verzeihen Sie vielmals, ich wollte nicht gaffen.

Er hatte einen braun gebrannten, straffen Körper und breite Schultern, und sie genoss seine bewundernden Blicke auf ihrem nackten Körper.

Sie fuhr hoch, als eine Hummel auf ihrer Nase landete. „Huh, hast du mich erschreckt!“

Die Hummel war blitzschnell weitergeflogen.

„Warst du vielleicht doch eine Fee?“, rief sie ihr nach.

Sie stand auf und schlüpfte in ihre Sandalen.

Vielleicht würde es heute noch ein Gewitter geben. Sie sollte sehen, dass sie in die Pension zurückkam.

Samstag, 25. August

Rita

So hatte Rita sich ihren fünfundvierzigsten Geburtstag nicht vorgestellt. Keiner ihrer Arbeitskollegen hatte Zeit für einen kleinen Umtrunk gehabt, und so war sie mutterseelenallein in eine Bar gegangen und hatte sich betrunken. Auf unsicheren Beinen war sie anschließend zum Taxistand getaumelt und hatte einen mürrischen Taxifahrer angetroffen, der sie anblaffte, dass er sie nicht fahren würde, sollte sie so betrunken sein, wie es den Anschein machte.

Sie hatte mit ihrem spitzen Absatz gegen die Fahrertür treten wollen, war ausgerutscht und der Länge nach auf den Gehweg gestürzt. Mühsam hatte sie sich aufgerappelt und den Taxifahrer angeschnauzt, als er ihr aufhelfen wollte.

Jetzt war sie auf dem Weg zur nächsten S-Bahn-Haltestelle.

Es war ein milder Abend, einige wenige Sterne funkelten über der Stadt. Sie summte ein Lied von Kim Carnes und schwang dabei ihre Handtasche.

Diese verdammten Schuhe würden sie noch umbringen.

Kurzerhand blieb sie stehen, hielt sich an einer Straßenlaterne fest und zog ihre Pumps aus. Ah, schon viel besser. Auf Strümpfen schwankte sie weiter.

Es ging eindeutig bergab mit ihr, niemandem war das klarer als ihr selbst. Seit gut zwei Jahren war sie ein nervliches Wrack.

Natürlich war sie das. Wie sollte es auch anders sein?

Bestimmt gab sie ein fürchterliches Bild ab. Jeder musste sie für eine Trinkerin halten. Dabei trank sie selten, auch wenn es verdammt viele Gründe gab, sich jeden Tag zu betrinken.

„Dieser Mistkerl, dieser elende Mistkerl …“ Die Handtasche erwischte einen Mülleimer.

Wo zum Teufel war diese dämliche Haltestelle? War sie in die falsche Richtung gelaufen? Nein. Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr schwindelig wurde.

Ihr Handy klingelte.

„Hier spricht Rita Flemming. Heute ist mein Geburtstag, und wer immer da auch dran ist, er soll mich am Arsch lecken.“

„Hallo, Rita.“

Sie betrachtete verblüfft das Handy. „Christian, bist du das?“

Christian war ihr Arbeitskollege und jemand, der sich liebevoll um sie kümmerte, obwohl er Frau und Kind hatte. Das rechnete sie ihm hoch an, besonders jetzt. Augenblicklich brach sie in Tränen aus.

„Um Gottes willen, was ist denn los?“

„Ich habe mich betrunken, und jetzt finde ich die Haltestelle nicht“, schluchzte sie.

„Soll ich kommen und dich abholen?“

Sie nickte heftig. „Ja. Nein. Lieber nicht. Deine Frau wird stinksauer auf mich sein.“

„Unsinn, sie mag dich. Sie wird das verstehen.“

Sie schniefte und kramte in ihrer Hosentasche. „Und ich hab nicht mal ein Taschentuch.“

„Soll ich kommen und dir eins bringen?“ Er lachte.

Sie lief weiter, das Handy am Ohr, in der anderen Hand ihre Schuhe. Dann entdeckte sie die Haltestelle. „Da ist sie! Ich hab sie gefunden.“

„Was? Eine Packung Taschentücher?“

„Nein, die Haltestelle.“

„Du, hör mal, tut mir echt leid, dass du ganz allein deinen Geburtstag feiern musstest. Was hältst du davon, wenn wir nächste Woche essen gehen?“

„Das machen wir.“ Sie hatte die Haltestelle erreicht. „Nacht, Christian.“

Sie blinzelte, weil sie meinte, noch jemanden im Wartehäuschen gesehen zu haben. Einen Mann. Ach verdammt, musste das sein?

Sie stöhnte auf und setzte sich auf das äußere Stück der Holzbank.

Der Mann saß am anderen Ende und blickte in ihre Richtung.

„Glotz bloß woanders hin“, murmelte sie. „Ich wurde genug angeglotzt in den letzten Jahren.“

Sie stellte ihre Schuhe neben sich auf die Bank und ihre Tasche auf die Knie. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass der Mann noch immer zu ihr herüberschaute. Unverschämter ging’s kaum. Sollte er nicht in der nächsten Minute woanders hinsehen, würde sie hingehen und ihm die Leviten lesen. Aber so was von!

Sie drehte den Kopf und stellte fest, dass er wie erstarrt dasaß und in ihre Richtung gaffte, den Mantelkragen hochgeschlagen.

Okay, nun reichte es.

Sie stand auf, wobei sie stark schwankte, und ging zu dem Mann. „Würde es Ihnen was ausmachen, woanders hinzustarren? Das macht mich nervös.“

Der Mann, er war deutlich älter, als sie vermutet hatte, grinste. „Starren. Das ist gut.“

Ihr blieb die Spucke weg. „Wenn Sie das witzig finden …“

Als er leise lachte, brannten bei ihr die Sicherungen durch. Sie hatte in den vergangenen Jahren zu viel mitgemacht und viel zu viel ertragen müssen.

Ihre Hand schoss vor und packte den Mann am Kragen. Sie schüttelte ihn und wunderte sich, dass er so leicht war. „Sie sollen gefälligst woanders hinsehen!“

Als sich sein Mund öffnete, schlug sie zu. Rechts und links klatschte sie ihm ihre flache Hand ins Gesicht.

Zwei Sekunden später hielt sie inne. Fassungslos betrachtete sie ihre Hand. Hatte sie den Mann wirklich geschlagen?

Er war in sich zusammengesunken, das Kinn auf der Brust.

Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Bitte verzeihen Sie, ich weiß nicht, was …“ Neben dem Mann an der Wand lehnte ein weißer, länglicher Stock. „O mein Gott! Sie sind blind?“

Sie ließ sich auf die Knie fallen und nahm seine Hände. „Es tut mir leid, es tut mir furchtbar leid. Ich hab die Beherrschung verloren. Warten Sie, ich rufe einen Arzt.“

Seine Hand suchte nach ihrer und drückte sie leicht. „Kein Arzt, ich brauche keinen Arzt.“

„Aber ich …“

„Wirklich nicht.“ Er hatte den Kopf gehoben, und sie konnte seine trüben Augen sehen.

Sie schämte sich so, dass sie anfing zu weinen.

„Es geht mir gut“, sagte er leise. „Aber Ihnen geht’s nicht gut.“

„Ich dachte, Sie starren mich an, und da …“

Er nickte. „Ich hab die Angst und die Wut in Ihrer Stimme gehört.“

„Es tut mir so leid, ich …“

„Sie sollten sich mal richtig aussprechen, junge Frau.“

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Augen. „Sie haben recht, das sollte ich …“

Cover

Kurzbeschreibung:

Was haben ein Macho, ein Stalker und ein Kontrollfreak gemeinsam?

Katja, Rita und Anna müssen viel Demütigung ertragen und haben die Nase gestrichen voll.
Aus einem zufälligen Treffen entwickelt sich eine innige Freundschaft und die Erkenntnis, dass es selbst aus den verzwicktesten Situationen immer einen Ausweg gibt.
Und manchmal ist das Schicksal ein echter Kumpel und spielt allen dreien in die Hände …

Susanne Lieder

Abends bei Clark’s

Roman


Edel Elements

Konvertierung: Datagrafix

Frauen töten ihre Männer,
weil sie sie loswerden wollen

3. Kapitel

Anna

Anna warf einen Blick auf das Display ihres Handys. Wo blieb Regina? Ob ihr etwas dazwischengekommen war? Regina war Kinderärztin, da konnte schon mal etwas Unvorhergesehenes geschehen.

Anna ging mit dem Telefon vor die Tür. Man schätzte es im Restaurant nicht besonders, wenn ständig irgendwo ein Handy klingelte.

Genau in dem Moment, als die Glastür hinter ihr zufiel, rief Regina an. „Ein Notfall, Schwesterherz. Ein kleiner Junge mit einem Fieberkrampf. Tut mir leid, du wirst ohne mich auskommen müssen.“

Anna hoffte, dass ihr die Enttäuschung nicht durchs Telefon anzumerken war. „Macht nichts. Wir verschieben es auf morgen oder übermorgen.“

„Du bist nicht böse?“

„Ach was. Außerdem hab ich früher immer ganz stolz überall rumerzählt, dass meine große Schwester Ärztin werden will.“ Sie lächelte, auch wenn Regina das nicht sehen konnte.

„Ich hab dich lieb, Anna. Ist sonst alles in Ordnung mit dir?“

„Ja, klar.“

„Ganz sicher?“

„Ganz sicher.“

„Dann hat Hans dich noch nicht … aufgespürt?“

Sie verdrehte die Augen. Aufgespürt, wie das klang. „Nein, bisher nicht.“ Was auch nicht besser klang.

Sie schaltete das Handy aus und ging zurück an ihren Tisch.

Während sie auf ihr Essen wartete – sie hatte ein Tomaten-Risotto mit Jakobsmuscheln bestellt –, blickte sie sich um und musterte die anderen Gäste: ein junges, ganz offensichtlich sehr verliebtes Paar an einem der Nebentische, zwei Frauen etwas weiter hinten, ungefähr in ihrem Alter, die sich angeregt unterhielten, und am Nebentisch eine dunkelhaarige Frau, auch etwa in ihrem Alter, die ebenfalls allein war. Ob sie versetzt worden war?

Wie ähnlich sie mir sieht, ging Anna durch den Kopf. Sie hatten beide die gleiche Haarfarbe und -länge, sogar ihre Figuren ähnelten sich.

Sie senkte den Blick und stellte sich vor, sie würde auf einen attraktiven Mann warten. Mit einem strahlenden Lächeln würde er durch die Glastür kommen, im Arm einen gigantischen Strauß ihrer Lieblingsblumen. „Verzeih mir, mein Engel, es ging nicht früher.“ Er würde sie umarmen und ihr ins Ohr flüstern: „Du siehst umwerfend aus.“

Erneut wanderte ihr Blick zu der Frau am Nachbartisch und sie stellte verblüfft fest, dass sie ebenfalls neugierig angesehen wurde. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Frau, und sie erwiderte es. Sie überlegte, ob sie aufstehen und fragen sollte, ob sie zusammen ein Glas Wein trinken wollten. Aber sie fühlte sich etwas gehemmt, was daran lag, dass sie komplett aus der Übung war, auf fremde Menschen zuzugehen.

Wenn sie wüsste, wie ähnlich sie mir sieht …

Wieder trafen sich ihre Blicke, und schließlich stand die Frau auf und kam an ihren Tisch. „Verzeihung, warten Sie auf jemanden?“

„Nicht mehr. Ich war mit meiner Schwester verabredet, aber ihr ist was dazwischengekommen.“

„Verstehe. Ich war mit einem Kollegen verabredet und auch ihm ist etwas dazwischengekommen.“ Die Frau lächelte sie an. „Und ich hasse es, allein essen zu müssen. Darf ich?“ Sie zeigte auf den freien Stuhl Anna gegenüber.

„Gerne.“

Sie zog sich den Stuhl heran und setzte sich. „Ich bin übrigens Rita.“

Eine Stunde später duzten sie sich bereits.

Sie hatten gegessen, eine Flasche Chablis getrunken und sich unterhalten. Es war, als würden sie sich seit einer Ewigkeit kennen. Da war eine verblüffende Vertrautheit und Nähe zwischen ihnen.

„Wir kennen uns gerade mal seit einer Stunde“, sagte Anna und prostete Rita zu, „und ich hab dir schon mein halbes Leben erzählt.“

„Die andere Hälfte interessiert mich auch.“

Dann würdest du erfahren, dass ich mit Perücke hier sitze, weil ich Angst habe, dass mich mein Mann entdecken könnte …

„Ich weiß zum Beispiel noch gar nicht, was du beruflich machst.“

Anna zuckte mit den Schultern. „Im Moment leider gar nichts. Und du?“

„Ich arbeite im Büro einer Baufirma, nichts Aufregendes. Dann bist du arbeitslos? Wurdest du gefeuert?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein Mann möchte nicht, dass ich arbeiten gehe.“

Rita hob die Augenbrauen. „Oh.“ Mehr sagte sie nicht.

Anna wusste, dass sie Rita alles erzählen würde, die ganze traurige Wahrheit. Aber erst mal würde sie sich ein bisschen Mut antrinken.

„Hast du Lust auf einen Eiswein?“, fragte sie und hob die Hand, um den Kellner an den Tisch zu winken.

Katja

Katja klopfte kurz an die Tür zur Küche und trat ein.

Ein intensiver Geruch drang ihr entgegen; gebratener Fisch, Thymian, Rosmarin, Zitrone und noch etwas anderes. Lavendel?

Clark, ein Mann mittleren Alters in schwarzer Kochkleidung, stand an einem riesigen Herd und schwenkte eine Pfanne. Dabei bellte er Anweisungen, betrachtete nebenbei, was der Jungkoch neben ihm fabrizierte, und wies eine der Küchenhilfen an, die Karotten gefälligst Julienne zu schneiden und nicht dick wie Pommes frites.

„Hallo, Clark.“

Als er ihre Stimme hinter sich hörte, fuhr er herum. „Katja! Schön, dass du dich mal wieder blicken lässt. Komm her und koste von meiner Soße! Dominic, wirst du wohl ein Auge auf die Gambas haben!“

„Jawohl, Chef“, erwiderte der junge Koch neben ihm eifrig.

Clark gab ihr einen Löffel, auf dem ein Klecks wunderbar duftender Soße war, und runzelte die Stirn, als sie brav probierte. „Na, was sagst du?“

„Da fehlt noch Salz. Und … warte … ein Spritzer Sahne?“

Er kostete verblüfft, hielt inne, probierte wieder. Dann stieß er ein fassungsloses Seufzen aus. „Salz? Da fehlt kein Salz. Und Sahne? In diese Soße darf doch keine Sahne! Donner und Doria! Sahne!“

Sie musste lachen. „Clark, das war ein Witz. Die Soße ist perfekt.“

Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Sei froh, dass ich beide Hände voll habe, sonst würde ich dir deinen hübschen Hintern versohlen.“

„Meine Freundin meint, eine Restaurantkritikerin entdeckt zu haben.“

Vor wenigen Minuten war eine Frau ins Restaurant gekommen, die Martina meinte, schon mal irgendwo gesehen zu haben. In einer Illustrierten vielleicht? Katja hatte diverse Schauspielerinnen, sogar Politikerinnen aufgezählt, doch Martina hatte immer nur den Kopf geschüttelt. Bis sie dann plötzlich rief: Jetzt hab ich’s.

Clark rührte unbekümmert weiter. „Ich weiß.“

„Du weißt es? Ich dachte, hier bricht die blanke Panik aus, sobald ein Kritiker auch nur einen Fuß ins Restaurant setzt.“

„Ach was. Ich kenne Barbara von Rathen schon seit Jahren. Sie tut gern wie eine giftige Natter, aber sie ist ganz zahm, wenn man sie wie eine Königin behandelt.“

„Und das hast du vor.“

„Und ob. Sie lässt wissen, wann sie erscheint, damit man Zeit genug hat, sie entsprechend zu hofieren, glaub mir. So was verbreitet sich schneller als ein Magen-Darm-Virus.“

„Verstehe. Wo wir gerade bei Magen-Darm-Virus sind … Welchen Nachtisch empfiehlst du heute?“

„Wenn du damit sagen willst, dass meine Desserts …“

„Um Gottes willen, Clark, das würde ich doch niemals tun.“

Er legte den Schneebesen beiseite. „Was hältst du von einer Schokomousse mit einem Hauch Lavendel?“

„Klingt lecker.“

„Zweimal?“

„Nein. Meine Freundin soll gefälligst was anderes essen, etwas, das ich dann auch probieren kann.“

Er lachte. „Wie wär’s mit einem Nougatparfait mit Waldbeeren?“

„Perfekt.“ Sie wandte sich ab und ging zur Tür.

„Beehr uns bald wieder. Und schreib mal was Nettes über mich.“

Sie blieb in der Tür stehen. „Ich dachte, du liest meine Artikel nicht.“

„Ich würde sie lesen, wenn sie über mich wären.“

Rita

Rita betrachtete die ältere Dame am Nebentisch.

Die Frau hatte blondiertes, akkurat frisiertes Haar, trug eine Brille an einer Kette und zog eine ordentliche Parfumwolke hinter sich her.

Anna hatte ihr vor einer Minute gesagt, dass sie eine bekannte, ja fast berühmte Restaurantkritikerin sei.

„Vermisst du das Meer?“, fragte Anna sie jetzt. „Von Lübeck aus ist man ja schnell am Meer.“

Sie seufzte. „Und wie ich es vermisse.“

Und dann tat sie etwas, was sie eigentlich niemals tat: Sie plauderte aus ihrem Privatleben. Normalerweise war sie zurückhaltender, doch sie mochte Anna schon jetzt, und sie hatte das Gefühl, als könne sie ihr vertrauen. „Es gibt einen Grund, weshalb ich hierhergezogen bin: ein Mann. Wir hatten eine Beziehung, die ich beendet habe.“ Sie machte eine Pause. „Er wollte das nicht akzeptieren und fing an, mir hinterherzuspionieren. Wo ich war, war auch er. Keine Ahnung, woher er immer wusste, wann ich wo war. Er lauerte mir auf und machte Fotos. Und er rief mitten in der Nacht an, manchmal bis zu zehn Mal. Oder er saß in seinem Wagen unten auf der Straße und hat in mein Fenster hinaufgestarrt. Einmal stand er in der Bahn plötzlich hinter mir. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Irgendwann bin ich zusammengebrochen. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren, hab meinen Job nicht mehr vernünftig machen können.“

Anna hatte stumm zugehört. Jetzt nickte sie. „Und man kann so gut wie nichts dagegen tun. Auch wenn Stalking mittlerweile strafbar ist. In Deutschland nennt man es Nachstellen, klingt doch viel harmloser als Belästigen, oder? Paragraf 238 Strafgesetzbuch.“

„Klingt, als wüsstest du ziemlich gut, wovon ich spreche.“

Anna nagte an ihrem rot lackierten Daumennagel. „Allerdings.“

Rita nippte an ihrem Eiswein. Sie würde Anna nicht drängen. Wenn sie reden wollte, würde sie das tun. Früher oder eben später.

Eine ganze Weile schwiegen sie beide.

Schließlich sagte Anna leise: „Ich hab mich von meinem Mann getrennt.“ Sie zeigte auf ihr rotes Haar. „Das ist eine Perücke. Ohne die gehe ich nicht mehr aus dem Haus, damit er mich nicht findet.“ Sie verzog das Gesicht. „Wenn er nicht schon längst weiß, wo ich bin. Wahrscheinlich wartet er nur auf die richtige Gelegenheit. Ich kann mich ändern, Anna, versprochen. Komm zurück nach Hause, wir gehören doch zusammen.“ Sie schnaubte. „Einen Scheiß tun wir.“

„Glaubst du, dass er dich liebt?“

„Hans hat keine Ahnung, was Liebe ist. Er will mich besitzen, nicht lieben. Er will Macht über mich haben, sonst nichts. Aber mal ehrlich, wird Liebe nicht sowieso total überschätzt?“

Rita lachte. „Schon möglich. Seitdem ich hier lebe, lässt er mich in Ruhe. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich mich nicht frage: Wie lange noch? Er hat bis heute Macht über mich.“

Anna seufzte. „Man fühlt sich ausgeliefert, hilflos.“

„Du ahnst ja nicht, wie oft ich mir vorgestellt hab, was ich alles mit ihm anstellen würde, damit er mich endlich in Ruhe lässt. Ich hab ihn bereits tausendmal umgebracht, auf jede erdenkliche Weise.“ Rita drehte das Glas in ihrer Hand.

Plötzlich kam Clark aus der Küche geschossen, erkundigte sich im Vorbeigehen, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei, und blieb am Nachbartisch stehen, an dem die Restaurantkritikerin saß.

„Frau von Rathen. Welch Ehre.“ Er verbeugte sich knapp.

Die Frau lächelte galant und streckte ihm ihre Hand entgegen, wahrscheinlich, damit er einen Kuss darauf hauchen konnte. Was er prompt tat. „Clark. Seit wann sind wir per Sie? Ich dachte schon, ich bekomme dich heute gar nicht mehr zu sehen.“

„Ich hatte viel zu tun. Hast du schon gewählt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich dachte, du empfiehlst mir etwas.“

„Ganz wie du wünschst.“ Er drehte sich um, um in die Küche zurückzugehen, doch sie hielt ihn am Ärmel fest.

„Was ist mit Nachtisch?“ Sie zwinkerte ihm zu, und Rita verschluckte sich fast an ihrem Wein.

„Ich habe einen herrlichen Mirabellenstrudel an Marzipansoße und weißem Trüffeleis.“ Er wedelte mit einer Hand und verschwand in der Küche.

Während die Frau mit sichtlichem Genuss speiste, beobachtete Rita sie verstohlen. Sie machte sich keine Notizen. Vielleicht war sie privat hier? Um den Chef des Hauses zu verführen?

Rita grinste.

„Was ist?“, fragte Anna sie.

„Ich amüsiere mich über die Kritikerin“, raunte sie ihr zu.

„Es schmeckt ihr.“ Anna zuckte die Schultern.

In diesem Moment kam Clark wieder aus der Küche, in der Hand ein Tablett, auf dem ein Glasschälchen mit hohem Fuß stand, darin eine eigenartige Masse aus gelben und grünen Kügelchen.

Was zum Teufel war das? Grüner und gelber Kaviar?

Barbara von Rathen hob die Augenbrauen. „Sagtest du nicht was von Mirabellenstrudel, lieber Clark?“

Er stellte das Schälchen vor ihr hin. „Bitte sehr, meine neueste Kreation. Du wirst begeistert sein.“

„Was ist das?“

„Ich dachte, du liebst Überraschungen. Koste“, forderte er sie auf.

Sie nahm den Löffel und tauchte ihn in die geleeartige Masse. Sie steckte ihn in den Mund, verharrte und hob verwundert die Augenbrauen, als habe sie es mit einem ganz ungewöhnlichen Gaumenschmaus zu tun.

„Na, was sagst du?“

„Es ist … prickelnd, sinnlich, erfrischend, kühl, leicht …“, sie lachte auf, „alles zugleich. Ein Traum, mein lieber Clark, ein Traum.“

Er nickte sichtlich zufrieden und zog wieder ab.

Sie hatte offenbar noch etwas sagen wollen, tauchte dann aber den Löffel wieder ein und aß mit geschlossenen Augen weiter.

Rita warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Clark durch das kleine Bullauge der Küchentür spähte.

Die beiden Frauen, die an einem der hinteren Tische saßen, schienen ebenso gebannt zu sein wie sie und Anna. Die blonde Frau hatte sich sogar erhoben, um besser sehen zu können. Auch die anderen Gäste hatten aufgehört zu essen oder sich zu unterhalten und starrten wie elektrisiert zur Kritikerin.

Die verdrehte urplötzlich die Augen und griff verwundert an ihren Hals, so als wolle sie sich vergewissern, dass er noch an Ort und Stelle war. Dann hustete sie, versuchte zu schlucken und fasste erneut an ihren Hals. Schließlich riss sie die Augen auf, ihre Finger krallten sich in das weiße Tischtuch und zogen es mitsamt dem Geschirr zu Boden.

Es schepperte und klirrte, ein junger Kellner sprang eilig herbei. Genau in dem Moment, in dem Frau von Rathen mit einem gekrächzten „Hilfe“ vom Stuhl glitt.

Anna schoss hoch und sprang zu ihr. „Können Sie mich hören? Was fehlt Ihnen?“

„Ich … Allergie … Schock.“ Die Frau röchelte und zuckte mit den Beinen.

Ein anderer Kellner kam herbeigelaufen, ein Handy in der Hand. „Ich rufe einen Rettungswagen.“

Anna hockte auf allen vieren neben der Frau und drehte sie auf den Rücken. „Um Gottes willen, die Frau muss in die stabile Seitenlage gebracht werden!“, rief der Kellner.

„Nein.“ Annas Stimme war ruhig. „Bringen Sie mir einen Stuhl, ihre Beine müssen hoch gelagert werden.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Ich bin Krankenschwester.“ Sie klopfte der Frau auf die Wangen. „Hören Sie mich? Versuchen Sie ruhig zu bleiben. Alles wird gut. Haben Sie ein Medikament bei sich?“

Die Frau nickte mit weit aufgerissenen Augen und wedelte mit der Hand. „Tasche“, flüsterte sie.

Anna hielt ihren Kopf und redete beruhigend auf sie ein. „Ich brauche ihre Handtasche“, sagte sie dann laut.

Sofort war einer der Kellner zur Stelle und reichte sie ihr. Anna öffnete sie und zog eine flache Packung heraus.

„Ob sie irgendwas nicht vertragen hat?“, fragte irgendwer.

Aufgeregtes Getuschel war entstanden, alle Gäste waren aufgestanden und hatten sich im Halbkreis um die arme Frau versammelt.

„Sie hat einen allergischen Schock“, sagte Anna ruhig.

Rita sah, wie sie ein kleines Etui öffnete und eine Spritze herausnahm.

„Sind Sie sicher, dass das richtig ist, was Sie da tun?“, fragte der Koch, der sich neben sie gestellt hatte und sehr besorgt aussah.

„Ich bin wirklich Krankenschwester, vertrauen Sie mir.“

Anna setzte die Spritze, und Rita beobachtete, wie Frau von Rathen sich nach einer Weile sichtlich entspannte. Ihr Kinn fiel schlaff herunter, ihre Haut wurde wieder rosiger.

Die Eingangstür ging auf, und zwei Sanitäter und ein Notarzt kamen hereingelaufen. Anna stand auf und trat beiseite.

„Haben Sie die Frau erstversorgt?“, fragte einer der Sanitäter sie.

Sie nickte.

„Sie sind Ärztin?“

„Nein, ich bin Krankenschwester.“

Frau von Rathen wurde untersucht und auf eine Liege gebettet. Als sie hinausgebracht wurde, kam einer der Sanitäter zu Anna, die sich wieder gesetzt hatte. „Gut gemacht. Dank Ihrer Hilfe ist die Frau stabilisiert. Wir nehmen sie zur Beobachtung mit in die Klinik.“

Anna war ganz blass geworden.

Rita legte den Arm um sie. „Ich bin beeindruckt. Du hast der Frau das Leben gerettet.“

„Ach was.“

„Doch, natürlich.“

Im Restaurant war eine betretene Stille entstanden.

Clark stand da, die Hände ineinander verschränkt, und machte einen ziemlich bestürzten Eindruck. Er musste sich zweimal räuspern, um den Gästen mitzuteilen, dass er einen Grappa aus dem Keller holen würde. Den hätten sie sich alle wohl verdient. Er drehte sich um und ging zur Tür.

Rita hatte ihm nachgeblickt. War niemandem außer ihr das seltsame Grinsen auf seinem Gesicht aufgefallen?

5. Kapitel

Rita

Anna hatte sich ins Bad verzogen, sie habe eine Überraschung, hatte sie Rita vor wenigen Minuten gesagt.

Rita war gespannt – und vollkommen baff, als Anna kurz darauf hereinkam. Sie trug keine Perücke, auch war sie völlig ungeschminkt. Das war aber nicht der Grund, weshalb ihr die Spucke wegblieb. Anna hatte genau das gleiche dunkle, gelockte Haar wie sie selbst, und eine Ähnlichkeit war plötzlich zu sehen, die ihr vorher nicht aufgefallen war. O Gott, sie und Anna könnten Schwestern sein.

„Wow!“ Mehr brachte sie nicht hervor.

„Wir sehen uns unglaublich ähnlich, sag’s ruhig“, meinte Anna lächelnd. „Mir war das sofort aufgefallen, als ich dich im Restaurant am Tisch sitzen sah.“

Rita war aufgestanden und betrachtete sie nun eingehender. „Das ist irgendwie gruselig, findest du nicht?“