McMullen, Beth Agentin Abby

PIPER

you-ivi_Logo.jpg Bücher für coole Mädchen.

www.piper.de/youandivi

Für Max und Katie

 

Übersetzung aus dem Englischen von Henriette Zeltner

 

ISBN 978-3-492-97846-0

© you-ivi_Logo.jpg, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Mrs. Smith’s Spy School for Girls«, Aladdin, Simon & Schuster, New York 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1

New York. Vor acht Monaten, als die Dinge eine seltsame Wendung nahmen.

Sehr geehrte Abigail Hunter,

es ist uns eine Ehre, Dich für das Schuljahr 2019 an der Smith School for Children willkommen zu heißen.

Wir sind überzeugt, dass Du an unserer Schule Großartiges leisten wirst. Hier an der Smith nehmen wir unser Motto sehr ernst: Non tamen ad reddet. Nicht nehmen, sondern zurückgeben. Jeden Tag bemühen wir uns, die Welt zu einem besseren Ort für unsere Mitmenschen zu machen, denn darauf kommt es an.

Beigefügt findest Du Einzelheiten zum Schuljahresbeginn. Unsere Reiseabteilung wird sich in Kürze bei Dir melden, um Deine Anreise und den Transport Deines Gepäcks nach Connecticut zu arrangieren.

Wir freuen uns auf ein spannendes und lohnendes Jahr!

Mit freundlichen Grüßen

Lola Smith, Direktorin der Smith School for Children

 

Die Smith School for Children? Was? Das muss ein Irrtum sein, denn ich gehe mit Rowan, Ainsley, Blake und Alec auf die Sweetbriar-Montessorischule und wir haben schon alles ausgemacht. Nächstes Jahr, also in der Achten, gibt es diese epische Fahrt nach Washington, DC. Und Blake und ich tauschen jeden Tag unsere Pausenverpflegung, weil er Grünkohlchips und solche gesunden Sachen mag, die meine Mutter mir einpackt. Apropos meine Mutter: »Mom! Komm schnell!«, brülle ich.

Meine Mutter, die kluge, aber anscheinend doch recht vergessliche Jennifer Hunter, erscheint in der Tür zu meinem Zimmer. Sie hat sich ein Handtuch um die Haare geschlungen und ein zweites um ihren Rumpf. Außerdem hat sie den Mund voller Zahnpasta.

»Was ist?«, nuschelt sie durch den Schaum. »Brennt’s bei dir?«

Ich halte den Brief so hoch, dass sie das leuchtend rot-blaue Wappen der Smith School gut sehen kann. (Warum braucht eine Schule eigentlich ein Wappen?)

Mom kneift die Augen ein bisschen zusammen. Weil sie eitel ist, trägt sie ihre Lesebrille nur, wenn sie einen Splitter entfernen muss. Ich räuspere mich.

»Smith School for Children. Klingelt’s da bei dir?«, schreie ich.

Mom erstarrt und sieht total geschockt aus. Zahnpasta tropft ihr vom Kinn. Mir wird ganz flau. Dieser Brief ist anscheinend kein Versehen.

»Warte kurz«, sagt meine Mutter. »Muss das ausspucken.« Damit dreht sie sich um und verschwindet. Sie hätte den Schaum auch runterschlucken können, aber sie will Zeit schinden. Die braucht sie, um sich zu überlegen, wie sie mir am besten mitteilt, dass sie mich auf ein Internat schickt und nur irgendwie vergessen hat, das zu erwähnen.

Ich hocke im Schneidersitz auf meinem Bett. In der freien Hand halte ich eine Keramikschale, die ich in der Schule getöpfert habe. Sie ist violett und orangefarben glasiert und passt so genau in meine Handfläche wie eine Granate. Nicht dass ich vorhätte, sie oder irgendwas anderes zu schmeißen.

Meine Mutter kehrt in einem weißen T-Shirt zurück. Aus ihrem nassen langen Haar tropft es auf den Fußboden und sie hat ein vollkommen unangebrachtes Lächeln aufgesetzt. Dann fällt ihr Blick auf meine Keramikschale. Das Lächeln verschwindet sofort.

»Denk nicht mal dran, damit nach mir zu werfen«, sagt sie und setzt sich ans Fußende meines Betts. »Ich würde mich ducken, dann knallt sie gegen die Wand und was hast du davon?«

Ich stelle die Schale weg. »Nichts«, murmle ich.

»Genau«, sagt sie. »Keine Vorteile. Genau wie damals, als du mit Ainsley die Schule geschwänzt hast, um die Lemuren aus dem Zoo im Central Park zu befreien. Da ist sogar die Polizei gekommen. Kein Vorteil.«

»Die Lemuren waren da nicht glücklich«, sage ich finster. »Und du tropfst mein ganzes Bett voll.«

»Tut mir leid, dass du den Brief in die Finger bekommen hast«, sagt sie stirnrunzelnd. »Aber seit wann bringst du eigentlich die Post rein?«

»Ich wollte hilfsbereit sein«, erkläre ich. »Hast du nicht gesagt, es wäre schön, wenn ich hilfsbereiter wäre? Außerdem war er an mich adressiert.«

»Die Smith School ist das angesehenste Internat des Landes«, sagt sie.

»Mir egal«, erwidere ich aufgebracht. »Ich geh da nicht hin.«

»Du kannst an der Smith Röcke mit kleinen Walen drauf anziehen. Und Poloshirts«, sagt sie. »Du wirst da gut hinpassen. Jede Menge cleverer Kids. Die was erreicht haben, weißt du.«

Das ist eine geradezu lächerliche Antwort, selbst für Moms Verhältnisse. Ich meine, wie viel kann man mit zwölf denn bitte schön erreicht haben? Die richtige Antwort lautet: nicht viel.

»Spinnst du?«, frage ich. »Ich war da noch nie! Bis eben hatte ich noch nicht mal davon gehört! Ich gehe auf die Sweetbriar. Ich habe Freunde! Und Pläne!«

»Die Smith School ist wirklich hübsch«, versucht meine Mutter es noch einmal. Ich greife wieder nach der Keramikschale, aber als Mom kaum merklich mit dem Kopf schüttelt, stelle ich sie zurück.

»Mir ist egal, ob es da hübsch ist«, jammere ich, »ich geh da nicht hin.«

»Doch, das wirst du.« Mom fasst mich bei den Schultern und schaut mir tief in die Augen. Ich hasse es, wenn sie das macht. Es ist hypnotisierend, als wäre sie so eine Art Schlangenbeschwörerin. Und obwohl ich schon mein ganzes Leben lang ihre Tochter bin, kann ich mich immer noch nicht dagegen wehren.

»Du bist klug, Abigail«, sagt sie. »Aber du musst lernen, dich zu konzentrieren und zu disziplinieren. Und ich bin dafür verantwortlich, einen Ort zu finden, an dem genau das gegeben ist – Konzentration und Disziplin. Ich muss wissen, dass du gut aufgehoben bist.«

Es stimmt schon, dass ich mich manchmal in Schwierigkeiten bringe. Vor zwei Monaten habe ich zum Beispiel die Wahl zum Schulsprecher manipuliert und wurde erwischt, als ich mich an dem Karton mit den Stimmzetteln zu schaffen machte. Aber das habe ich nur aus Freundschaft zu Josh getan, der so gern gewinnen wollte und wahrscheinlich keine Chance gehabt hätte. Ist Freundschaft etwas Schlechtes? Ich glaube nicht.

Der Direktor der Sweetbriar findet, ich hätte ein chronisches Defizit an gesundem Menschenverstand. Er wird immer ganz rot im Gesicht, wenn er das sagt, und meine Mutter seufzt als Antwort.

»Ein Internat?«, frage ich entsetzt. Für jemanden mit meiner Schlagfertigkeit ist das ein erbärmlicher Einwand. Aber zu meiner Verteidigung kann ich vorbringen, dass ich quasi noch unter Schock stehe. Ich habe ja erst vor fünf Minuten erfahren, dass ich bald in der grünen Landschaft Connecticuts verschwinden werde. Ich wedle mit dem Brief vor der Nase meiner Mutter.

»In diesem Gefängnis werde ich sterben«, sage ich. »Verschrumpeln und verschwinden, genau wie die Böse Hexe des Westens in Der Zauberer von Oz. Mein kreatives Ich wird für immer verstummen. Deshalb kann ich da einfach nicht hin.«

Mom lehnt sich wieder zurück und sieht mich an, wobei sie eine ihrer professionell getrimmten Augenbrauen eine Spur hochzieht.

»Außerdem hasse ich Poloshirts«, füge ich hinzu. »Wann hast du mich jemals in einem Poloshirt gesehen? Und was für eine Sorte Mensch trägt Meerestiere auf dem Rock? Denk an die Böse Hexe des Westens, Mom. Puff! In Rauch aufgelöst. Das Ende der Abigail Hunter, wie du sie kennst.«

»Dampf«, sagt Mom nur.

»Was?«

»Die Böse Hexe des Westens ist nicht verbrannt. Sie ist verdampft.«

Egal. Ich ziehe die Knie an meine Brust und nehme die Abwehrhaltung eines Igels ein, der angegriffen wird. Mom mustert mich von Kopf bis Fuß.

»Hör zu«, meint sie seufzend. »Das wird ein kompliziertes Jahr. Ich muss an einige Orte und Dinge … erledigen. Da kann ich nicht jede Sekunde auf dich aufpassen, dich von Abgründen zurückziehen oder jedes Mal eingreifen, wenn du einen falschen Schritt tust. Das wird einfach nicht funktionieren. Die Smith wird eine Herausforderung für dich sein und deine Konzentration fördern. Probier es doch wenigstens aus. Bitte. Mir zuliebe?«

Mom hat die faszinierendsten Augen der Welt – blau mit einem violetten Schimmer – und die sagen mir gerade, dass ich nachgeben sollte. Sie wird nicht noch mehr betteln.

Ich habe meine Mutter sehr lieb. Sie versteht Spaß, ist lustig und behandelt mich sogar dann noch mit Respekt, wenn ich Mist baue, was häufig vorkommt. Aber sie hat mir auch verschwiegen, dass sie mich im September auf ein Internat schicken will. Also warte ich mal ab, was sie mir noch anzubieten hat.

Mom steht auf und läuft grübelnd in meinem schmalen Zimmer hin und her.

»Okay, wie wäre es mit Winterferien in der Schweiz?«, fragt sie nach einer Weile. »Wir könnten Skifahren oder Schneemänner bauen oder, keine Ahnung, heiße Schokolade trinken.«

Ich schüttle den Kopf. Ich hasse Schnee. Außerdem fährt Mom auf vereisten Straßen genauso wie auf eisfreien: beängstigend schnell.

»Tahiti?«, schlägt sie vor. »St. Barts? Galapagosinseln? Der Regenwald von Costa Rica?«

Das klingt schon besser. »Ich nehme Galapagos und das Feriencamp für Kunstgeschichte in Rom, von dem du behauptet hast, ich wäre zu jung dafür.«

Sie mustert mich scharf. Mein Herz rast. Der schwer zu erringende Sieg ist nah, das kann ich spüren. Jetzt stützt Mom die Hände in die Hüften. Eine Schweißperle rinnt mir über den Rücken.

»Abgemacht«, sagt sie schließlich. Wir schütteln einander die Hand. Und während ich einerseits außer mir vor Glück bin (ich hab gewonnen!), weiß ich andererseits, dass sie mich übers Ohr gehauen hat. Denn im Nullkommanichts bin ich auch schon unterwegs zur Smith School for Children.

2

Die Smith School for Children. Jetzt. Wo ich drauf und dran bin, ganz großen Mist zu bauen.

Manchmal denke ich, Mrs. Smith ist gar nicht Mrs. Smith.

Wenn man sie ruft, dauert es ziemlich lange, bis sie reagiert. Als würde sie überlegen, wer diese Mrs. Smith eigentlich ist, bevor sie merkt, ach, stimmt, das bin ja ich – dann sollte ich mich wohl mal umdrehen. Und wenn man ein »Hallo, Mrs. Stein!« oder »Mrs. James!« oder irgendeinen anderen geläufigen Namen raushaut, dann reagiert sie genauso. Eine Pause, eine langsame Pirouette und ein Lächeln, so eisig, dass ich fast meinen Atem sehen kann. Außerdem: Falls sie wirklich Mrs. Smith ist, wo steckt dann Mr. Smith? Warum haben wir ihn noch nie gesehen? Oder auch nur gehört, wie er in einer höflichen Unterhaltung erwähnt wurde? Was hat sie mit ihm gemacht? Am Ende bleibt die Frage: Wer ist diese Dame, die die Smith School leitet?

Natürlich haben wir Theorien entwickelt. Ich und meine besten Freundinnen Charlotte Cavendish und Izumi Sato. Aber es fehlt uns an Beweisen. Deshalb hänge ich um zwei Uhr morgens, anstatt in mein Bett gekuschelt zu schlafen, an einem Bettlaken, das um ein Bein meines Schreibtischs geknotet ist, aus dem Fenster im ersten Stock meines Zimmers im McKinsey House. Meine besten Freundinnen lehnen sich aus dem Fenster und halten Wache.

»Bist du schon unten?«, flüstert Charlotte. Eigentlich ist es eher ein Brüllen als ein Flüstern.

»Sei still!«, schreie ich zurück.

»Ihr beiden seid echt hoffnungslose Fälle«, stöhnt Izumi.

Ich würde das gern bestreiten, aber ich hänge schließlich nach wie vor an einem Bettlaken und bin noch ein ganzes Stück zu weit über dem Boden, um mich so richtig wohlzufühlen. Also rutsche ich langsam weiter abwärts, bis meine Füße die Erde berühren. Ich seufze tief. Meine Schultern brennen.

»Sie hat’s geschafft!«, schreit Charlotte wieder los. Als Ninja wäre sie die totale Niete. Ich recke einen Daumen zu meinen Freundinnen hoch, woraufhin die beiden sich abklatschen. Auf zum spaßigen Teil dieser Sache.

Mit einem Hochgefühl schlüpfe ich durch eine Seitentür, die ich früher am Abend einen Spaltbreit offen gelassen habe, in die Große Halle der Smith School. Ich kann gar nicht glauben, dass das wirklich geklappt hat! Spionage scheint mir zu liegen.

Sobald ich drinnen bin, hefte ich mich Mrs. Smith, oder wer auch immer sie ist, an die Fersen. Sie durchquert die Große Halle in Richtung ihres Büros am nördlichen Ende des Gebäudes. Meine nackten Füße machen auf dem polierten Holzboden kein Geräusch, und solange ich mich im Schatten halte, wird sie mich sicher nicht sehen. Abgesehen davon macht mich mein schwarzer Batman-Pyjama praktisch unsichtbar. Oder sogar mehr als unsichtbar. Weil man nicht mit mir rechnet.

Mrs. Smith holt einen Schlüssel hervor und schließt die massive Holztür zu ihren Büroräumen auf. Diesen Schlüssel trägt sie immer um den Hals. Wenn man sich schlecht benimmt und vor ihrem Schreibtisch zur Rede gestellt wird, steht sie da, mit ihrem eisigen Lächeln, während sie ununterbrochen den Schlüssel zwischen ihren Fingern dreht. Steckst du in Schwierigkeiten? Weiß sie überhaupt noch, dass du da bist? Nach ein, zwei Sekunden fixiert sie dich und dann gestehst du Taten, die du noch nicht mal begangen hast.

Mrs. Smith gleitet jetzt ins Sekretariat und lässt die Tür angelehnt. Dann begibt sie sich ins Allerheiligste, das sich selbstverständlich auch hinter einer schweren Holztür befindet, die sich hinter ihr zu schließen beginnt. Nein! Fall nicht zu! Nein, nein, nein! Ich kann schlecht zur Tür hechten, ohne mich zu verraten, also kneife ich stattdessen die Augen zu und halte sie mit reiner Willenskraft offen. Das gelingt, aber nur ganz knapp.

Egal, ganz knapp reicht mir. Ich schleiche also ins leere Sekretariat und halte einen Moment inne, um zu sehen, ob sie mich bemerkt hat. Negativ. Dann schiebe ich mich am Schreibtisch vorbei und presse mich gegen die dunkle Holzvertäfelung neben der erwähnten Tür.

Durch einen drei Finger breiten Spalt sehe ich Mrs. Smith vor ihrem Schreibtisch stehen und jemand anschauen, der in einem der beiden außergewöhnlich tiefen und flauschigen Sessel gegenübersitzt. Ich kann nicht erkennen, um wen es sich handelt, aber sie rümpft die Nase, als würde ihr Gast übel riechen.

»Wir haben doch schon besprochen, dass Sie sich einen Termin geben lassen sollen«, sagt sie kühl. »Diese Besuche um zwei Uhr morgens werden langsam langweilig.«

»In Anbetracht der Umstände«, höre ich eine Männerstimme leise sagen, »dachte ich, Sie wären froh über meinen Rat, egal zu welcher Zeit.« Die Stimme klingt bedrohlich, aber aus meiner Position kann ich nicht erkennen, wem sie gehört.

»Mit Verlaub«, sagt Mrs. Smith in einem Ton, der wie dafür gemacht ist, Normalsterbliche in zitternden Pudding zu verwandeln, »aber ich brauche Ihre Hilfe nicht.«

»Sind Sie sich da so sicher?«, erwidert der geheimnisvolle Mann.

Die Luft knistert vor Spannung. Ich muss mehr sehen. Wer sitzt in dem Sessel? Wer hat Mrs. Smith um diese Zeit aus dem Bett getrieben? Er klingt nicht vertraut. Ich will sein Gesicht sehen. Deshalb schiebe ich eine meiner großen Zehen in den Spalt und gebe der Tür einen Schubs. Sie ist richtig fett, mindestens zwanzig Zentimeter dick. Trotzdem erzeugt mein kleiner Stoß so viel Schwung, dass sie sich weit öffnet und sogar gegen die Wand kracht.

Das gehört definitiv nicht zu meinem Plan.

Als Mrs. Smith herumwirbelt, rette ich mich mit einem Satz aus ihrem Blickfeld.

»Was war das denn?«, fragt der geheimnisvolle Mann. Mrs. Smith geht mit großen Schritten zur Tür. Gleich wird sie sie zuknallen und meine herkulesgleiche Anstrengung war umsonst! Ich kann nicht mehr unbemerkt in ihr Büro schlüpfen, hinter das große braune Ledersofa kriechen und stumm lauschen, während sie alles gesteht, was ich wissen muss. Ich werde nicht als Heldin ins McKinsey House zurückkehren. Es sei denn …

… das Telefon klingelt. Dieses große, goldfarbene Ding mit gedrehter Schnur und den vielen Tasten. Ganz offensichtlich will sie diesen Anruf nicht verpassen, denn sie vergisst die Tür vollkommen und hechtet zu ihrem Schreibtisch.

Ich habe echt Glück. Wahrscheinlich bin ich unter allen Batman-Pyjamas tragenden heimlichen Ninja-Mädchen des Planeten das mit dem meisten Glück! Bevor ich darüber noch die Nerven verliere, gehe ich lieber in die Hocke und krieche dann ins Büro. Dabei achte ich darauf, dass das große braune Ledersofa immer zwischen uns bleibt. Danach bin ich so leise wie … also, jedenfalls mucksmäuschenstill, und weder Mrs. Smith noch der geheimnisvolle Mann kriegen irgendwas mit.

Jetzt muss ich nur noch lauschen, wie Mrs. Smith alles erzählt, was Veronica Brooks zugestoßen ist. Die Zwölftklässlerin mit weißblondem Haar und fiesen Methoden beim Lacrosse-Spielen scheint sich nämlich in Luft aufgelöst zu haben. Und wenn jemand darüber Bescheid weiß, dann ist es Mrs. Smith. Meine Freunde und ich waren uns einig, dass wir ihr nachspionieren müssen, um die Sache aufzudecken. Natürlich habe ich mich freiwillig für diese Mission gemeldet. Das Ganze kam mir nicht anders vor als meine Aktion in Marokko, wo ich mich gegen Mitternacht aus meinem Zimmer und durch die Gärten des schicken Hotels bis in die Bar geschlichen habe, um die Papageien dort aus ihren Käfigen zu befreien. (Allerdings hat mich in jener Nacht meine Mutter ertappt. Da läuft es diesmal schon besser!)

Hinter dem Sofa versteckt und immer noch flach auf dem Bauch liegend, wage ich es, um die Ecke zu spähen. Von hier aus kann ich Mrs. Smith sehen, aber nur wenig von dem Mann. In einer Hand hält er ein Stück Papier mit ausgefranstem Rand. Es sieht zerknittert und gefaltet aus, als hätte jemand halbherzig Origami damit geübt. Außerdem sehe ich seine Füße, die in Segelschuhen stecken. Trotz der frostigen Februartemperaturen trägt er keine Socken. Den Rest von ihm verschluckt der riesige Sessel.

Obwohl ich bislang so viel Glück hatte, erfahre ich nichts Neues von Mrs. Smith. Sie murmelt nur irgendwas ins Telefon, während der geheimnisvolle Mann immer ungeduldiger wird. Er tippt so heftig mit einem Bleistift auf die Sessellehne, dass der ihm schließlich aus der Hand fliegt und nur Zentimeter von meinem Gesicht entfernt am Boden landet. Ich halte die Luft an. Falls er sich danach bückt, sind wir Nase an Nase. Aber der geheimnisvolle Mann pflegt Sachen anscheinend eher auf die lässige Tour aufzuheben. Er streckt nur einen seiner Segelschuhe aus und zieht den Stift damit zu sich heran. Als er das tut, rutscht sein Hosenbein nach oben und ich bekomme irgendwas Buntes auf seiner ansonsten blassen Wade zu sehen. Vielleicht ein blauer Fleck in Dreiecksform? In dem schwachen Licht ist das schwer zu sagen. Mrs. Smith murmelt noch eine Weile vor sich hin, bevor sie den Hörer auflegt und ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann richtet.

»Können wir jetzt wieder auf das Thema zurückkommen?«, fragt er und wedelt mit dem Papier. Weiß er etwa nicht, mit wem er es zu tun hat? Mrs. Smith schätzt Gefühle wie Ungeduld nicht besonders. Eigentlich schätzt sie überhaupt keine zur Schau gestellten Gefühle. Dieser Typ muss daher eindeutig ein Idiot sein. Jetzt reißt sie ihm das Blatt aus der Hand.

»Ich habe keine Ahnung, was es ist«, faucht sie. »Das habe ich schon gesagt. Mehrmals.«

»Da stehen wir kurz davor, endlich Ghosts Identität zu enthüllen, und ausgerechnet jetzt sind Sie nicht in der Lage, den Hinweis zu dechiffrieren? Was für ein Zufall.«

»Wollen Sie mir vielleicht irgendwas unterstellen?«

»Sollte ich das?«

»Wie können Sie es wagen«, sagt sie. »Ich habe diesem Job mein Leben gewidmet, und das wissen Sie.«

»Sie waren beste Freundinnen!«, schreit der Mann. »Da sollten Sie wissen, was die Hinweise bedeuten. So läuft das.«

»Das war vor langer Zeit«, sagt Mrs. Smith leise. »Dinge ändern sich.«

»Begreifen Sie, dass Ihre Karriere am Ende ist, falls dieser Beweis in falsche Hände gerät?«

Mrs. Smith seufzt. »Wir wissen nicht einmal, was sie gefunden hat, wenn überhaupt. Sie ziehen voreilige Schlüsse.«

»Die Leute von der Regierung glauben es jedenfalls«, erklärt der geheimnisvolle Mann. »Sie sitzen mir im Nacken. Sie wollen Ergebnisse. Sie wollen Ghost.«

Ich habe keine Ahnung, wovon sie reden, aber ich versuche, mir den genauen Wortlaut zu merken, damit ich den Mädchen später berichten kann. Mrs. Smith holt tief Luft und ballt die Hände zu Fäusten. Eine Sekunde lang frage ich mich, ob sie vorhat, diesem Kerl ins Gesicht zu boxen. Die Geschichte würde mich nur durchs Herumerzählen berühmt machen!

»Jetzt hören Sie mir mal zu, alter Freund«, giftet sie. »Ich habe seit einem Jahrzehnt nicht mehr mit Teflon zusammengearbeitet. Wir schreiben uns nicht mal Weihnachtskarten. Zu erwarten, dass ich nach all der Zeit einfach weiß, was sie vorhat, ist grotesk.«

Teflon? Ein Deckname. Das wird ja immer mysteriöser. Die Mädchen werden es lieben.

»Dann sollen wir uns diese Gelegenheit, Ghost zu schnappen, entgehen lassen, nur weil Sie beide vor zehn verdammten Jahren eine Meinungsverschiedenheit hatten?«

»Das reicht!«, schreit Mrs. Smith und ich zucke zusammen. »Ich trage jetzt die Verantwortung, nicht Sie. Und mir gefällt die Idee nicht, das Mädchen für eine aussichtslose Sache zu benutzen. Das ist gefährlich!«

»Teflon ist untergetaucht und keiner außer ihr weiß, wo der Beweis sich befindet. Wenn es Ihnen also nicht gelingt, den Hinweis, den sie Ihnen hinterlassen hat, zu entschlüsseln, dann haben Sie keine andere Wahl, als das Mädchen zu benutzen. Also finden Sie was über Teflon raus und schicken Sie sie los. Ich werde wegen Ihrer Unfähigkeit nicht alles den Bach runtergehen lassen.«

Mrs. Smith schickt einen drohenden Blick in seine Richtung. Er ist ganz klar zu weit gegangen. »Verschwinden Sie aus meinem Büro«, knurrt sie. »Sofort. Und das nächste Mal vereinbaren Sie gefälligst einen Termin.«

Eine Pause entsteht. Ich wage kaum zu atmen.

»Ich rate Ihnen, finden Sie einen Weg aus diesem Chaos«, sagt er. »Ihre Vorgesetzten werden nicht so nett sein wie ich.«

Ich bin so gebannt von diesem hitzigen Wortwechsel, dass ich den Film, der jetzt rechts von Mrs. Smith auf die Wand projiziert wird, nicht gleich bemerke. Zuerst ist das Bild noch verschwommen, aber dann wird es rasch scharf. Mir tritt kalter Schweiß auf die Stirn. Ich stopfe mir eine Faust in den Mund, um nicht aufzuschreien. Das kann nicht sein. Doch da ist es, eindeutig. Ein Mädchen. Mit weißblondem Haar. Sie ist mit den Handgelenken an einen Stuhl gefesselt. Aus zwei winzigen Löchern in ihrem Hals quillt dunkelrotes Blut auf ihre blasse Haut, als hätte ein Vampir sie gebissen. An ihrem Kinn pulsiert eine lange Narbe. Ihre blauen Augen sind genau auf mich gerichtet, was unmöglich ist.

»Hilf mir«, flüstert sie. Höre ich sie tatsächlich oder lese ich das nur von ihren Lippen ab? »Hilf mir. Bitte. Ich brauche Hilfe. Wirklich.«

Und dann legt Veronica Brooks ihren Kopf in den Nacken und lacht, als wäre das hier die komischste Sache der Welt. Und im Hintergrund lacht noch jemand. Dieses Lachen kommt mir irgendwie bekannt vor, aber mir bleibt keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn jetzt läuft ihr Blut übers Gesicht und in den Mund. Ihre Haut verwandelt sich in irgendwas Schuppiges und Ekliges. Sie lacht weiter wie eine mordlustige Hyäne. Als das Lachen endlich erstirbt, sieht sie mich wieder an. Aber das ist nicht mehr Veronica, sondern ein hasserfülltes und furchterregendes Wesen mit schwarzen, leeren Augenhöhlen und einer Stimme, so kratzig wie Glasscherben.

»Ich sehe dich, Abigail Hunter«, sagt es und hinter seinen Lippen werden verrottete Zähne sichtbar. »Du solltest lieber schnell von hier verschwinden. Bevor man dich erwischt!«

Und das genügt, um mich, das Batman-Pyjama tragende heimliche Ninja-Mädchen, auf der Stelle in Ohnmacht fallen zu lassen.

3

Das Kapitel, in dem ich für jemanden, der eigentlich clever sein sollte, ein hohes Maß an Dummheit unter Beweis stelle.

Als ich die Augen aufschlage, denke ich einen Moment, ich wäre in meinem aufgeräumten schuhschachtelgroßen Kinderzimmer in New York. Doch dann erblicke ich Schwester Willow, eine ältere grauhaarige Dame mit tiefen Falten um Augen und Mund. Schwester Willow wäre niemals zu Hause in meiner Schuhschachtel.

»Wie geht es uns denn, Kindchen?«, fragt sie. Ihre Stimme klingt so süß wie warmer Honig und ich lasse sie einfach über mich fließen. Die Bettwäsche hier auf der Krankenstation ist sauber und duftet nach Frühling. Ich kuschle mich noch ein wenig tiefer hinein. Am liebsten würde ich einfach wieder in den hübschen Traum zurückkehren, in dem Quinn Gardener mich gebeten hat, doch seine Freundin zu sein. Aber Schwester Willow greift nach meiner Hand.

»Aber, aber, Kindchen, Zeit zum Aufwachen«, gurrt sie. »Mrs. Smith möchte kurz mit dir sprechen.«

Mrs. Smith! Unwillkürlich jaule ich auf. Quinn ist auf der Stelle verschwunden.

»Keine Sorge«, sagt Schwester Willow. »Ich glaube nicht, dass sie zu streng mit dir sein wird. Obwohl das natürlich Konsequenzen haben muss.«

Hören Sie mal, Schwester Willow. Sie leben hier in der gemütlichen Abgeschiedenheit Ihrer Krankenstation. Sie haben ja keine Ahnung, wie hart es da draußen für eine Unsichtbare aus der Siebten ist. An meiner alten Schule hatte ich nie Angst vor dem Direktor. Er tat mir sogar fast leid. Ständig wischte er sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und quiekte. Mrs. Smith ist aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Sie wird niemals laut. Muss sie auch nicht. Ihre bloße Anwesenheit ist schon furchterregend genug.

Vielleicht schmeißt sie mich von der Schule. Okay, das wäre ein möglicher Vorteil, den ich noch nicht bedacht habe. Meine Mutter wird mich dann natürlich umbringen, aber das sagt man ja nur so, oder? Mir bleibt allerdings keine Zeit, mich an der Vorstellung eines Schulverweises zu erfreuen, weil plötzlich Mrs. Smith drohend vor mir aufragt. Das perfekte Gegenteil von Schwester Willow.

Mrs. Smith ist zierlich und schlank, mit dichten blonden Locken und blauen Augen, die nichts preisgeben. Keiner weiß, wie alt sie ist. Vierzig? Fünfzig? Oder ein hundert Jahre alter Vampir? Sie trägt einen adretten kakifarbenen Hosenanzug und dazu zehn Zentimeter hohe Stilettos. Am Aufschlag ihrer Jacke blitzt eine Anstecknadel der Smith School. Sie blickt über den Rand ihrer Schildpatt-Brille auf mich herab.

»Abigail«, sagt sie mit weicher, tiefer Stimme. »Wie fühlst du dich heute Morgen?«

In einer perfekten Welt würde ich schlagfertig meine Anwesenheit um zwei Uhr nachts hinter ihrer Bürocouch erklären. Irgendwas von wegen Schlafwandeln oder Albträumen von einer Zombie-Apokalypse. Eben alles, um mich als trauriges kleines Heimkind darzustellen und nicht als ein Mädchen, das irgendwo aus- und einbricht. Aber trotz meiner offensichtlichen Klugheit ist meine Zunge wie gelähmt.

»Ähm. Also. Ich. Ah. Puh. Ähm.«

»Na schön«, sagt sie, »dann wenden wir uns einer anderen Frage zu, ja? Was könntest du während deines heimlichen Ausflugs in mein Büro gehört haben?« Dabei schwebt sie so graziös am Fußende meines Krankenbetts wie ein Schmetterling auf einem zarten Blumenstängel. »Woran erinnerst du dich?«

Erinnern?

Das Bild dieser zunächst Veronica-ähnlichen Kreatur taucht vor meinem inneren Auge auf. Ich schlucke und deute auf das Wasserglas. Mrs. Smith reicht es mir, ohne mich jedoch aus den Augen zu lassen. Ich werde hier verhört. Das ist zwar nicht so schlimm wie Chinesische Geschichte bei Mr. Chin oder Folter mit Stromschlägen, aber ich gerate trotzdem ins Schwitzen.

»Es ist in Ordnung«, sagt sie. »Du kannst ruhig die Wahrheit sagen.«

Ich nippe an meinem Wasser und beschließe, es auf die Mitleidstour zu versuchen. »Ich konnte nicht schlafen und habe gesehen, dass bei Ihnen noch Licht brannte. Da dachte ich, keine Ahnung, dass wir vielleicht darüber reden könnten, wie sehr ich meine Mutter vermisse. Aber ich bin gestolpert und hingefallen. Dabei muss ich mir den Kopf angeschlagen haben. Und ich habe definitiv nichts gehört.«

Wie unglaublich lahm diese Antwort ist, kann ich in den Augen von Mrs. Smith erkennen. Und in Wahrheit warf ich als Batman-Pyjama tragendes heimliches Ninja-Mädchen nur einen einzigen Blick auf die blutige Veronica und fiel auf der Stelle in Ohnmacht. Oberpeinlich.

Sie legt ihre Finger um mein Handgelenk und drückt, aber nur ganz sanft. »Sag mir, was du gehört hast, Abigail.«

Eine Menge Schweißperlen laufen mir über den Rücken. »Ich schwöre, dass ich nichts gehört habe!«, stoße ich hervor. »Ich habe mich als Mutprobe in Ihr Büro geschlichen und bin über den Teppich gestolpert!« Im Zweifelsfall auf lahmen Ausreden beharren.

Sie lässt meine Hand los. »Ist gut«, sagt sie. »Entspann dich. Ich verstehe.« Was nicht das Gleiche heißt wie Glauben, ganz sicher nicht. Jetzt beugt sie sich nah zu mir und tätschelt meinen Kopf, als wäre ich ein Hund. Dabei kann ich ihr Parfum riechen. Ein leicht blumiger Duft, viel zu fröhlich für sie.

Ich verkrieche mich noch tiefer unter der Decke. Mrs. Smith richtet sich wieder auf und streicht unsichtbare Falten auf ihrer Hose glatt. Schon an der Tür, sagt sie: »Eine Sache noch.«

»Ja?« Gleichzeitig ziehe ich die Decke bis zu meiner Nasenspitze hoch.

»Wie hast du es trotz Alarmanlage aus dem abgeschlossenen Wohnheim geschafft?«, fragt sie.

Ach, das ist leicht. Diese Frage kann ich beantworten. Ich bin sogar ein wenig stolz, was ich eigentlich sofort als Beginn meines Niedergangs erkennen sollte. Doch leider tue ich das nicht, sondern nenne ihr auch noch die Details.

»Bettlaken«, sage ich. »Zusammengeknotet und um das Tischbein meines Schreibtischs gebunden. Den Tisch habe ich vors Fenster geschoben, damit er nicht wegrutscht. Keine große Sache. Außerdem wohne ich doch nur im ersten Stock.«

Ein arktischer Windstoß begleitet Mrs. Smiths Lächeln.

»Nicht mehr«, sagt sie.

4

Wohnheim McKinsey House, dritter Stock. Jawohl, dritter Stock.

Die Smith School ist ein geschniegeltes Gelände mit efeubewachsenen Gebäuden, sanft hügeligen grünen Wiesen, sehr gepflegten Gärten, akkuraten Steinmauern und Brunnen als Inspirationsquellen. Außer im Februar. Da ähnelt sie einem Eiswürfel.

An der Smith haben wir unsere eigenen Sitten. Zwölftklässler heißen Seniors, Elftklässler Juniors und Zehntklässler Sophomores. Das ergibt ja auch Sinn, nicht wahr? Aber darunter wird es total unverständlich. Die aus der Neunten sind Upper Middles, die Achten Middles und die Siebtklässler Lower Middles. Aber um welche Middle, also Mitte, es sich da handelt, sagt einem keiner.

Trotzdem wissen wir aus der Siebten sehr genau, dass unser eigentlicher Status – egal, wie sie uns nennen – »unsichtbar« ist. Schnell lernt man, sich unsichtbar zu machen, um im Dschungel der Hierarchie an der Smith School zu überleben. Es gibt im ganzen Universum keine niedrigere Lebensform als Lower Middle an der Smith School. Ich meine, sogar Küchenschaben beherrschen diesen coolen Trick, ein paar Monate ohne Kopf zu überleben, und das ist in jedem Fall mehr, als man uns zugesteht.

Der dritte Stock des McKinsey House hat viele Namen. Unter anderem die Arktis, Sibirien, die Sahara und der Mond. Die Gründe dafür: Die Zimmer hier wurden seit 1812 nicht mehr renoviert, in den Duschen gibt es nie heißes Wasser und nachts rasseln und fauchen die Wasserleitungen so laut, dass man schwören könnte, von einer Horde wütender Schlangen angegriffen zu werden. Der dritte Stock ist eine Strafe. Träume kommen zum Sterben hierher. Gestern wohnte ich noch im ersten Stock. Jetzt hause ich hier oben. Das habe ich jetzt davon, dass ich einen auf Batman gemacht habe.

Charlotte liegt auf meinem Bett, Izumi sitzt auf der Kommode. Auf einem Internat verbringt man Tag und Nacht mit seinen Freunden, deshalb sollte man sie sorgfältig auswählen. Wir drei mochten uns sofort, obwohl wir rein äußerlich ein seltsames Trio sind. Ich bin groß und dünn mit dunklen Augen und Haaren, die sich gegen jeden Versuch wehren, sie zu bändigen. Meine Haut ist zu jeder Jahreszeit ziemlich dunkel, was ich, wenn man sich meine Mom ansieht, eindeutig von meinem Vater haben muss. Aber dazu äußert sie sich nicht.

Im Gegensatz dazu sieht Charlotte aus, als käme sie direkt aus einem Ralph-Lauren-Prospekt. Noch dazu hat sie einen Stammbaum, der quasi bis zu den ersten Siedlern zurückreicht, die auf dem Schiff Mayflower nach Amerika kamen. Ihr Familienname steht an einem der riesigen Bürogebäude in New York, früher bin ich auf dem Schulweg immer daran vorbeigekommen. Ich habe schon miterlebt, wie sie sich durch Lächeln und Schmollen Privilegien gesichert hat, von denen wir Normalsterblichen nicht mal zu träumen wagen.

Izumi ist klein und kräftig. Oder zumindest beschreiben Erwachsene sie so. Sie nennt sich selbst stolz einen Panzer. Beim Rugby ist sie gefürchtet und Mathe hat sie mit der Zwölften. Außerdem ist ihre Mutter die japanische Botschafterin und ihr Vater irgendein Genie in Sachen Risikokapital. Wenn man dem Internet glauben darf, hat er mehr Geld als Gott.

Gerade ist abendliche Studierzeit und wir sollten unsere Hausaufgaben machen. Tun wir aber nicht.

»Hübsches Zimmer«, sagt Charlotte, deutet auf meine neue Umgebung und verzieht das Gesicht.

»Das passiert eben, wenn man aus dem Fenster springt«, stellt Izumi trocken fest.

»Ich bin nicht gesprungen«, knurre ich. »Ich habe mich runtergelassen. Für euch, Leute.«

»Du hast dich freiwillig gemeldet«, erinnert mich Charlotte.

Sie war übrigens der erste Mensch, der mir am Ankunftstag an der Smith begegnet ist, als ich Kartons in mein Zimmer schleppte. Sie lag damals mit einer Ausgabe des Romans Anna Karenina auf dem Gesicht in der großen Eingangshalle des Wohnheims. Direkt hinter ihr, ebenfalls am Boden, lag noch ein Mädchen. Allerdings verdreht wie eine Artistin aus dem Cirque du Soleil an einem schlechten Tag. Während ich versuchte, um Charlotte herumzugehen, streckte sie den Arm aus und packte mich am Knöchel.

»Tu’s nicht«, flüsterte sie.

»Hä?«

»Das ist Veronica. Stör sie nicht in der Haltung der verdrehten Eidechse. Die ist wirklich schwer. Wenn du sie störst, wird sie gemein. Aber wahrscheinlich wird sie sowieso gemein zu dir sein.«

Ich ging neben Charlotte in die Hocke. »Ich habe mal ein Mädchen gesehen, das hatte sich beide Beine um den Hals geschlungen und lief auf ihren Händen«, flüsterte ich.

»Im Yoga?«, fragte Charlotte.

»Nee«, sagte ich. »In der Khao San Road in Bangkok.«

»Du warst schon mal in Bangkok?«

»Ich war schon an allen möglichen Orten«, sagte ich und verdrehte die Augen. Damals wusste ich das noch nicht, aber mein Reisepass mit lauter Stempeln von exotischen Destinationen war mein Ticket, um von den Mädchen ernst genommen zu werden. Ihre Familien gehen seit Generationen auf Privatschulen und sie haben reiche, wichtige Eltern, aber ich war schon in Timbuktu. Und zwar in echt.

»Von hier oben habe ich eine bessere Aussicht«, erzähle ich meinen Freundinnen, als sei das Exil in Sibirien keine große Sache.

»Auf was?«, fragt Izumi.

Auf nichts! »Auf das Lacrosse-Feld«, behaupte ich.

Sie wirft mir einen skeptischen Blick zu. »Du benimmst dich seltsam.«

»Ich saß auch mindestens zehn Minuten lang mit Schwester Willow und Mrs. Smith auf der Krankenstation fest.«

»Ich kann gar nicht glauben, dass sie dich nicht sofort von der Schule geworfen hat.«

»Ich weiß.« Trotz des Umzugs fühle ich mich, als sei ich noch mal davongekommen. Aber irgendwas wird noch passieren, das ist unvermeidlich. Schließlich haben wir es hier mit Mrs. Smith zu tun.

Charlotte rollt sich in meine Richtung.

»Können wir jetzt bitte über gestern Nacht sprechen?«, bettelt sie.

Stimmt. Ihnen fehlt noch der vollständige Bericht meines misslungenen Versuchs, Mrs. Smith auszuspionieren. Beim Mittagessen habe ich vor den McKinsey-Mädchen schon das eine oder andere zum Besten gegeben, aber sie wollen natürlich die ganze Geschichte. Den ganzen Tag lang warten sie schon auf diesen Moment, vor dem mir eher graust.

»Ich klettere also aus dem Fenster«, sage ich.

»Ja«, sagt Izumi ungeduldig. »Den Teil kennen wir. Die Bettlaken. Und jetzt wohnst du auf dem Mond.«

»Mit atemberaubender Aussicht«, füge ich hinzu.

»Erzähl weiter.«

»Ich schaffe es über den Hof –«

»Keine Hunde?«

»Ich habe es so getimt, dass Betty und Barney gerade auf der anderen Seite des Gebäudes waren.« Betty und Barney sind die riesigen Dobermänner, die nachts über das Gelände der Smith School for Children patroullieren. Manche Hunde sind süß und liebenswert. Betty und Barney gehören nicht zu dieser Sorte.

»Wow«, sagt Charlotte. »Du bist gut.«

»Ich überquere den Hof und betrete das Hauptgebäude.«

»Und die Tür?«

»War noch angelehnt.«

»Wie gut.«

»Ich hätte das Schloss auch knacken können. Das hat Jennifer mir beigebracht.«

Hier an der Smith nennen wir unsere Eltern beim Vornamen, als ob wir mit ihnen auf einer Stufe stünden. Das ist unsere Rache, weil wir supersauer sind, dass sie uns hierher abgeschoben haben. Inzwischen nenne ich meine Mutter sogar am Telefon Jennifer. Sie seufzt dann zwar, hat mich aber noch nicht aufgefordert, es zu lassen, was nur bedeuten kann, dass die wegen der ganzen Internatssache noch ein schlechtes Gewissen hat und ich die Situation ausnutzen muss, solange es geht.

»Jennifer ist cool«, sagt Charlotte. Es wundert mich immer, dass Charlotte mit ihrem Mayflower-Stammbaum und Izumi mit ihrer Botschafter-Mom und dem megareichen Dad meine arbeitslose alleinerziehende Mutter cool finden.