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ÜBER DIE AUTORIN

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman, Eine Nacht, Markowitz (2013), wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen, 2015 folgte mit Löwen wecken ihr zweiter Roman, der zurzeit für NBC als TV-Serie verfilmt wird.

ÜBER DAS BUCH

Es gibt Leute, die schlagen mit der Faust auf die Theke, und es gibt Leute, die stehen dahinter und fragen: »Und was darf es für Sie sein?« Die Eisverkäuferin Nuphar Schalev gehört eindeutig in die zweite Kategorie: An dem Gesicht des Mädchens bleibt kein Blick länger hängen als notwendig. Doch als sie eines Tages ein Missverständnis zu einer Lüge formt, ändert sich alles, und sie rückt ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Im hellen Licht der Kameras blüht Nuphar auf, und mit ihr wächst und gedeiht die Lüge, und mit der Lüge wächst und gedeiht die junge Liebe zu Lavie Maimon, der im vierten Stock über der Eisdiele wohnt. Doch die Liebe ist etwas sehr Zartes, und die Wahrheit kann sie zertrampeln wie ein wildes Rhinozeros.

»Ayelet Gundar-Goshen wendet ihre Qualifikationen in Psychologie und Film so konsequent an, dass einem die Luft wegzubleiben droht.« Süddeutsche Zeitung

Kein & Aber

 

Für Yoav

Erster Teil

1

Am Ende des Sommers stand die Hitze noch immer vor den Haustüren, eingerollt in die Zeitungen und genauso unheilschwanger wie sie. Als die Jahreszeit wechselte, hatten die Leute sich so fest in ihren klimatisierten Wohnungen verschanzt, dass sie den Herbst in der Luft gar nicht spürten. Hätte die langärmelige Kleidung, die plötzlich in den Schaufenstern auftauchte, ihn nicht angekündigt, wäre sein Kommen und Gehen womöglich vollkommen unbemerkt geblieben.

Vor einem solchen Schaufenster stand ein etwas kleines, etwas sommersprossiges Mädchen, sein Gesicht spiegelte sich im Glas. Durch die Scheibe starrten schöne ranke Schaufensterpuppen sie an, und vielleicht eilte sie deswegen weiter. Ein Taubenschwarm flatterte überrascht vor ihr auf. Sie murmelte eine Entschuldigung und setzte ihren Weg fort, die Tauben aber hatten den Schrecken rasch vergessen und ließen sich auf der nächsten Bank wieder nieder. Vor dem Geldautomaten der Bankfiliale hatte sich eine Warteschlange gebildet. Ein taubstummer Bettler streckte den Leuten die Hand entgegen, doch sie stellten sich blind. Für eine Sekunde trafen sich die Augen des Bettlers und des Mädchens, und wieder murmelte es eine Entschuldigung und eilte weiter, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Sie wollte gerade die Straße überqueren, als lautes Hupen sie erstarren ließ und ein mächtiger Bus an ihr vorbeirauschte. Von seinem Rückfenster aus wünschte ihr ein Werbeplakat ein gutes neues Jahr. Das jüdische Neujahrsfest stand zwar erst in einer Woche an, aber die Läden lockten schon mit vielversprechenden Sonderangeboten. Auf der anderen Straßenseite fotografierten sich drei Mädchen ihres Alters vor dem Springbrunnen. Das Gelächter hallte ihr von den Pflastersteinen entgegen, sie lauschte ihm aufmerksam und schärfte sich ein, dass es ihr überhaupt nichts ausmache, allein zu sein.

Hastig überquerte sie den Platz. In den Boutiquen flöteten rothaarige Verkäuferinnen »Das steht Ihnen aber ausgezeichnet« und »An Ihrer Stelle würde ich gleich zwei nehmen«, wobei sie verstohlen auf die Uhr schauten, weil ihnen die Blase zu platzen drohte und sie die Pause herbeisehnten. Hinter dem Verkaufstresen stand ein hübscher Jüngling, und seine Finger, die vor wenigen Stunden noch durch das Haar seines Geliebten spaziert waren, tippten nun eifrig Preise in die Kasse. Traten die Leute aus den Läden, rieben sich die Einkaufstüten geräuschvoll aneinander, und dieses urbane Rascheln verkündete den Herbst nicht weniger als das Rascheln fallender Blätter.

In der benachbarten Eisdiele angekommen, stellte das Mädchen mit den Sommersprossen sich hinter die Glastheke. Den Kunden, die erst mal nur kosten wollten, reichte sie gefüllte Plastiklöffelchen, in dem Bewusstsein, dass die großen Ferien bald vorbei waren, ohne dass jemand von ihr gekostet hatte. Sie würde weiterhin die einzige Jungfrau in ihrer Klasse sein, und wenn im nächsten Sommer die Felder gelb würden, müsste sie bereits in die olivgrüne Uniform der israelischen Armee steigen.

Jetzt streckte sie einem Kind sein Eis hin und bemühte sich zu lächeln, als sie zum tausendsten Mal »Bitte sehr« sagte.

Der nächste Kunde rückte zu ihr auf und wollte das Feigensorbet probieren. Nuphar wusste gleich, dass er das Feigensorbet nicht wirklich wollte, sondern am Ende, nachdem er zehn weitere Sorten probiert hatte, Schokoladeneis verlangen würde. Dennoch schabte sie das Gewünschte auf das Plastiklöffelchen und schielte dabei rasch zur Uhr über der Theke. Nur noch sieben Stunden.

Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür, und sie spazierten herein. Den ganzen Sommer lang hatte Nuphar auf diesen Augenblick gewartet, hatte ihn in ihrem Heft sogar ausführlich beschrieben: Jotam betritt die Eisdiele und ist überrascht, sie hinter der Theke stehen zu sehen. Sie bietet ihm ein Eis auf Kosten des Hauses an, und er schlägt als Gegenleistung vor, sie auf seinem Moped nach Hause zu bringen. Sie sagt, sie sei hier erst in einigen Stunden fertig sei, und er antwortet, einige Stunden warte er gerne. Aber als dieser Augenblick nun endlich eintraf, drei Tage vor dem Ende der Sommerferien, kam Jotam nicht allein in die Eisdiele. Er hatte eine ganze Clique dabei. Auch Schir gehörte dazu, Schir, die bis vor vier Monaten noch Nuphars Freundin gewesen war. Nuphars einzige Freundin, um genau zu sein.

Zu fünft standen sie da, und obwohl keiner von ihnen für sich genommen besonders gut aussah, erschienen sie Nuphar, so vor der Theke, doch unglaublich attraktiv. Sie erstrahlten im Glanz der Gruppe, und allein die Tatsache, dass sie zu fünft waren, schien jeden Einzelnen mindestens um das Fünffache zu verschönern. Sie betrachteten die Reihe der Eissorten vor sich, dachten nach, und für einen kurzen Moment wagte Nuphar zu hoffen, dass ihre Mitschüler sie nicht erkennen würden. Aber dann hob Jotam seine traumhaften Augen vom Eis zur Theke, runzelte leicht die Brauen und sagte: »Hi, du gehst doch in unsere Schule.«

Nun blickten die anderen ebenfalls zu ihr auf, während Nuphar den Drang bekämpfte, ihren Blick zu senken.

»Du bist in Schirs Klasse, oder?«

Moran fragte das, wobei sie ihr Haar ebenso geübt wie anmutig zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Nuphar beeilte sich zu nicken. Ja. Sie war in Schirs Klasse. Sie hatte praktisch seit der zweiten Klasse neben Schir gesessen, bis vor vier Monaten, als sie eines Morgens in die Schule kam und entdecken musste, dass Schir ihr ohne jede Vorwarnung die Freundschaft gekündigt hatte.

Für einen Moment herrschte Stille, dann sagte Jotam: »Also ich nehme Vanille mit Crumbles.«

Nuphar hatte schon begonnen, das Eis in einen Becher zu spachteln, als Jotam hinzufügte: »In einer Waffel.« Und das war eigentlich alles, was Jotam zu ihr sagte, denn gleich darauf nannten auch die anderen ihre Wünsche, und Moran fügte in süßlichem Ton hinzu, sie bräuchten es schnell, der Film fange in zwanzig Minuten an. Schir stand die ganze Zeit schweigend dabei, blickte Nuphar etwas schuldbewusst an und bat schließlich um Vanilleeis. Das hätte sie ihr gar nicht zu sagen brauchen, Nuphar wusste, welches Eis Schir am liebsten mochte. Nach fünf Minuten waren sie schon wieder draußen, auf dem Weg ins Kino. Nuphar betrachtete die Sorbetsorten unter der Theke, die sich wie ein Blumenteppich in Rot und Orange vor ihr erstreckten. Auf der gläsernen Trennscheibe hatten Dutzende von Kunden ihre schmierigen Fingerabdrücke hinterlassen. Alle diese Finger hatten in ihre Richtung gewiesen, aber keiner hatte sie gemeint.

Die Tür wurde ein weiteres Mal aufgestoßen, und eine laute Kinderschar stürmte herein. Nach Ladenschluss würde Nuphar ihre eigene Musik auflegen, nicht die Lieder, von denen Gabi behauptete, dass sie Kunden anlockten. Sie würde all die benutzten Servietten vom Boden aufheben und all die Plastiklöffel einsammeln, die Kinder auf den Tischen gelassen und die zu entsorgen die Eltern keine Lust gehabt hatten. Dann noch den Boden aufwischen, die Theke von den Fingerabdrücken befreien und polieren, den Abfall hinaustragen, aber im Hintergrund würde immerhin ihre Musik laufen. Zuallerletzt würde sie einen Styroporbehälter mit Eis füllen und dem Obdachlosen am Springbrunnen bringen. Vielleicht sollte sie das Eis lieber in der Nähe abstellen, denn das letzte Mal hatte der Mann sie mit unverständlichen Worten angeblafft.

Sie träumte zu viel. Von dem Obdachlosen, vom Eis und von der Clique, die jetzt ohne sie im Kino saß, und als sie sich umschaute, musste sie feststellen, dass die Kinder mit ihren Eisbechern abgehauen waren, ohne zu bezahlen. Gabi würde ihr das vom Verdienst abziehen. Ein großer Klumpen Elend saß ihr in der Kehle. Sie holte tief Luft und schluckte ihn hinunter. Noch sechseinhalb Stunden. Wenn der Tag doch bloß schon zu Ende wäre.

Sie ahnte nicht, dass dieser Tag anders enden würde als alle Tage vor ihm, dass er ihr Leben umkrempeln und ihr endgültig letzter als unscheinbare Eisverkäuferin sein würde.

Bei ihrer Geburt wog sie drei Kilo und vierhundert Gramm. Mehr war über sie nicht zu sagen, denn kurz zuvor hatte es sie ja noch gar nicht gegeben. Die beiden Menschen, die soeben noch Ronit und Zachi hießen und ab sofort auf Ima und Abba, Mama und Papa, hörten, betrachteten das Neugeborene durch den feuchten Schleier freudiger Erregung. Neunzehn Stunden hatte die Geburt gedauert, und am Ende waren Ronits Stimmbänder fast so angegriffen wie Zachis Trommelfell. Das soeben geborene Baby lag neben ihnen und war sehr rot und sehr faltig, aber die Hebamme versicherte ihnen, das ginge vorbei. »Die wird mal wunderschön! Eine Blume!«

Woher die Hebamme ihre prophetische Gewissheit bezog, blieb unklar, doch die Eltern nahmen ihre Worte für bare Münze. Ronit hob das Bündel behutsam hoch und bestaunte die drei Kilo und vierhundert Gramm, die bis vor Kurzem noch Teil ihres Körpergewichts gewesen waren und jetzt bereits ein Eigenleben führten. »Wenn sie mal wunderschön wird, nennen wir sie Nuphar«, krächzte die frischgebackene Mutter, und Zachi beeilte sich zu nicken: »Nuphar, die Seerose.«

Die Hebamme ging fort, in andere Zimmer und zu anderen Geburten, das Baby aber war bereits zehn Minuten nach der Geburt mit einer vagen Vorhersage und einem verpflichtenden Namen bedacht worden.

Die Wahl eines Namens ist keine einfache Sache. Kaum beginnt die Zellteilung im Mutterleib, sind auch die Meinungen der Eltern schon geteilt. Er will Tamar, sie Danielle, er besteht auf Michal, sie auf Jael. Vielleicht sollten sie lieber warten, bis die Zellen sich zu einem wirklichen Geschöpf verfestigt haben, sodass der Name dem Baby angepasst wird und nicht das Baby dem Namen. Doch elterliche Erwartungen sind gemeinhin schwer zu zügeln: Sie preschen unkontrolliert voran und legen manchmal eine solche Strecke zurück, dass das Kind ihnen nachlaufen und sein ganzes Leben lang hinter den Hoffnungen seiner Eltern zurückbleiben muss.

Nuphar Schalev war nicht hässlich. Ganz und gar nicht. Aber die Hebamme hatte »wunderschön!« gesagt, und diese Prophezeiung verfolgte Nuphar von Kindesbeinen an. Sie wuchs zu einem zaghaften, in sich gekehrten Mädchen heran und bewegte sich in der Welt wie ein ungebetener Gast auf einem Fest.

Als sie so auf ihrem Platz hinter der Theke stand, erinnerte Nuphar sich an die Szene mit Jotam und seinen Freunden. »Hi, du gehst doch in unsere Schule.« Er kannte nicht einmal ihren Namen. Und der war ihm auch nicht wichtig genug, um danach zu fragen.

Als der Kundenstrom in der Eisdiele einmal verebbte, griff Nuphar nach dem Schlüssel, der wie ein Selbstmörder an einem Haken hing, und eilte hinaus zur Personaltoilette im Hinterhof. Zwei Straßenkatzen unterbrachen kurz ihre Paarung, um sie wütend anzufunkeln und den Akt mit peitschenden Schweifen unverzüglich fortzusetzen. Nuphar drückte sich in die Kabine und verriegelte hastig die Tür, als hätte sie nicht zwei Straßenkatzen beim Liebesakt gestört, sondern, Gott behüte, ihre Eltern.

Als sie wieder heraustrat, strich sie rasch das blaue Kleid glatt, das sie sich zu Beginn des Sommers von ihrer Schwester ausgeliehen hatte. Wie hatte sie gehofft, sich nicht nur das Kleidungsstück auszuleihen, sondern auch die Anmut, mit der es von Maya getragen wurde. Ihre jüngere Schwester bewegte sich so bezaubernd frei und ungezwungen, dass die Ampeln der Stadt jedes Mal freudig erröteten, wenn sie sich näherte. Die ohnehin verstopften Straßen verstopften noch mehr, denn die Ampeln lieferten eine solche Welle von Rot, dass der gesamte Verkehr zum Erliegen kam. Nur Maya wandelte durch liebliche Auen grünen Lichts und brauchte selbst an den belebtesten Kreuzungen nie stehen zu bleiben. Bei Nuphar war das anders. Sie gehörte zu denen, die immer warten mussten.

In ihrer Kindheit konnten die Leute die beiden Schwestern kaum auseinanderhalten. Maya war knapp ein Jahr nach Nuphar geboren und hatte den Rückstand mit der Schnelligkeit einer Antilope aufgeholt. Sie war ein Frühchen gewesen, und obwohl die Ärzte Ronits seelischem Zustand die Schuld gaben (ihr Mann war während der letzten Schwangerschaftsmonate zum Reservedienst eingezogen worden), ging die frühe Geburt in Wirklichkeit auf das Konto der Kleinen im Bauch, die es nicht erwarten konnte, sich endlich mit der Schwester zu messen. Damals war Nuphar keineswegs so zaghaft gewesen wie heute. Im Gegenteil. Ihr Körper hatte einem glatten, runden Butterfass geähnelt, und ihre Händchen hatten nach jedem hingestreckten Finger gegriffen, um ihn festzuhalten und abzulutschen. Unter ihrer Zunge reifte bereits seit einer Weile das süße Wörtchen »Abba« heran, jene Erstlingsgabe, mit der auch die kleine Nuphar ihre Eltern zu gegebener Zeit beglücken wollte. Doch als es dann so weit war, verschwand der Vater, und die Mutter, bis dahin leuchtend wie die Morgenröte, irrte durch die Wohnung wie ein zerfledderter Vogel.

Nuphar kannte diese Geschichte bestens, ihre Angehörigen erzählten sie ständig. In der Schule hatte Nuphar gelernt, beim Erklingen der Nationalhymne stillzustehen, genauso feierlich verhielt sie sich auch bei der Familiensaga: Sie lauschte gesenkten Kopfes den längst vertrauten Worten und murmelte an den richtigen Stellen »Gott sei Dank«. Gott sei Dank hatte die Nachbarin ganz schnell Abba angerufen, als der Krankenwagen Ima in die Klinik brachte. Gott sei Dank hatte sie Abba gerade noch erreicht, bevor der Einmarschbefehl in den Libanon erging. Gott sei Dank hatte Abbas Kommandeur ihm zwölf Stunden Urlaub genehmigt. Und dann – hier durfte man nicht Gott sei Dank sagen, das hatte Nuphar einmal falsch gemacht, was ihr einen drohenden Blick der Mutter einbrachte –, dann geschah etwas, zu dem der Ausspruch Wer hätte das geglaubt gehörte: Kaum hatte Abba sich auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, musste sein Panzer in den Libanon einrücken, und all seine Kameraden kamen um. Und so hat Mayas Geburt Abba Gott sei Dank das Leben gerettet.

Dieser letzte Satz wurde im Laufe der Jahre etwas gekürzt und lautete meistens nur noch: Und so hat Maya Abba Gott sei Dank das Leben gerettet. Nicht dank der medizinischen Tatsache, dass es eine Frühgeburt gewesen war, war Zachi verschont geblieben. Nicht dank des Kommandeurs, der ihm freigegeben hatte – er wurde posthum ausgezeichnet, und der Sänger Shlomo Artzi widmete ihm zum Gedenktag der gefallenen Soldaten ein Lied. Nein, Maya war es, die ihm das Leben gerettet hatte. Das wussten alle, und davon sprachen alle. Als Nuphar dann endlich das Wort »Abba« herausbrachte, achtete kaum jemand darauf. Schließlich sagten alle Kleinkinder früher oder später »Abba«, aber längst nicht alle retteten ihren Abba aus einem brennenden Panzer.

An ihrem ersten Arbeitstag verließ Nuphar die Wohnung in Mayas blauem Kleid und fühlte sich festlich wie nie zuvor. Zum ersten Mal in ihrem Leben bot sich ihr die Gelegenheit zu einem Neuanfang, und kein Ort schien dafür besser geeignet als die Eisdiele. Sie war ein Wunderland an Aromen und Farben – als wäre es jemandem gelungen, den Regenbogen einzufangen, ihn mit einer Tür und einer Registrierkasse zu versehen und das alles an einer Straßenecke anzusiedeln.

Die Eltern lobten die Tochter, weil sie die ganzen Sommerferien lang arbeiten wollte, Nuphars Interesse jedoch galt nicht allein dem Geld. Sie nahm die fünfzigminütige Busfahrt aus dem Vorort ins Zentrum wegen der Leute auf sich. Wegen der fremden Augen, die noch nicht wussten, was in ihrem Viertel jeder wusste: Es gab über Nuphar Schalev nichts zu wissen. Nie war ihr etwas zugestoßen. Kein Abenteuer. Keine Verwicklungen. Sie führte nun schon seit mehr als siebzehn Jahren eine harmlose Existenz auf dem Nebengleis.

Nicht einmal die Akne in ihrem Gesicht war auffallend genug, um sie auszuzeichnen. Auf den Gesichtern mancher Jugendlicher bildeten sich atemberauende geologische Formationen, tiefe Krater, beeindruckende Hügel und Täler. Doch Nuphars Talgdrüsen ließen es bei der Annektierung der Stirn und einer kleinen Enklave auf der Nase bewenden. Aber gerade weil diese Pickellandschaft sonst niemanden störte, störte sie Nuphar selbst gewaltig. Im Stillen nannte sie sich »Pickling«.

Namen waren eine höchst prekäre Angelegenheit. Davon konnte auch Lavie Maimon, der mit seinen Eltern im vierten Stock über der Eisdiele wohnte, ein Lied singen. Sein Vorname bedeutete »Löwe«. Er hatte bereits Unmengen an Schokoladeneis in sich hineingeschleckt und war doch immer noch so dünn wie die Stangen, die die Stadtverwaltung zum Anketten von Fahrrädern aufstellte. Vielleicht hätte Lavie seine als elend empfundene Existenz gefasster ertragen, wenn die Eltern ihm einen weniger anspruchsvollen Namen gegeben hätten, doch auf seinen schwachen Schultern lastete der mächtige König der Tiere. In seiner Kindheit hatte Lavie noch gehofft, ihm würden eine kräftige Mähne und viele Muskeln wachsen, wenn er nur endlich, endlich älter würde. Doch die Jahre verstrichen, und die Mähne ließ auf sich warten. Sein Bart bestand aus gerade mal fünfzehn Haaren, die Lavie Abend für Abend vor dem Spiegel nachzählte, und von Muskeln fehlte jede Spur.

Sein Vater hörte auf den Namen Arie, was ebenfalls »Löwe« bedeutete. Er war Oberst der Reserve und führte seine Geschäfte mit der gleichen Strenge, mit der er früher seine Soldaten befehligt hatte. Und so wie Oberst Maimons Soldaten einst den Berg hinaufgeklettert waren, weil sie die schießenden Terroristen oben weniger fürchteten als den jähzornigen Kommandanten unten, so kletterten auch die Aktien der Firma, die Arie Maimon nach der Entlassung aus dem aktiven Armeedienst gegründet hatte, als wollten sie jede Wirtschaftsprognose übertreffen, nur um den feuerspeienden Blicken des Chefs zu entgehen.

Nicht Oberst Arie Maimon war für den Namen seines Sohnes verantwortlich, nein, den hatte – ein großes Entgegenkommen – die Mutter aussuchen dürfen, eine schöne junge Frau, die ihren Mann, den Staat und ihren Pilateslehrer bewunderte, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Während der Junge zum Jugendlichen heranwuchs, zeigte sich, dass er nichts vom Raubtiercharme seines Vaters geerbt hatte. Wenn ihn überhaupt etwas mit den großen Katzen verband, so höchstens die Möglichkeit, von ihnen gefressen zu werden.

In den ersten Jahren hatte Arie Maimon seinen Sohn noch angebrüllt und den strengen Blick, der Soldaten und Aktien anzutreiben vermochte, auch auf ihn gerichtet, doch irgendwann ließ er es sein. Inzwischen sehnte sich Lavie nach den donnernden Rügen, sogar nach dem wütenden Gebrüll. Alles war besser als die dünne Schicht des Schweigens, alles war besser als diese Stille, die von endgültiger Enttäuschung sprach.

Abends, wenn die Mutter sich andächtig auf die Pilatesstunde vorbereitete und der Vater behaglich vor dem Fernseher schnurrte, öffnete Lavie das Fenster in seinem Zimmer und schaute hinunter auf die Straße. Dort unten schäumte der städtische Strom. Jugendliche belagerten das Ufer der Bürgersteige und genossen ihre Ferien. Lavie hörte sie lachen und fragte sich, ob sie wohl weiterlachen würden, wenn sein Körper mit dumpfem Aufschlag auf den Pflastersteinen neben ihnen landete. Ob sich Mädchen hilfsbereit über ihn beugen und mit zartem Finger über sein Stoppelhaar fahren würden. Würden sie ihm wenigstens einen Blick schenken – wenn schon keinen mitleidigen, dann vielleicht einen interessierten – und das Handy zücken, um den Körper zu fotografieren, der vor ihnen ausgestreckt die Straße umarmte? Wie es war, ein Mädchen zu umarmen, hatte Lavie noch nicht erfahren dürfen.

So erglänzte die Stadt Abend für Abend im hellen Licht der Straßenlaternen, und Lavie Maimon stand am Fenster und sinnierte über seinen Tod, stellte sich die vielen Gesichter vor, die sich ihm zuwenden würden, wenn er vor der Eisdiele aufschlüge. Wäre an der Südgrenze des Landes nicht die Sommeroffensive ausgebrochen, die die Stadt mit Sirenengeheul überzog und die Zeitungsseiten eroberte, hätte Lavie seine Flugkünste längst erprobt. Aber er hatte keine Lust, auf den letzten Seiten begraben zu werden. Lieber warten, bis die Waffen schwiegen. Zu seinem Glück ließen die Kämpfe jedoch niemals ganz nach: Flauten sie im Süden ab, flammten sie im Norden wieder auf. Wie sollte sich da in den Zeitungen neben all den Kriegsberichten noch Platz für seinen Sturzflug finden? Also verschob er ihn von Tag zu Tag, und so rettete die Militäroffensive, die viele das Leben kostete, immerhin diesen einsamen Jungen aus der Stadt.

Während Lavie unter dem Gewicht des Löwen auf seinen Schultern wankte, drohte auch Nuphar Schalev unter der Last ihres Namens in die Knie zu gehen. Warum, um Himmels willen, meinte sie, ausgerechnet in der Eisdiele würde eine andere Nuphar aus ihr herausschlüpfen? Tapfer hatte sie sich jeden Morgen hinter die Theke gestellt. Währenddessen war der Sommer durch die Stadt gezogen und hatte mit ihr sein listiges, verschwitztes und verschmitztes Liebesspiel getrieben. Jetzt stand der Herbst vor der Tür, und alle Welt legte sich wieder eine seriöse Fassade zu. Bald müsste Nuphar zurück in die Schule, ohne eine einzige aufregende Geschichte im Rucksack – die einzigen aufregenden Geschichten in ihrem Leben waren ausgedacht und standen in ihrem Heft. Dabei hatte sie verzweifelt auf eine tolle Liebesaffäre mit einem Studenten, einem Touristen oder einem gepiercten Herumtreiber gehofft, der sie im Herbst am Schultor erwarten würde und dem sie vor aller Augen in die Arme laufen könnte.

Am Ende zog sie sogar ihren stumpf blickenden Kollegen aus der Eisdiele in Betracht. Zu fast allem war Nuphar bereit, nur um ihr letztes Schuljahr nicht mit leeren Händen antreten zu müssen, mit Fingern, die höchstens beim Herausgeben des Wechselgelds von einem Jungen berührt worden waren. Wenn sie hier wenigstens eine neue Freundin gefunden hätte. Wenn ihr ein anderes Augenpaar auch nur für eine Sekunde durch die Pupille direkt in die Seele geblickt hätte.

Im vierten Stock stand Lavie, der Löwe, und fixierte die Straße. Im Hinterhof stand Nuphar, die Seerose, und strich ihr Kleid glatt. Und keinem der beiden kam in den Sinn, dass er nicht als Einziger unter einem zu anspruchsvollen Namen litt. Vielleicht wäre ihnen leichter ums Herz gewesen, wenn sie gewusst hätten, dass irgendwo – auf der anderen Seite des Erdballs oder vier Etagen weiter oben – ein Mensch von ähnlichem Seelenschmerz gequält wurde. Aber vielleicht hätte das gar nichts genutzt, denn wem hilft es schon, wenn er Zahnschmerzen hat und im Wartezimmer beim Zahnarzt auch seinen Sitznachbarn stöhnen hört?

Obwohl Nuphar und Lavie nichts voneinander wissen, stoßen beide im gleichen Moment einen traurigen Seufzer aus. Und der einzige Unterschied liegt darin, dass Lavie Maimon am Fenster verharrt, während Nuphar Schalev plötzlich merkt, dass sie wieder einmal ihre Pause überzieht, und losrennt. So schnell rennt sie, als wüsste sie, dass sie nicht nur der Eisdiele entgegeneilt, sondern einem alles verändernden Augenblick, ihrem Schicksal, das vor der Glastheke bereits auf sie wartet.

2

In den langen Tagen hinter der Theke hatte Nuphar sich angewöhnt, an den Mienen der Kunden abzulesen, wer wohl zufällig vorbeigekommen war und wer die Eisdiele in fester Absicht angesteuert hatte. Die Laufkunden waren ihr lieber: Leute, die nach Lust und Laune flanierten, Zeit hatten und sich wie arglose Karpfen auf dem Bürgersteig treiben ließen, bis das einladende Schild der Eisdiele sie wie eine ausgelegte Angel einfing und hereinzog. Ganz anders hingegen die Zielstrebigen, die hier etwas Bestimmtes suchten: Entschädigung für einen harten Arbeitstag oder Trost für ein schwer geplagtes Herz.

Nuphar sah es an ihren unruhigen Augen, dem verkniffenen Mund, der immer noch mehr Sorten probieren wollte und mit keiner zufrieden war. Diese Kunden schluckten ihr Eis runter wie eine Kopfschmerztablette: alles auf einmal, damit es nur gleich zu wirken begann.

Mühelos erkannte Nuphar, dass der Kunde, der jetzt vor der Theke wartete, zu den Zielstrebigen gehörte. Ihn hatte kein sorgloser Spaziergang hierhergeführt, sondern eher ein gründlich misslungener Tag. Sie wünschte ihm einen guten Abend und wunderte sich nicht, dass die Erwiderung ausblieb. Dann erkundigte sie sich, was es für ihn sein dürfe, und gab sich alle Mühe zu lächeln, obwohl sie ganz erschöpft war von ihrem gehetzten Lauf in die Eisdiele und überhaupt von der Trostlosigkeit des Sommers. Der Mann musterte sie unwirsch und schimpfte, er stehe hier schon mindestens zehn Minuten. Wie lange müsse man in dieser Bude denn auf Bedienung warten?

Seine Behauptung war ungenau. Er stand keine zehn Minuten dort. In Wirklichkeit waren es höchstens fünf gewesen. Doch in diesen fünf Minuten hatte er per SMS eine Hiobsbotschaft von seinem Agenten erhalten, die Fernsehbosse hatten über die Sache nachgedacht und sich gegen eine weitere Talentshow entschieden. Was der Agent nicht erwähnte: Selbst wenn die Fernsehbosse von der Notwendigkeit einer neuen Talentshow überzeugt gewesen wären, hätten sie wohl auf die Dienste eines Sängers verzichtet, dessen Zeit vorbei war. Seit sieben Jahren vorbei war, um präzise zu sein.

Kaum zu glauben, wie rasch sieben Jahre verstrichen. Eben noch hatte er im Rampenlicht gestanden, auf den Titelseiten der Zeitungen. Anderthalb Millionen Textnachrichten waren in jener wunderbaren Nacht für ihn eingegangen, das ganze Land hatte ihm per SMS-Voting seine Liebe geschickt. Und jetzt verschwendete er seine Zeit in dieser erbärmlichen Eisdiele, und die erbärmliche Verkäuferin blickte ihn in Erwartung seiner Bestellung an, ohne das kleinste Zeichen des Wiedererkennens: Sie hatte keine Ahnung, wer er war.

Nachdem der Skandal abgeklungen war, fragte sich Avischai Milner, ob in jenem Augenblick alles seinen Anfang genommen hatte. Ein Mädchen hinter einer Eistheke sieht ihn aus leeren Augen an, und in dieser Leere verliert sich die Seele des Sängers. Das Dunkel der Anonymität verschlingt ihn, er stürzt in die Abgründe der Bedeutungslosigkeit. Beim Anblick des Mädchens hinter der Theke ringt Avischai Milner nach Atem. Mit letzter Kraft ruft er sich in Erinnerung, dass er nicht irgendein Kunde ist, sondern Avi-schai! Mil-ner! So hat der Moderator jenes Finales ihn als Sieger ausgerufen und Avischais Namen zerlegt, als bräche er frisches, ofenwarmes Brot, hat die Silben zum Vergnügen des Publikums im Saal in die Länge gezogen: Avi-schai! Mil-ner! Und das Publikum vor den Fernsehern hat ihm millionenfach zugejubelt.

In den darauffolgenden Wochen wurde ihm sein Name aus etlichen Kehlen zugehaucht, schöne Frauen stürzten sich in den Bars und Clubs auf ihn, wollten ihn kosten und sich von ihm kosten lassen. Er genoss ihre Körper, noch mehr aber genoss er sich selbst, er kopulierte bis zur Bewusstlosigkeit mit Avischai Milner. Jedes aus weiblichem Mund gestöhnte A-vi-schai war nur ein süßes Echo jenes unvergesslichen Augenblicks, in dem der Moderator den Umschlag öffnete, mit seinen gutmütigen Augen auf den Namen blickte und den Jungen aus der Provinzstadt in aller Öffentlichkeit zum König krönte: Avi-schai! Mil-ner!

Er verstand noch immer nicht, was hinterher falsch gelaufen war. Avischai Milner war kein besserer oder schlechterer Sänger als Eliran Vaknin, der vom selben Moderator ein Jahr zuvor gekrönt worden war und bis heute die Charts stürmte. Avischai Milner sah mindestens genauso gut aus wie Assi Scherig, der Sieger des Folgejahres, der es geschafft hatte, in einer Fernsehserie einen leidgeprüften Arzt zu verkörpern und in einer anderen einen leidgeprüften Soldaten und obendrein den leidgeprüften Vater eines autistischen Kindes in einem Spielfilm, der bald in die Kinos kommen würde.

Mehr als alles andere quälte Avischai Milner die Tatsache, dass sich für das ausbleibende Interesse keine plausible Erklärung fand, kein Charakterfehler, dem man die Schuld hätte zuschieben können, keine moralische Lektion, die das Schicksal ihm vielleicht erteilen wollte. Das völlig Willkürliche an seinem Abstieg bedrückte ihn, denn es deutete darauf hin, dass auch sein Aufstieg völlig willkürlich gewesen sein könnte. War sein Aufstieg womöglich nicht seiner Begabung zu verdanken, sondern einer Verknüpfung beliebiger Zufälle?

Die SMS seines Agenten erreichte Avischai nach quälenden Wochen des Wartens. Seit er den Fernsehbossen die neue Talentshow vorgestellt hatte, kämpfte er tagsüber gegen ein Würgen im Hals an und litt nachts an Schlafstörungen. Wie ein bockender wilder Stier hatte der Ruhm ihn abgeworfen und trampelte nun auf ihm herum, als er am Boden lag. Er musste irgendwie wieder auf die Beine kommen. Je länger die Fernsehbosse ihre Antwort aufschoben, desto heftiger hatte das Warten an seinen Nerven gezerrt. In seinen Träumen kam der Moderator auf ihn zu, nahm seine Hand und erklärte, nach der Werbung würden sie ein Duett singen, aber Avischai musste entsetzt feststellen, dass er den Text vergessen hatte, und das Mikrofon in seiner Hand verwandelte sich in eine Schlange.

Kurz gesagt, er hatte sich ein Eis verdient. Doch in der Eisdiele erwartete ihn gähnende Leere. Draußen saßen genüsslich schleckende Gäste, nur hinter der Theke war niemand.

Was braucht ein Mensch, den mitten in einer Eisdiele eine niederschmetternde Nachricht ereilt? Eine sichere Hand, die ihn tröstende Schokoladensorten probieren lässt, ein lächelndes Gesicht, das bereitwillig auf seine Bestellung wartet, Augen, die in seine blicken und ihm bestätigen, dass es ihn trotz allem immer noch gibt! Aber als Nuphar ihren Platz hinter der Theke wieder einnahm, erkannte sie nicht, dass sie es mit Avischai Milner zu tun hatte, und obwohl sie sich alle Mühe gab zu lächeln, vermochte dieses Lächeln die darunterliegende Traurigkeit nicht zu überdecken – wie damals, als sie eine zu enge Bluse anprobiert hatte und der Stoff das verlegene Fleisch nicht zu bedecken vermochte.

Avischai Milner konnte nicht wissen, dass Nuphar heute das Kleid ihrer schöneren Schwester trug. Er konnte nicht wissen, dass sie den ganzen Sommer lang täglich in der vergeblichen Hoffnung, ihrer Unscheinbarkeit zu entkommen, in die Eisdiele gefahren war. Er wusste nur, dass er schon zehn Minuten auf sein Eis wartete, und das ging auf keinen Fall.

»Das geht auf keinen Fall infrage«, schmetterte Avischai Milner dem Mädchen entgegen, und um zu verdeutlichen, wie ernst es ihm war, schlug er kräftig auf die Glastheke.

»Das kommt nicht infrage«, gab das Mädchen zurück.

»Wie bitte?!«

»›Das geht nicht infrage‹ ist falsch. Entweder ›Das kommt nicht infrage‹ oder ›Das geht auf keinen Fall‹.«

Als älteste Tochter einer Sprachlehrerin wusste Nuphar sehr wohl, dass es nichts Ätzenderes gab als eine Person, die einen korrigierte. Als öffnete man den Mund eines anderen, während der noch kaute, klaubte den Bissen heraus, steckte ihn sich selbst in den Mund und demonstrierte, wie man richtig zu kauen habe. Worte gehörten, wie Essenshappen, zu der Zunge, auf der sie lagen. Aber nun stand dieser Kunde vor ihr, ein übler Typ, der mit der Hand auf die Vitrine drosch und dort weitere fettige Fingerabdrücke hinterließ, und das nicht, um auf irgendeine Sorte zu zeigen. Die Hand deutete weder auf Mangosorbet noch auf Bourbon-Vanille. Nicht Begehren regierte hier, sondern männliche Anmaßung. Der Mann donnerte auf die Vitrine, einfach weil er es konnte.

Nuphar war an diesem Abend genau siebzehn Jahre und zwei Monate alt, und niemals im Leben war es ihr in den Sinn gekommen, irgendwo auf einen Tresen zu schlagen. So ist das eben. Es gibt Leute, die auf eine Glastheke eindreschen, und es gibt Leute, die stehen dahinter und fragen: »Und was darf es für Sie sein?«

An diesem Abend brach in Nuphar etwas auf. Die Clique um Jotam und Schir ging ins Kino. Das Kleid gehörte ihrer Schwester. Der abgelaufene Sommer war eine einzige Beleidigung. Die Beschwerde dieses Menschen hatte ihr gerade noch gefehlt – und wenn er sein Ego unbedingt befriedigen musste, dann sollte er es gefälligst grammatikalisch richtig tun. Etwas anderes kam gar nicht infrage.

Verblüfft blickte Avischai Milner auf die kleine Verkäuferin, die es wagte, ihn zu korrigieren. Eine solche Unverschämtheit war ihm noch nicht untergekommen. Er hielt sich für einen Mann der Worte, sogar seine Songs hatte er selbst geschrieben. Jetzt setzte er diese Begabung ein, um der Verkäuferin mit seinen Sätzen ins Fleisch zu schneiden: »So ein Kalbsauge wie du. Dumme Kuh. Du solltest dir die Brauen zupfen, bevor du unter Menschen gehst. Und diese Pickel! Hat dir denn noch keiner gesagt, dass man sie nicht ausdrücken darf ? Auf deinem Gesicht fehlen nur noch ein paar Oliven, dann kann man es als Pizza verkaufen. Aber lassen wir die Visage, woher kommt diese Wampe? Hat dein Chef dir nicht verraten, dass du wie ein Rindvieh aussiehst, wenn du zu viel frisst? Wer hat überhaupt Lust, dich zu ficken, sag mal? Ich nehme eine Kugel Vanille mit Crumbles.«

Schon hielt er ihr einen Zweihundert-Schekel-Schein hin, und Nuphar hinter ihrer Theke streckte automatisch die Hand aus. Wie ein geköpftes Huhn, das nach der Hinrichtung weiterrannte, griff sie nach einem Becher und spachtelte routinemäßig eine Portion hinein, bis ihr mitten in der Bewegung bewusst wurde, dass ihr der Kopf abgeschlagen worden war, dass dieser Mann ihr den Hals umgedreht und ihr Wesen getötet hatte. Sie ließ den Becher fallen und lief davon.

3

Die beiden Straßenkatzen waren gerade dabei, unter Kreischen und Maunzen ihre Paarung fortzusetzen, als erneut die Eisverkäuferin in den Hof stürzte und an ihnen vorbei zu den Toiletten rannte. Die wütenden Augen der Tiere folgten dem schluchzenden Eindringling, der jedoch zu erschüttert war, um sie wahrzunehmen. Die Beleidigungen des Kunden dröhnten Nuphar noch in den Ohren, Tränen füllten ihre Augen, ihre Nase, ihre Kehle. Was er ihr alles an den Kopf geworfen hatte! Und sie hatte sich das wortlos angehört! Beinahe hätte sie ihm in ihrer elenden Einfalt sogar noch ein Eis über die Theke gereicht. Jetzt aber wollte sie nur eins: verschwinden.

Die grausamen Sätze, die sie sich sonst selbst sagte, hatte ihr nun ein Fremder entgegengeschleudert: Du bist hässlich, haarig, pickelig, zu fett. Keiner interessiert sich für dich. Und obwohl sie in Wirklichkeit ein recht ansehnliches Geschöpf war, bildete sie sich jetzt ein, der Kunde an der Theke habe nur laut ausposaunt, was alle anderen, die Gäste an den Tischen, ihre Mitschüler, ihr Vater, ihre Mutter, ihre Schwester, im Stillen dachten.

Mit letzten Kräften wollte sie sich nur noch irgendwo einschließen, zur Not in der stinkenden Hütte im Hof, die sie kurz zuvor bereits aufgesucht hatte. Gleich würde sie dort sein, würde sich in den schützenden Porzellanschoß kauern, eingeklemmt zwischen Abfalleimer und aufgeklappter Kloschüssel, doch plötzlich spürte sie eine harte Hand am Arm.

In den nächsten Wochen wurde Avischai Milner immer wieder gefragt, was ihn veranlasst habe, der Minderjährigen aus der Eisdiele bis zur Toilette zu folgen. Er versicherte beharrlich, es sei ihm um das Wechselgeld gegangen, denn er sei der Meinung gewesen, die Kleine habe seinen Zweihundert-Schekel-Schein im Weglaufen an sich gerissen. Die dürren Fakten allerdings widersprachen Avischai Milners Aussage: Niemand hatte das Geld an sich gerissen, der Schein war einfach auf der Theke liegen geblieben. Avischai Milners Behauptung, er habe das Geld dort nicht gesehen, verblasste – genau wie die anderen Details in diesem Fall – angesichts der ungeheuren Wirkung des Schreis, den Nuphar in dem Augenblick ausstieß, als Avischai Milner ihren Arm umklammerte.

Der hübsche Jüngling an der Kasse hob den Kopf. Die rothaarige Verkäuferin hielt mitten im Falten eines Hemds inne. Die Katzen im heruntergekommenen Hof suchten schlagartig das Weite. Und der im vierten Stock auf der Fensterbank hockende Lavie Maimon wusste auf Anhieb, dass er seinen Absprung ein weiteres Mal verschieben müsste. Nuphar Schalev aber starrte den Mann an, der sie zutiefst gekränkt hatte und jetzt ihren Arm festhielt, und schrie aus Leibeskräften.

Manche Veränderungen vollziehen sich langsam. Die geologische Verwitterung beispielsweise schreitet zuweilen in Zehntausenden von Jahren voran. Wasser und Wind verwandeln nach und nach einen Bergrücken in ein Tal, einen See in eine Wüste – all das mit unendlicher Geduld. Die Zeit schlängelt sich träge wie eine riesige Anakonda dahin und verschlingt allmählich den höchsten Berg. Andere Veränderungen gehen schlagartig vor sich wie das Anzünden eines Streichholzes, es werde Dunkel, es werde Licht.

Die Verwandlung der Eisverkäuferin fiel offensichtlich in die zweite Kategorie. In den siebzehn Jahren und zwei Monaten ihres bisherigen Lebens war es ihr niemals eingefallen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen oder in Hinterhöfen zu schreien. Aber jetzt, im Griff des Mannes, der ihr die gemeinsten Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte, geriet ihre Mädchenseele in Aufruhr. Eigentlich war sie aus der Eisdiele geflüchtet, um vom Erdboden zu verschwinden, doch als der Mann sie am Arm packte, schlug dieser instinktive Wunsch ins Gegenteil um – in den Drang, sich Gehör zu verschaffen.

In ihrem Schrei lag die Kränkung, die der Mann ihr zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Kränkung, die sie selbst sich zugefügt hatte. In ihrem Schrei lag die Enttäuschung dieses Sommers und all der Sommer davor. Sie schrie und schrie und schrie und hörte nicht, dass die Martinshörner der alarmierten Polizeiwagen ihr antworteten und auch die Feuerwehr mit ihren Sirenen einstimmte, denn so ist es nun einmal: Ein Schakal heult, und hundert Schakale antworten ihm aus der Finsternis. Nuphar Schalev schrie, und die Stadt erwiderte ihren Schrei doppelt und dreifach.

Die ganze Straße eilte herbei, um nachzusehen, was in dem heruntergekommenen Hinterhof passiert war, und da das, was passiert war, Nuphar Schalev passiert war, richteten alle den Blick auf sie. Der hübsche Jüngling von der Kasse. Die rothaarige Verkäuferin. Die Anwohner auf den Balkonen. Zwei Verkehrspolizisten. Sogar gepiercte Mitglieder einer Straßengang, die sich eigentlich für niemanden interessierten und für die sich ebenfalls niemand interessierte, fanden sich zum Gaffen ein. Nuphar wurde von dem Licht überflutet, das menschliche Augenpaare produzieren, wenn sie eine Person offen anblicken, von dem Licht der Pupillen, die sich jetzt wie durch ein Wunder auf eine Person richteten, an der zuvor noch nie ein Blick hängen geblieben war. Schon eilt eine schöne Soldatin so eifrig zu Nuphar, dass ihr blonder Pferdeschwanz lichtsprühend das Gummiband sprengt, nimmt das erschrockene Mädchen in die Arme, sagt ihr, alles würde gut werden – mit einer solchen Gewissheit, als spräche sie für alle Sicherheitskräfte des Landes. Nuphar überlässt sich der wohltuenden Umarmung, und es scheint ihr, als wäre sie noch nie so gehalten worden. Der feine Duft der uniformierten Fee umfängt sie, und dazu gesellt sich ein anderer, eher männlicher Geruch, von dem Offizier, der auf der Straße soeben noch die Taille der Soldatin umschlungen hat und mit ihr in den Hof gerannt ist. Und während die Soldatin Nuphar noch beruhigt, halten der Offizier und die beiden Verkehrspolizisten Avischai Milner fest und verlangen zu wissen, was er der jungen Eisverkäuferin angetan habe, dass sie so in Angst und Schrecken geraten sei.

Nichts, schrie er, ich habe ihr nichts getan, und das unglückliche Mädchen erzitterte in der mitfühlenden Umarmung, denn sie wusste, das stimmte, dieser rüde Kunde hatte ihr nichts angetan, was die Anwesenheit zweier Verkehrspolizisten und eines Hauptmanns der Armee rechtfertigte. Schließlich durfte ein Bürger dieses Landes das Herz eines anderen durchbohren, solange es nur mit Worten geschah. Gleich würde Nuphar das allen erklären müssen, der Soldatin mit den gütigen Augen, den vielen Leuten, die sie so liebevoll anschauten, wie sie es noch nie erlebt hatte. Alle brachten ihr so viel Zuneigung, so viel Interesse entgegen. Was würden sie sagen, wenn sie erfuhren, dass eigentlich gar nichts geschehen war, dass sie ohne triftigen Grund herbeigerannt waren? Die Polizisten würden Nuphar sicher ermahnen, weil sie einen Aufruhr verursacht hatte, und sie würde ergeben den Kopf senken, wie sie es immer tat. Dann würde sie in die Eisdiele zurückkehren und die wartenden Kunden bedienen, die Glasflächen abwischen, höflich fragen, in einer Waffel oder einem Becher, und womit kann ich dienen, und was darf es für Sie sein.

Tatsächlich war sie bereit, all das auf sich zu nehmen, und hätte es wohl auch getan, wenn Avischai Milner nur sein dreckiges Mundwerk gehalten hätte. Aber der hatte sich offenbar noch nicht vollends ausgetobt. Oder sich rasch wieder aufgeladen, wie jene Telefone, die kurz vor dem Ausgehen an eine Stromquelle angeschlossen wurden. So war es auch bei Avischai Milner: Die Blicke der Leute luden ihn wieder auf. Wie hatte er sich nach einem solchen Publikum gesehnt, nach Alten und Jungen, Soldaten und Polizisten, genau wie der Moderator es damals formuliert hatte: Ganz Israel ist hier und heute bei uns. Plötzlich stieg das berauschende Gefühl in ihm auf, das ihn immer durchströmte, wenn er im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand und sich jede Sekunde wie eine Kernspaltung anfühlte. Der Umstand, dass die Beachtung diesmal eine negative war – niemand warf ihm Blumen zu, niemand applaudierte –, erschütterte ihn bis ins Mark. Ihm gebührte die Gunst des Publikums, es konnte nicht angehen, dass diese dumme Kuh, die es gewagt hatte, ihn vor der Eisvitrine verdorren zu lassen, ihn zu korrigieren und dann auch noch mit seinem Geld abzuhauen, ihm jetzt die Show stahl.

Erneut bombardierte er sie mit Schimpfwörtern, und seinen Schmähungen ging es wie Heißluftballons – das Feuer hob sie in die Lüfte. »Du feistes Flusspferd, nicht mal mit einem Stock hätte ich dich angerührt«, gefolgt von einem weiteren Arsenal an Beleidigungen. Dem Mädchen traten Tränen in die Augen, erst hatte er sie in der leeren Eisdiele beleidigt, und jetzt tat er es vor allen Leuten. Verzweifelt befreite sie sich aus den Armen der schönen Soldatin und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Jenseits ihrer Finger brach ein Tumult aus. Alle fragten etwas, doch Nuphar hörte nichts, war taub vor Schluchzen, und es war nicht ihre Schuld, dass außenstehende Betrachter jeden Schluchzer als ein Nicken auslegten. »Hat er dich angefasst«, fragten sie, und das bedeckte Gesicht erzitterte, das hieß, bestätigte, und jeder weitere Jammerlaut unterstrich dies, und jedes weitere Nicken verwies bereits auf eine Schlagzeile in der Zeitung von morgen. Welchem Wunder war es zu verdanken, dass aus dem heruntergekommenen Hinterhof unversehens die folgende Story aufstieg: Versuchte Vergewaltigung einer Minderjährigen – Ex-Star verdächtigt. Und alle sahen die neugeborene Geschichte und sahen, dass sie gut war. Einfach großartig.

Katzenjunge stehen wenige Tage nach der Geburt auf ihren Pfötchen. Fohlen richten sich bereits nach einer Stunde auf. Nur Menschenbabys brauchen, langsam wie sie nun mal sind, etliche Monate, bevor sie sich aus eigener Kraft aufrichten. Der Gemächlichkeit des menschlichen Wachstums steht die erstaunliche Geschwindigkeit gegenüber, mit der sich eine von Menschen gemachte Geschichte entwickelt: Jemand setzt sie in die Welt, und schon steht sie auf eigenen Beinen, besonders, wenn sie den Ruch des Skandalösen hat. Eine Sekunde schmiegt sie sich noch an ihren Erzeuger, in der nächsten galoppiert sie schon davon, und die Frage lautet nicht, woher sie kommt, sondern wohin sie unterwegs ist und wie weit sie gelangen wird, bevor das Naturgesetz, das allen Lauf anhält, auch ihr Einhalt gebietet.

Die Moritat vom berühmten Sänger und der minderjährigen Eisverkäuferin erblickte um achtzehn Uhr neunundvierzig das Licht der Welt, im Bußemonat Elul. Für einen kurzen Augenblick verharrt die neugeborene Geschichte an ihrem Geburtsort, atmet die würzige Abendluft, dann hält sie es keine Minute länger im Hinterhof aus. Da stürmt sie davon, und der Hof leert sich so schnell, wie er sich zuvor gefüllt hat. Die Verkehrspolizisten, die Feuerwehrleute, die blonde Soldatin und ihr Offizier ziehen ab, genauso wie die stolzen Eltern der Geschichte, der berühmte Sänger und die minderjährige Eisverkäuferin. Schon jetzt kann man nicht mehr sagen, ob die beiden die Geschichte vorwärtstreiben oder die Geschichte sie. Der Hinterhof jedenfalls ist zu eng für die drei geworden, in ihrer jetzigen Größe brauchen sie mehr Platz zum Leben, zum Beispiel im Polizeirevier an der Hauptstraße.

4

Im Polizeirevier an der Hauptstraße brachte man Nuphar Wasser und Tee, später auch Coca-Cola. Man schnitt ihr ein Stück vom Honigkuchen ab, den eine der Telefonistinnen mitgebracht hatte, und bot ihr einen Stuhl an. Als sie auf die Sitzfläche sank, seufzte sie erleichtert. Sie hatte ja den ganzen Sommer lang fast ununterbrochen stehen müssen. Ständig strömten Kunden in die Eisdiele, und wenn sie gegangen waren, polierte Nuphar rasch die Glastheke. Kaum glänzte die wieder, trafen auch schon neue Kunden ein, und so ging es endlos weiter. Jetzt aber durfte sie die Beine ausstrecken, hielt ein Glas kühler, munter sprudelnder Cola in der Hand und wurde immer wieder gefragt, was denn nun passiert sei.

Die sympathische Frau, die Nuphar gegenübersaß und sich zu ihr vorbeugte, hatte zarte Hände und dezent, fast durchsichtig lackierte Fingernägel. Sie stellte sich mit »Dorit« vor und äußerte die Vermutung, es falle Nuphar sicher schwer, Fragen zu beantworten und über das Geschehene zu reden. Aber das tat es gar nicht. Viel schwerer zu ertragen war es, wenn man nichts gefragt wurde. Wenn ein ganzer Tag oder eine ganze Woche oder ein ganzer Sommer ohne eine Unterhaltung verging.