Pantelouris_Lieblingsfrau_Cover.jpg

INHALT



» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

» Weitere eBooks von Kein & Aber





» www.keinundaber.ch

Pantelouris_Lieblingsfrau_Foto.jpg

ÜBER DEN AUTOR

Michalis Pantelouris, Jahrgang 1974, schreibt als Journalist und Autor unter anderem für das SZ-Magazin und Emotion. Seine Kolumne »Liebe zukünftige Lieblingsfrau« für das SZ-Magazin war ein riesiger Erfolg. Er lebt – jede zweite Woche mit seinen Töchtern Nummer eins und Nummer zwei, immer mit Katze Hummel und Kater Willy Brandt – in Hamburg.

ÜBER DAS BUCH

Nach zehn Jahren Ehe muss Michalis Pantelouris beziehungsmäßig wieder ganz von vorn anfangen: Seine Frau hat ihn verlassen. Auf der Suche nach einer nächsten Liebe seines Lebens wird ihm schnell klar, dass ihm die Rituale des Datens fremd geworden sind. Das letzte Mal hatte er kein gebrochenes Herz, und auch sonst ist heute vieles anders. Er beginnt, seine Sehnsüchte, Rückschläge und Unsicherheiten in außergewöhnlich ehrlichen Briefen an seine zukünftige Lieblingsfrau aufzuschreiben. Doch als diese Briefe als Kolumne erscheinen, steht seine Welt endgültig kopf.

Titelei_Pantelouris.jpg

My nights are broken up by the sounds of women I’ll never meet,

and when my eyes are closed I can start to feel you staring at me.

The right side of my bed has always left me feeling stuck in between

everything I know and all the lies I tell myself so I can sleep.

Jack Garratt – Worry

1

Katzen starren auf Türen. Das ist kein Indiz dafür, dass sie hindurchgehen wollen. Aber das weiß Herr Baris nicht, der im dritten Stock wohnt und an der Tür klopft, wenn er im Vorbeigehen Willy auf meiner Fußmatte sitzen sieht, morgens um Viertel nach sieben. »Guten Morgen, lieber Nachbar«, sagt er, als ich öffne, und zeigt auf den Kater. »Die Katze will rein. Geht es dir gut?« Er lacht mit dem ganzen Gesicht, eigentlich mit dem ganzen Körper, sein Bauch zittert ein bisschen, so sehr freut er sich, mich zu sehen. »Im Rahmen meiner Möglichkeiten gut, ja«, antworte ich. Was ich immer sage, wenn mich jemand fragt, von dem ich annehme, dass er nicht wirklich etwas hören will, sondern etwas erzählen. »Nicht vergessen«, sagt Herr Baris, »du bist ein König! Du bist frei!« Er freut sich jedes Mal, wenn er mir diese Botschaft überbringen kann. Ich blicke hinunter zu Willy, der noch auf der Fußmatte sitzt und keinerlei Anstalten macht, in die Wohnung zu kommen. Sein Blick ist das Graubrot unter den Blicken. Völlig teilnahmslos. Ich habe Graubrot stets dafür bewundert, dass es sich nicht einmal die Mühe macht, wenigstens unter Broten irgendetwas darzustellen. Von Willy kann ich keine Reaktion erwarten. Aber ich weiß, was als Nächstes kommt. »Nur eins musst du dir merken«, beginnt Herr Baris, und ich beende seinen Satz für ihn. »Keine Frau mehr«, sage ich, und er ist begeistert, wie gut ich gelernt habe. »Ja«, ruft er freudestrahlend, »nicht mehr heiraten, und natürlich keine Kinder. Du bist jetzt frei! Guck mich an!« Herr Baris ist Witwer, seine Frau ist vor zwei Jahren gestorben, und wenn man nicht wie ich gesehen hat, wie liebevoll er sie jahrelang gepflegt hat, könnte das hier alles ein bisschen geschmacklos sein, aber er hat sich die Freiheit ehrlich verdient. »Ja«, sage ich, »merk ich mir.« Was ein weiteres Zittern durch seinen Bauch jagt, und durch meinen Kopf schießt der Gedanke, dass ich vielleicht lieber Witwer wäre, als einfach nur verlassen worden zu sein, ein Gedanke, der so böse ist, dass ich mich gleich dafür schäme, ihn überhaupt denken zu können. In den Eingeweiden der Wohnung fragt Tochter Nummer zwei laut nach, ob ich ihr Schulbrot schon eingepackt habe. Habe ich nicht, und es sind auch noch zehn Minuten Zeit. »Geht es dir denn gut«, frage ich Herrn Baris, um nicht in meinen eigenen Gedanken herumzutaumeln, und er breitet als erste Antwort seine Arme aus in einer Geste von Guck-mich-doch-an. »Alles gut«, ruft er, »ich bin ein König! Ich bin frei!«

»Was sagt der Arzt?«, präzisiere ich, weil mir dieser unbekannte Experte eine bessere Quelle zu sein scheint als der manische Freiheitskämpfer mit dem wackelnden Bauch in meinem Flur, und auch, damit er aufhört, so gut gelaunt zu sein um diese Zeit. »Ach«, lacht er, »was Ärzte sagen. Blablabla Cholesterin.« Er winkt mit weit ausgebreiteten Armen ab. Der kleine Teil von mir, der ihn nicht aus Sorge um seine Gesundheit nach dem Arzt gefragt hat, sondern, um das Grinsen von seinem Gesicht zu fegen, zuckt in einem letzten Aufbäumen sterbend zusammen. Ich wünschte, ich könnte auch irgendwann einmal mit ausgestreckten Armen reden. Wer macht so etwas? Es ist die unnatürlichste Sprechhaltung, die es gibt, wenn man nicht gerade Priester ist oder Zauberkünstler. Aber Herr Baris mit seinen mehr als achtzig Jahren, dem blablabla-cholesteringeblähten Bauch unter einem Pullover von 1971 und dem Grinsen auf dem Gesicht, das man satten Katzen nachsagt, jedenfalls wenn man keine Ahnung von Katzen hat, der hält die Arme immer noch weit ausgestreckt, bereit für alles, womit das Leben auf ihn werfen will. Den Kopf voller Freiheit.

In diesem Moment erhebt sich Willy betont gelangweilt von unserer Unterhaltung und streicht an meinem Bein entlang in die Wohnung. Ich mache eine vage angedeutete Geste der Katze hinterher. »Ich muss mal ran«, sage ich, »viel zu tun«, und gleichzeitig wird mir bewusst, wie absurd das klingt von mir, einem Typen, der in Schlafanzughose mit wirrem Haar im Hausflur steht und aussieht, als wäre er evakuiert worden. Wenn Herr Baris von unseren Treffen erzählt, bin wahrscheinlich ich der Verrückte. Und da durchzuckt es mich: Er will nicht reden, jedenfalls nicht nur. Er kümmert sich. Um mich. Er macht sich Sorgen. Weil er mich mag und ich sein Nachbar bin, und weil ich offensichtlich den Eindruck erwecke, man müsse sich Sorgen um mich machen. Ich spüre, dass mir gleich Tränen in die Augen schießen, deshalb mache ich einen Schritt vor und umarme ihn. Für eine Sekunde oder drei steht er verdutzt da, die Arme ausgebreitet, stocksteif, dann legt er sie langsam um mich und tätschelt mir den Rücken. »Du bist ein guter Junge«, sagt er. »Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Aber immer dran denken …« Ich nicke. »Nie mehr heiraten«, flüstere ich, und er sieht mich stolz lächelnd an. »Genau«, sagt er, »und vor allem keine Kinder.«

Nummer eins drängt sich an mir vorbei in den Flur und wirft uns den Blick zu, den man für die ganz peinlichen Momente reserviert, also praktisch für alles, was die Eltern machen, während man selbst zwischen dreizehn und siebzehn Jahren alt ist. Ihre Beine sind wie die eines Rehs, und im Verhältnis dazu sind die Adidas Superstar an ihren Füßen groß wie die Betonklötze, welche die Mafia angeblich denen anhängt, die bei der Polizei aussagen. »Papa, ich geh jetzt los.« Ich lasse Herrn Baris los und umarme sie. Sie hält mir die Stirn hin, damit ich sie küssen kann. Nummer eins küsst selbst nicht, jedenfalls niemand Alten, doch sie erlaubt mir immer noch, sie auf die Stirn zu küssen, und ich werde jede Gelegenheit wahrnehmen, die ich noch habe, bevor die Tür ganz zugeht. Sie wird bald vierzehn, und ich fürchte mich vor dem Tag.

Willy sitzt neben seiner Futterschale in der Küche, und anders als das Anstarren von Türen ist das Anstarren von Futterschalen bei Katzen ein klares Indiz. Er hat Hunger. Und ich habe bis heute keine Ahnung, was er wirklich gerne frisst. Ich lebe mit zwei Töchtern, jedenfalls jede zweite Woche, und durchgehend mit zwei Katzen, und alle vier haben schwer durchschaubare Systeme entwickelt, bestimmte Nahrungsmittel abzulehnen. Ich beschwere mich nicht darüber, ich bin selbst genauso. Ich mag zum Beispiel nichts mit Rosinen, aber ich mag Rosinen. Das kann man niemandem erklären. Aber Willy, der mit vollem Namen Willy Brandt heißt, und Hummel, die kleine Kriegerin, haben es perfektioniert. Immer wenn ich denke, das Nass- oder Trockenfutter gefunden zu haben, das sie lieben, verweigern sie es plötzlich, bis an den Rand des Hungerstreiks, lecken nur das Gelee aus dem Dosenfutter oder beschweren sich laut maunzend. Und das sind die einfacheren Mitbewohner. Tochter Nummer eins ist in der Pubertät und ernährt sich phasenweise nur von Nutella-Toast und irgendwas aus dem Automaten im Reitstall, Nummer zwei ist Vegetarierin, hat aber etwas gegen Gemüse und mag nichts, was sich im Mund komisch anfühlt. Für die Schulpause wünscht sie sich ein Brot mit Frischkäse und bringt es an drei von fünf Tagen ungegessen wieder mit. Leider kann ich nicht vorhersagen, welche Tage das sind, sonst würde ich ihr an den Tagen einfach eine Packung Zigaretten in die Brotdose packen und mich heimlich den ganzen Tag freuen, dass nur ich davon weiß, so wie die Lehrlinge bei Prince Charles’ Schneider angeblich Penisse in das Innenfutter seiner Anzüge malen. In Wahrheit ist mein einziges Geheimnis, wie improvisiert das alles schon seit Monaten ist. Jedenfalls hoffe ich, dass es nicht jeder bemerkt. Ich bin die Hälfte der Zeit alleinerziehender Vater und fand es zu zweit schon schwierig genug. Die Wohnung, in der wir wohnen, ist immer noch die, in der wir zehn Jahre zusammen gewohnt haben. Nummer zwei kannte gar kein anderes Zuhause, bis ihre Mutter ausgezogen ist und die Kinder nun zwischen zweien wöchentlich wechseln. Ich habe monatelang versucht, alles genau so zu machen, wie meine Frau es gemacht hat, bis ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs war und meine beste Freundin Ali mein Gesicht gepackt und mich fast angeschrien hat: »Vergiss die Blumen! Die sind scheißegal. Es haben sich Dinge geändert, und das wissen deine Kinder. Dann ist es eben ein bisschen rumpelig. Konzentrier dich auf das, was wichtig ist.«

Nummer zwei geht mit optimistischem Schwung in ihrem Schritt los, jeden Morgen, mit dem riesigen Ranzen auf dem Rücken. »Denk dran«, sage ich beim Abschied, »heute gehst du nach der Schule zu Mama.« Sie drückt mich. »Ich hab dich lieb, Papa«, sagt sie, und auch das ist neu. Sie sagt es erst, seitdem wieder ein bisschen Ruhe eingekehrt ist nach der Explosion. Seitdem alles wenigstens oberflächlich den Eindruck macht, als könne es jetzt so weitergehen, ohne dass der Schaden immer größer wird. »Ich hab dich auch lieb, Mausebacke«, sage ich. Einmal drückt sie mich noch, dann wendet sie sich abrupt ab und verschwindet in den Hausflur.

In einer Stunde muss ich zum Flughafen und hatte noch keinen Kaffee, weil die alte Espressomaschine endgültig aufgegeben hat. Vor fast zwanzig Jahren habe ich sie gebraucht gekauft, und irgendwann musste ich lernen, die Dichtungen selbst zu wechseln, weil der Mensch, zu dem ich sie zur Wartung gebracht hatte, sich plötzlich geweigert hat. »Du stellst mit Vorkriegstechnologie unter Lebensgefahr zwei Espressi her, bevor sie wieder aufheizen muss«, hat er geschimpft, »es ist Zeit für etwas Neues.« Seitdem habe ich die Wartung selbst gemacht, und ich hing an dem Ding, bis letzte Woche trotz neuer Dichtungen heißes Wasser herauslief. Sie funktioniert nicht mehr, das musste selbst ich einsehen, gegen meinen Willen. Vielleicht trenne ich mich einfach schwer. Das Ergebnis ist jedenfalls, dass ich gar keine Maschine mehr habe und jetzt Vor-Vorkriegstechnik benutze.

Ich fülle also Wasser in den kleinen Mokkatopf mit dem langen Griff, mit dem ich griechischen Kaffee mache, und stelle ihn auf die kleinste Herdplatte. Ein Löffel Zucker. Zwei Löffel Mokkapulver. Höchste Hitze. In Griechenland steht in jeder Küche einer dieser kleinen Campinggaskocher, nur für den Kaffee, und das ist sinnvoll, denn auf dem Herd dauert es ewig, bis der Kaffee aufkocht. Wenn es schließlich so weit ist, besteht nur ein Fenster von etwa zwei Sekunden, in denen man den Topf von der Flamme nehmen muss, sonst kocht er über, und die dicke, pulvrige Creme brennt sich wie Lava-Asche in die Herdplatte. Es ist eine Glaubensfrage, wie oft der Kaffee in dem Aluminiumtöpfchen aufkochen muss, damit er perfekt schmeckt. Ich glaube, zwei Mal.

Willy maunzt. Ich weiß nicht, was mich abgelenkt hat, aber ich habe ihm noch nichts zu fressen gegeben. Ich hole eine Dose aus der Kammer neben der Küche, und Hummel kommt angelaufen, angelockt durch das Geräusch der Kammertür. Sie streichen aufgeregt um meine Arme, als ich das Futter in ihre Näpfe fülle. Am liebsten würden sie mich wegdrücken. Dann stürzen sie sich darauf. Hummel beginnt sofort zu fressen, Willy schnuppert und dreht sich gelangweilt weg. »Was willst du eigentlich«, schnauze ich ihn an, »das ist völlig adäquates Katzenfutter! So teuer, wie das war, wärs wahrscheinlich sogar adäquates Menschenfutter, du Biest!« Er sieht mich an, und seine schräge Zeichnung lässt ihn aussehen, als würde er den Mund verziehen. Ich glaube für einen Moment, ein Fauchen zu hören, doch es ist nur der Mokka, der sich über den Rand des Topfes ergießt und auf der Herdplatte zu Asche verbrennt. »Verdammt!«

Nachdem ich den größten Teil der Sauerei aufgewischt habe, setze ich mich mit dem Rest des Kaffees und einer Zigarette vor die Küchentür. Ich habe noch eine halbe Stunde, bis ich losmuss, und ich muss noch duschen und packen für drei Tage New York, nur kann ich mich gerade nicht bewegen. Ich sehe dem Sekundenzeiger meiner Armbanduhr dabei zu, wie er vorwärtsstrebt, zuverlässig und ungeachtet der Tatsache, dass die Welt eigentlich aufgehört hat, sich zu drehen. Das macht sie seit Monaten so: Mir einfach nicht zugestehen, dass es nicht weitergeht. »Nie wieder eine Frau«, hallt der Satz des Alten in meinem Kopf, und ich spüre die Kraft, die davon ausgeht, dass nicht ich diesen Satz gesagt habe, sondern jemand anders. Manchmal braucht man das, denn zu manchen Sätzen hat man kein klares Verhältnis. Selbst wenn man weiß, dass sie wahr sind, muss man sie nicht annehmen, weil man sie nicht wahrhaben will. Am Ende sagen sie immer: »Du musst dein Leben ändern.« Das ist praktisch nie eine Erkenntnis, sondern ein Seufzer. »Nie wieder eine Frau« ist auch so ein Satz, den ich Tausende Male gesagt, geflucht und geweint habe, ohne ihn wirklich zu glauben. Jetzt kann ich ihn annehmen und wegstoßen zugleich, so wie diesen anderen Satz, den ich mir so oft gesagt habe und den ich nicht annehmen konnte, und der bis heute in meinem Kopf nur mit der Stimme meiner Frau zu hören ist. Die schlimmsten drei Worte in jeder Sprache der Welt: »Es ist vorbei.«

2

New York schläft. Natürlich schläft New York, jede Stadt schläft irgendwann, es ist Unsinn, was sie uns erzählen, wer immer auch »sie« sind. Derjenige, der niemals schläft, bin ich, aber morgens um 4:21 Uhr bin ich allein auf der Straße, nur zwei Blocks vom Times Square entfernt, wo die Leuchtreklamen ihre Pflicht tun und Leben simulieren, während die wirklich Lebendigen höchstens deshalb wach sind, weil sie zum Klo schlurfen, bevor sie zurück in einen weichen, warmen Schlaf sinken. Sie werden sich am Morgen nicht einmal erinnern können, dass sie wach waren, während der kalte Wind in mir das Gefühl auslöst, ich würde mich gerade an alles erinnern, was ich je erlebt habe.

Für meinen Körper ist es Vormittag, und ich bin längst über den toten Punkt hinweg. Der einzige Mensch, den ich sehen kann, ist ein Mann, der seinen Falafelstand für den Tag vorbereitet. Irgendwo müssen gerade Hunderte, vielleicht Tausende Hände damit beschäftigt sein, Falafel zu rollen. Irgendwo muss es Leben geben in dieser Stadt, hier ist es nicht.

Luxushotels sind wie die größeren Jungs damals im Freibad, aber anstatt nasser Handtücher schlagen sie dir höhnisch den Satz »Zu Hause ist es doch am schönsten« um die Ohren, wenn du aus Versehen Augenkontakt mit ihnen hast. Zu Hause ist es nicht am schönsten, wenn es um die Möbel geht, um die perfekten Betten, das sorgsam arrangierte Licht. Ich wohne zur Miete, seitdem ich vor mehr als zwanzig Jahren bei meinen Eltern ausgezogen bin, und bisher hat noch fast jeder meiner Vermieter Raufaser für eine angemessene Tapete gehalten. Zu Hause ist es dann am schönsten, wenn du es als den Ort definierst, an dem dein Herz wohnt. Und schlägt, anstatt in kleinen Fitzeln über die hässliche Tapete verteilt zu sein.

Ich habe eine schlaflose Nacht damit verbracht, auf dem Smart-TV in meinem Zimmer das extrem begrenzte Angebot durchzuforsten, das man hat, wenn man sich in Amerika mit einem deutschen Account bei Netflix einloggt. Vielleicht ist es auch gar nicht so begrenzt, sondern ich bin begrenzt, weil ich nichts mehr gucken kann, in dem glückliche Paare vorkommen oder unglückliche, Kinder in physischer oder emotionaler Gefahr, Horror, realistische Gewalt oder alternde Männer. Ich brauche es im Moment harmlos und künstlich. Am Ende habe ich ungefähr drei Staffeln Friends gesehen, nur unterbrochen von Zigarettenpausen unten vor der Tür. Den Luxus, im Bett zu rauchen, kann man nicht einmal mehr kaufen. Ich gehe gemächlich zurück in Richtung Central Park, während die Sonne langsam aufgeht, nicht um zu wärmen, sondern um die Kälte zu beleuchten.

In der Suite, in der wir auf unsere Interview-Slots warten, gibt es winzige Brötchen und riesige Bildschirme, auf denen eine Art 20-minütiger Trailer für den Film läuft, wegen dem wir hier sind, Demolition. Jake Gyllenhaal spielt darin einen jungen, reichen Yuppie, der seine Frau bei einem Autounfall verliert und danach feststellt, dass sein ganzes Leben eine einzige sinnentleerte Fassade ist, die er einreißen muss. Manchmal ist auch Kino wie die großen Jungs im Freibad, nur dass sie dieses Mal Steine in ihre Handtücher wickeln.

Ich sitze allein im Raum mit einer jungen amerikanischen Kollegin, die für ein Filmblog schreibt. »Wo kommst du her?«, fragt sie, und als ich »Deutschland« sage, erwidert sie erst strahlend »oh, great« und denkt dann kurz nach. »Darf ich dich etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Ist Deutschland ein sozialistisches Land?«

»Nein. Ein Teil war es mal, aber heute: nein.«

Sie denkt wieder nach.

»Kann ich noch was fragen?«

»Klar!«

»Was wäre ein sozialistisches Land?«

Ich bin mir nicht ganz sicher, was sie meint. »In der Theorie«, sage ich, »ist das System des Sozialismus, dass jeder nach seinen Möglichkeiten beiträgt und nach seinen Bedürfnissen versorgt wird.« »Nach seinen Bedürfnissen versorgt«, wiederholt sie, »schön.« Jetzt guckt sie schon fast ein bisschen verklärt. »Ich muss mir das aufschreiben!« Sie hat ihr Notizbuch vor sich liegen, und irgendwo zwischen den Fragen an Jake Gyllenhaal und Naomi Watts notierte sie sich das Prinzip des Sozialismus.

»In der Praxis hat es aber noch nie funktioniert«, unterbreche ich ihre Begeisterung. Sie sieht abrupt von ihrem Notizbuch auf. »Ist das schon versucht worden?«

»Ja, in einem großen Teil der Welt. Und es endete immer in Diktaturen.«

Sie wiegt ihren Kopf hin und her. »Aber«, irgendetwas Positives will ich doch noch sagen, »jede normale Familie funktioniert ungefähr so.« In dem Moment kommt eine der ewig strahlenden PR-Damen der Filmfirma und holt sie ab zu ihrem ersten Interview. »Noch zehn Minuten«, sagt sie entschuldigend zu mir, obwohl wir gut in der Zeit sind, »Jake ist gleich so weit.«

Die schwarze Neusozialistin lächelt mir ein letztes Mal zu. »Es war wirklich nett, mit dir zu reden.« Ich hebe die rechte Faust zum Gruß, bevor ich mir überlegen kann, ob sie das als falschen Black-Panther-Gruß missverstehen und irgendwie rassistisch finden wird, doch sie lächelt weiter. Ich gucke ihr hinterher, als sie hinausgeht, fasziniert von ihrer Begeisterung, einem Menschen zu folgen, dessen Überzeugungen sie höchstens emotional versteht. Wahrscheinlich gar nicht. Dann fällt mir ein, dass das ziemlich genau die Art war, in der ich geheiratet habe. Jede Familie funktioniert ungefähr so. Solange sie funktioniert.

Nach genau neun Minuten kommt die PR-Frau zurück. »Du kannst schon mal mitkommen«, sagt sie, und ich folge ihr den Flur mit dem weichen Teppich entlang, der alles weich macht, die Schritte, die Geräusche, die Gedanken. Die nächste Frau übernimmt, Gyllenhaals persönliche Pressefrau, sein Publicist. »Hey, nett, dich zu treffen. Du bist den ganzen Weg aus Deutschland gekommen? Großartig!« »Danke, dass ich hier sein kann«, antworte ich. Ob ich das wirklich meine, weiß ich nicht.

Das Wohnzimmer seiner Suite ist viel spärlicher möbliert, als ich es erwartet hätte, kaum mehr als ein kleines Sofa, ein Tisch und zwei gepolsterte Stühle. Jake Gyllenhaal kommt aus dem Bad, größer und dünner, als ich mir vorgestellt hatte, mit einem angedeuteten Vollbart im schmalen Gesicht. Er gibt mir die Hand und begrüßt mich ruhig, fast schon sanft. »Wie geht es dir«, fragt er, und obwohl ich weiß, dass es eine Floskel ist, kommt es mir vor, als wolle er es tatsächlich wissen. »Danke, dass du dir die Zeit nimmst«, sage ich, auch eine Floskel.

Er wendet den ältesten Trick der Gesprächsführung an: Einer nur halb beantworteten Frage keine weitere folgen zu lassen, sondern die Stille länger auszuhalten als das Gegenüber, denn praktisch jeder Mensch hat den Impuls, Stille zu füllen. Er sieht mich an, als würde ihn wirklich interessieren, wie es mir geht, und obwohl mir klar ist, dass es ihm unmöglich etwas anderes sein kann als egal, kann ich nicht anders. »Es ist ein schöner Film«, sage ich, »und falls du dich jemals fragen solltest, warum Filme wichtig sind: Ich gehe gerade durch eine Trennung, und dein Film hat mich sehr berührt.« Er zeigt aufs Sofa. »Tut mir leid zu hören«, sagt er, während er sich mir gegenüber auf einen Stuhl setzt. Ich lege mein Telefon zwischen uns und stelle die obligatorische Frage, ob es okay ist, wenn ich das Gespräch aufzeichne. Natürlich ist es das.

Ich beginne mit einer harmlosen Frage, um zu sehen, ob er ins Erzählen kommt. »Du hast für den Film Bulldozer fahren gelernt. Macht das Spaß?« Auch wenn uns beiden klar ist, dass das nicht das Thema unseres Gesprächs sein wird, erzählt er tatsächlich. »Na ja, ich habe es ein bisschen gelernt, es ist nicht so schwer. Das mochte ich an dem Film von Anfang an: auf unkonventionelle Art zu zeigen, wie jemand die Entdeckung seiner selbst durchläuft, ohne dass es dazu eine große Erleuchtung braucht. Ein Verlust muss kein Leitmotiv werden. Oft laufen wir herum und wissen gar nicht, dass wir uns verloren haben, deshalb ist die Feststellung, dass es so ist, der erste schöne Schritt dahin, herauszufinden, wohin du gehen willst.«

Er hatte beim Sprechen den Blick auf die Tischplatte gesenkt, jetzt sieht er mich direkt an, und mir wird wieder die Absurdität bewusst, dass es scheint, als würde er mir gerne helfen. Er hat am College Buddhismus studiert und spricht mit der Weisheit derjenigen, die ihre Gedanken nicht erst entwickeln, wenn sie gefragt werden, sondern vieles schon mal durchdacht haben. Oder erlebt. Also frage ich ihn. Danach, wie man überlebt. Wie man den Schmerz aushält. Wie man trauert.

»Ich denke, der einzige Weg, sein Leben zu leben, ist, jeden Tag auf deine Gefühle zu hören. Das ist Übungssache. Wir richten zu hart über unsere Gefühle und Nichtgefühle. Ich kann da nur von mir sprechen. Ich bin sehr voreingenommen und habe nicht genug Geduld, Dinge geschehen zu lassen. Oder sie eben nicht geschehen zu lassen. Ich kann niemandem sagen, wie er durch irgendwas durchkommt, außer dem hier: Wenn du deinen Gefühlen näher bist, bist du näher bei dir.«

»Sind Sensibilität und Stärke ein und dasselbe?«, frage ich.

»Absolut. Aber du kannst nicht herumlaufen wie eine offene Wunde. Du musst wissen, wie du dich verteidigst.«

Wir sprechen eine halbe Stunde. Als wir uns verabschieden, bedanke ich mich bei ihm. »Ich hoffe, alles wird gut«, sagt er. Dann bin ich draußen, setze meine Kopfhörer auf und wandere stundenlang durch die Straßen von Manhattan, ohne wirklich zu bemerken, wo ich gerade bin, mit den immer gleichen Gedanken im Kopf: Ich werde das überleben. Ich werde leben. Und ich werde glücklich sein.