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Für Caley Luna, die ihre eigene Reise in die Philosophie gerade erst angetreten hat. Möge es ihr Leben zum Guten ändern – ganz wie es bei mir gewesen ist.
Für Corinna, die an meiner eigenen Reise teilnimmt und sie jeden Tag besser macht.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Frank R. Kiesow

ISBN 978-3-492-97812-5

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Deutschsprachige Ausgabe:

© Massimo Pigliucci, 2017

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »How to be a Stoic« erschienen bei Basic Books, einem Imprint von Perseus Books in der Hachette Book Group, New York, 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: chuvipro/Getty Images

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH

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Inhalt

Cover & Impressum

1 Der ungerade Weg

2 Eine Straßenkarte für die Reise

Teil 1: Die Disziplin des Begehrens: Von der Angemessenheit unseres Wollens

3 Manches steht in unserer Macht, anderes nicht

4 Im Einklang mit der Natur leben

5 Ballspielen mit Sokrates

6 Gott oder Atome

Teil 2: Die Disziplin des Handelns: Wie man sich in der Welt verhält

7 Alles ist eine Frage des Charakters (und der Tugend)

8 Ein ausschlaggebendes Wort

9 Die Rolle der Vorbilder

10 Behinderung und psychische Krankheiten

Teil 3: Die Disziplin der Zustimmung: Wie man auf eine Lage reagiert

11 Über Tod und Selbstmord

12 Vom Umgang mit Zorn, Angst und Einsamkeit

13 Liebe und Freundschaft

14 Praktische spirituelle Übungen

Anhang

Die hellenistischen Schulen der praxisnahen Philosophie

Dank

Anmerkungen

Kapitel 1

Der ungerade Weg

Auf halbem Weg des Menschenlebens fand

Ich mich in einen finstern Wald verschlagen,

Weil ich vom geraden Weg mich abgewandt.

Dante, Die Göttliche Komödie, Hölle,
Erster Gesang

In jeder uns bekannten Kultur, mag sie weltlich oder religiös geprägt sein, ethnisch verschiedenartig oder nicht, ist die Frage, wie man leben soll, von zentraler Bedeutung. Wie sollen wir mit den Herausforderungen und Wechselfällen des Lebens umgehen? Wie sollen wir uns in der Welt verhalten, wie die Mitmenschen behandeln? Und dann die endgültige Frage: Wie bereiten wir uns am besten auf die letzte Prüfung vor, auf den Moment des Sterbens?

Die zahlreichen Religionen und philosophischen Strömungen, die im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt wurden, um diese Themen anzugehen, bieten uns Antworten, die vom Mystischen bis zum Hyperrationalen reichen. In jüngster Zeit ist sogar die Wissenschaft ins Geschäft eingestiegen mit einer Fülle von Fachaufsätzen und populärwissenschaftlichen Büchern über das Glück und die Wege, die zu ihm hinführen. Begleitet werden sie von den unvermeidlichen Hirnscans, die aufzeigen, wie Ihr Gehirn auf alles Mögliche reagiert, was Ihre Lebenszufriedenheit erhöhen oder schmälern könnte. Die Werkzeuge, mit denen man Antworten auf existenzielle Fragen sucht, variieren dann natürlich ebenso wie die jeweiligen Herangehensweisen – von heiligen Schriften bis zur Tiefenmeditation, von philosophischen Argumenten bis zu wissenschaftlichen Versuchen ist alles im Angebot.

Was daraus resultiert, ist wahrhaft erstaunlich und spiegelt sowohl die Kreativität des menschlichen Geistes wider als auch die Dringlichkeit, die wir dem Forschen nach Sinn und Zweck des Lebens offenbar beimessen. Man kann sich beispielsweise eine der vielen Optionen innerhalb der jüdischen, christlichen oder islamischen Religion zu eigen machen, etwas aus der breiten Palette buddhistischer Schulen wählen oder sich für den Taoismus entscheiden, den Konfuzianismus und vieles andere mehr.

Sollte Ihnen der Sinn eher nach Philosophie als nach Religion stehen, können Sie sich dem Existenzialismus zuwenden, dem säkularen Humanismus, dem säkularen Buddhismus, der Ethischen Bewegung und so weiter. Und falls Sie zu dem Schluss kommen, dass es gar keinen Sinn gibt – dass im Grunde schon die Suche danach sinnlos ist –, entdecken Sie vielleicht eine »fröhliche« Ausprägung des Nihilismus für sich. Ja, so etwas gibt es.

Was mich betrifft, so bin ich Stoiker geworden. Ich meine damit nicht, dass ich begonnen hätte, ständig eine unbewegte Miene zur Schau zu stellen und meine Emotionen zu unterdrücken. Nein, denn so sehr ich Mister Spock auch liebe – Gene Roddenberry, der Schöpfer von Star Trek, hat ihn angeblich nach seinem bei näherem Hinschauen naiven Verständnis des Stoizismus modelliert –, die beiden genannten Merkmale der Figur stehen für zwei der häufigsten Missverständnisse zum Thema, was es bedeutet, Stoiker zu sein. In Wahrheit geht es im Stoizismus keineswegs um das Unterdrücken oder Verbergen von Emotionen – vielmehr ermuntert er uns dazu, unsere Emotionen anzuerkennen, über ihre Ursachen und Auslöser nachzudenken und sie neu auszurichten.

Worum es im Stoizismus geht, ist kurz gesagt Folgendes: dass wir im Leben Tugend und Vortrefflichkeit in dem Maße praktizieren, wie es die eigenen Fähigkeiten erlauben – dass wir also unser Bestes geben. Wichtig dabei ist zudem, auf die moralische Dimension all unserer Handlungen zu achten. In der Praxis, im Lebensalltag, stellt sich der Stoizismus, wie ich Ihnen noch zeigen werde, als eine dynamische Kombination von Nachdenken über theoretische Grundsätze, Lektüre inspirierender Texte und Beschäftigung mit Meditation, Achtsamkeit und anderen spirituellen Übungen dar.

Einer seiner wichtigsten Grundsätze ist, dass wir den Unterschied zwischen dem, was für uns beherrschbar ist, und dem, was wir nicht kontrollieren können, erkennen und ernst nehmen sollten – und unsere Anstrengungen auf Ersteres konzentrieren, statt sie auf Letzteres zu verschwenden.

Diese Unterscheidung – die auch manche buddhistischen Lehren treffen – wird oft herangezogen, um den Stoikern eine Neigung zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben und zum Meiden jedweden sozialen Engagements zu unterstellen. Aber ein genauerer Blick auf die Schriften der Stoa und, wichtiger noch, auf das Leben einiger berühmter Stoiker revidiert diesen Eindruck: Der Stoizismus ist nämlich in hohem Maße immer eine Philosophie des sozialen Engagements gewesen und hat dazu aufgefordert, das ganze Menschengeschlecht sowie die Natur zu lieben. Für mich selbst war es sogar genau diese Spannung, diese scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen der Konzentration auf die eigenen Gedanken und der sozialen Dimension des Stoizismus, die mich zu ihm hinzog und mich bewog, ihn für mich als Lebenspraxis zu wählen.

Ich kam zum Stoizismus nicht etwa durch ein Bekehrungserlebnis, wie es der Apostel Paulus auf seinem berühmten Weg nach Damaskus hatte, sondern durch eine Kombination aus zufälligen kulturellen Umständen, den Wechselfällen des Lebens und einer bewussten philosophischen Entscheidung.

In Rom aufgewachsen, habe ich den Stoizismus zwar als Teil meines kulturellen Erbes angesehen, seit ich auf dem Gymnasium mit Geschichte und Philosophie der alten Griechen und Römer Bekanntschaft machte, doch bis ich die Prinzipien des Stoizismus zu einem Teil meines Alltagslebens zu machen begann – bis dahin war es ein langer, ungerader Pfad mit vielen Umwegen.

Und trotzdem wirkt es in der Rückschau zwangsläufig.

Als Biologe, Wissenschaftstheoretiker und Philosoph habe ich seit jeher eine Neigung verspürt, kohärente Wege zum Verständnis der Welt zu finden (durch die Wissenschaft) und gleichzeitig möglichst gute Entscheidungen für meine Lebensführung zu treffen (durch die Philosophie). Dieses Bezugssystem habe ich vor einigen Jahren in einem Buch untersucht: Answers for Aristotle: How Science and Philosophy Can Lead Us to a More Meaningful Life (Antworten für Aristoteles: Wie uns Wissenschaft und Philosophie zu einem sinnvolleren Leben führen können). Mein Bestreben war es, die antike Idee der Tugendethik mit ihrem Fokus auf Charakterentwicklung und dem Streben nach persönlicher Vortrefflichkeit – den Säulen, die laut diesem Denkgebäude unserem Leben Sinn verleihen – mit dem Aktuellsten zu verknüpfen, was uns Natur- und Sozialwissenschaften über die menschliche Natur zu sagen haben sowie über die Art und Weise, wie wir funktionieren, scheitern und lernen.

Wie sich herausstellte, war dies der Anfang meiner Reise zu philosophischer Selbsterkenntnis.

Noch etwas anderes ließ mich innehalten und nachdenken. Seit meinen Teenagerjahren bin ich kein religiöser Mensch mehr – unter anderem war es die Schullektüre von Bertrand Russells berühmtem Werk Warum ich kein Christ bin, die mich dazu veranlasste, dem Katholizismus den Rücken zu kehren. Insofern war ich immer auf mich selbst gestellt, wenn es um einen moralischen Kompass und Sinnfindung fürs eigene Leben ging. Ich vermute, dass eine wachsende Zahl von Menschen weltweit vor einem ähnlichen Problem steht.

Während ich durchaus mit der Idee sympathisiere, dass die Entscheidung gegen eine religiöse Bindung ein genauso akzeptabler Lebensentwurf sein sollte wie die Hinwendung zur Religion, und darüber hinaus die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat entschieden unterstütze, war ich zunehmend unzufrieden – man könnte sogar sagen, verärgert – über den intoleranten Zorn der sogenannten Neuen Atheisten, für die unter anderem Richard Dawkins und Sam Harris stehen. Obgleich die Kritik an Religion oder überhaupt an jedem Ideengebäude zu den Eckpfeilern einer demokratischen Gesellschaft zählt, die diesen Namen verdient, reagieren die Verfechter des modernen Atheismus nicht gerade positiv auf eine kritische Betrachtung ihres eigenen Tuns. Was ich für falsch erachte und worin ich mich bestätigt sehe durch eine humorvolle Äußerung des stoischen Philosophen Epiktet:

»Da fängt es an, gefährlich zu werden – fürs Erste, dass er dir sagen könnte: ›Was hast du dich in meine Sachen einzumischen, guter Freund? Bist du vielleicht mein Gebieter? Und dann, dass er dir, wenn du ihn weiter behelligst, ein paar Maulschellen versetzt. Ich war einst selbst ein großer Liebhaber dieser Disputierart, bis mir dergleichen widerfuhr.«

Natürlich müssen Sie sich nicht dem Neuen Atheismus zuwenden, wenn Sie einer nicht religiösen Ausrichtung Ihres Lebens den Vorzug geben, denn auf diesem Feld bieten sich durchaus Alternativen: etwa der säkulare Buddhismus und der säkulare Humanismus. Aber, ehrlich gesagt, sind für mich diese beiden Pfade, die derzeit als die wichtigsten für all jene gelten, die nach einem sinnerfüllten säkularen Dasein streben, irgendwie unbefriedigend. Und zwar weil ich die gegenwärtig dominierenden Ausprägungen des Buddhismus ein bisschen zu mystisch und seine Texte zu dunkel und schwer interpretierbar finde – besonders im Lichte dessen, was wir durch die modernen Wissenschaften über die Welt und das Menschsein erfahren haben. An dieser Einschätzung ändert selbst eine Reihe von neurobiologischen Studien nichts, in denen die günstigen mentalen Auswirkungen von Meditation überzeugend aufgezeigt werden.

Der säkulare Humanismus wiederum, dessen Anhänger ich jahrelang war, leidet am entgegengesetzten Problem: Er ist zu abhängig von der Wissenschaft und einem modernen Verständnis von Rationalität. Was dazu führt, dass er trotz bester Bemühungen seiner Anhänger sehr kühl wirkt. Daher wohl auch der spektakuläre Mangel an zumindest zahlenmäßigen Erfolgen, den die Organisationen des säkularen Humanismus zu verzeichnen haben.

Ganz anders der Stoizismus. Hier habe ich eine rationale, wissenschaftsfreundliche Philosophie gefunden, die zugleich eine Metaphysik mit spiritueller Dimension einschließt. Eine Philosophie also, die ausdrücklich offen für Korrekturen ist und, am allerwichtigsten, einen ausgeprägten Praxisbezug hat. Bereits die alten Stoiker akzeptierten den wissenschaftlichen Grundsatz der universellen Kausalität: Alles hat eine Ursache, und alles im Universum entfaltet sich natürlichen Prozessen gemäß. Da war kein Platz für geisterhaftes, transzendentes Zeug.

Im Übrigen glaubten die Nachfolger des Zenon von Kition auch, dass das Universum nach einem Prinzip strukturiert sei, das sie logos nannten. Man kann es als Gott interpretieren oder einfach als das, was manchmal als »Einsteins Gott« bezeichnet wird: die schlichte Tatsache, dass sich die Natur von unserem Verstand begreifen lässt.

Unter den verschiedenen Bestandteilen des stoischen Systems gilt als das charakteristischste Merkmal die praktische Anwendbarkeit: Der Stoizismus begann als eine Suche nach einem glücklichen und sinnerfüllten Leben und ist immer als eine solche verstanden worden. Und so überrascht es nicht, dass seine grundlegenden Texte – von denen fast alle aus der späten römischen Stoa stammen, da die meisten Frühschriften verloren gingen – Musterstücke an Eindeutigkeit und Deutlichkeit sind. Epiktet, Seneca, Musonius Rufus und Mark Aurel reden Klartext und sind damit weit entfernt von den oftmals kryptischen Schriften des Buddhismus oder den blumigen Allegorien des frühen Christentums.

Eines meiner Lieblingszitate, einmal mehr von Epiktet, mag diese bodenständige Praxisbezogenheit veranschaulichen:

»Es ist eine Pflicht, die Übel zu vermeiden, der Tod aber ist unvermeidlich. Denn was will ich machen? Wohin soll ich vor dem Tode fliehen?«

Übrigens spricht diese Philosophie generell sehr direkt und überzeugend die Unvermeidlichkeit des Todes an und sagt konkret, wie man sich auf ihn vorbereiten kann – ein weiterer Grund, warum ich mich dem Stoizismus zuwandte. Immerhin habe ich unlängst das halbe Jahrhundert vollendet, und obwohl man dieses Datum gerne als völlig willkürlichen Punkt auf unserer Lebensbahn deklariert, hat es mich zu einigen tiefer gehenden Überlegungen angeregt: Wer bin ich, und was tue ich hier auf Erden? Ohne das religiöse Rüstzeug, das die Kirche anbietet, war ich gezwungen, mich selbst schlauzumachen, wie ich mich mental auf das Ende meines Lebens vorbereiten könnte. Denn egal, welchen Sinn wir unserem Leben, das dank medizinischer Fortschritte zunehmend verlängert wird, geben mögen – wir müssen dem ultimativen Verfall unseres Bewusstseins und unserer einzigartigen Präsenz in dieser Welt ins Auge sehen. Und wir müssen lernen, auf eine Weise zu sterben, die würdig ist und einen Trost für die Hinterbliebenen darstellt.

Seneca hat das als den ultimativen Charakter- und Prinzipientest bezeichnet und dem Thema viele Anstrengungen und eine Menge Schriften gewidmet. »Täglich sterben wir«, schrieb er an Lucilius, »täglich nämlich wird hinweggenommen ein Teil des Lebens, und auch dann, wenn wir wachsen, nimmt das Leben ab«. Und zu unserer Existenz auf Erden heißt es: »Der führt kein wünschenswertes Leben, der nicht gut zu sterben weiß.«

Mit anderen Worten: Das Leben erscheint den Stoikern als ein fortlaufendes Projekt mit dem Tod als logischem, natürlichem Schlusspunkt. Deshalb gilt er ihnen auch nicht als etwas Besonderes oder etwas, vor dem wir uns sonderlich fürchten müssten. Eine Sichtweise, für die ich besonders empfänglich bin, denn sie tariert zwei gegensätzliche Haltungen aus, die ich beide unsäglich fand. Einerseits mochte ich nicht über eine Unsterblichkeit fantasieren, für die es weder Beweise noch Vernunftgründe gibt, andererseits war ich genauso gegen das säkulare Abweisen oder, schlimmer noch, Vermeiden der Themen Tod und Auslöschung des Individuums.

Aus diesem und anderen Gründen bin ich bestrebt, diese praxisnahe Philosophie der Antike wiederaufleben zu lassen und sie an das Leben im 21. Jahrhundert anzupassen.

Und damit stehe ich nicht allein da. Jeden Herbst nehmen Tausende Menschen an der Stoischen Woche teil, einem weltweiten philosophischen Event und sozialwissenschaftlichen Experiment unter Federführung der University of Exeter, zu dem Universitätsphilosophen, kognitive Therapeuten und Alltagspraktiker aus der ganzen Welt eingeladen werden. Es geht dabei um zweierlei Ziele: Zum einen sollen die Menschen angeregt werden, sich über den Stoizismus und seine Bedeutung für ihr eigenes Leben zu informieren, zum anderen werden systematisch Daten gesammelt, die Aufschluss darüber geben sollen, ob das Praktizieren des Stoizismus wirklich einen Unterschied für unseren Alltag macht. Die bisherigen Ergebnisse sind zwar noch als vorläufig zu betrachten, geben aber Anlass zu Optimismus. So wiesen Teilnehmer des dritten Events nach einer Woche stoischer Praxis beispielsweise einen neunprozentigen Anstieg positiver Emotionen auf, einen elfprozentigen Rückgang negativer Emotionen und eine Verbesserung der Lebenszufriedenheit um vierzehn Prozent. Langfristigere Untersuchungen mit Testpersonen, die bei der Stange geblieben waren, bestätigten diese Resultate.

Interessant ist ferner die Annahme der Teilnehmer, dass der Stoizismus sie tugendhafter machte: Sechsundfünfzig Prozent gaben der stoischen Praxis in dieser Hinsicht eine hohe Punktzahl. Natürlich muss eingeräumt werden, dass es sich hier um eine Gruppe handelt, deren Mitglieder alle schon ein Interesse am Stoizismus mitbrachten und zumindest einem Teil seiner Lehrsätze und Praktiken Glauben schenkten. Trotzdem: Wenn es im Laufe von wenigen Tagen zu so spürbaren Veränderungen kommt, sollte das nicht dazu ermutigen, einmal genauer hinzuschauen?

Für Kenner der Materie kommen Ergebnisse wie diese ohnehin nicht völlig überraschend, ist der Stoizismus doch die philosophische Wurzel einer Reihe von evidenzbasierten Psychotherapien. Zu ihnen zählt Viktor Frankls Logotherapie ebenso wie Albert Ellis’ Rational-Emotive Verhaltenstherapie.

Über Ellis hat man gesagt, dass »kein Mensch – nicht einmal Freud selbst – einen größeren Einfluss auf die moderne Psychotherapie hatte«. Frankl wiederum war ein Neurologe und Psychiater, der den Holocaust überlebte und einen Bestseller schrieb: … trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Seine berührende und inspirierende Resilienzgeschichte kann als modernes Beispiel für praktizierten Stoizismus gelesen werden. Beide, Ellis wie Frankl, räumten ein, dass der Stoizismus bei der Entwicklung ihrer therapeutischen Ansätze eine wichtige Rolle gespielt habe, wobei Frankl die Logotherapie als eine Art Existenzanalyse definierte.

Ein weiteres fesselndes Dokument über gelebten Stoizismus ist das Erinnerungsbuch des US-Vizeadmirals James Stockdale: In Love and War (In Liebe und Krieg), in dem er über die schrecklichen Bedingungen seiner langjährigen Haft in einem vietnamesischen Kriegsgefangenenlager berichtet und sein Überleben dem Stoizismus zuschreibt, besonders seiner Epiktet-Lektüre.

Desgleichen verdankt die immer vielgestaltiger werdende Familie der sogenannten »kognitiven Verhaltenstherapien«, die ursprünglich zur Behandlung von Depressionen entwickelt wurden und bei einer ganzen Reihe von psychischen Erkrankungen zum Einsatz kommen, viele ihrer Ansätze dem Stoizismus. Aaron T. Beck, Autor des Buches Kognitive Therapie der Depression, bestätigt dies ausdrücklich, wenn er schreibt: »Die philosophischen Wurzeln der kognitiven Therapie können bis zu den Stoikern (…) zurückverfolgt werden.«

Natürlich ist der Stoizismus eine Philosophie und keine Therapieform – das auseinanderzuhalten ist wichtig. Denn während eine Therapie nicht mehr sein soll als ein kurzfristig wirksamer Ansatz, um bei der Überwindung bestimmter psychischer Probleme zu helfen, liefert die Philosophie ein allgemeines Bild vom Leben, bietet Lebensentwürfe an, wie sie jeder von uns braucht. Manche übernehmen einfach im Ganzen irgendeinen Entwurf, der ihnen von einer Religion bereitgestellt wird. Andere entwickeln im Laufe der Jahre ihre eigene Philosophie, schmieden sie sich gewissermaßen passgenau zurecht, ohne groß darüber nachzudenken. Wieder andere gehen ganz bewusst an diesen Prozess heran, um – einem berühmten Ausspruch von Sokrates folgend – ihr Leben zu prüfen, sodass sie es danach besser leben können.

Wie jede Lebensphilosophie spricht auch der Stoizismus nicht jeden an und funktioniert nicht bei jedem. Was unter anderem daran liegt, dass er hohe Anforderungen stellt. So postuliert er etwa, dass einzig der moralische Charakter es wirklich wert sei, gepflegt zu werden; Gesundheit, Bildung und sogar Wohlstand werden als »bevorzugte indifferente Dinge« in die zweite Reihe gestellt – obgleich die Stoiker keineswegs zur Askese raten und viele von ihnen an den guten Dingen des Lebens sehr wohl ihre Freude hatten. Außerdem koppelt er unseren persönlichen Wert von allen »äußeren Dingen« ab, die man heute gerne als Statussymbole bezeichnet, und überschreitet damit Klassengrenzen, was zwar sehr demokratisch sein mag, indes nicht jedem taugt. Egal ob Sie reich oder arm sind, gesund oder krank, gebildet oder unwissend – wir werden nach Überzeugung des Stoizismus allein durch unseren Charakter und die Ausübung unserer Tugenden definiert. Die gesellschaftliche Stellung etwa ist nicht entscheidend für Ihre Fähigkeit, ein moralisches Leben zu führen und auf diese Weise das zu erlangen, was die Stoiker ataraxia nannten, die Gemütsruhe.

Bei all seiner Einzigartigkeit hat der Stoizismus dennoch zahlreiche Berührungspunkte mit anderen Philosophien, mit Religionen und säkularen Bewegungen. Obwohl bekennend nicht religiös, fühle ich mich stark angesprochen von der Vorstellung einer solchen ökumenischen Philosophie, die einige Ziele, Einstellungen und sogar manche Praktiken mit anderen großen ethischen Traditionen auf unserem Erdball teilt. Diese Gemeinsamkeiten haben es mir ermöglicht, den schrillen Neuen Atheismus, den ich bereits früher kritisiert hatte, noch entschiedener zurückzuweisen, und sie erlauben es selbst religiösen Menschen, sich von den noch verderblicheren Fundamentalismen verschiedener Ausprägung zu distanzieren, die unsere jüngste Geschichte so verhängnisvoll heimgesucht haben.

Für einen Stoiker ist es letztendlich nicht von Bedeutung, ob wir glauben, dass logos Gott oder die Natur ist, solange wir anerkennen, dass ein anständiges Leben mit der Bildung des eigenen Charakters zu tun hat und mit Achtsamkeit gegenüber anderen Menschen und, ja, auch gegenüber der Natur. Was nach Überzeugung der Stoa am besten gelingt, wenn man sich, ohne fanatisch zu sein, von den rein weltlichen Gütern löst.

Natürlich ist der Stoizismus von heute nicht mehr identisch mit dem Ideengebäude der Antike; er hat im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen und Anpassungen durchlaufen. Ursprünglich handelte es sich um eine alles umfassende Philosophie, die sich nicht nur mit Ethik beschäftigte, sondern auch mit metaphysischen und naturkundlichen Problemen sowie mit der wissenschaftlichen Herangehensweise an Logik und Erkenntnistheorie.

Die Stoiker hielten diese anderen Aspekte deshalb für wichtig, weil sie etwas zu ihrem Hauptanliegen beitrugen: zu der Frage nämlich, wie man sein Leben leben solle. Um aber den jeweils besten Ansatz zur Lebensführung zu finden, sei ein Verständnis für das Wesen der Welt (Metaphysik) und ihre Funktionsweise (Naturwissenschaften) unerlässlich, ebenso die Erkenntnis, dass unser Begreifen der Welt mangelhaft ist (Epistemologie).

Erst recht brauchen die von den antiken Stoikern entwickelten Auffassungen in Zeiten rasanter wissenschaftlicher Fortschritte ein philosophisches Update. Die Stoiker hätten, wie William B. Irvine in seinem klarsichtigen Buch A Guide to the Good Life (Ein Führer zum guten Leben) erklärt, eine allzu strikte Dichotomie. Diese besteht nach Irvine in einer Zweiteilung dessen, was in unserer Macht steht, und dem, was außerhalb dieses Bereichs liegt. Über unsere eigenen Gedanken und Haltungen hinaus gebe es durchaus ein paar Dinge, die wir beeinflussen können und, je nach den Umständen, sogar beeinflussen müssen – und zwar so lange, bis wir an den Punkt gelangen, wo wir erkennen, dass wir absolut nichts mehr zu tun vermögen.

Ebenfalls ist es eine Tatsache, dass die Stoiker allzu optimistisch waren, wenn es darum ging, zu beurteilen, wie viel Kontrolle die Menschen über ihre eigenen Gedanken haben. Die moderne Kognitionswissenschaft hat uns da eines Besseren belehrt und nachgewiesen, dass wir leider sehr häufig kognitiven Verzerrungen und Täuschungen erliegen. Dennoch bestärkt das Wissen um diesen Mangel meiner Ansicht nach die Idee, dass wir uns in tugendhaftem und richtigem Denken üben sollten, ganz wie es die Stoiker empfahlen.

Überhaupt betrachte ich die prinzipielle Bereitschaft, die eigenen Lehren infrage zu stellen und sie bei Bedarf zu ändern, als einen der attraktivsten Züge des Stoizismus. Mit anderen Worten, es ist eine Philosophie mit offenem Ausgang. Und in einer Welt des Fundamentalismus und der starren Lehrmeinungen kann eine Weltsicht, die von Natur aus offen für Korrekturen ist, nur erfrischend sein. Von Seneca sind dazu die berühmten Zeilen überliefert:

»Die vor uns derlei gedacht haben, sind nicht unsere Herren, sondern Führer. Zugänglich ist allen die Wahrheit, noch ist sie nicht in Beschlag genommen: viel bleibt von ihr auch für künftige Geschlechter übrig.«

Aus all diesen Gründen habe ich irgendwann beschlossen, den Stoizismus für mich als Lebensphilosophie zu adaptieren, ihn zu erforschen und zu studieren, ihn mit Gleichgesinnten zu teilen und womöglich an veränderte Bedürfnisse anzupassen. Schließlich ist der Stoizismus letztlich auch nur ein von Menschen ersonnener und damit ungerader Pfad, mit dessen Hilfe sie eine kohärentere Sicht auf die Welt entwickeln wollen – auf das, was wir sind, und darauf, wie wir uns in das große Ganze einfügen. Allerdings scheint das Bedürfnis nach solchen Einsichten derzeit wieder sehr groß zu sein, und ich möchte mit diesem Buch dazu beitragen, den Leser auf dieser sehr alten und doch bemerkenswert modernen Straße voranzuführen.

Da ich selbst noch ein ziemlicher Novize auf dem Gebiet der stoischen Philosophie bin, brauchen wir auf jeden Fall einen berufenen und erfahrenen Reisebegleiter, der uns behutsam den rechten Weg zu weisen vermag, uns vor gefährlichen Stolpersteinen warnt und darauf achtet, dass wir nicht vom Pfad der Erkenntnis abkommen.

Als Dante Alighieri seine spirituelle Reise antrat, deren Endresultat seine Göttliche Komödie war, stellte er sich vor, plötzlich einsam in einem dunklen Wald zu stehen und nicht zu wissen, wohin. Wie sich herausstellte, befand er sich am imaginären Eingang zur Hölle und war drauf und dran, in ihre Tiefen hinabzusteigen. Zu seinem Glück stand ihm der römische Dichter Vergil zur Seite, sein zuverlässiger Mentor.

Zwar ist die Reise, zu der wir jetzt aufbrechen werden, nicht so schicksalsschwer wie ein Höllenbesuch, und dieses Buch ist ganz bestimmt keine Göttliche Komödie, aber in gewisser Weise haben auch wir uns verloren und bedürfen genauso einer umsichtigen Führung wie einst Dante. Meine Wahl, Sie haben es sicher bereits erraten, ist auf Epiktet gefallen, der mich als Erster zum Stoizismus hinführte.

Epiktet wurde um das Jahr 55 herum in Hierapolis geboren, nahe Pamukkale in der heutigen Türkei. Sein ursprünglicher Name ist nicht überliefert, epiktetos bedeutet einfach »der Erworbene«. Epiktet war also ein Sklave. Bekannt ist ferner, dass er einem wohlhabenden Mann namens Epaphroditos »gehörte«, selbst einst ein Sklave, ein Freigelassener, der in Rom als Sekretär für Kaiser Nero arbeitete und Epiktet offenbar als Kind aus seiner Heimat dorthin mitnahm. Der verkrüppelte Junge – ob von Geburt an oder aufgrund einer Verletzung, ist nicht belegt – hatte es mit Epaphroditos gut getroffen und durfte in Rom sogar bei Musonius Rufus, einem der renommiertesten Lehrer seiner Zeit, die Philosophie der Stoa studieren. Nach Neros Tod (68 n. Chr.) wurde Epiktet freigelassen – in Rom eine gängige Praxis bei besonders intelligenten und gebildeten Sklaven. Er gründete in der Hauptstadt des Imperiums seine eigene Schule und lehrte dort, bis Kaiser Domitian im Jahr 93 alle Philosophen aus der Stadt verbannte.

Dazu ein kleiner Exkurs: Philosophen im Allgemeinen und Stoiker im Besonderen wurden von einer ganzen Reihe von Kaisern verfolgt. Allen voran zeichnete sich Domitian in dieser Hinsicht unrühmlich aus. Bei zahlreichen Philosophen begnügte man sich nicht damit, sie aus Rom zu vertreiben, sondern bedrohte sie gar mit dem Tod. Prominentestes Opfer der Philosophenverfolgung war Seneca, der allerdings früher, noch in der Endzeit von Neros Herrschaft, aus dem Leben scheiden musste. Dass die Kaiser es besonders auf die Stoiker abgesehen hatten, lag wohl daran, dass sie ohne Umschweife zu sagen pflegten, was sie von den Mächtigen hielten. Und das kam schon damals nicht besonders gut an.

Notgedrungen verließ Epiktet Rom und verlegte seine Schule nach Nikopolis im Nordwesten Griechenlands, wo er eine Reihe hochkarätiger Studenten ausbildete, darunter Arrian von Nikomedien. Dieser dokumentierte einige Vorlesungen seines Meisters, der seine Lehre selbst nie schriftlich niederlegte, und diesen Texten werden wir in den nächsten Kapiteln noch öfter begegnen. Nebenbei eine interessante historische Marginalie: Nachdem Epiktet von dem in der römischen Geschichtsschreibung als »schlechter« Herrscher und als Tyrann bezeichneten Domitian aus dem Zentrum der damaligen Welt vertrieben worden war, soll ihn einer der »guten« Kaiser in der griechischen Provinz besucht haben, nämlich Hadrian. Übrigens gehörte Mark Aurel ebenfalls zu den Ausnahmeerscheinungen auf dem römischen Kaiserthron – er gilt als letzter der sogenannten »fünf guten Kaiser« und als wohl berühmtester Stoiker aller Zeiten.

Epiktet heiratete nie, tat sich jedoch in reifem Alter mit einer Frau zusammen, weil er Hilfe brauchte bei der Pflege und Erziehung eines Jungen, den er bei sich aufgenommen hatte. Er starb um das Jahr 135 mit etwa achtzig Jahren, für die damalige Zeit ein außergewöhnlich hohes Alter.

Was für eine bemerkenswerte Gestalt! Ein verkrüppelter Sklave, der Bildung erwarb, zum freien Mann wurde, seine eigene Schule gründete, von dem einen Kaiser zum Teufel gejagt wurde, dafür mit dem anderen freundschaftlich verbunden war. Und der vor allem einige der machtvollsten Worte ausgesprochen hat, die je aus dem Mund eines Lehrers gekommen sind.

Ist es da nicht geradezu zwangsläufig, Epiktet als Führer für unsere Reise durch den Stoizismus zu wählen? Ein weiterer Grund dafür, Epiktet zu unserem Lotsen zu küren, liegt in der Tatsache, dass er mit mir in vielen Punkten nicht übereinstimmt. Dies gibt mir die Möglichkeit, die bemerkenswerte Flexibilität der stoischen Philosophie aufzuzeigen. Ihre Fähigkeit, sich an Zeiten und Orte anzupassen, die sich so stark voneinander unterscheiden wie das Rom des 2. und das New York des 21. Jahrhunderts.

Lassen Sie uns also den Stoizismus in einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit Epiktet auf der Grundlage seiner Lehrgespräche ergründen. Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt sprechen. Über den Kosmopolitismus in einer zunehmend zersplitterten Welt, über die Sorge um unsere Familien, die Bedeutung unseres Charakters, den Umgang mit Zorn und Behinderungen, über das Moralische oder Unmoralische am Selbstmord und vieles andere mehr.

Andere stoische Autoren aus Antike und Neuzeit werden Epiktets Weisheiten gelegentlich ergänzen oder relativieren – schließlich wäre es unseriös, jene Fortschritte unter den Tisch zu kehren, die Philosophie und Wissenschaft seit Epiktets Zeiten gemacht haben. Deshalb muss es von zentralem Interesse sein, zu erörtern, wie ein moderner Zugriff auf den Stoizismus aussehen könnte. Mein Ziel ist dabei, die fundamentale Frage zu beantworten: Wie sollen wir unser Leben leben?