Über Annette Dittert

Foto: Paulo Ricca

Annette Dittert arbeitet seit vielen Jahren als Journalistin für die ARD, seit 2001 als Korrespondentin u. a. in Moskau, New York und Warschau. Von 2008 bis 2015 berichtete sie aus der britischen Hauptstadt. Ihr Video-Blog »London Calling« erschien in 100 Folgen bei tagesschau.de. Die Wahl-Londonerin lebt und arbeitet in Hamburg und auf einem Hausboot in Little Venice.

www.annettedittert.de

Paddington, der Bär

Ein paar Worte zur aktuellen Lage

Ich bin noch immer hier. Auf Emilia, meinem kleinen Kanalboot, mitten in London. Noch immer hier zu Hause und verwurzelt, so gut das auf einem schwimmenden Domizil eben geht. Wenn auch mit zunehmend schwerem Herzen. Hope dies last, diesen Spruch gibt es nicht nur auf Deutsch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Nun kommt der Brexit. In welcher Form auch immer. Alles andere bleibt unsicher. Jetzt, da die Hoffnung erst einmal verflogen ist, setzt auch endlich eine innere Ruhe ein, Ernüchterung und die Erkenntnis, wie viel Kraft das zurückliegende Chaos und die Hoffnung gekostet hat. Was bleibt, ist ein bleierner Schwebezustand. Kaum der richtige Zeitpunkt, um lebenswichtige Entscheidungen zu treffen. Und London ist weiterhin die schönste Stadt der Welt. Eine Stadt, die schon ganz andere Dinge überstanden hat. Auch wenn das, was nun passiert, ihr Gesicht und das der ganzen Insel so gründlich verändern dürfte, wie es nur wenige politische Ereignisse seit dem Zweiten Weltkrieg vermocht haben.

Mit den Wahlen vom 12. Dezember 2019 haben sich die Briten nach dreieinhalb Jahren quälendem Hin und Her für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Mit Boris Johnson als Premierminister wird der Brexit im Laufe der nächsten Monate nun wirklich passieren. Es wird eine Zäsur auf sehr lange Zeit sein. Als überzeugte Europäerin hatte ich, wie so viele Briten, bis zum Schluss auf einen anderen Ausgang gehofft. Es war keineswegs so, dass das Land begeistert für Boris Johnson und den EU-Austritt gestimmt hat. Bis in den Dezember 2019 hinein war Umfragen zufolge gut die Hälfte der Briten nicht überzeugt davon, dass der Brexit die richtige Entscheidung für ihr Land wäre. Am Ende aber gewann eine Mischung aus Erschöpfung und Verzweiflung über die gefühlt ewig andauernden Streitereien im Parlament, die nirgendwo hinzuführen schienen. Es gewann ein Slogan, der das alles so leicht und einfach zu beenden versprach: »Get Brexit done!« Drei Worte, die sich jeder merken konnte und die versprachen, das leidige Thema ein für alle Mal zu erledigen. Vielleicht die größte Lüge in einem Wahlkampf, den Boris Johnson überwiegend mit populistischen Parolen bestritt. Denn das, was jetzt beginnt, ist kein Ende, sondern nur der Anfang einer jahre-, vielleicht jahrzehntelangen Geisterfahrt der Briten in eine überaus ungewisse Zukunft.

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, lag das Referendum von 2016 genau ein Jahr zurück, und noch war es unklar, in welche Richtung die Insel treiben würde. Die Geschichten, die ich hier versammelt habe, sind so auch Geschichten über die englische Seele. Ein Versuch, die Entscheidung für den Brexit auf einer tieferen Ebene zu verstehen. Geschichten, die beim Wiederlesen heute manchmal Lichtjahre entfernt scheinen und doch brennend aktuell geblieben sind. Damals wie heute liegen die zentralen Beweggründe für den Brexit nicht in Brüssel, sondern tief im Herzen der englischen Klassengesellschaft begraben. So paradox es klingt: die Motive, die zum britischen EU-Austritt führten, haben mit Brüssel und Europa bis heute nur wenig zu tun. Sie gründen stattdessen in Antagonismen, die die britische Gesellschaft damals wie heute zu zerreißen drohen. Die schreienden Ungleichheiten zwischen Nord und Süd, zwischen arm und reich, zwischen Eton und Essex.

Im Norden Englands traf ich 2017 in Hull auf Menschen aus der sogenannten working class, die für den EU-Austritt gestimmt hatten, weil sie dem arroganten London und der dort beheimateten upper class endlich zeigen wollten, wo der Hammer hängt. Es war eine Reise voller Überraschungen. Ich habe selten mit den Briten so viel gelacht über die verfahrene Situation, in die ihr Land geraten war, wie hier oben. Dass der EU-Austritt keines ihrer Probleme lösen würde, wollte dennoch niemand glauben.

In Hull habe ich das erste Mal die unbeirrbare Sturheit der britischen Anarchie in voller Ausprägung erfahren. Siemens hatte 2016 angekündigt, eine geplante Werkerweiterung abzublasen, sollte es eine Mehrheit für den Brexit geben. Am Ende stimmte Hull nicht trotz, sondern wegen dieser Warnung dafür. Mit Drohungen kommt man bei den Bewohnern der Insel nicht weit. Tatsächlich führte ihre Entscheidung dazu, dass viele von ihnen in den folgenden Jahren ihren Arbeitsplatz verloren, während es London und dem sogenannten Establishment weiter bestens geht. So sehr die drastische Ungleichheit zwischen den sozialen Schichten auf der Insel eine grundlegende Rolle beim Referendum gespielt hat, so sehr dürfte dessen Ergebnis sie verfestigen.

Und dennoch stimmte jetzt, gut drei Jahre später, ein großer Teil der traditionellen Labour-Wähler für Boris Johnson und seinen Brexit, nachdem er sich im Wahlkampf bis zur Lächerlichkeit als erster Vertreter der englischen Arbeiterklasse stilisiert hatte. Ob er im weißen Kittel durch den Fischmarkt von Grimsby zog oder mit gelb leuchtendem Schutzhelm über brachliegende Baustellen - die zynische Travestie dieser Aufführungen wurde von vielen wissentlich übersehen.

»Ja, er ist ein Lügner«, sagten mir viele Wähler in den ehemaligen Labour-Hochburgen im Dezember 2019, »aber er wird den Brexit jetzt durchziehen, und damit uns und unser Votum respektieren, so wie es sonst keiner tut.« Dass die treibende Kraft hinter dem Brexit tatsächlich die konservative upper class in London war, die eine Unterordnung unter Brüsseler Regeln für unerträglich hielt, aus Gründen, die sie rational bis heute kaum vermitteln kann, das entging den meisten in den entscheidenden Wahlkreisen im Norden Englands. Oder es war ihnen egal, weil es in Wirklichkeit gar keine echte Wahl gab. Denn auf der anderen Seite des Parteienspektrums klaffte eine auffällige Leerstelle.

Die tragische Rolle Jeremy Corbyns, unter dessen Führung die Labour-Partei im Dezember 2019 so vernichtend verlor, dass sie sich auf viele Jahre nicht davon erholen wird, ist das andere große Thema, über das die Geschichtsbücher später einmal rätseln werden, wenn sie zu verstehen versuchen, wie die Briten in den Brexit stolperten. Corbyn war dafür ein wesentlicher Faktor. Denn sein Unwille, beim Brexit eine klare Position zu beziehen, ließ viele Labour-Wähler ratlos zurück, während seine Unfähigkeit zu führen die Partei gleichzeitig in einem Morast aus linkem Populismus, Antisemitismus und parteiinternen Fehden versinken und sie so alles andere als attraktiv erscheinen ließ.

Die eigentliche Tragik aber lag noch tiefer. Mit seiner unentschiedenen Haltung hatte Corbyn den Brexit grundsätzlich legitimiert. Hätte er seinen Wählern von Anfang an vermittelt, dass die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts im Wesentlichen von ihnen gezahlt werden würden, wäre das Stück sicher anders ausgegangen. Aber Jeremy Corbyn, selbst befangen in der antieuropäischen Tradition des altlinken Flügels der Labour-Partei, konnte sich so lange nicht dazu durchringen, bis es zu spät war, und der Brexit, der als quasi-religiöser Kult am äußersten rechten Rand der Tory-Partei begonnen hatte, auch bei den Wählern der alten Arbeiterklasse als rosiger Zukunftsentwurf durchging. Mitten in einer der entscheidendsten Phasen der britischen Geschichte fand sich das Land ohne echte Opposition wieder. Das ist das fatale Vermächtnis der Labour-Partei unter Jeremy Corbyn.

Auf diese derart geschwächte politische Landschaft ließ Boris Johnson seit dem Sommer 2019 erfolgreich die geballten Kräfte einer populistischen Kampagne los, deren Folgewirkungen langfristig mehr Schaden anrichten dürften als der Brexit selbst.

Diese Form des Populismus, die jetzt mit ihm den öffentlichen Raum erobert, ist eine autoritäre Vision der Demokratie, die ihre Legitimität aus dem sogenannten will of the people bezieht. Das Ergebnis des Referendums wird als Volkswille dem Prinzip der parlamentarischen Demokratie entgegengesetzt. Ein Wille, der, einmal an die Exekutive übertragen, nicht wieder neu infrage gestellt werden darf.

Zaghafte Versuche, mit populistischen Parolen zu punkten, gab es zwar schon vorher. Aber mit deutlich weniger Durchschlagskraft. Theresa May experimentierte bereits 2017 damit. Im März 2019, nachdem sie wieder und wieder am Parlament gescheitert war, versuchte sie sich in einer verzweifelten Rede ans Volk als dessen direkte Vertreterin darzustellen. Am 20. März spielte sie das erste Mal den »Willen des Volkes« ganz offen gegen den Willen des Parlaments aus, und versetzte so dem politischen System Großbritanniens, der parlamentarischen Demokratie, einen ersten entscheidenden Schlag.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich kurz vor einer Schalte in die Tagesthemen fassungslos vor dem Bildschirm saß, als Theresa May, mit starrem Blick an ihr Holzpult geklammert, zwei überdimensionale Union Jacks im Rücken, roboterhaft erklärte, sie sei nun entschlossen, auch gegen den Willen des Parlaments das zu tun, was das Volk wolle und wofür es gestimmt habe. Das Volk habe genug von seinen Abgeordneten. Mays Rede als solche war desaströs, und beschleunigte ihr politisches Ende, anstatt es aufzuhalten. Denn Theresa May eignete sich nicht als autoritäre Führerin, ihr fehlte das Gen der absoluten Rücksichtslosigkeit, das die Alphatiere unter den derzeit erfolgreichen Populisten auszeichnet. Männer, die ein Herrschaftssystem der Vergangenheit verkörpern. Boris Johnson hingegen ist so jemand. Der Boden für diese Politik aber war bereitet.

Von heute aus betrachtet war es nur folgerichtig, dass Johnson direkt nach dem Rücktritt Theresa Mays mit großer Mehrheit von der konservativen Partei zu ihrem Anführer gewählt wurde. Von einer Basis, der zwar nicht ganz wohl war angesichts der chronischen Unzuverlässigkeit eines Mannes, der sich bis dahin in jedem politischen Amt als mehr oder weniger seriöser Polit-Clown aufgeführt hatte, aber dennoch: »He is a winner«, sagte mir jeder Konservative, den ich in diesen Wochen zu Johnson befragte. Der Rest sei Nebensache. Denn eins unterscheidet die konservative Partei von allen anderen Parteien in Großbritannien: Der unbedingte Wille zur Macht und die Bereitschaft, dafür alles zu opfern. In dieser Hinsicht war Johnson der perfekte Parteichef. Seine generelle Prinzipienlosigkeit dürfte es ihm leichter gemacht haben, dem Kompass seines politischen Instinkts zu folgen. Und dessen Nadel zeigte klar in eben jene Richtung, in die es bereits Donald Trump getrieben hat, in die Richtung eines autokratischen Populismus, der die Institutionen der parlamentarischen Demokratie zutiefst verachtet.

Von dem Moment an, als Johnson im Juli sein Amt antrat, gab er sich ganz unverhohlen offensiv als der Vertreter des Volkes gegenüber einem Parlament, das angeblich seine demokratische Legitimität verloren hatte. Den Wahlkampf führte er nicht gegen eine andere Partei, sondern gegen die Institutionen der britischen Demokratie als solche. Wo May noch zögernd und mit sichtlichem Unwohlsein die Populismuskarte gezogen hatte, warf Johnson sie laut und triumphierend auf den Tisch. Er selbst hatte zwar gleich zwei Mal als Abgeordneter Mays Deal im Unterhaus niedergestimmt, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Als Premier war sein eigentlicher Gegner das Parlament, das die Verhandlungen mit Brüssel sabotiert und sich dem demokratischen Willen der Mehrheit der Briten entgegengestellt habe.

Dass mindestens die Hälfte der Briten zu diesem Zeitpunkt für ein zweites Referendum war, nachdem sich die Versprechen der Brexiteers von 2016 als Lügen herausgestellt hatten, galt nicht mehr. Der Wille des Volkes wird eben nur einmal akzeptiert. Danach geht er auf die jeweils herrschende Exekutive über.

Als ich in der alles entscheidenden Wahlnacht, am 12. Dezember 2019, nach Hause kam und vorsichtig die rutschigen Planken betrat, die auf mein Kanalboot führen, erreichte mich das, was ich ein paar Stunden zuvor so klar und kühl in der ARD verkündet hatte, auch allmählich selbst. Es war vorbei. Der Regen trommelte unerbittlich auf das Stahldach, als ich nach mehrfachen Versuchen die feuchten Holzscheite in meinem kleinen Ofen endlich zum Glühen gebracht hatte. Mit der Wärme breitete sich auch die Gewissheit aus, dass ab sofort eine neue politische Ära beginnen würde. Der dreieinhalb Jahre andauernde Kampf zwischen Brexiteers und dem Remain-Lager war mit dem klaren Wahlsieg Boris Johnsons entschieden. Wenn auch nur gut 40 % der Wähler für die Tories und damit für Johnson und den Brexit gestimmt hatten, aber das britische Wahlrecht ist nun einmal wie es ist. Wer hier verliert, der verliert gründlich und hat sein Schicksal klaglos zu akzeptieren.

Die Engländer kennen keine Grautöne, kein Miteinander, kein dazwischen: Es gibt das Duell, die Konfrontation, aber keine Schattierungen oder Übergänge. Vielleicht ist man hier auch deshalb so ganz besonders besessen vom Sport. Nur einer kann gewinnen. In der Schule und in den berühmten Internaten ist es nicht anders, und auch nicht in der Politik. Im Unterhaus sitzen Regierung und Opposition sich gegenüber. Ein Miteinander ist nicht vorgesehen. Koalitionen und Kompromisse gelten als Fehler im System. Wer sie verficht, ist ein Schwächling, der nicht verlieren kann. Und wahrscheinlich liegt darin auch einer der wesentlichen Gründe, warum das Konzept der friedlichen Kooperation, das die EU im Kern ausmacht, vielen Briten so grundsätzlich wesensfremd erscheint.

Die Textnachrichten, die ich noch in der Nacht von meinen Nachbarn bekam, die fast alle auf einen anderen Ausgang gehofft hatten, spiegelten fast so etwas wie Erleichterung angesichts der erlittenen Niederlage. »It’s over. Let’s talk about something else from tomorrow«, schrieb mir Fiona, die einst im Brexit-Department gearbeitet und es zwischenzeitlich verlassen hatte. Eine Figur, der Sie in diesem Buch noch öfter begegnen werden. Die kleine Ellen vom Boot gegenüber die den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte, nachdem sie erfuhr, dass sie für den Brexit gestimmt hatten, erklärte mir nun, sie demnächst wieder besuchen zu wollen: »It’s time to move on.«

All diese Risse aber werden allenfalls oberflächlich verheilen. Das, was Boris Johnson immer wieder versprochen hat, den schnellen und schmerzlose Bruch mit der EU, wird so nicht kommen. Die Trennung wird hässlich werden und in den kommenden Monaten dürfte sich das Theater der letzten drei Jahre in vielerlei Varianten wiederholen. Es sei denn, Boris Johnson macht seinem Ruf als fundamental unzuverlässige Figur alle Ehre und wandelt sich, gepolstert mit einer sicheren Mehrheit von 80 Abgeordneten, vom Saulus zum Paulus. Zu einem Politiker, der dieses zerrissene Land ernsthaft zu befrieden versucht, der den verarmten Wahlkreisen im Norden Englands mit echten Strukturhilfen statt mit symbolischen Geldgeschenken auf die Beine hilft. Könnte er ein Premierminister sein, der statt eines harten Brexit eine engere Anbindung an die EU vorantreibt und das Land auch sonst nah an der politischen Grundidee der EU hält, an der Idee der liberalen Demokratie? Die Macht dazu hätte er.

Die ersten Zeichen seit seiner Wiederwahl aber deuten in eine ganz andere Richtung. Nur wenige Tage nach dem 12. Dezember drohten Johnsons Minister der BBC indirekt mit einem Entzug der Gebühren. Und noch kurz vor Weihnachten, am 20. Dezember, rief Johnson im Unterhaus eine Kommission ins Leben, die sich die Stellung und Befugnisse des Supreme Courts »genauer ansehen werde«. Eben jener Supreme Court hatte Johnsons Entscheidung, das Parlament im Herbst 2019 einfach zu schließen, weil ihm dessen Haltung nicht passte, für illegal erklärt.

Was nach billiger Rache klingt, könnte den Beginn einer allmählichen Schwächung der parlamentarischen Demokratie in Großbritannien markieren. Wenn öffentlich-rechtliche Medien von der Regierung attackiert werden, wenn Gerichte politisiert und das Parlament angegriffen werden, steht viel auf dem Spiel. Noch ist für uns Deutsche schwer vorstellbar, dass das ausgerechnet in diesem immer wieder als Mutterland der Demokratie so verehrten Großbritannien geschieht. Aber vieles sieht derzeit danach aus.

Natürlich gibt es auch weiterhin das humane, liberale und pragmatisch-vernünftige England, auch wenn dieser Teil der Briten im Moment resigniert zu haben scheint. Natürlich gibt es auch weiterhin all die wunderbaren Menschen, die diese Insel für mich so liebenswert machen. Und außerdem ist da nach wie vor London, die Stadt, in der ich nun einmal zu Hause bin. Der für mich nach wie vor aufregendste Ort der Welt, über dessen verborgene Schätze und Orte dieses Buch ebenfalls viele Geschichten erzählt, die nach wie vor gültig sind. Das Großbritannien nach dem Brexit ist schließlich nicht plötzlich ein ganz anderes Land. Aber es könnte fremder werden in Zukunft, je nachdem in welche Richtung Boris Johnson es führen wird.

Ich habe meine Aufgabe als Journalistin immer darin gesehen, die politischen Verhältnisse eines Landes so zu beschreiben wie sie sind. Damit ist es aber auch unsere Pflicht, Lügen und Widersprüche der gewählten Vertreter der Demokratie zu spiegeln und sie auf diesem Wege immer wieder an ihre Verantwortung zu erinnern. Das gilt auch für uns Auslandskorrespondenten, da unsere Arbeit auf Umwegen immer auch auf das Land zurückstrahlt, in dem wir zu Gast sind. Wenn es je eine Zeit gegeben hat, in der Journalisten hier auf der Insel in dieser Hinsicht eine echte Aufgabe haben, dann jetzt. Also bleibe ich noch eine Weile. Als Mensch mit gemischten Gefühlen, als Journalistin in der Gewissheit, dass das Berichten von hier in den nächsten Jahren nicht leichter, aber wichtiger werden wird.

Noch ist nicht die Zeit zu gehen.

 

London, Anfang Januar 2020

Kann man sich in eine Stadt verlieben? So, wie man sich sonst nur in einen Menschen verliebt? Die gleiche todsichere Entschlossenheit spüren, als würde man mit niemand anderem den Rest seines Lebens verbringen wollen? Das mag exzentrisch und exaltiert klingen. Aber es ist mir genauso passiert. Vielleicht lag es an der Stadt. Einer Stadt, der man nachsagt, dass sie eine überdurchschnittliche Anzahl exaltierter Bewohner beherbergt, und das seit vielen Jahrhunderten.

 

Es geht um London, um wen sonst.

 

Damals, als ich hier an einem unerwartet warmen, leichten und schon dadurch verheißungsvollen Apriltag das erste Mal ankam, nahm London mich so freundlich auf, so mild und liebenswürdig, wie es den meisten Fremden begegnete. Diese Stadt, die immer gelassen blieb, auch wenn noch so viele seltsame Gestalten hindurchzogen. So gelassen, wie man nur sein kann, wenn man selbst sehr viel erlebt hat und am Ende feststellt, dass all das den eigenen Kern kaum je wirklich

London ist so jemand.

Vielleicht schien mir London auch deshalb der Ort, an dem ich endlich ankommen konnte, nachdem mein Leben bis dahin von ständiger Unruhe gezeichnet war. Mehr als fünfzehn Jahre hatte ich als Auslandskorrespondentin überall auf der Welt verbracht. Meine letzte Station war New York gewesen, wo kein Stein lange auf dem anderen bleibt. Nach dieser atemlos wurzellosen Zeit war London, das so sicher auf festem Boden zu stehen schien, eine echte Überraschung.

 

»When it’s three o’clock in New York, it’s still 1938 in London.«

 

Das hat Bette Midler einmal gesagt. Und treffender kann man den Kontrast zwischen den beiden Metropolen kaum beschreiben. An jenem warmen Apriltag, an dem London und ich uns kennenlernten, hätte es mich deshalb auch nicht im Geringsten gewundert, wenn mir auf den Straßen von Westminster plötzlich Winston Churchill begegnet wäre, oder Mary Poppins mit ihrem Regenschirm. Stattdessen kreuzte Emily meinen Weg. Ein altes Kanalboot, über das ich bei Dreharbeiten für einen Film gestolpert war. Die ungemein britische Sehnsucht nach der Vergangenheit hatte mich sehr bald angesteckt, und so kaufte ich es nach nur einem Jahr und gab ihm diesen für mich schönsten aller englischen Namen. Emily wurde mein Londoner Anker.

Die Londoner Mieten waren schon damals auf dem Weg ins Unermessliche, und ich begriff allmählich, dass in dieser Stadt nur bleiben konnte, wer wirklich Geld hatte oder aber

 

Vielleicht hatte ich aber auch die leise Vorahnung, es sei sicherer, ein Zuhause zu haben, mit dem man im Zweifelsfall wieder davonschwimmen konnte. Heute denke ich darüber weit häufiger nach als damals. Genauer gesagt, seit dem 23. Juni 2016.

An diesem Tag entschied sich bekanntermaßen eine knappe Mehrheit der Briten dafür, Europa zu verlassen. Seitdem ist auf der Insel nichts mehr, wie es war. Die urbritische Gelassenheit scheint verloren, zumindest für den Moment. Stattdessen schwankt das Land jetzt zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex. Ein hässlicher scharfer Ton ist ausgebrochen. Ein Ton, den ich von den notorisch gemäßigten Engländern nie erwartet hätte.

Selbst über meinem kleinen Kanal in London liegt seitdem so etwas wie ein Nebel, der sich auch in den glücklichsten Momenten nicht mehr ganz auflöst. Seit dem Sommer 2016 sind wir Europäer auf der Insel sogenannte Citizens of Nowhere, wie Theresa May neuerdings Menschen aus Europa nennt, die sich Großbritannien zur zweiten oder gar ersten Heimat erkoren haben. Zumindest erklärte sie das kurz nach dem 23. Juni 2016 in einer flammenden Rede beim Tory-Parteitag in Manchester, in der sie auch sonst euphorisch die Rückkehr zu einem englischen Nationalismus feierte, den ich längst für obsolet gehalten hatte. Verbrämt als nostalgische Wiederauferstehung des alten Empire-Gedankens.

 

Emilia, die grown up version der alten Emily, ist deutlich weniger englisch als mein erstes feuchtes Oldtimerboot. Die Wände sind dreifach isoliert. Und es zieht nicht mehr durch die Fenster. Als klassisches Narrowboat ist sie aber immer noch bunt und altmodisch genug, um sich nahtlos in das kleine Kanaldorf einzufügen, in das sie gehört.

Dennoch beschäftigt mich neuerdings immer häufiger der Gedanke, mit ihr tatsächlich über den Kanal Richtung Kontinent zu fahren. Einzig die Vorstellung der zugigen und vergleichsweise wenig idyllischen Liegeplätze in Hamburg oder Berlin lässt mich derzeit noch immer wieder zurückrudern. Emilia wäre dort so fehl am Platz wie ich mit ihr. Und doch gibt es Tage, an denen ein Umzug verlockend erscheint.

Zurzeit ist es vor allem der Trotz, der mich hier hält. Warum soll ich anderen die Definition meiner Heimat überlassen? Als Auslandskorrespondentin war ich sowieso nie Teil einer Gruppe, einer Nation, eines Landes. Heimat ist schwer für uns. Und London ist ein Zuhause geworden. Eine Stadt, in der ich seit fast zehn Jahren lebe. Länger bin ich noch nie an einem Ort gewesen.

 

Nicht dass man London nicht auch hassen könnte: den Verkehr, den Lärm, die ewig atemlosen Menschen, die dem Tempo, das es vorgibt, nie gerecht werden können. Das dreckige Geld, das von überall aus der Welt vom Himmel regnet, die leeren Luxusimmobilien als gähnende Anlageobjekte, die

Aber das sind die schlechten Tage. An guten Tagen reißt plötzlich der Himmel auf, und der Busfahrer lässt einen auch ohne Ticket mitfahren. Dann ist London weiterhin die freundlichste und aufregendste Stadt der Welt, eine Stadt noch dazu, so voll von Geschichten, Geheimnissen und Überraschungen, dass sie einen immerwährend in Atem hält, an die Hand nimmt und mitreißt, wohin auch immer. London kann süchtig machen. Immer noch.

Und so bleiben wir jetzt erst einmal hier, Emilia und ich, und beobachten die Lage von hier unten am Kanal, von Little Venice aus. Die Verliebtheit ist der Neugier gewichen, wie es jetzt weitergeht mit dieser Stadt und dem ganzen Land, seit der Brexit so vieles verändert hat. Wahre Liebe übersteht auch stürmische Zeiten, sagt man. Noch wird der Anker also nicht gelichtet.

Heimat kann man schließlich nicht immer wieder neu erfinden.

Als ich am Abend des 24. Juni, also dem Tag nach dem Referendum, spätabends in Little Venice ankam, einem von Kanälen durchzogenen Teil Londons, wo ich auf einem kleinen, selbstgebauten Hausboot mit dem Namen Emilia lebe, stand ein Eimer mit bunten Tulpen auf dem Bootsdeck vor meiner Eingangstür. In der Mitte prangte ein Zettel mit einer vom Regen leicht verwaschenen Aufschrift:

»Please don’t go.«

Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass ich zu heulen begann. Das erste Mal hatte es mich am Morgen erwischt, auf der Rückreise aus Edinburgh. Ich hatte von dort über den Ausgang des Referendums für die ARD berichtet, aber noch nicht wirklich begriffen, was passiert war. Erschöpft ließ ich mich am Fenster des noch fast leeren Großraumabteils nieder, und während die grauen Vororte Edinburghs vor meinem Fenster vorbeiflogen, stand mir noch immer das Gesicht des hageren Kellners vor Augen, der mich zum Taxi gebracht hatte. Ungläubig und entsetzt hatte er mich angesehen, als ob er das Ergebnis noch immer für einen schlechten Witz hielt. Die

Diese Einordnung ging bereits am Tag danach reflexhaft los: Man begann sich gegenseitig zu belauern, versuchte herauszufinden, zu welchem Lager der jeweils andere gehörte: dafür oder dagegen. Seitdem ist so gut wie kein Gespräch mehr möglich, ohne dass vorher geklärt wird, auf welcher Seite das Gegenüber steht. In etwa der Hälfte der Fälle erledigt sich damit auch gleich die Unterhaltung als solche.

Mir gegenüber saß an diesem Morgen ein junges rothaariges Mädchen. Trotz einer Leibesfülle, die Geschlechtsgenossinnen überall sonst auf der Welt verschämt unter Schlabberkleidern tarnen würden, war es in einem dieser verwegenen knallbunten Miniröcke unterwegs, die besonders im Norden Englands ungeheuer populär sind. Ich mag das übrigens. Dieses selbstbewusste Zurschaustellen der eigenen Leibesfülle. Fat can be beautiful, gerade auch in einem Minirock, vorausgesetzt man weiß die Pfunde darunter mit Würde zu tragen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Während das Mädchen aufgeregt auf sein Handy eintippte, klingelte meins. Ein Anruf von der Tagesschau. Als ich ihn entgegennahm und auf Deutsch zu sprechen begann, breitete sich im ganzen Abteil blitzartig ein Schweigen aus, das ich zunächst nicht deuten konnte. Aber eines war sicher: Es hatte mit mir zu tun. Selbst die kleine Rothaarige mir gegenüber hatte aufgehört zu tippen.

Als ich auflegte, sah sie mich ausdruckslos an.

Während ich noch überlegte, ob ich – zweifelsohne als Deutsche und Europäerin identifiziert – nun womöglich des

»I am so sorry, I am so so sorry for this …« Und ich begriff.

Sie hatte diesen Brexit, wie so viele junge Briten, auf keinen Fall gewollt, sie weinte um sich selbst und ihre demnächst so deutlich eingeschränkten Zukunftsperspektiven. Aber das war nicht alles. Sie weinte auch aus Scham mir gegenüber.

»Ich möchte mich wirklich persönlich bei Ihnen dafür entschuldigen«, erklärte sie immer noch schluchzend. »Das ist so unbritisch, so mit Fremden umzugehen, das haben wir hier alle nicht gewollt, dass ihr jetzt wieder nach Hause sollt, das müssen Sie mir glauben.«

Das war der Augenblick, in dem mir klar wurde, dass ich ab sofort nicht mehr selbstverständlich dazugehören würde in diesem Land. Und weil die kleine Rothaarige nicht aufhören konnte zu weinen und ich sie außerdem so nett und offen fand in ihrem Unglück, das ab sofort auch irgendwie meins war, aus all diesen Gründen heulte ich dann mit.

Es war alles in allem ein sehr seltsamer Tag, dieser 24. Juni 2016.

 

Die Tulpen vor meinem Boot wollte im Nachhinein keiner meiner Nachbarn dort hingestellt haben. Und ich habe auch nicht weiter insistiert, denn Gefühle zu zeigen ist schon an normalen Tagen immer noch nicht wirklich üblich auf der Insel. Man will ja niemanden in Verlegenheit bringen. Wie ich außerdem sehr bald begriff, redete schon wenige Tage später generell niemand mehr gern über den Brexit, und schon gar nicht mit Europäern, die man dadurch vor den Kopf gestoßen hatte.

Durch diese Geisteshaltung kam ich übrigens auch zu Emilia. Auf diversen Umwegen allerdings. Mein Leben als Londoner Hausbootbesitzerin begann damit, dass mich aus der Heimatredaktion der Auftrag ereilte, neben den üblichen Berichten, die man als Korrespondent so täglich abarbeitet, einen längeren Film über Großbritannien zu drehen. Ich war noch nicht lange auf der Insel und kannte mich noch nicht gut aus, aber eines hatte ich bereits gesehen: ein englisches Kanalboot von innen.

Mein Umzug von New York nach London war einer relativ spontanen Idee geschuldet gewesen, und nachdem ich in der britischen Hauptstadt gelandet war, gab mir eine besorgte Berliner Freundin eine Telefonnummer durch, die ich unbedingt anrufen sollte. Das tat ich, und am anderen Ende meldete sich eine sehr englische, sehr distinguierte Stimme, die zu einem offensichtlich nicht mehr ganz jungen Gentleman gehörte. Ein gewisser Owen, der mich spontan für den nächsten Abend zu einem Dinner bei sich zu Hause einlud.

Auf sein Kanalboot in Little Venice.

An dieser ersten Begegnung mit einem »Eingeborenen« waren, wie ich später erfahren sollte, gleich drei Dinge

Die Engländer lieben ihre Eigenheime, vielleicht sogar mehr als jedes andere Volk in Europa. Sie lassen aber selten jemanden hinein.

Für diesen Widerspruch gibt es viele Theorien. Die historische besagt, dass die My home is my castle-Mentalität ihren Ursprung in der viktorianischen Zeit hat, als die jungen Industriestädte heillos überfüllt waren. Wer den ganzen Tag mehr Menschen um sich hat, als ihm lieb ist (und in London ist das eigentlich immer der Fall), der braucht sein Heim als Rückzugsort. Als Bollwerk gegen das unberechenbar gewordene Leben draußen.

Dazu passend ging Ende des 19. Jahrhunderts einer der hellsten Sterne am viktorianischen Wertehimmel auf: die Kernfamilie und ihr unbedingter Zusammenhalt gegen die äußere Welt. Es war im Übrigen ein Deutscher, der ganz wesentlich an dieser Neuorientierung beteiligt war. Und zwar Prinz Albert, der Gatte von Königin Viktoria. Anders als der heutige Prinzgemahl, der sich irgendwann mit Spott und Sarkasmus in sein Schattendasein ergeben hat, ersann Prinz Albert ständig neue Projekte, um seinem Leben einen Sinn zu geben. Eins davon war eine groß angelegte Image-Kampagne, die den Ruf des zuvor etwas unpopulär gewordenen

Mit diesem Projekt wollte er vor allem die Mittelschicht für das Königshaus zurückgewinnen, die dem leicht abgehobenen royalen Treiben Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend skeptisch gegenüberstand. Prinz Alberts Kampagne wurde ein durchschlagender und überraschend nachhaltiger Erfolg: Die bürgerliche Welt spielte euphorisch mit, und so entwickelte sich die Kernfamilie, hinter sicheren Mauern gegen die Gefahren der äußeren Welt verschanzt, bald zum Leitbild für große Teile der Mittelschicht.

Bis heute führen ganze Generationen britischer Normalbürger dieses Stück begeistert weiter auf. Die Hauptrolle in »My home is my castle« spielt übrigens die front door, die Haustür, die man mit möglichst niemandem teilen sollte. Ab dem Moment, wo die Tür ins Schloss fällt, will man nur noch unter sich sein. Deshalb besteht das sweet home für den Engländer auch unbedingt aus einem ganzen Haus, egal wie klein – wegen der eigenen Haustür eben. In Wohnungen leben in der Regel die Ausländer.

 

Dass ich bereits in meinen ersten Tagen in London von einem Engländer in sein Zuhause eingeladen wurde, war damit ein Sonderfall.

Es befand sich auf schwankendem Untergrund, hatte im eigentlichen Sinn keine Haustür, dafür aber einen Namen: Matilda. Bis heute eins der schönsten Kanalboote, die ich kenne. In der Regel sind englische Kanalboote sehr schmal, dafür aber lang, um möglichst viel transportieren zu können. Denn ursprünglich waren sie als Lastkähne unterwegs, damals, zu

Ansonsten hatte ich von dem mir noch unbekannten Owen am Telefon erfahren, dass er im Hauptberuf Barrister sei, ein hoher Anwalt also. Einer von denen, die mit Perücke ins Gericht ziehen, mit Zweitwohnsitz im »Temple«. Dieser Temple ist übrigens eines der erstaunlichsten Paralleluniversen des an faszinierenden Paralleluniversen nicht eben armen Londons. Ein riesiges Areal aus dem 12. Jahrhundert, zwischen Fleet Street und der Themse gelegen, wo Anwälte, Richter und jeder, der juristisch etwas auf sich hält, sein Büro oder eine Wohnung hat. Eine Welt für sich, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, weshalb hier regelmäßig historische Kostümfilme gedreht werden. Ein Drehort, der auch deshalb so populär ist, weil er das Budget der jeweiligen Produktionen deutlich schont. In diesem Kosmos muss nämlich nichts auf das 21. Jahrhundert Hindeutendes verschleiert oder retuschiert werden. Es gibt einfach nichts dergleichen im Temple. Keine Moderne, stattdessen aber verborgene Geschichten, von denen ich später noch erzählen werde, denn natürlich habe ich Owen irgendwann später dort besucht.

Zunächst aber trafen wir uns am Kanal. Owen, der mich auf einer kleinen Kanalbrücke an der Warwick Avenue begrüßte, von der aus man die vielen kleinen Boote darunter sehen kann, entsprach dem Bild, das ich mir zu seiner Stimme gemacht hatte, auf den ersten Blick verblüffend genau. Ein

Im Halbdunkel wäre er als Bruder von Professor Dumbledore durchgegangen. Über seiner linken Schulter baumelte ein riesiger zerknautschter Lederhut, der mit seinem Besitzer ganz offensichtlich viel erlebt hatte. Um seine Beine wehte eine weite schwarze Baumwollhose, die – übersät von bunten Stickmustern – so gar nicht zu dem passte, was ich mir bis dato unter einem gut gekleideten Anwalt vorgestellt hatte. Aber derartige Vorschriften und Regeln gelten in Großbritannien eben nicht. Ich habe Owen später selbst bei hochoffiziellen Anlässen im Temple in – vorsichtig formuliert – ausgefallener Kleidung erlebt. Es schien sich nie jemand auch nur im Geringsten daran zu stören.

Womit wir bei einem der Dinge wären, die ich ganz besonders mag an den Briten. Die kleine private Anarchie ist generell erlaubt und toleriert. Das Stereotyp des englischen Exzentrikers mag abgegriffen und nervtötend sein, aber in dem Moment, als ich hinter diesem Mann und seiner wild geblümten Hose am Kanal herlief, da wusste ich: Zumindest ein Exemplar dieser Spezies gibt es wirklich.

An diesem Abend erfuhr ich, dass auch weitere in Deutschland gängige Klischees durchaus einen wahren Kern haben, zum Beispiel das der überbordenden Höflichkeit. Darüber hinaus bekam ich jede Menge lebenswichtige Hinweise, die mir das Leben unter Briten später sehr viel einfacher machen

 

Drei Tage nach unserem ersten Treffen ereilte mich dann der schon erwähnte folgenschwere Anruf aus der Heimatredaktion. Eine längere Reportage über England sollte mein Einstiegswerk werden. Mein Einwand, ich hätte doch so gut wie noch nichts vom Land gesehen, wurde vom Tisch gewischt.

Ich schwieg in die Leitung. Weil ich aber Schweigen nicht gut aushalten kann, wurde ich unvorsichtig und erzählte von dem einzig Berichtenswerten in Großbritannien, das ich bislang kannte: von Owen und all den seltsamen Spielzeugbooten, die ich am Kanal gesehen hatte. Alle nur 2,30 Meter breit und bunt angemalt, als hätte es Farbe vom Himmel geregnet. Malerisch. Das war das Schlüsselwort. Ich saß in der Falle. Das Thema war beschlossen.

Eine Woche später besuchte ich also erneut Owens Boot. Diesmal in Begleitung eines dicken Notizhefts. Ein neumodischer Laptop wäre mir an diesem Ort unpassend erschienen. Ich schrieb gewissenhaft mit, was er zur Kanalwelt zu sagen hatte. Und das war nicht wenig. Es begann mit dem wichtigen Insidertipp, wie man das Baujahr eines Kanalbootmotors am spezifischen Rhythmus seines Tuckerns erkennen kann. Weiter ging es mit einer ausführlichen Erläuterung des ganz besonderen Typs Engländer, der diese Boote in der Regel bewohnt. Zum Schluss der Hinweis, dass ich diese Menschen bis hoch hinauf an die schottische Grenze überall da finden würde, wo es landschaftlich schön sei. Denn dort siedelten sie am liebsten.

So weit, so gut. Der Film über die englische Kanalbootwelt, der an diesem Abend seinen Anfang nahm, entstand dann

 

Emily war ursprünglich ein fröhlich hellblau-rosa gestrichenes Wesen, ein sogenannter Springer, 13 Meter lang, 2,30 Meter breit, mit großen Fenstern und einem eleganten Rumpf. Eine Schönheit also – bis ihr Besitzer starb, der Botschafter in Australien gewesen war. An Abenteuer gewöhnt, hatte er sie sogar einmal über die reißende Themse gefahren. Ein äußerst gewagtes Unternehmen für ein Kanalboot. Das Foto davon habe ich heute noch, eine Trophäe. Nach seinem Tod wollte seine Witwe die kleine Emily dann allerdings nicht mehr betreten. Das Boot erinnerte sie zu sehr an bessere Tage, und so überließ sie es fortan seinem Schicksal.

Boote vertragen das Verlassenwerden aber im Allgemeinen noch schlechter als Menschen. Sie sterben zwar nicht an gebrochenem Herzen, aber sie saufen ab. Und so war Emily, als ich sie das erste Mal wahrnahm, trotz ihres bonbonfarbenen Äußeren in einem erbärmlichen Zustand. Ein kleines trauriges Wrack, das herrenlos vor sich hin dümpelte, die eine Seite halb im Wasser, die andere verlegen in den Himmel ragend.

Nur ein knappes Jahr nach meiner ersten Begegnung mit Owen (die Ausstrahlung des Kanalfilms, den er zu meiner großen Erleichterung für gut befunden hatte, lag schon eine Weile zurück) saß ich mit ihm wieder auf Matilda. Es war ein milder regnerischer Sonntagnachmittag, einer dieser Tage,

Nach dem Genuss von mehreren, übrigens hervorragenden Gin Tonics beschloss ich, das Wrack Emily zu kaufen. Einfach so. Natürlich könnte man einwenden, dass sich niemand einfach so ein altes, kaputtes Boot aufhalst, erst recht nicht in einer so komplizierten Stadt wie London. Aber ich hatte meine Gründe, bedeutende »Weils«: Weil es mir leidtat, wie dieses einst von seinem Besitzer so geliebte Wesen nun halbtot im Wasser hing. Weil ich mich der urbritischen Lebenshaltung, größeren Katastrophen gelassen und leichten Herzens entgegenzusehen, schon sehr angenähert hatte, oder einfach weil der Gin Tonic so gut war und der Regen so mild.