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Das Buch

Die Welt um uns herum ist hektisch und laut geworden. Die permanente Zunahme von Komplexität und Tempo im Leben zerrt an uns, an unseren Nerven, an unseren Beziehungen und an unserer Gesundheit. Wir haben »keine Zeit«, sind »schwer beschäftigt« und wollen uns »durchsetzen«. Im Ergebnis dominiert das Trennende das Verbindende. Es entstehen überflüssige Konflikte, welche Unmengen an Zeit, Geld und Nerven kosten. Immer tiefere Risse spalten unsere Gesellschaft, fördern politische Extreme, hemmen Unternehmen, und trennen manchmal Familien.

»Verstehen ist eine Lebensaufgabe«, das sagt der Menschenentwickler und Erfolgsautor Boris Grundl. Er stellt dem Wahnsinn von »höher, schneller, weiter« sein Konzept von »flexibler, klarer, tiefer« entgegen. Mehr Substanz und Wirkung, weniger Aktionismus und Beschäftigung. Grundl weiß wovon er spricht: Er stand auf dem Gipfel und fiel ins Bodenlose – vom Spitzensportler zum zu 90 Prozent gelähmten Hartz-IV-Empfänger im Rollstuhl. Heute ist er einer der gefragtesten Führungsexperten Europas, glücklicher Familienvater und lebt in Spanien und Deutschland.

Für Boris Grundl ist »verstehen, ohne einverstanden sein zu müssen« der entscheidende Erfolgsfaktor der Zukunft. Es ist ein lohnender Weg: erst klug hinhören, dann differenziert bewerten, die Perspektive wechseln, den eigenen Standpunkt prüfen, Haltung gewinnen, konsequent handeln und schließlich der eigenen Überzeugung folgen. So entsteht innere Freiheit.

Der Autor

Boris Grundl, ist Managementberater, Unternehmer, Führungsexperte, Coach und Redner. Mit seiner Leadership-Akademie (www.grundl-akademie.de) berät er Firmen wie Daimler, SAP oder die Deutsche Bank. Er ist Gastdozent an mehreren Universitäten, erforscht das Thema Verantwortung (www.verantwortungsindex.de) und setzt sich ehrenamtlich für Schüler ein.

Bei Econ sind von ihm folgende Bücher erschienen: Steh auf! (2008), Diktatur der Gutmenschen (2010), Die Zeit der Macher ist vorbei (2012) und Mach mich glücklich (2014).

BORIS GRUNDL

Verstehen heißt nicht einverstanden sein

Verlagsqualität Ullsteinbuchverlage

Econ

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ISBN: 978-3-8437-1653-6


© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: FHCM Graphics, Berlin

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Es hat nichts Edles,
sich seinen Mitmenschen überlegen zu fühlen.
Wahrhaft edel ist,
wer sich seinem früheren Ich überlegen fühlt.

(Ernest Miller Hemingway)

PECHVOGEL ODER HANS IM GLÜCK?

Schweißgebadet wache ich auf. Es ist einer dieser Alpträume, die mich seit meiner Kindheit verfolgen: Etwas Unbestimmtes bedroht mich. Es ist hinter mir. Rechts hinter meiner Schulter, im Dunkeln. Ich kann es nicht sehen, nur fühlen. Es ist nah, ganz nah und greift nach mir. Ich habe Angst. Schreckliche Angst, und möchte weglaufen. Kann aber nicht. Ich kann mich nicht bewegen, bin total gelähmt, vollkommen hilflos. Und jetzt, mitten in der größten Angst, wache ich auf.

Dieser immer wiederkehrende Alptraum sorgte dafür, dass ich mich, schon als ich ganz klein war, jedes Jahr freiwillig gegen Kinderlähmung impfen ließ – viel zu oft, wie mir die Ärzte sagten. Das war mir egal. »Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter«, so hieß es damals. Mich überzeugte das, und so impfte ich, was das Zeug hielt. Hinter jeder Muskelverspannung wähnte ich den Anfang meines Alptraums. Ein traumatisiertes Kind auf Grund eines wiederkehrenden Traums.

Doch in dieser Nacht ist etwas anders. Inzwischen bin ich kein Kind mehr: In diesem Traum bin ich zuvor von einer Klippe gesprungen und habe mir dabei den Hals gebrochen. Menschen mit schreckgeweiteten Augen stehen um mich herum, nachdem mich ein paar von ihnen nach meinem Kampf gegen das Ertrinken aus dem Wasser gefischt haben und ich an einem Strand im Sand liege.

Ich halte die Augen noch einen Moment länger geschlossen als sonst und lasse den Traum vorüberziehen, irgendwo im Nebel des Ungefähren verschwinden. Es ist so, wie es immer war, denn ich weiß: Das ist der beste Weg, den Traum da zu lassen, wo er hingehört – im Reich der Träume.

Noch ein wenig benommen öffne ich die Augen. Ich liege in einem fremden Zimmer und blicke gegen eine weißgestrichene Decke. Keine Ahnung, wo ich mich gerade befinde und wie ich hierhergekommen bin. Ich versuche, mich zu bewegen, so wie ich es nach meinen Alpträumen immer getan habe. Stück für Stück, um mich zu versichern, dass alles nur ein böser Traum war. Aber dieses Mal spüre ich nichts. Es bewegt sich nichts: kein Bein, kein Knie, nicht einmal der kleine Zeh. Ist mein Alptraum bittere Realität geworden?

Das ist der Moment, in dem mein Leben sich schlagartig ändert. Gewissheit greift um sich: Ich bin tatsächlich gelähmt! Mein schlimmster Alptraum ist wahr geworden. Er hat mich eingeholt. Auf einmal bin ich nur noch ein wacher Kopf in einem lahmen Körper. Mein altes Leben ist vorbei. Das ahne ich, und das wird in den nächsten Tagen und Wochen immer deutlicher.

Ich bin 25 Jahre alt, Student der Sportwissenschaften in Köln, durchtrainiert, attraktiv, hungrig – ja gierig nach Leben in jeglicher Hinsicht. Der prototypische Tennis- und Skilehrer! In der Tat finanziere ich mein Studium – und nicht nur das – mit Tennisstunden. Spiele in der Regionalliga. Am liebsten wäre ich Tennisprofi geworden: Auf der deutschen Rangliste stand ich bereits unter den ersten einhundert. Aber auch andere Sportarten liegen mir: In zwölf oder dreizehn Disziplinen bin ich Stadt- und Landesmeister, darunter Leichtathletik, Skispringen und Schwimmen. Meinen ersten Marathon bin ich mit siebzehn Jahren gelaufen.

Ich hatte es schon immer wissen wollen. Als kleiner Junge war mir zum Leidwesen meiner Mutter kein Baum zu hoch, als dass ich nicht bis ganz hoch in die Krone geklettert wäre. Später als junger Mann war ich immer das, was man landläufig einen smarten Typ nennt, dem so ziemlich alles in den Schoß fiel. Ein Hans im Glück! Was ich anfing, klappte einfach: Schule, Musik (Klarinette und Saxophon), Freundschaften, Sport, Studium, Mädels. Alles kein Problem! Immer im Laufschritt unterwegs. Bloß nicht stehenbleiben, immer schneller, höher, weiter! Keine Zeit nachzudenken. Immer Vollgas.

Und nun liege ich hier in einem Raum, den ich nicht kenne, wie ein Käfer auf dem Rücken in einem Bett, das nicht mein Bett ist, und bin unfähig, mich zu bewegen – schon gar nicht im Laufschritt. Wie in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung. Doch es ist nicht Gregor Samsa, der da im Körper eines Käfers erwacht.

Ich höre entfernte Stimmen und Geräusche, vielleicht hinter einer Tür, ein Piepen über meinem Kopf, das ich nicht einordnen kann. Selbst den Kopf kann ich nicht drehen. Er ist mit einer Halskrause fixiert. Und meine Hände sind mit dicken Handschuhen bandagiert. Kein Vollgas mehr möglich. Das ist eine Vollbremsung. Ungewollt. Unerwartet. Unfair? Ich weiß es nicht.

Es riecht nach Desinfektionsmittel und welken Blumen. Irgendwo tropft ein Wasserhahn. Das Einzige, was mir geblieben ist, ist Zeit. Unendlich viel Zeit, wie sich in den folgenden Wochen und Monaten noch herausstellen wird. Und Gedanken, unendlich viele Gedanken.

Ich befinde mich in einem Krankenhaus. Langsam kommt die Erinnerung zurück: In Mexiko war ich doch, mit meinem Freund Stefan, mit einer Reisegruppe. Wir hatten eine Exkursion zu einer der schönsten Lagunen im mexikanischen Dschungel gemacht – ein Paradies! Und dort wollte ich mir, wie schon so oft, mal wieder etwas beweisen. Ich hatte die Jungs aus dem mexikanischen Dorf beobachtet, wie sie auf die Klippe geklettert und dann ins Wasser gesprungen waren. Ich hatte sie lachen gesehen und schreien gehört, ihre Begeisterung gespürt. Lebensfreude pur. Das wollte ich auch – das konnte ich auch, natürlich!

Und so machte ich mich auf und kletterte die Klippe hoch. Der erste Sprung von halber Höhe – das war schon geil! Da geht doch noch mehr. Höher, schneller, weiter! Langsam arbeitete ich mich mit weiteren Sprüngen immer etwas höher bis nah an den Wasserfall heran. Da stehe ich nun und konzentriere mich auf meinen Sprung. Meinen letzten Sprung. Es sollten die letzten Sekunden in meinem Leben sein, in denen ich aus eigener Kraft auf meinen Beinen stehen kann. Aber das weiß ich da noch nicht.

Als ich so dastehe und in mich gehe, höre ich auf einmal eine Stimme. Und sie sagt: »Boris, spring nicht!« Was nun folgt, ist eine Entscheidung innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde. Ist es Intuition oder Angst, welche da zu mir spricht? Es ist nicht leicht, diese beiden Stimmen voneinander zu unterscheiden. Ich dachte, es sei Angst. Und diese wollte, ja musste ich überwinden. Ich bin schließlich Boris Grundl. Und eigentlich unbesiegbar. Also wischte ich diese innere Stimme rasch beiseite und sprang. Ohne die notwendige Körperspannung – Hals überdehnt, siebter Halswirbel gebrochen. An Armen und Beinen sofort gelähmt, zu 90 Prozent.

Die innere Stimme war also meine Intuition, die es gut mit mir gemeint hatte. Das weiß ich heute. Aber damals konnte ich Angst von Intuition noch nicht unterscheiden. Niemand konnte, ja durfte mich von irgendetwas abhalten: Ich war besessen davon, meine Grenzen zu spüren und sie im Zweifel zu überwinden.

Das war mit einem Sprung vorüber. Ich hatte meine Grenze definitiv erreicht, gar überschritten.

Aus voller Fahrt, aus unbändiger Rastlosigkeit wurde von einem Moment zum anderen ein Leben in Slow Motion. Bisher war ich gewohnt zu gewinnen – nun hatte ich verloren. Alles auf einmal: Gesundheit, Perspektive, Lebensantrieb. Alles weg.

Was blieb mir noch? Was hatte mein Leben für einen Sinn? Es kamen große Ängste und Selbstvorwürfe. Die immer gleichen Fragen quälten mich unaufhörlich. Warum war mir das passiert? Wie konnte ich mir so etwas nur antun? Wieso fühlte ich mich nur im Grenzbereich so richtig lebendig? Was war mein Leben noch wert? Was sollte aus mir werden? Von den Konsequenzen, die der Unfall für mich haben würde, hatte ich nicht die geringste Vorstellung, und fürs Erste weigerte ich mich beharrlich, darüber überhaupt tiefer nachzudenken. Große Schuldgefühle und Selbstmitleid fraßen sich in meine Seele.

Ich war gelähmt, sowohl mein Körper als auch mein Geist. In den ersten Wochen ließ ich alles nur über mich ergehen, als ob ich nichts damit zu tun hätte. Mit einer gewissen Neugierde nahm ich zur Kenntnis, wie irgendwelche Pflegekräfte mich fütterten, wie sie meine Inkontinenz versorgten, wie sie mir den Schleim aus den Bronchien absaugten und was sonst noch alles nötig war, um mich am Leben zu erhalten. Ich hatte damit nichts zu tun. Ich war mir selbst ein Fremdkörper. Wenn die Pfleger mich versorgten, fühlte ich mich wie ein Sack Kartoffeln.

Nicht nur ich war verzweifelt, auch meine Familie und meine Freunde, alle, die mich besuchten, waren es. Das sah ich in ihren Augen und an ihrer Körpersprache. Ihre Worte sollten mich aufmuntern, doch ihre Gesten sagten mir, was sie wirklich dachten: »So ein Mist, lieber Boris. Das war es dann wohl mit dir. Vorbei mit dem glänzenden Leben. Vorbei mit dem tollen Sportler. Vorbei mit der tollen Berufsperspektive. Vorbei mit dem Mädchenschwarm, da läuft als Mann wohl nicht mehr viel. Vorbei mit einem freien und selbstbestimmten Leben. Ja, und so gar nichts alleine können. Ein Leben lang füttern, waschen, wickeln … Schöne Scheiße!« Einmal hörte ich zufällig ein Gespräch zwischen zwei Therapeutinnen mit. Eine kam gerade aus dem Urlaub zurück: »Da ist ein Neuer angekommen. Ein Klippenspringer aus Mexiko. Schade drum, soll mal ein super Tennisspieler gewesen sein. Das sieht man auch. Wahnsinnsbeine! Total durchtrainiert und so braungebrannt. Schade drum.«

Das war zu viel für mich: zu viel Mitleid, zu wenig Respekt. Ich wollte diese Geschichten der anderen nicht glauben. Ich wollte ihnen beweisen, dass sie falschlagen. Doch mein Wille war gebrochen. Mein durchtrainierter Körper gab ein Bild der Stärke ab, doch ich blutete innerlich aus. Mein Energiespeicher leerte sich, und ich wusste nicht, wie ich ihn aufladen sollte. Früher hatte das wie von selbst funktioniert, über Nacht. Doch jetzt war da nichts mehr, was mich aufrichtete.

Ich ging innerlich auf Abstand, zu allem und zu allen. Und in den folgenden Wochen und Monaten im Krankenhaus änderte sich an dieser Einstellung erst einmal nichts. Im Gegenteil: Je mehr mir meine Lage bewusst wurde, desto stärker lehnte ich sie ab. Ich lehnte mich ab. Ich überspielte mein Leiden mit gekünstelter Souveränität. Ich fühlte mich nutzloser als eine Zimmerpflanze, die sich wenigstens für das Wasser, das man ihr gibt, erkenntlich zeigt, indem sie ab und zu blüht. Ich verdorrte innerlich.

Ich, der Supersportler, fühlte mich so unendlich hilflos. Das Bett, in dem ich lag, war ein sogenanntes Drehbett, das meinen Körper davon abhalten sollte, wund zu werden. Wie eine Frikadelle auf dem Grill wurde ich alle paar Stunden vom Rücken auf den Bauch und dann wieder auf den Rücken gedreht. Ich starrte an die Decke, wurde gedreht, starrte auf den Boden.

Decke. Boden. Decke. Boden. Eine Endlosschleife zwischen Decke und Boden.

Mein Blickfeld war das eines Babys im Kinderbettchen: Wer sich nicht über mich beugte, den sah ich nicht. Sogar mein Bewusstsein wurde dabei immer begrenzter.

Decke, Boden, Decke, Boden, Decke, Boden.

Meine kleine Welt beschränkte sich auf mein enges Krankenhauszimmer. Außerhalb existierte für mich nichts anderes mehr. Dieses Drehbett sollte zur Metapher für mein Leben werden: Es hatte sich alles gedreht, und zwar radikal.

Ich wusste, dass ich nicht mehr der Alte war. Obwohl ich krampfhaft versuchte, an diesem Bild nach außen festzuhalten. Diesen starken attraktiven und erfolgreichen jungen Mann gab es nicht mehr. Das konnte ich noch nicht akzeptieren. Das war nicht ich, Boris Grundl, das Tennis-Ass, der ewig gutgelaunte Sonnyboy, der Charmeur und Frauenheld. Jetzt war ich wirklich ein Krüppel.

Ich hatte viel Zeit, über mein Schicksal zu grübeln. In den langen Nächten, wenn es ganz still wurde auf den Krankenhausfluren, kam die Einsamkeit. Ich war ungeheuer traurig, verzweifelt und hatte Angst vor der Zukunft. Was würde aus mir werden? Selbst versorgen konnte ich mich nicht, ich würde ein Sozialfall sein, der von seinen Eltern und vom Staat durchgefüttert werden musste. Wie es aussah, würde ich nicht alleine wohnen können. Was war mit meinem Sportstudium, was mit dem Autofahren? Würde ich je einen Beruf ausüben können? Dass ich nie wieder Tennis spielen, nie wieder mein Saxophon in die Hand nehmen würde, das wusste ich. Eine Alternative konnte ich mir nicht vorstellen, ich hatte nicht einmal den Hauch einer Idee, nur dieses beklemmende Gefühl, absolut nutzlos zu sein. Und war ich nicht auch bloßgestellt? Wer würde mich Häufchen Elend noch ernstnehmen? Niemand würde von mir erwarten, dass ich noch etwas bewegen könnte in meinem Leben. Und die Frauen? Die finden einen Krüppel ganz bestimmt nicht attraktiv, bemitleiden ihn höchstens – und das war wirklich das Allerletzte, was ich brauchen konnte.

Ich sah keinen Ausweg. Ich sank immer tiefer in diesen Sumpf von negativer Energie. So sah mein Leben im Frühjahr 1991 aus. Keiner glaubte an mich. Am wenigsten ich an mich selbst.

Nun, und was ist heute? Heute bin ich einer der gefragtesten Führungsexperten und Keynote-Speaker Europas. Ich schreibe Bücher, und als Unternehmer mit eigener Leadership-Akademie gehören wir zu den Topadressen für Transformation von Führungskräften. Dank meiner finanziellen Freiheit ist es mir möglich, dass ich in Spanien und Deutschland lebe. Ich bin mit einer tollen Frau verheiratet und habe zwei großartige erwachsene Kinder.

Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Wie kann jemand aus so einer Niederlage, so einem tiefen Fall ins Bodenlose einen Sieg machen? Wie ist es dazu gekommen? Wie ist so etwas überhaupt möglich?

Ich musste lernen zu verstehen, tief zu verstehen. Mich selbst verstehen. Andere verstehen. Märkte verstehen. Unternehmen verstehen. Produktion verstehen. Familie verstehen. Vertrieb verstehen. Sinn verstehen. Menschliche Entwicklung verstehen. Transformation verstehen. Das Leben verstehen. Und genau darum geht es: das Leben und seine Prinzipien verstehen lernen. Nicht: mein Leben zuerst verstehen. Denn das ist der Knackpunkt: Die meisten Menschen wollen zuerst ihr Leben verstehen, um dann das Leben zu verstehen. Und genau darin liegt der Kardinalfehler! Es geht zuerst darum, das Leben an sich zu verstehen und danach mein Leben. So wird ein Schuh daraus, und man erreicht eine gesunde Distanz zu sich selbst.

Und weil vielen diese Distanz zu sich fehlt, kreisen sie ständig um sich selbst und verlieren sich im Nebel der Egozentrik. Das ist auch der Grund, dass bei so vielen das Motiv »verstanden werden wollen« das Motiv »verstehen wollen« dominiert. Und wer lernen will, das Leben zu verstehen, lernt, dass verstehen nicht zwangsläufig heißen muss, einverstanden zu sein. Und wer mein Leben verstehen will, versteht nur, wenn er auch einverstanden ist. Was für ein riesiger Unterschied!

Da ich zuerst mit mir und meinem Leben beschäftigt war, musste ich lernen, mir bessere Fragen zu stellen. Statt: Warum ist mir das passiert (mein Leben)? Was will mir das Leben damit mitteilen (das Leben)? Statt: Warum habe ich mir das angetan (mein Leben)? Wofür war das Ganze gut (das Leben)? Zugegeben, das war alles andere als leicht – es war eine harte Denkschule.

Die Inhalte dieser Denkschule müssen drei Aufnahmekriterien bestehen. Erstens müssen sie mich beim Nachdenken zum Handeln inspirieren. Denn Inspiration ist der Wegweiser kluger Reflexion. Zweitens müssen sie nach der Handlung die gewünschten Ergebnisse bringen. Und drittens müssen sie für die Kunden unserer Akademie ebenfalls die gewünschten Ergebnisse liefern. Erst dann traue ich mich, darüber zu schreiben und zu reden.

Und das heißt noch lange nicht, dass ich diese Prinzipien selber immer beherrsche. Oft genug scheitere ich bei deren Anwendung. Doch es gelingt mir immer öfter, danach zu leben. Denn es geht nicht um Perfektion. Es geht nicht um ein perfektes Leben. Es geht um ein stimmiges Leben. Ein berufenes Leben. Aus meiner Sicht geht es nicht darum, was »ich will« oder »nicht will«. Es geht darum, »für was ich gemeint bin«. Das ist ein ganz anderer Tenor. Ein Leben voller Sinn und Berufung. Dieser Lebenssinn entspringt einer sehr individuellen Selbstfindung. Und diese Reise nach innen macht jedes Leben spannend. Davon bin ich überzeugt.

Ich möchte nicht der sein, den meine Eltern in mir sehen. Ich möchte auch nicht der sein, den mein Partner in mir sehen will. Oder mein Chef. Oder die Gesellschaft. Und ich bin auch nicht der, der ich einmal war. Ich bin der, der ich bin!

In diesen Sätzen liegt für mich die Kraft eines freien und selbstbestimmten Lebens. Meine Überzeugung ist es, dass genau diese Gedanken für jeden Menschen jeden Tag immer wichtiger werden. Von dem Tag an, an dem wir über »unser Dasein« anfangen nachzudenken, bis zu unserem Tod. Denn es geht in Zukunft nicht um höher, schneller, weiter; sondern um flexibler, klarer, tiefer. Um dahin zu kommen, müssen wir lernen zu verstehen, ohne dass wir uns dem Druck aussetzen, auch einverstanden zu sein.

Mein Schicksal hat mir einige heftige und viele wunderbare Lektionen erteilt. Lektionen, welche ich erkennen und anerkennen lernen musste. Heißt das, dass meine Erkenntnisse »wahr und richtig« sind? Überhaupt nicht! Das kann und will ich nicht behaupten. Doch durch ständige Reflexion und Aktion hat sich mir ein Weltbild vermittelt, welches ich in meiner Arbeit mit Menschen zum »Selbst-darüber-Nachdenken« gerne anbiete. Wie mit diesem Buch. Deswegen öffne ich mich so weit wie möglich und so gut ich es eben bis jetzt kann, damit jeder von meinen Limitierungen, Lernprozessen und Erkenntnissen selbst profitieren kann. Denn darum geht es. Auch wenn ich mich dadurch angreifbar und verletzbar mache. Der Einsatz lohnt sich für jeden Menschen, welcher durch diese Lektüre weiterkommt.

Im Drehbett musste ich lernen zu verstehen. Einverstanden war ich mit meiner Situation zu Anfang überhaupt nicht. Und ich dachte, ich werde es auch nie sein. Doch heute bin ich selbst damit einverstanden. Ohne sie wäre ich nicht der, der ich jetzt bin. Deswegen kokettiere ich bei Vorträgen gerne mit dem Satz: Ich würde noch einmal springen. Zugegeben, dieser Gedanke ist für viele kaum nachvollziehbar. Doch manche regt er zum tieferen Nachdenken an. Denn es geht hier nicht um mich. Einmal kam ein Zuhörer nach einem Vortrag zu mir und sagte: »Herr Grundl, ich würde gerne etwas in meinem Leben finden, für das ich gerne springen würde. Ich werde danach suchen.« Er hatte verstanden.

Doch die Frage bleibt: Wie wird aus einem zu 90 Prozent gelähmten Häufchen Elend und Sozialfall ein Mensch, der ein unabhängiges, selbstbestimmtes Leben voller Freiheit und Anerkennung lebt? Wie ist eine solche Entwicklung überhaupt möglich? Genau davon möchte ich auf den folgenden Seiten sprechen.

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