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ÜBER DIE AUTORIN

Åsne Seierstad, geboren 1970 in Oslo, arbeitete als Korrespondentin und Kriegsberichterstatterin für verschiedene internationale Zeitungen und ist Autorin mehrerer Sachbücher. Sowohl als Journalistin als auch für ihre weltweiten Bestseller Der Buchhändler aus Kabul (2002) und Einer von uns (2016) wurde sie vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Oslo.

»Åsne Seierstad ist die renommierteste Journalistin Skandinaviens, spezialisiert auf Abgründe.« Das Magazin

ÜBER DAS BUCH

»Wir sind jetzt bald am Ziel. Seid uns bitte nicht böse, es hat sooo wehgetan, ohne Abschied wegzugehen. Wir haben Euch sooo lieb und hoffen, dass Ihr den Kontakt nicht abbrecht.« Die zwei Schwestern in ihrer Abschieds-E-Mail

Als Ayan und Leila nach der Schule nicht nach Hause kommen, ahnt niemand, dass sich die beiden Schwestern auf dem Weg nach Syrien befinden, um sich dem Islamischen Staat anzuschließen. Åsne Seierstad fragt nach den Gründen für die Radikalisierung und begleitet die Familie der Schwestern bei den dramatischen Versuchen, sie zurückzuholen. Ein dokumentarisches Meisterstück und Norwegens Sachbuch des Jahres.

»Wenn man den Radikalisierungsprozess verstehen möchte, gibt es kein besseres Buch.« Aftonbladet

Kein & Aber

Kein & Aber

Vorbemerkung der Autorin

Dieses Buch handelt von einer wahren Begebenheit.

Es basiert auf den Erlebnissen derer, die dabei waren. Anhand ihrer Erzählungen wurden die einzelnen Szenen rekonstruiert, wobei es für manche Szenen mehrere Quellen gibt, für andere jeweils nur eine.

Die im Folgenden beschriebenen persönlichen Gedanken beruhen auf den Berichten der jeweils Betroffenen. Diejenigen, die nicht selbst zu Wort kommen wollten, wurden anhand ihrer Handlungsweisen, schriftlicher Quellen sowie Schilderungen anderer dargestellt.

Zur Transliteration arabischer und somalischer Wörter wurde in Abstimmung mit Fachleuten eine vereinfachte und vereinheitlichte Version gängiger Schreibweisen herangezogen. Im Falle bestimmter Eigennamen, für die es in westlichen Sprachen bereits etablierte Schreibweisen gibt, wird davon abgewichen.

Die in diesem Buch zitierten E-Mails und anderen Nachrichten wurden im Großen und Ganzen nicht korrigiert. Hier entspricht die Schreibweise arabischer Wörter und Namen der Schreibweise, die der Verfasser jeweils gewählt hat.

Eine ausführlichere Darstellung meiner Arbeitsmethode findet sich im Nachwort. Darüber hinaus enthält der Anhang auch ein Glossar und ein Literaturverzeichnis.

Teil I

Der Prophet sagte über die Märtyrer:

»Ihre Seelen sind in grünen Vögeln, die sich in den Lampen unter dem Throne Gottes Nester bauen und nach Belieben von den Früchten des Paradieses essen. Der Herr sieht sie und fragt, ob sie einen Wunsch hätten. Sie antworten: ›Was sollen wir uns wünschen? Wir essen ja schon von den Früchten des Gartens, wie es uns beliebt.‹ Der Herr fragte noch einmal, und als Er zum dritten Mal fragte, sagten sie: ›Herr, schick unsere Seelen zurück in unsere Körper, sodass wir erneut unser Leben für dich opfern können.‹ Da sah Gott, dass sie nach nichts anderem trachteten, und ließ sie im Paradies bleiben.«

Überliefert nach Abdallāh ibn Masūd, gestorben 650

Wenn wir sterben, kehren wir alle zu Allah zurück, aber lasst uns schon im Leben danach streben, zu Ihm zurückzukehren.

Umm Hudayfah alias Ayan, 10. Oktober 2013

Die Umkehr

Das Etagenbett stand mitten im Zimmer. Eine hohe Absturzsicherung aus weiß lackierten Metallstäben sorgte dafür, dass vom oberen Bett niemand herunterfallen konnte. Die Decken und Kissen waren mit bunter Bettwäsche bezogen. Neben der Tür standen ein Schreibtisch, ein Stuhl und ein Kleiderschrank, auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine Kommode. Ein Fenster gab den Blick auf einen Rasen und einen Wohnblock aus rötlichem Backstein frei, der ganz genauso aussah wie alle anderen Häuser hier. Das Sims war so niedrig, dass man einfach durchs Fenster steigen und sich draußen ins Gras fallen lassen konnte. An den Möbeln klebten Zettel mit zierlichen Schriftzeichen, die mit Bleistift vorgeschrieben und mit blauem Filzstift nachgezogen worden waren: Bett. Fenster. Stuhl. Tisch. Schrank. Tür. Die Tapete über der Kommode war übersät mit solchen Zetteln. Groß, klein, hoch, niedrig, warm, kalt, arm, reich. Die arabischen Wörter waren kunstvoll aufgemalt, offensichtlich von einem Anfänger der Sprache, denn hier und da waren Buchstaben verwechselt. Die Übersetzung ins Norwegische war jeweils richtig geschrieben, aber nur dünn mit Bleistift danebengekritzelt.

Aufgehängt hatte die Zettel die jüngere Schwester, die im Etagenbett oben schlief. Sie zierten nicht nur das Mädchenzimmer, sondern waren überall in der Wohnung verteilt: Lampe. Sofa. Vorhang. Regal. Der Arabischkurs begann mit weltlichen Dingen, zielte jedoch auf etwas Geistliches ab – die Lektüre des Korans, wie er dem Propheten Mohammed offenbart worden war.

Ich. Er. Wir. Ich bin. Er ist. Wir sind. Allahu akbar. Gott ist groß. Gott ist größer. Führe uns auf den rechten Weg!

An diesem Oktobermorgen war Leila früher als sonst die Leiter des Etagenbetts hinuntergestiegen. Sie zog sich ein bodenlanges Kleid an und ging zu ihrer Mutter in die Küche, die sich gleich im Nebenzimmer befand. Sara wachte morgens immer als Erste auf. Dann kroch sie leise aus dem Ehebett und schlich sich vorsichtig aus dem Schlafzimmer, um Sadiq nicht zu wecken. Erst wenn er ihre Wärme nicht mehr spürte, wenn es im Bett kälter geworden war und er zu frösteln begann, wachte auch er auf.

Sara stand gedankenversunken am Frühstückstisch. Überrascht blickte sie zu ihrer Tochter auf, die in der vergangenen Woche sechzehn geworden war. Leila hatte die Statur ihres Vaters: schlank, hochgewachsen, langgliedrig.

»Soll ich dir helfen, die Jungs fertig zu machen?«, bot sie an.

»Hast du heute keine Schule?«, fragte die Mutter.

»Doch, doch. Ich dachte nur, du könntest vielleicht etwas Hilfe brauchen …«

»Das schaffe ich schon allein, mach du dich ruhig selbst fertig.«

Im Gegensatz zu ihrer großen Schwester, die im Haushalt regelmäßig mit anpackte, war Leila normalerweise nicht gerade die Hilfsbereiteste. »Königin der Faulpelze« nannte ihr Vater sie immer.

Sara ging an ihrer Tochter vorbei in das Zimmer der kleinen Brüder Isaq und Jibril, die sechs und elf Jahre alt waren. Sie weckte die beiden behutsam, half ihrem Jüngsten beim Anziehen und kam anschließend mit ihnen in die Küche.

Dort stand Sadiq mittlerweile am Herd.

Die braunen Bohnen hatte er schon am Vorabend eingeweicht. Nun dünstete er in heißem Öl eine fein gewürfelte Zwiebel, gab ein paar Knoblauchzehen, noch etwas Öl, eine in Streifen geschnittene rote Paprika und Gewürze hinzu und wartete, bis das Ganze etwas Farbe angenommen hatte. Dann mischte er die Bohnen darunter, ließ die Masse eine Weile auf mittlerer Hitze köcheln und pürierte sie schließlich mit dem Stabmixer. Den fertigen Brei schöpfte er auf einen großen Teller und gab zum Schluss noch ein paar goldgelbe Spiralen Olivenöl darüber.

Isaq und Jibril waren noch nicht ganz wach und setzten sich schwerfällig an den Küchentisch. Häppchenweise tunkten sie Brot in das Bohnengericht und schoben sich die Stücke in den Mund, wobei Isaq wie immer kleckerte. Bei Jibril ging so gut wie nichts daneben.

Leila schlich um den Tisch, auf dem auch eine Kanne Schwarztee mit Kardamomsamen stand.

»Willst du dich nicht setzen?«, fragte der Vater.

»Nein, ich faste«, antwortete die Sechzehnjährige.

Sadiq fragte nicht weiter nach. Leila und ihre große Schwester Ayan, die gerade ins Bad gegangen war, hielten sich streng an die Fastenzeiten. Für Frauen waren religiöse Rituale während ihrer »unreinen« Tage tabu, doch die Mädchen holten die verlorene Zeit so schnell wie möglich nach. Am liebsten montags und donnerstags, denn an diesen Tagen hatte der Prophet Mohammed ebenfalls gefastet. Heute war Donnerstag.

Der Ramadan hatte sie dieses Jahr auf eine harte Probe gestellt, denn der Fastenmonat war auf den Juli gefallen, und da ging die Sonne erst nach zweiundzwanzig Uhr unter und nur wenige Stunden später wieder auf. Die Phasen ohne etwas zu essen oder zu trinken waren lang gewesen. Jetzt, im Oktober, im Dhū l-Hiddscha – dem Pilgermonat –, fasteten die Mädchen erneut und hatten ihren Gebetsrhythmus intensiviert. Es war die heiligste Zeit im islamischen Kalender, ideal für den Hadsch, die Wallfahrt nach Mekka. Gute Taten zählten jetzt mehr denn je.

Ismael, der sich in der Geschwisterreihe genau zwischen Ayan und Leila befand, erschien mit einem Handtuch um die Hüften in der Küche. Er war auf dem Weg ins Bad, wo Ayan soeben fertig geworden war. Wenn er so halb nackt durch die Wohnung stolzierte und dabei seinen Schwestern begegnete, rempelte er sie gern wie aus Versehen an. »Lass das!«, riefen sie dann. »Mama, er ärgert uns!«

Zwischen den drei Jugendlichen im Haus – der neunzehnjährigen Ayan, dem achtzehnjährigen Ismael und der sechzehnjährigen Leila – lagen mittlerweile Welten. Ismael habe nichts als Fitnesstraining, Ausgehen und Computerspiele im Kopf, meinten die Schwestern. Sie fanden es peinlich, dass er sich nie in der Moschee blicken ließ. Das falle schließlich auf. »Du bist überhaupt kein Muslim!«, hatte Ayan ihm an den Kopf geworfen und von ihrer Mutter verlangt, ihn vor die Tür zu setzen. Mit jemandem, der nicht bete, könne sie nicht unter einem Dach leben.

»Er ist nur ein bisschen verwirrt«, hatte die Mutter sie zu beruhigen versucht.

»Schmeiß ihn raus!«

»Im Sommer nehme ich ihn mit zu einem Scheich in Hargeysa«, erwiderte die Mutter. »Der soll mal mit ihm reden, ein paar Gebete für ihn lesen …«

Ayan hatte in den geschwisterlichen Auseinandersetzungen stets die führende Rolle übernommen. Leila schloss sich ihr in der Regel an, doch am Vorabend, als Ismael vom Training gekommen war und gerade seine Tasche im Flur abstellen wollte, war sie plötzlich auf ihn zugestürmt und hatte ihn überschwänglich umarmt.

»Ach, Ismael! Du hast mir so gefehlt!«

»Hä? Ich war doch nur ein paar Stunden weg …«

»Wo warst du denn?«

»Beim Training.«

»Und was hast du trainiert?«

»Äh … Oberkörper. Brust und Arme.«

Verstehe mal einer die Mädchen. Die ganze letzte Zeit hatte Leila die Krallen ausgefahren, und auf einmal war sie wieder so lieb und anhänglich.

Ismael zog sich ein Paar Jeans und ein Hemd an und ging zurück in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank, an dem die Mädchen Aufkleber mit Weisheitssprüchen vom Islamic Cultural Centre Norway befestigt hatten, gleich neben einem Zettel mit der Aufschrift Thallādscha, dem arabischen Wort für Kühlschrank. Auf einem grünen Aufkleber, dessen Ränder schon etwas abstanden, als hätte ihn jemand abzuknibbeln versucht, stand: Allah sieht nicht deinen Wohlstand und Besitz, Er sieht dein Herz und deine Taten. Ein lilafarbener Aufkleber verkündete: Wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinem Nachbarn kein Übel zufügen, er soll gastfreundlich sein und die Wahrheit sprechen, welche gut ist, und ansonsten schweigen (also nicht unsittlich oder schmutzig daherreden, lästern, lügen, Gerüchte verbreiten usw.).

Ismael schmierte sich im Stehen drei Scheiben Brot mit Makrele in Tomatensoße. Der Achtzehnjährige achtete darauf, stets ausreichend Proteine zu sich zu nehmen, und fand, dass seine Eltern zu viel Öl verwendeten und ihr Essen völlig zerkochten. Er legte Wert auf eine reine, gesunde und einfache Ernährung und hatte nichts für die somalischen Gewürzmischungen übrig.

Als er sich zu den anderen an den Tisch setzte, rempelte er seine kleinen Brüder spaßeshalber an. Isaq beantwortete die Attacke mit einem Clownsgesicht und schlug mit geballter Faust zurück, während Jibril sich nur abwandte und seinen großen Bruder bat, ihn in Ruhe zu lassen.

»Lass die Jungs in Frieden essen«, sagte Sara.

Langsam wurde es draußen heller, doch bis die Sonne über den Wohnblöcken im Osten aufging, dauerte es noch eine Weile.

Sadiq Juma war krankgemeldet. Er hatte Schmerzen in der Schulter, nachdem im Coca-Cola-Lager ein voller Getränkekasten auf ihn gestürzt war. In der kommenden Woche hatte er einen Termin bei einem Physiotherapeuten, an den ihn das norwegische Arbeits- und Sozialamt überwiesen hatte. Er hing seinen Gedanken nach. Seine Mutter zu Hause in Somaliland hatte sich schon länger nicht mehr gemeldet. Ob sie wohl krank war? Er würde sie später mal anrufen.

Im Zimmer der Mädchen fiel eine Schranktür zu, und etwas Schweres wurde verrückt. Ayan hatte im Frühjahr die weiterführende Schule beendet und half gerade in einem Büro aus, das älteren Menschen mit Bedarf an »praktischer Hilfe im Alltag« persönliche Assistenten vermittelte, wie es im Arbeitsvertrag hieß. Sie wollte sich zuerst ein Jahr Bedenkzeit nehmen, bevor sie sich für ein Studium entschied.

Nun kam sie mit einem Koffer aus dem Mädchenzimmer.

»Was hast du denn damit vor?«, fragte Sadiq.

Ayan blickte ihren Vater an. »Den möchte Aisha sich leihen. Sie will verreisen.«

Die Freundin, die ein paar Blöcke weiter wohnte, hatte sich schon öfter etwas von den Mädchen ausgeliehen oder ihnen ihrerseits etwas geborgt. In letzter Zeit hatten Leila und Ayan ihren Vater häufiger gefragt, ob er sie zu ihr rüberfahren könne. Als er wissen wollte, was sich denn in den Plastiktüten befinde, die sie zwischen den Wohnungen hin- und hertransportierten, hatten sie ihm erklärt, dass bei Aisha die Waschmaschine kaputt sei und sie ihr bei der Wäsche hälfen. Aisha war ein paar Jahre älter als Ayan und mit ihrem kleinen Baby zurück zu ihrer Mutter und den Schwestern gezogen, nachdem sie von ihrem Ehemann verlassen worden war.

Ayan zog den Koffer hinter sich her in den Flur. Auch sie wollte heute nichts frühstücken, sondern ging auf direktem Wege zum Spiegel neben der Haustür, wo sie ihr krauses Haar unter einem Kopftuch verschwinden ließ.

Die Älteste hatte die Züge ihrer Mutter: eine hübsch gewölbte Stirn, weiche, runde Wangen, tiefgründige Augen. Das Kopftuch wurde so eng angelegt, dass kein Haar mehr zu sehen war, darüber zog Ayan einen Dschilbāb, eine Art Tunika mit Kapuze, und schließlich einen weiten Mantel. Allmählich wurde es eng im Flur. Jibril stand bereits fertig angezogen an der Tür, während Isaq noch versuchte, seinen Fuß in den Schuh zu zwängen.

»Schnür ihn doch auf«, schimpfte Sadiq.

»Kann ich aber nicht«, beklagte sich der Sechsjährige.

Im Leben gelte für alles dieselbe Regel, erklärte ihm der Vater: »Gebrauch deinen Kopf, nicht die Muskeln!«

Der jüngste Sprössling war genau wie Sara und Ayan kräftig und kompakt gebaut, während die übrigen drei Kinder die schlanke Figur des Vaters geerbt hatten. Sadiq ging in die Hocke, um die Schnürsenkel seines Sohnes zu entwirren.

Ayan verließ als Erste die Wohnung.

»Tschüss!«, sagte sie und lächelte den anderen noch einmal zu.

Als sie mit dem Koffer verschwunden war und die Tür hinter ihr zufiel, war wieder etwas Platz im Flur. Nun trat Leila vor den Spiegel und führte die gleichen Handgriffe aus wie zuvor ihre Schwester. Als das Kopftuch saß, blieb sie noch eine Weile mit der Schultasche auf dem Rücken an der Tür stehen.

»Willst du mitfahren?«, fragte der Vater. Er mühte sich noch immer mit Isaqs Schnürsenkeln ab.

Wenn die Kleinen zur selben Zeit losmussten wie sie, ließ Leila sich normalerweise von Sadiq an der Schule absetzen, obwohl sie zu Fuß gerade mal eine Viertelstunde brauchte.

»Nein danke«, antwortete sie.

Der Vater sah überrascht auf.

»Ich brauche mehr Bewegung, sonst werde ich noch zu dick«, erklärte sie.

»Also hör mal! Wo bist du denn dick? Du bist doch ein Strich in der Landschaft!«, sagte Sara und verdrehte die Augen.

Leila lächelte nur und nahm beide Eltern nacheinander in den Arm.

»Ich hab dich lieb, Papa«, flüsterte sie Sadiq ins Ohr. »Ich hab dich lieb, Mama«, flüsterte sie auch ihrer Mutter zu.

Die Liebesbekundungen waren auf Somali. Mit der Mutter sprachen die Kinder nur die eine Sprache, mit dem Vater mal die eine, mal die andere und untereinander meist norwegisch.

»Gehen wir dann zusammen?«, fragte Ismael.

Leila und er besuchten beide das Fachgymnasium Rud, Leila die elfte Klasse mit dem Schwerpunkt Gesundheit und Soziales, Ismael die dreizehnte mit dem Schwerpunkt Elektrotechnik. Sie hatten einen unterschiedlichen Tagesrhythmus und machten sich morgens nur selten zusammen auf den Weg, aber da Leila am Abend zuvor »ganz die Alte« gewesen war, wäre es Ismael komisch vorgekommen, nun nicht gemeinsam loszugehen, wie sie es als Kinder immer getan hatten.

»Nein, ich wollte noch …«, antwortete Leila.

Den Rest hörte Ismael nicht mehr, und kurz darauf war sie auch schon mit ihrem Rucksack zur Tür hinaus verschwunden.

Nun waren alle bereit für den Tag. Die Kleinen stürmten die Treppen hinauf, Jibril voran und Isaq gleich hinterher. Der terrassenartig angelegte Wohnblock befand sich an einem steilen Hang, und um von der Wohnung zur Straße zu gelangen, musste man erst einmal drei Etagen nach oben gehen.

Der Gipfel des Kolsås, der sich wie eine schwarze Wand hinter dem Wohngebiet erhob, war von Nebel umhüllt. Während Sadiq das Auto aufschloss, stritten sich seine Söhne darum, wer vorne auf den Beifahrersitz durfte.

»Ok, ok, ok«, ging er dazwischen. »Wie war das noch gleich – ach ja genau, letztes Mal saß Jibril vorne, dann ist Isaq jetzt dran.«

Sie warteten kurz, bis der Motor vorgeglüht hatte, dann gab Sadiq Gas und fuhr aus dem Zufahrtsweg Lillehauger, viel zu abrupt, viel zu schnell, so wie immer.

Dem Sechstklässler Jibril wäre es am liebsten gewesen, wenn Sadiq sie einfach an der Schule abgesetzt und sich sofort wieder auf den Weg gemacht hätte, ihm war es peinlich, zusammen mit seinem Vater gesehen zu werden. Isaq hingegen, der erst vor knapp zwei Monaten eingeschult worden war, wollte noch bis auf den Schulhof gebracht werden.

Als es zur ersten Stunde läutete, kehrte Sadiq zum Auto zurück und fuhr nach Hause, um Sara abzuholen. Sie hatte einen Arzttermin. In letzter Zeit hatte sie über Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schmerzen in den Fingern, in den Handgelenken, Beinen und Füßen geklagt. Sie fühlte sich oft abgeschlagen und müde, fror und war generell nicht in bester Verfassung. Vielleicht konnte sie ja irgendein Mittel nehmen. Womöglich fehlte ihr nur etwas Eisen? Kalzium? Vitamin D? Sie schluckte schon regelmäßig Lebertrankapseln, aber auch das hatte nicht geholfen. Was ich brauche, ist warme Kamelmilch, sagte Sara immer, dann verschwinden die Schmerzen sofort. Zu dieser Jahreszeit wärme die Sonne in Norwegen einfach nicht, sie spende ja kaum Licht. Dafür war Sara nicht geschaffen.

Sie fuhren zum Einkaufszentrum Sandvika und suchten sich einen Parkplatz, auf dem man drei Stunden kostenlos stehen konnte. Von dort aus gingen sie zur Gemeinschaftspraxis Bærumsklinikken, wo sie von der Hausärztin der Familie Juma in Empfang genommen wurden. Nachdem Sadiq ihr die Beschwerden seiner Frau übersetzt hatte, stellte sie ein paar Fragen, untersuchte Sara und kam zu dem Schluss, dass man hier mit Pillen und Mittelchen nicht weiterkomme, sondern dass eine grundlegende Änderung des Lebensstils erforderlich sei. Sara brauche mehr Bewegung, sie solle öfter mal spazieren gehen und müsse deutlich abnehmen.

Nach dem Arzttermin fuhr Sadiq seine Frau wieder nach Hause, wo sie sich erst einmal ausruhte, so wie jeden Mittag.

Isaq und Jibril hatten um halb zwei Schulschluss. Leila kam in der Regel kurz nach ihnen nach Hause. Dann nahm sie ihr Kopftuch ab, zog den langen Mantel aus, wusch sich, betete, aß ein wenig und verschwand schließlich in dem Zimmer, das sie sich mit Ayan teilte. Dort schaltete sie den Computer ein, um Hausaufgaben zu machen oder sich Predigten oder Koranrezitationen anzuhören. Die Mädchen verbrachten viel Zeit auf ihrem Zimmer. »Nicht reinkommen!«, riefen sie entrüstet, wenn jemand von außen die Türklinke hinunterdrückte.

Während andere Mütter sich Sorgen machten, ob ihre Töchter mit Jungen zu tun hatten oder zu freizügige Kleidung trugen, hatte Sara nichts dergleichen zu befürchten. Ihre Mädchen hielten sich genau an die Regeln. Sie fragten immer um Erlaubnis, selbst wenn es nur darum ging, bei den Nachbarn anzuklopfen, erzählte sie ihren Freundinnen stolz. Sie war froh, dass die beiden nicht zu tief in die norwegische Kultur eintauchten. Ismael hingegen bereitete ihr Sorgen, er entfernte sich immer mehr von seinen somalischen Wurzeln und wurde ihr allmählich zu norwegisch.

Inzwischen war es schon nach drei Uhr. Ismael war früher aus der Schule gekommen und hatte versprochen, seinen kleinen Brüdern bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie hingen in einigen Fächern hinterher. Nun saßen die drei Brüder am Küchentisch und wunderten sich, dass Leila noch nicht da war. Sie kam sonst immer direkt nach der Schule nach Hause.

Sara versuchte, sie auf dem Handy zu erreichen, doch das war ausgeschaltet. Auch ihre Älteste ging nicht ans Telefon. Vielleicht hatten die Mädchen heute irgendein Nachmittagsprogramm, von dem sie nichts mitbekommen hatte.

Sie wartete eine Weile und versuchte es dann erneut. Erst bei Leila, dann bei Ayan. Auch Sadiq war nicht zu erreichen. Sie bat Ismael, ihm eine Nachricht zu schicken. Es musste irgendetwas passiert sein. Warum sonst war Leila so spät dran?

Sara rechnete oft mit dem Schlimmsten. Vielleicht war ihre Tochter ja von irgendwem überfallen worden? Sie wusste, dass es Norweger gab, die etwas gegen Dunkelhäutige und erst recht gegen Muslime hatten, und einmal war Leila von einer Gruppe Jungen drangsaliert worden.

Schließlich erreichte sie die Älteste.

»Wo seid ihr?«, rief die Mutter. »Ich mache mir Sorgen um Leila, sie ist noch nicht zu Hause!«

»Hab keine Angst. Leila ist bei mir«, antwortete Ayan.

»Oh«, rief Sara erleichtert. »Dann ist ja gut!«

Solange die beiden zusammen waren, war alles in Ordnung. Sie holte ein paar Stücke Lammfleisch aus dem Kühlschrank und gab Wasser in einen Topf, um für sieben Personen Reis aufzusetzen.

Währenddessen saß Sadiq in der Bücherei von Sandvika und las in der Illustrierten Wissenschaft. Ihm tat die Schulter weh, es würde sicher noch dauern, bis er wieder bei Coca-Cola anfangen konnte. Im Grunde wünschte er sich eine andere Arbeitsstelle. Eine Zeit lang hatte er davon geträumt, Ingenieur zu werden, er hatte sogar einen Abendkurs besucht, um die entsprechende Qualifikation für das Studium zu erlangen, doch dann hatte er aufgegeben.

Diese Bücherei war sein Ein und Alles. Er kam fast jeden Tag hierher. Als Erstes holte er sich immer seine Lieblingszeitschrift aus dem Regal, blätterte ein wenig darin und klappte dann den Laptop auf, um im Internet zu surfen.

Als er kurz vor die Tür ging, um eine Zigarette zu rauchen, sah er die entgangenen Anrufe und die Nachricht auf seinem Handy.

»Die Mädchen sind immer noch unterwegs«, ließ seine Frau ihm ausrichten. »Kannst du sie anrufen und ihnen sagen, dass du sie mit dem Auto abholst? Und dann kommt ihr alle zum Essen nach Hause, ja?«

Er wählte erst Ayans und anschließend Leilas Nummer. Wahrscheinlich waren sie in der nahe gelegenen Rahma-Moschee oder bei Aisha. Leilas Handy war ausgeschaltet. Ayan ging nicht ran. Oder waren sie vielleicht zur Tawfiiq-Moschee in Oslo gefahren?

Sadiq kehrte zu seinem Laptop zurück und chattete kurz mit einem Freund. Gegen fünf Uhr fuhr er nach Hause. Dort angekommen, zog er sich im Flur die Schuhe aus und steuerte auf das Kunstledersofa im Wohnzimmer zu. Er war müde und wollte ein wenig die Beine hochlegen, bis das Essen fertig war.

Vor ihm stand der Fernseher. Hinter ihm an der Wand hing ein Bild von Mekka. In der Ecke zur Veranda lagen ein paar Decken und ein altes Trainingsgerät. Ansonsten war das Wohnzimmer leer, spärlich à la Somali eingerichtet.

Sara bat ihn, es weiter auf den Handys der Mädchen zu versuchen.

»Wo stecken die nur? Für so was habe ich keine Zeit!«, ärgerte er sich.

Um kurz nach sechs ging seine älteste Tochter endlich ans Telefon.

»Beruhig dich, Papa«, sagte sie. Sie hielt einen Moment inne, als wollte sie ihm etwas Zeit geben, und sagte schließlich: »Abu, setz dich.« Sie klang kühl. »Wir haben euch eine E-Mail geschickt. Lest sie.«

Dann legte sie auf.

Sadiq holte den Laptop aus dem Rucksack, setzte seine Brille auf und öffnete das E-Mail-Programm. Zuoberst im Postfach fand er eine ungelesene Nachricht, verschickt am 17. Oktober 2013 um 17:49 Uhr.

»Friede, Gottes Gnade und Segen seien mit Euch, Mama und Papa«, stand dort auf Somali. Der Rest der E-Mail war auf Norwegisch verfasst.

Wir haben Euch sooo lieb, und Ihr habt uns alles im Leben gegeben. Dafür sind wir Euch ewig dankbar .

Sadiq las weiter.

Wir bitten um Entschuldigung für alles, was wir Euch angetan haben. Wir haben Euch sooo lieb und würden alles für Euch tun und Euch niemals mit Absicht verletzen, und da liegt es doch nahe, dass wir alles für ALLAH swt tun und ihm für das, was er uns gegeben hat, danken, indem wir seine Gesetze, Regeln und Befehle befolgen.

Die Muslime werden heutzutage aus allen Richtungen angegriffen, und da müssen wir etwas tun. Wir wollen ihnen so gerne helfen, aber wirklich helfen können wir ihnen nur, wenn wir ihnen in Freud und Leid zur Seite stehen. Nur zu Hause zu sitzen und Geld zu spenden, reicht einfach nicht mehr. Deshalb haben wir beschlossen, nach Syrien zu gehen und da unten mitzuhelfen, so gut wir können. Wir wissen, wie absurd das klingt, aber es ist haq, und wir hatten keine andere Wahl. Wir haben Angst vor ALLAH swts Urteil am Tag des Gerichts.

Sadiq gefror das Blut in den Adern. Ihm wurde schwarz vor Augen, es war, als würde sämtliche Kraft aus seinem Körper entweichen. Während er weiterlas, schien die Luft um ihn herum immer dünner zu werden. Das musste ein Scherz sein. Sie wollten ihn auf den Arm nehmen.

Abo Du weißt, das ist fard al ayn, und zwar nicht nur für Männer, sondern auch für Frauen und alle, die nur irgendwie die Möglichkeit haben.

Sadiq las die E-Mail in Windeseile, auf der Suche nach einer Erklärung für diesen Unsinn. Er wusste, was der Ausdruck Fard al-‛Ayn bedeutete, damit war die religiöse Pflicht des Einzelnen gemeint, der man etwa durch Beten, Fasten, das Spenden von Almosen oder eine Reise nach Mekka nachkommen sollte.

Wir sind jetzt unterwegs und bald am Ziel in shaa ALLAH. Seid uns bitte nicht böse, es hat sooo wehgetan, ohne einen Abschied wegzugehen, wie Ihr ihn verdient hättet. Vergebt uns in shaa ALLAH, mit dieser Entscheidung wollen wir nur das Beste für unsere Ummah, aber auch das Beste für unsere Familie, das ist jetzt vielleicht nicht so leicht zu verstehen, aber uns allen wird dadurch in shaa ALLAH am Tag des Gerichts geholfen in shaa ALLAH.

Wir haben Euch sooo lieb und hoffen, dass Ihr nicht den Kontakt abbrecht, in shaa ALLAH werden wir Euch eine SMS schicken, sobald wir im Hotel angekommen sind, und dann könnt Ihr uns anrufen in shaa ALLAH.

Noch einmal möchten wir sagen, dass wir Euch von ganzem Herzen lieben, und es tut uns leid, dass Ihr es auf diese Weise erfahren müsst, wir verlangen zwar schon zu viel von Euch, aber um einen Gefallen müssen wir Euch noch bitten: Für unsere und für Eure Sicherheit ist es wichtig, dass niemand außerhalb der Familie von unserer Reise erfährt, das können wir gar nicht genug betonen. Bitte versucht, uns zu verstehen in shaa ALLAH.

»Gelobt sei Allah, der Herrscher der ganzen Welt . Ayan & Leila

Sadiq schlug die Hände vors Gesicht.

»Was steht da?!« Sara beugte sich über seine Schulter und betrachtete abwechselnd ihren Ehemann und die schwarzen Buchstaben auf dem Bildschirm.

»Ismael, komm her!«, rief Sadiq.

Was habe ich denn jetzt schon wieder angestellt?, fragte sich der Achtzehnjährige, als die bebende Stimme seines Vaters zu ihm ins Zimmer drang.

»Lies das mal laut vor«, bat Sadiq, als der Junge ins Wohnzimmer kam.

Bereits nach wenigen Zeilen begann auch Ismaels Stimme zu zittern.

»Was? Was?«, rief Sara. Ismael las die E-Mail zuerst auf Norwegisch vor, dann übersetzte er sie seiner Mutter.

»Deshalb haben wir beschlossen, nach Syrien zu gehen …«, übersetzte er.

»Illaahayow, ii caawi! Gott, steh mir bei!«, rief Sara und sank zu Boden.

Sadiq wollte ihr aufhelfen, konnte sich jedoch selbst nicht auf den Beinen halten. Er saß einfach da, hielt seine Frau und wiegte sie in den Armen.

»Ich kann es einfach nicht glauben«, murmelte er. »Das ist unmöglich.«

Die beiden Jüngsten starrten ihre Eltern erschrocken an. Isaq kam angelaufen und schmiegte sich eng an sie.

»Papa, wo sind sie hingegangen?«, fragte Jibril.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Sadiq.

Er versuchte, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Sie konnten doch nicht einfach fortgereist sein, ganz ohne Ankündigung, nein, das glaubte er nicht. Es gab nur drei Möglichkeiten. Erstens: Das war ein Scherz. Zweitens: Jemand anders hatte diese E-Mail geschrieben. Drittens: Er hatte nicht richtig gelesen.

Im Protokoll der Polizeieinsatzzentrale wurde für 21:54 Uhr ein Notruf verzeichnet. Der Anrufer hatte »eine E-Mail erhalten, in der ihm seine beiden Töchter mitteilen, dass sie nach Syrien gegangen sind, um sich dem Dschihad anzuschließen«.

Sadiq hatte die Polizei gebeten, die Handys der Mädchen zu orten, um herauszufinden, wo sie sich aufhielten.

»Sie wurden gekidnappt!«, rief Sara.

Immer wieder versuchte Sadiq, die beiden zu erreichen. Weit konnten sie noch nicht gekommen sein. Endlich hob am anderen Ende jemand ab.

»Abu …«

Er fiel seiner Tochter ins Wort, räusperte sich, versuchte, sich zu beherrschen.

»Ayan, bleibt, wo ihr seid. Ganz egal, wo. Bleibt einfach da, ich komme, ich fahre nur schnell noch tanken, bitte, wartet auf mich …«

»Papa, hör mir zu …«

»Ich komme euch holen, mit dem Auto, wo seid ihr?«

»In Schweden.«

»Wartet auf mich. Ich nehme den Wagen, oder nein, ein Flugzeug, ich fliege zu euch!«

»Vergiss es, Papa.«

»Denkt doch nach, ihr Lieben, wir müssen darüber reden. Mit wem seid ihr unterwegs?«

Die Verbindung brach ab. Als Sadiq es erneut versuchte, hörte er nur die Ansage, der angerufene Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.

Er sprach noch einmal mit der Polizei. Im Protokoll hielt man fest, die Mädchen befänden sich in einem »unbekannten Hotel in Schweden«.

Plötzlich rief Ismael etwas aus seinem Zimmer. Er kam ins Wohnzimmer und deutete auf den Bildschirm seines Laptops.

»Ayan ist auf Facebook!«

Sadiq sah einen Namen, den er nur zu gut kannte: Fatima Abdallah, den Mittelnamen seiner Tochter.

Er setzte sich hin und schrieb ihr.

»Mein Kind, sag mir, wo ihr seid, damit ich euch treffen kann, oder geh ans Telefon. Ihr bereitet der Familie große Probleme. Richtet nicht noch mehr Schaden an. Mein KIND, bitte, mein KIND, rede mit mir.«

Regungslos saß er da und starrte auf den Bildschirm. Ayan hatte so verschlossen geklungen. So hart. Sie müssten nach Syrien. Um zu helfen. Die Leute dort seien in Not. Es sei ihre Pflicht.

Die ganze Entschlossenheit, die Sadiq im Gespräch mit der Polizei aufgebracht hatte, war nun wie weggeblasen. Sara telefonierte mit einer Freundin.

»Oh, ihr Armen«, sagte die. »Ich habe von ein paar Mädchen aus England gehört, die nach Syrien gegangen sind und …«

Plötzlich drang aus der Küche ein verkohlter Geruch ins Wohnzimmer. Im Topf auf dem Herd war der Reis angebrannt.

Isaq hing wie eine Klette an seinem Vater, er klammerte sich an ihn wie ein kleines verschrecktes Tier. Sadiq ließ es einfach zu. Jibril hielt etwas mehr Abstand, unruhig und wachsam schlich er um seinen Vater herum.

Normalerweise brachte Ayan die beiden Jüngsten abends ins Bett. Sie las ihnen aus dem Koran vor, erzählte von Mohammeds Leben oder redete mit ihnen über den Tag.

An diesem Abend mussten sie ohne den Segen des Propheten schlafen gehen.

Um 22:47 Uhr kam eine Antwort von Fatima Abdallah alias Ayan.

»Abu, ihr müsst euch beruhigen. Am besten unterhalten wir uns, wenn alle zur Ruhe gekommen sind und ein bisschen nachgedacht haben.«

»Ok, dann lass uns jetzt reden«, antwortete der Vater.

»Können wir das bitte morgen machen?«, bat die Tochter und fügte hinzu: »Was ihr auch tut, ihr dürft niemandem etwas sagen, sonst bringt ihr uns alle in Gefahr.«

»Mein Kind, du bist zu stark für so eine Gehirnwäsche. Du bist doch meine kleine Ayan, die immer auf mich gehört hat. Deine Mutter liegt im Koma. Das Haus ist voller Polizisten. Das Jugendamt ist hier.«

»Warum habt ihr denn die Polizei gerufen? Wir haben euch doch gesagt, dass ihr das nicht machen sollt!«

»Mein Kind, habt ihr uns vielleicht irgendwas erzählt?«

»Ihr hättet uns nie gehen lassen.«

»Ayyyaaaan, fürchtet Gott, wenn ihr nach Ihm lebt. Ohne männlichen Vormund dürft ihr überhaupt nicht verreisen. Nenn mir den Scheich, der euch das erlaubt hat, er soll mir erst mal die theologische Rechtfertigung dafür liefern. Ich werde blind, wenn ich euch nicht finde!«

»Abu, beruhig dich! Du bekommst ein ganzes Buch.«

»Das werden wir euch nie verzeihen, meine Töchter, weder jetzt noch in der Ewigkeit. Und dafür bekommt ihr auch keine göttliche Belohnung.«

»Papa, sag nichts, was du später bereuen wirst. Im Moment sind alle erschöpft, wir sind sehr erschöpft, können wir bitte morgen weiterreden?«

»Das Paradies liegt zu Füßen deiner Mutter. Das ist ein Hadith, mein Kind. Das Wort des Propheten. Eure Mutter liegt im Koma, sie ist im Krankenhaus. Wie soll euch das gelingen? Woher kommt denn die göttliche Belohnung, die ihr sucht? Mein Kind, investiert nicht in die Hölle!«

»Ihr habt zwei kleine Kinder, um die ihr euch kümmern müsst, seid für sie stark. Wir sind in Sicherheit und kommen zurecht«, beteuerte Ayan.

»Sei doch nicht so naiv!«, schrieb Sadiq und wiederholte noch einmal, dass das Paradies zu Füßen ihrer Mutter liege. »Hast du das vergessen?«, fragte er seine älteste Tochter.

»Ins Paradies gelangt man durch Allahs Gnade«, antwortete Ayan. Dann loggte sie sich aus.

Auf Ismaels Handy erschien ein Foto, verschickt über Snapchat: ein Teller mit einem großen Stück Fleisch, dazu feines Besteck, im Hintergrund eine weiße Tischdecke.

»Letzte Mahlzeit in Europa!«, stand unter dem Bild, das wenige Sekunden später wieder verschwunden war.

Der Text war über Viber verschickt worden. Ismael tippte mit dem Finger darauf. Was seine Schwester nicht wusste: Der Nachrichtendienst zeigte automatisch den Standort des Absenders an, wenn man die Funktion nicht ausgeschaltet hatte. Seyhan, Adana, Türkei, stand da. Er tippte auf die Ortsangabe, und eine Karte mit einem blauen Punkt in der Mitte öffnete sich. Er zoomte hinein, sah Kreuzungen, Straßen.

»Sie sind in der Türkei!« Ismael kam aufgeregt zu seinen Eltern und zeigte ihnen den blauen Punkt auf der Karte. »Ich kann genau sehen, wo sie sind! Ruf die Polizei an, sie müssen der türkischen Polizei Bescheid geben, sie können sie aufgreifen, da im Restaurant. Sie sitzen gerade beim Essen!«

Sadiq verständigte sofort die Polizei und übermittelte die Informationen, die seine Tochter unwissentlich preisgegeben hatte. Mittlerweile war es elf Uhr abends.

»Wir gehen hier durch die Hölle«, sagte er mit Nachdruck. »Sie müssen uns jetzt helfen. Finden Sie sie, bevor es zu spät ist!«

In der Einsatzzentrale wurden seine Angaben notiert und an die örtliche Abteilung des norwegischen Geheimdienstes PST weitergeleitet. Dort lagen sie die ganze Nacht in einer ungelesenen E-Mail, während die Mädchen im Grand Hotel in Adana zu Bett gingen, wo sie mit ihren eigenen Pässen und vollen Namen eingecheckt hatten.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht signalisierte ein Piepen den Eingang einer neuen E-Mail auf Sadiqs Laptop. Sie stammte von Ayan. Keine Anrede, kein »Liebe Mama, lieber Papa«, sie kam direkt zur Sache.

Lest bitte das GANZE Buch und informiert Euch über den Autor, bevor Ihr antwortet, wir haben diesen Schritt fast EIN JAHR LANG geplant und genau durchdacht, so etwas würden wir NIE aus einer spontanen Laune heraus machen. Gruß Ayan

Sadiq öffnete den Anhang. Es war ein Manuskript, dessen Titelseite folgendermaßen aussah:

DEFENSE OF THE MUSLIM LANDS

The First Obligation After Iman

By Dr. Abdullah Azzam

(May Allah accept him as Shaheed)

Dem Text war ein Zitat von Mohammed vorangestellt.

»… But those who are killed in the Way of Allah, He will never let their deeds be lost.«

Während Sadiq sich in den Text vertiefte, ging Ismael auf sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Mit dem Smartphone in der Hand legte er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Ihm kam alles so unwirklich vor. Er loggte sich auf Facebook ein, scrollte herunter, tippte hier und da etwas an, in seinem Kopf rauschte es. Plötzlich sah er, dass Fatima Abdallah online war.

»Ayan. Hier ist Ismael«, schrieb er. »Ich habe mitgekriegt, dass ihr abgehauen seid. Was wollt ihr da unten machen? Also konkret. Wann landet ihr in Syrien?«

Die Antwort seiner großen Schwester kam prompt.

»Zuerst mal: Was ist bei euch los? Ist die Polizei da? Und das Jugendamt?«

»Nein. Nein.«

»Gott sei Dank! Liegt Mama im Koma?«

»Sie weint. Ist traurig. Jetzt du.«

»Well, wir wollen halt machen, was so nötig ist.«

»Was genau meinst du damit?«

»Einfach alles, vom Wasserholen für Kranke bis hin zur Arbeit in den Flüchtlingslagern.«

»Mama glaubt, du willst dich als Ehefrau anbieten. Um Männer im Dschihad zu befriedigen. Lol. Sie meint, du wirst vergewaltigt.«

»Um Himmels willen. Du weißt genau, dass wir nicht so sind.«

»Ich weiß nicht, ob ich noch irgendwas weiß.«

»Hältst du mich für eine Nutte?«

»Keine Ahnung«, antwortete Ismael und schickte einen traurigen Smiley hinterher. »Ich hab gedacht, du hättest mehr Vertrauen zu mir. Du hättest mir doch was sagen können.«

»Du hättest uns nur zurückgehalten!«, schrieb die Schwester. »Sag Mama, dass es uns leidtut, aber Allah kommt nun mal zuerst, vor irgendwem sonst.«

»Sie ist sauer auf dich, komplett im Koma.«

»Sie ist nicht im Koma.«

»Sie kann kaum noch reden und weint die ganze Zeit. Wie würdest du das denn sonst nennen?«

»Wenn sie weint, ist sie nicht im Koma. Erzähl uns nicht solche Lügen.«

»Hm, ok, ich übertreibe, ich kann ja mal ein Video davon machen.«

»Neiiin.«

»Wie seid ihr an das Geld gekommen?«

»Ich habe gearbeitet.«

»Wie viel habt ihr?«

»Genug. So oder so, sag Papa, er soll das Buch, das ich ihm geschickt habe, von vorne bis hinten durchlesen.«

Dann reichte sie das Handy an ihre kleine Schwester weiter.

»Lieber Ismael, hier ist Leila, ich habe Mama unendlich lieb, aber wenn es um ALLAH und den Propheten geht, habe ich einfach Angst, was ALLAH mich am Tag des Gerichts fragen wird. Ich weiß, hier in der Dunya tue ich gerade vielen Menschen weh, aber an die Dunya denke ich jetzt nicht. Ich mach das alles nur, weil ich meine Mutter und meinen Vater und die ganze Familie sooo lieb habe, es geht hier nicht nur um mein eigenes Akirah, sondern auch um eures, ich bin nicht gerade die beste Tochter, und ich gebe meinen Eltern nicht, was sie WIRKLICH verdienen, aber jetzt habe ich die Chance, das wiedergutzumachen, indem ich ihnen im Akirah helfe. Versuch das bitte zu verstehen. Wenn du die Chance hättest, deinen Eltern am Tag des Gerichts zu helfen, auch wenn du ihnen dafür in der Dunya wehtun müsstest, aber am Ende könnte sie das ins Dschannah bringen, würdest du dann nicht auch ALLES für diese Möglichkeit tun?«

Die Nachricht kam in Bruchstücken, da Leila jedes Mal auf Senden drückte, sobald sie eine Zeile geschrieben hatte. Ismael wusste genug über den Islam, um die Botschaft zu verstehen. Dunyā bezeichnete das Leben hier auf Erden, Akhirah war das Leben nach dem Tod, und Dschanna bedeutete Paradies.

»Kommt ihr denn zurück? Also jemals?«, schrieb Ismael von seinem Bett aus.

»Wissen wir nicht so genau, aber eigentlich haben wir es nicht vor«, antwortete Leila.

»Dann sehen wir uns also wahrscheinlich nie wieder?« Ismael schickte einen weinenden Smiley.

»So darfst du nicht denken, wir haben immer noch Skype, haha.«

»Aber in real life jetzt.«

»Wer weiß.«

Ismael tippte auf ein enttäuscht dreinschauendes Emoji und schrieb: »Oh well.«

»Wie geht es dir?«, wollte seine kleine Schwester plötzlich wissen.

»Komisch. Weiß nicht. Traurig.«

»So richtig fassen können wir das alles auch noch nicht. Sei nicht traurig, wir sind ja nicht gestorben, und es geht uns gut. Versuch, positiv zu denken. Think pink ☺ Weißt du noch diesen Frühling? Du hast gesagt, so was würde ich NIE machen, weil du dachtest, ich wäre zu feige.«

»Ok, du hast gewonnen. Kannst du jetzt zurückkommen?« Leila antwortete nicht, weshalb er schnell hinzufügte: »Haha. Nee. Macht mal, was ihr für richtig haltet. Viel Spaß.«

»We will.«

»I’m cool«, antwortete Ismael.

»Gute Nacht.«

Leila schickte ihm noch einen Smiley und ein Herz.

Dann loggte sie sich aus.

Ismael blieb mit dem Smartphone in der Hand auf dem Bett liegen. Über seine Wangen kullerten die Tränen.

Im Wohnzimmer las Sadiq immer noch im Defense of the Muslim Lands und hatte gleichzeitig ein Auge auf sein Handy und Facebook, für den Fall, dass seine Töchter sich noch einmal meldeten.

»Es gibt keinen Kalifen mehr«, begann der Text. »Das prächtige Reich, das die Welt einst fürchtete. Das Volk, dem die letzten Offenbarungen Gottes anvertraut wurden. Eine Religion, die für die ganze Menschheit bestimmt ist. Wo ist das alles hin?«, fragte der Verfasser. »Die Unreinen haben Horden abgestumpfter Muslime hinters Licht geführt, indem sie Marionetten als falsche Leitfiguren einsetzten. Der Kolonialismus hat ein neues Gesicht. Sie kommen aus allen erdenklichen Himmelsrichtungen und wollen uns zwischen sich aufteilen, als würden sie zum Fest laden. Für ein Volk, das die Menschheit einst zur Erlösung führen sollte, gibt es keine größere Demütigung. Wie aber sollen die Muslime den Ernst der Lage erkennen? Ihre vier Wände wackeln, und die Nachbarn lachen.«

Den weiteren Text überflog Sadiq nur. Die Muslime müssten unter einem Kalifen vereint werden, hieß es. Dafür müsse mit dem Schwert gekämpft werden.

Abdullah Azzam war der Vater des modernen Dschihadismus. Als er Anfang der Achtzigerjahre in Saudi-Arabien lehrte, begegnete er Osama bin Laden und setzte sich maßgeblich dafür ein, dass der saudische Geschäftsmann die Mudschaheddin, also die heiligen Krieger im Kampf gegen die Sowjetunion, finanziell unterstützte. Während Azzam in Afghanistan seine Freundschaft zu bin Laden vertiefte, verfasste er eine Fatwa darüber, wann der Dschihad als individuelle Pflicht, Fard al-‛Ayn, verstanden werden müsse und wann man andere für sich kämpfen lassen könne, weil es die Pflicht der Gemeinschaft, Fard al-Kifāya, sei.

»Im Vergleich zum Dschihad auf dem Schlachtfeld sind Gebete nichts als Kindereien«, zitiert Azzam einen bekannten Gelehrten. Feigheit war für ihn verachtenswert. »Für jede Träne, die euch über die Wange rinnt, ist uns Blut über die Brust geflossen. Eure Frömmigkeit ist der reinste Spott, denn während die Gemeinde nichts als Gebete zu bieten hat, opfern die Mudschaheddin ihr Blut.«

Der Palästinenser zitierte aus dem Korankapitel »Die Umkehr«: »Stellt ihr etwa die Tränkung der Pilger und das Bevölkern der geschützten Gebetsstätte (den Werken) dessen gleich, der an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und sich auf Allahs Weg abmüht? Sie sind nicht gleich bei Allah. Und Allah leitet das ungerechte Volk nicht recht.«

Weiter hieß es bei Azzam: »Wird ein muslimisches Land gekränkt, und sei es nur so groß wie eine Handfläche, dann gilt der Dschihad als Fard al-‛Ayn, und zwar für alle Muslime, Männer wie Frauen. Dann kann ein Kind ohne die Erlaubnis seiner Eltern losziehen, eine Frau ohne die Erlaubnis ihres Mannes.«

Das also wollten die Mädchen ihm mit dem Buch zeigen. Die Verpflichtung der muslimischen Umma gegenüber gab ihnen das Recht, ohne sein Einverständnis nach Syrien zu reisen. Sie glaubten, sie hätten die Gelehrten auf ihrer Seite. Sadiq schloss das Dokument.

Dschihad.

Kalifat.

Märtyrertod.

So ein Unfug.

Lest bitte das GANZE Buch, bevor Ihr antwortet, wir haben diesen Schritt fast EIN JAHR LANG geplant.

In dieser Nacht fand Sadiq keinen Schlaf.

Die Welt war aus den Fugen geraten.