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Knapp ein Jahr zuvor

Ellen wappnete sich gegen die unerbittliche Weite des strahlend blauen Himmels, der sich endlos über ihrem Kopf wölbte, und fragte sich, ob ein solch makelloser Tag einem Anlass wie diesem wirklich angemessen war. Kein Windhauch bewegte die Blätter der Eichen ringsum, und die Wärme der Sonne drang durch ihren Blazer und das Baumwollshirt hindurch, sodass ihr ein paar Schweißtropfen zwischen den Schulterblättern hinabrannen. Allein das Gewicht der Hitze schien sie niederzudrücken, ihre Rippen zusammenzupressen und ihr Herz zuzuschnüren.

Ellen, die um jeden Atemzug rang, musste gegen den Drang ankämpfen, einfach davonzulaufen und sich einen kleinen, stillen, dunklen Ort zu suchen, an dem sie wieder atmen, die Augen schließen und so tun könnte, als wäre das alles nicht geschehen. Wäre ihre jüngere Schwester nicht da gewesen, die ihren Arm so fest hielt, dass sie am nächsten Tag gewiss blaue Flecken haben würde, hätte sie das vielleicht wirklich getan. Aber Hannah war da, stützte sie, hielt sie zurück, half ihr zwang sie –, das durchzustehen, egal, wie gern Ellen sich abgewandt hätte. Hannah hatte ihr auch geraten, etwas Leichtes und Bequemes anzuziehen, ein Kleid oder einen Rock, aber Ellen war ihren Grundsätzen treu geblieben und hatte sich für einen dunklen Hosenanzug entschieden. Der passte ihr, war seriös und einem so wichtigen Anlass angemessen.

Komisch, dachte Ellen, ohne einen Hauch von Belustigung zu empfinden, während sie sich entschlossen auf einen einzelnen leuchtend grünen Grashalm konzentrierte, der über ihrer Schuhspitze lag, dass es am Tag ihrer Hochzeit geregnet hatte. Aus einem stahlgrauen Frühlingshimmel war ohne Unterlass ein kalter Nieselregen niedergegangen.

Sie hatten gelacht, Ellen und ihr frisch angetrauter Ehemann, wann immer sie sich ihre Hochzeitsfotos anschauten, wie sie vor der Kirche standen, die Zähne wegen der Kälte zu einem starren Grinsen zusammengebissen. An diesem Tag hatte Ellen das Wetter nichts ausgemacht, die Kälte, die auf ihren nackten Armen Gänsehaut hervorrief, oder der feine, prickelnde Nieselregen, der ihr ständig aufs Gesicht fiel und die dick aufgetragene Mascara von ihren Wimpern löste. An jenem Tag hatte sie nichts anderes gebraucht, um den Elementen zu trotzen, als die Gewissheit, dass der Mann, der jetzt ihr Ehemann war und der, was sie noch immer unfassbar fand, sie allen anderen Frauen vorgezogen hatte, neben ihr stand, ihre Hand hielt und dass es von nun an immer so sein würde. Jener verregnete, neblige, trübe Tag war ihr Freund gewesen.

Dieser Tag jedoch, dieser makellose Julitag, der so gnadenlos um sie herum ablief, war ihr Todfeind, ein Raubtier, das nur darauf lauerte, dass sie aus der Deckung kam, das darauf wartete, hervorzustürzen und sie in Stücke zu reißen, denn heute war der Tag der Beerdigung ihres Mannes, und eine Welt ohne ihren Mann wurde zu ihrem Feind, entschlossen, mit jeder ihm zur Verfügung stehenden Waffe über sie herzufallen. Während die Beerdigung Schritt für Schritt vollzogen wurde, dachte Ellen an zu Hause, an die kühlen, sauberen Fliesen ihres Küchenfußbodens, die Zuflucht ihres dunklen Schlafzimmers, in dem die Vorhänge seit dem Tag, an dem Nick gestorben war, zugezogen blieben. Zu Hause war es leichter zu glauben, dass er nicht von ihr gegangen war; zu Hause fühlte sie sich noch immer sicher.

Ellen, die jede weitere Sekunde, die sie am Grab ihres Mannes stehen musste, unerträglich fand, zuckte zusammen, als sie spürte, wie ihr Sohn ihre geballte Faust aufdrückte und seine Finger zwischen die ihren schob. Sie blickte zu dem zehnjährigen Charlie hinab und schaffte es, ihm ein Lächeln zu schenken; im Gegenzug drückte er ihre Hand. Er stützte sie, wurde Ellen beschämt klar. Im Gegensatz zu ihr meisterte er die Situation furchtlos und ertrug das Unerträgliche mit jener Art von Tapferkeit, die ihr Mann an den Tag gelegt hätte. Charlie machte ihr Mut, und sie beschloss, sich nicht anmerken zu lassen, wie verängstigt, verloren, panisch, verwirrt, verletzt und beraubt sie sich fühlte. Sie würde ihn nicht sehen lassen, dass sie in diesem Augenblick, während sie unter dieser sengenden Sonne an Nicks Grab stand, keine Ahnung hatte, wie sie ohne ihren Mann von einer Minute zur nächsten weiterleben konnte, geschweige denn bis zum nächsten Tag, der nächsten Woche, dem nächsten Jahr.

Sie wusste nur, dass sie sich danach sehnte, wieder zu Hause zu sein.

1

Langsam glitt die Spitze seines Schwertes zwischen ihr Spitzenmieder, und mit jedem Atemzug öffnete ihre bebende Brust es ein bisschen weiter und enthüllte mehr von ihrem darunter verborgenen milchweißen Fleisch 

»Mum.«

»Bitte, Captain, wenn Ihr ein Gentleman seid, dann – oh, bitte …«, flehte Eliza, deren Herz sowohl von Angst als auch von uneingestandener Sehnsucht erfüllt war, als der düstere Blick des Captains über ihre zierliche Gestalt wanderte.

»Mum?«

»Jetzt seid Ihr mein«, sagte er mit einer Stimme, die vor Verlangen ganz heiser war. »Genau wie dieses Haus jetzt mein ist, genau wie es dieses Schwert immer war!« Eliza rang nach Luft, und ihre Augen weiteten sich beim Anblick der anschwellenden Waffe des Captains. »Freundet Euch mit dem Gedanken an, dass Ihr mein seid und dass ich möchte, dass Ihr mir zu Willen seid, zuerst körperlich, dann auch mit dem Herzen …«

»Mu-uuum!«

Ellen fuhr hoch, als die Stimme ihres Sohnes sie schließlich aus dem siebzehnten Jahrhundert und der abgedunkelten Kammer mit der verriegelten Tür riss, in der ein junges puritanisches Mädchen gerade von ihrem verwegenen royalistischen Entführer vergewaltigt werden sollte, und sie wieder an ihren Küchentisch in Hammersmith zurückbrachte. Als sie Charlie neben sich stehen sah, schob sie einen Hefter über das neueste Manuskript von Allegra Howard, das ihr von dem Verlag, für den sie freiberuflich arbeitete, zum Korrekturlesen zugeschickt worden war, und blickte ihren Sohn an.

»Ja, mein Lieber?«, fragte sie freundlich.

»Was bedeutet hier ›anschwellend‹?«, fragte Charlie neugierig und mit großen Augen. Ellen wand sich. Wie lange hatte ihr elf Jahre alter Sohn da gestanden und über ihre Schulter hinweg mitgelesen?

»›Anschwellend?‹ Das bedeutet … hm, schnell wachsend oder keimend, wie … wie, na ja, wie Knospen im Frühling.«

»Wie kann eine Waffe, zum Beispiel ein Schwert, denn anschwellen?«, wollte Charlie wissen, der sie mit seinen blauen Augen ansah und den Blickkontakt hielt. »Es ist doch aus Stahl, oder? Aus hartem Stahl. Stahl schwillt nicht an.«

»Offenkundig nicht!«, pflichtete Ellen ihm bei. »Das muss ich korrigieren! Ich weiß nicht … diese Autoren, die haben keine Ahnung von Metaphern. Ich schwöre dir, das würde ich selbst besser hinbekommen. Und, was willst du zum Abendessen haben?«, fragte Ellen, obwohl sie die Antwort kannte, weil sie jeden Tag gleich ausfiel.

»Möglicherweise ist es eine Metapher«, sagte Charlie beiläufig und lockerte seine Schulkrawatte. »Vielleicht nutzt die Autorin das anschwellende Schwert ja zum Beispiel als Metapher für die Erektion des Mannes.«

»Charlie!«, rief Ellen aus und verschränkte die Arme über dem anstößigen Manuskript, als könnte sie damit verhindern, dass es weitere Indiskretionen preisgab.

»Was ist?«, sagte Charlie. »Ich spreche mit dir doch nur über Literatur, Mum.«

»Charlie, du bist erst elf … du solltest nicht reden über …«

»Erektionen?«, wiederholte Charlie. »Ich sollte mit meiner Mutter nicht über Erektionen reden? Mit wem denn sonst?«

Ellen machte den Mund auf und schloss ihn wieder, weil ihr keine Antwort einfiel. Der Gedanke »Wenn Nick bloß da wäre« schoss ihr nun mindestens zum tausendsten Mal seit seinem Tod vor elf Monaten durch den Kopf. Aber Nick war nicht da, und Ellen musste endlich lernen, ohne ihn zurechtzukommen – etwas, was sie glaubte, immer wieder neu lernen zu müssen.

»Na ja, weil du erst elf bist und ich mir nicht sicher bin, ob das für einen Jungen in deinem Alter das Richtige ist …«

»Ich bin fast zwölf«, erinnerte Charlie sie.

»Du hast erst in zwei Monaten Geburtstag, Charlie. Wünsch dich nicht älter, als du bist …«

Die beiden schauten sich eine Sekunde an, und ein unausgesprochener Gedanke hing zwischen ihnen.

»Die Mutter von James Ingram redet mit ihm die ganze Zeit über Sex«, forderte Charlie sie heraus und überbrückte mit geübter Leichtigkeit die Kluft zwischen ihnen. »James Ingrams Mutter hat ihm gesagt, dass er sie alles fragen kann, und sie ist Buchhalterin. Sie verdient sich ihren Lebensunterhalt nicht mit der Lektüre von Pornos, wie du.«

»P…! Charlie, du weißt genau, dass ich nichts dergleichen lese. Ich redigiere, wie du weißt, Liebesromane für Cherished Desires. Und wenn … wenn du irgendwelche Fragen hast, kannst du natürlich jederzeit zu mir kommen.« Ellen spürte, dass ihre Wangen rot anliefen. »Gibt es etwas … worüber du mit mir reden willst? In Sachen Sex?«

Charlie sah sie lange an, und Ellen entdeckte schließlich das verschmitzte Funkeln in seinen ansonsten ausdruckslosen Augen.

Er neckte sie auf eine Weise, wie er es immer getan hatte. Todernst und gleichzeitig gewürzt mit Humor und etwas, was Ellen häufig für Verärgerung hielt. Oder vielleicht war es Frustration, denn er veränderte sich so rasch, dass es ihr häufig nicht gelang, mit ihm Schritt zu halten.

»Hm – nein – das wäre zu gruselig!«, antwortete Charlie grinsend. »Und ich halte James Ingram sowieso für einen Freak.«

Wie würde Nick darüber lachen, dachte Ellen. Er würde am Abend zwischen neun und zehn Uhr von der Arbeit nach Hause kommen, und sie würden in der Küche stehen, er gegen die Arbeitsplatte gelehnt, während sie für ihn kochte, und er würde lachen und etwas sagen wie: »Typisch mein Sohn.« Mit einiger Mühe unterdrückte Ellen ihre Tränen und lächelte Charlie an.

»Und, wie war es heute in der Schule?«

»Wie immer, aber ich muss die schriftliche Erlaubnis abgeben, du weißt schon, für die Klassenreise zum Skifahren … darf ich jetzt mit oder nicht?«, fragte er, und Ellen wurde klar, dass sie die direkteste Frage zum Thema Sex, die ihm in den Sinn kommen konnte, dieser hier vorgezogen hätte.

»Tja, Charlie … die Sache ist die …«

Ellen lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und fragte sich, wie sie ihm nur beibringen sollte, was sie selbst noch immer nicht recht begriff. Sie und Charlie waren pleite.

Nicks Steuerberater, Hitesh, war kurz vor Mittag vorbeigekommen. In den vergangenen Monaten hatte er sie regelmäßig besucht und sich Ellen zuliebe bemüht, das finanzielle Chaos zu ordnen, das Nick ihr unwissentlich hinterlassen hatte. Ellen war Hitesh unendlich dankbar dafür, vor allem, weil keiner von ihnen wusste, ob und wie sie ihn jemals für die viele Zeit, die er ihr opferte, würde entlohnen können. Er hatte ihr am Telefon mitgeteilt, dass sie, da jetzt zumindest ihre Angelegenheiten geregelt werden konnten, versuchen sollte, sich zu erinnern, ob sie nicht noch irgendwelche Geldanlagen oder Ersparnisse besaß. Ellen hatte sich an nichts dergleichen erinnern können. Um die Geldangelegenheiten hatte sich immer Nick gekümmert, Nick hatte sich um alles gekümmert.

Als Hitesh wieder gegangen war, hatte sie sich ein Käsesandwich sowie eine Tasse Tee gemacht und hatte lange am Tisch gesessen und, ohne wirklich etwas zu sehen, den Stapel gespülter Töpfe angestarrt, die wie ein lange verlorener Schatz auf dem Abtropfbrett glänzten.

Sie hatte zwei Möglichkeiten: Die Situation anzugehen, wie Hitesh ihr geraten hatte, sich ihr Einkommen und ihre Ausgaben anzuschauen, um genau zu erkennen, wie schlimm ihre Lage war, oder den ersten ihr vorliegenden Teil des jüngsten Romans von Allegra Howard, Das aufgerichtete Schwert, zu Ende zu lesen.

Ellen hatte das Manuskript mitten im Kapitel niederlegen müssen, als Hitesh gekommen war. Sie war gezwungen gewesen, sich gerade in dem Moment von der Geschichte loszureißen, als die temperamentvolle, und doch unschuldige Heldin, die begehrenswert war, ohne sich dessen bewusst zu sein, die junge Eliza Sinclair, Nichte eines Anhängers der Parlamentarier, von dem ungestümen, dennoch überaus gut aussehenden, brutalen und und doch verletzlichen Captain Rupert Parker in ihrem eigenen Heim festgehalten wurde, nachdem die Royalisten das Haus ihres Onkels für den König beschlagnahmt und sämtliche Bewohner gefangen genommen hatten. Der Captain, der vom ersten Augenblick an von der dunkelhaarigen, blauäugigen Eliza verzaubert war, bewunderte ihre makellose Schönheit, insbesondere ihre wohlgeformten, üppigen Brüste unter ihrem bescheidenen puritanischen Kleid. Da er sein Verlangen nicht unter Kontrolle halten konnte, hatte er beschlossen, sich seine Gefangene zu Willen zu machen, trotz ihrer Proteste und vergeblichen Versuche, ihm zu entkommen. Ellen war gezwungen gewesen, genau in dem Moment ihre Lektüre zu unterbrechen, als die Eichenstufen unter seinen Schritten ächzten und knarrten, während Eliza, die hilflos und allein hinter einer verschlossenen Tür in der Falle saß, angstvoll abwartete. Es hatte Ellen fast umgebracht, diesen Abschnitt nicht fertig lesen zu können.

Deshalb war ihr, nachdem Hitesh gegangen war, die Entscheidung leicht gefallen, und innerhalb weniger Sekunden hatte sie sich in der Hitze dieser verschlossenen Kammer wiedergefunden und mit Eliza gekämpft, um sich gegen ihr kaum verständliches Verlangen nach einem Mann zur Wehr zu setzen, den sie eigentlich hätte hassen müssen, nach dem sie sich aber dennoch verzehrte.

Dann hatte Charlie über Erektions-Metaphern geredet und sie nach der Klassenreise zum Skifahren gefragt, und Ellen hatte sich an genau dem Ort wiedergefunden, an dem sie am wenigsten sein wollte, nämlich in der Realität.

»Es ist kein Geld da«, hatte Hitesh ihr am Küchentisch erklärt. Er sprach leise und langsam, als wollte er sichergehen, dass sie ihn wirklich verstand.

»Gar keines?«, fragte Ellen. »Aber die Versicherung, der Einspruch … du hast gesagt …«

»Ich habe gesagt, dass ich es versuche, und das habe ich getan – du weißt, dass ich an dem Fall dran war, seit die vor Monaten die Auszahlung verweigert haben, und dass ich mich fast ein Jahr lang mit denen herumgestritten habe«, erinnerte Hitesh sie, nippte an dem Glas mit eisgekühlter Limonade, die sie ihm eingeschenkt hatte, und öffnete seinen obersten Hemdknopf. »Nick war bestens versichert, hätte er Krebs bekommen oder wäre er von einem Bus überfahren worden, dann würde es dir gut gehen, du wärst für den Rest deines Lebens versorgt. Aber so war es nicht. Tod durch riskantes Fahrverhalten, Ellen, sein riskantes Fahrverhalten. Ich weiß, dass du das alles nicht noch mal hören willst –, aber die Schleuderspuren auf dem Asphalt, die Entfernung zwischen der Straße und der Stelle, an der man das Auto gefunden hat, der Zustand des Fahrzeugwracks. Der Blutalkoholspiegel. Es hat sich herausgestellt, dass er diese Kurve mit etwa hundertneunzig Stundenkilometern genommen hat und sein Alkoholspiegel knapp oberhalb des zulässigen Grenzwerts war. Ich bin mit meinem Latein am Ende: Es gibt keine weitere Einspruchsmöglichkeit oder Schlichtungsstelle, an die ich mich noch wenden könnte. Die Versicherungsgesellschaft interessiert sich nicht für dich, Ellen, genauso wenig wie für die Höhe deiner Hypothek oder dafür, wie viele Jahre Nick seine Beiträge bezahlt hat. Bei einem durch riskantes Verhalten selbstverschuldeten Todesfall zahlt sie nicht. Du wirst von der Versicherung kein Geld bekommen. Es tut mir leid, aber wir müssen der Tatsache ins Auge sehen und uns überlegen, was wir als Nächstes tun sollen.«

Ellen drehte ihren Ehering immer wieder um den Finger. Sie hörte Hitesh, aber nichts von dem, was er sagte, schien real zu sein. Im letzten Jahr hatte sie einfach wie normal weitergemacht, zumindest in finanzieller Hinsicht. Sie und Nick hatten fast zwanzigtausend Pfund auf ihrem Sparkonto gehabt, und Hitesh hatte ihr geholfen, das Geld auf ihr Haushaltskonto zu überweisen, das ihr über die Runden helfen sollte, bis die Versicherung gezahlt hatte. Das sollte eigentlich eine vorübergehende Maßnahme sein, doch Monat um Monat war vergangen, und es war noch immer keine Auszahlung erfolgt. Alles, die Hypothekenrate, die Strom- und Gasrechnung und alles andere, was eben bezahlt werden musste, wurde direkt vom Haushaltskonto abgebucht. Voller Zuversicht, dass sich alles lösen würde, hatte Ellen nicht einmal daran gedacht, den schwindenden Kontostand zu überprüfen. Doch jetzt eröffnete ihr Hitesh, dass dieses Geld zur Neige ging. Und was dann?

»Hitesh, das Geld, das wir auf unserem Sparkonto hatten … das ist fast aufgebraucht? Ist da nicht noch etwas vom Betrieb übrig?« Nick hatte eine kleine, aber erfolgreiche Werbeagentur geführt, zumindest hatte er allen, einschließlich Ellen, immer erzählt, wie gut sie lief. Als sich die Rezession bemerkbar machte, hatte er auf ihre viktorianische Villa mit den fünf Schlafzimmern und auf seinen Mercedes in der Einfahrt gedeutet und Ellen gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.

»Werbung ist konjunktursicher«, hatte er sie beruhigt und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt. Es war Hitesh zugefallen, der nicht nur Nicks Steuerberater, sondern auch dessen Testamentsvollstrecker war, einen großen Teil des vergangenen Jahres damit zu verbringen, die Geschäftsangelegenheiten abzuwickeln – eine komplizierte Angelegenheit, die zu verstehen Ellen nicht einmal versuchen wollte.

»Löhne, Pacht, Rechnungen … Nick war bei allem im Rückstand, und er war auch mit der Zahlung der Steuern im Verzug. Ich habe für ihn bei der Finanzbehörde einen Aufschub erwirkt, um seinen Zahlungsfluss in Ordnung zu bringen … aber er hat es nicht geschafft. Von dem wenigen vorhandenen Firmenkapital ist das meiste ans Finanzamt geflossen, und du kannst von Glück reden, dass du am Ende niemandem Geld schuldest.«

»Es ist nur … ich verstehe nicht, wie … ist es wirklich so schlimm?« Ellen war fassungslos. »Nick hat mir nie etwas gesagt, er hat mir nie den Eindruck vermittelt, dass es schlecht läuft, dass wir uns einschränken sollten.«

»Du weißt, dass Nick ein Mann mit traditioneller Einstellung war. Er wollte dich nicht beunruhigen, und hätte er den Unfall nicht gehabt, dann hättest du wahrscheinlich nie davon erfahren. Er hätte das alles in Ordnung und auf den richtigen Weg gebracht.« Hitesh lächelte freundlich. »Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat es immer geschafft.«

»Du meinst, dass wir schon einmal in einer solchen Lage waren?«, fragte Ellen gereizt, unsicher, ob sie tatsächlich wissen wollte, dass die Ruhe und Sicherheit ihres Ehelebens schon einmal in Gefahr gewesen waren.

»Nun«, sagte Hitesh und wich ihrer Frage aus, »ich habe mir deine Ausgaben angeschaut. Das tilgungsfreie Hypothekendarlehen, das ihr auf dieses Haus aufgenommen habt, ist beträchtlich. Wenn du heute versuchen würdest, dir so viel Geld zu leihen, würde keine Bank überhaupt mit dir verhandeln. Und du bist für weitere drei Jahre an eine feste Zinsrate gebunden, was schade ist, weil die Zinssätze so gesunken sind – du würdest nur einen Bruchteil von dem bezahlen, was du jetzt berappen musst, wenn Nick sich für eine Hypothek mit variablen Zinsen entschieden hätte. Falls du versuchen solltest, zu verkaufen und den Kredit abzulösen, würden die Ablösungsgebühren in die Tausende gehen, deshalb …«

»Was? Was kann ich machen?«, fragte Ellen. Zum ersten Mal sickerte die Wahrheit über ihre tatsächliche Lage in ihr Bewusstsein. In all den Monaten seit Nicks Tod hatte sie sich ganz darauf konzentriert, von Minute zu Minute ohne ihn zu leben, und das war für sie mehr als genug an Herausforderung gewesen, das war es noch immer. Und jetzt war die Zeit abgelaufen, und sie würde etwas für sich selbst tun müssen, würde eine Möglichkeit finden müssen, mit dieser Situation fertigzuwerden … und sie hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Ellen verschränkte die Finger in ihrem Schoß zu einem festen Knoten, während sie spürte, wie die Panik in ihr aufstieg und ihr die Brust zuschnürte.

Hitesh hielt inne, und Ellen war sich nicht sicher, ob es an der Wärme des Tages lag, dass er sich so unwohl fühlte, oder an dem, was er ihr – wie er wusste – würde mitteilen müssen.

»Genau … nun, schauen wir uns die Fakten an. Dieses Haus hat eine gute Größe, eine gute Lage … Du und Charlie, ihr könntet ausziehen und es vermieten. Die Miete würde die Hypothekenzahlung decken, bis du ohne Gebühren verkaufen und den Kredit tilgen kannst. Natürlich musst du trotzdem eine Möglichkeit finden, wie du den Lebensunterhalt für dich und Charlie finanzieren kannst, aber die Miete für eine Dreizimmerwohnung würde natürlich nur einen Bruchteil deiner aktuellen Belastungen bedeuten …«

»Unser Zuhause an eine andere Familie vermieten? Du meinst, wir sollten ausziehen?« Ellen schluckte, weil ihr Mund plötzlich ganz trocken war.

»Nein, du wirst nicht die gleichen Einnahmen erzielen, wenn du es im Ganzen vermietest, wie wenn du Einzelzimmer an junge Berufstätige oder vielleicht Studenten vermietest. Du willst deine Einkünfte doch maximieren. Tja, es ist ein bisschen heikel, zu vermieten, ohne die Hypothek in ein Darlehen zum Kauf der Immobilie mit dem Ziel, sie zu vermieten, umzuwandeln. Aber ich kenne einen Immobilienmakler, der so etwas unter der Hand übernimmt …«

»Aber das ist unser Zuhause.« Ellen konnte ihre eigenen geflüsterten Worte kaum hören. »Das ist Charlies Zuhause, sein Zufluchtsort. Du weißt, wie es ihm seit dem Unfall gegangen ist. Aber er hat zumindest sein Zuhause, sein Zimmer, seine Habseligkeiten. Das kann ich ihm nicht auch noch wegnehmen. Das kann ich nicht.«

Hitesh seufzte, kniff seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und schloss kurz die Augen. Als er sie wieder aufschlug, suchte er Ellens Blick und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Ellen, du weißt, dass Nick ein Freund von mir war. Shamilla und ich betrachten dich und Charlie als zur Familie gehörend. Ich sehe dich nicht gern in dieser Lage. Wenn ich etwas anderes tun könnte, würde ich es machen, das verspreche ich dir –, aber es gibt keinen anderen Ausweg. Nick hat sich für unbesiegbar gehalten, er hat nie daran gedacht, dass auch er nur aus Fleisch und Blut ist wie wir alle. Er wusste, dass alles von ihm abhing, dass er es bringen musste, dass er ein Wunder vollbringen musste, wie er es immer getan hat … das war jene Art von Risiko, die er brauchte. Aber dieses Mal konnte er nicht alles wieder in Ordnung bringen. Und obwohl er es nicht wollte, hat er dir ein Chaos hinterlassen. Tja, wenn du in diesem Haus bleiben willst, ohne dass es zu einer Zwangsversteigerung kommt, dann musst du entweder sofort zweieinhalbtausend Pfund pro Monat auftreiben, nur um überleben zu können, oder du musst dir das noch einmal überlegen. Wenn ich sage sofort, dann meine ich es auch … du hast nicht genügend Geld auf dem Konto, um die Hypothekenrate zu bezahlen, die im nächsten Monat fällig wird.« Hitesh beugte sich vor, seine Stimme klang sanfter. »Es tut mir leid, dass ich so brutal sein muss, aber so ist es nun mal. Ich muss dafür sorgen, dass du die Lage erkennst. Gibt es jemanden, der dir helfen könnte … ich weiß, dass Nicks Eltern verstorben sind, aber vielleicht könnten deine …?«

»Sie haben kein Geld«, antwortete Ellen und dachte an ihre Mum und ihren Dad in ihrem eisigen Bungalow in Hove, die so gut wie ausschließlich von ihrer staatlichen Grundrente lebten.

»Dann brauchst du einen anderen Plan.« Hitesh legte eine Pause ein. »Nutze den heutigen Tag, um über deine Möglichkeiten nachzudenken. Diskutiere die Sache mit irgendjemandem durch. Falls du einen anderen Ausweg findest, dann ist das großartig. Falls nicht, dann melde dich bei mir, und ich stelle den Kontakt zu diesem Immobilienmakler her.«

Und Ellen hatte sich Zeit gelassen. Aber sie hatte sich entschlossen, nicht nachzudenken. Wie hätte sie das tun können? Wie konnte sie an etwas denken, das so unbegreiflich und unwiderruflich war wie Nicks Tod?

Wenn Nick bloß da wäre. Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf, bevor sie ihn aufhalten konnte.

*

»Und?«, fragte Charlie. »Darf ich?«

»Ich weiß noch nicht«, antwortete Ellen ausweichend. »Ich muss darüber nachdenken. Das ist weit weg, und du bist noch nie Ski gefahren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich möchte, dass du so weit weg bist. Das klingt in meinen Ohren gefährlich.«

»Die Treppe hinaufzusteigen klingt auch gefährlich«, beschwerte sich Charlie frustriert. »Mum, wenn du mich nicht mitfahren lässt, halten mich alle für ein Muttersöhnchen. Dann glauben die, ich kriege mein Essen in der Schule vom Sozialamt bezahlt! Du musst aufhören, mich wie ein Kleinkind zu behandeln. Ich werde schon nicht sterben, weißt du. Ich bin nicht Dad.«

Ellen senkte den Kopf und spürte die Wärme des Manuskripts unter ihren Fingern, als steige das Feuer zwischen Eliza und Captain Parker zwischen den Zeilen auf. Lediglich ein paar dünne Blätter entfernt wartete eine ganz andere Welt auf sie … ohne Schulden, ohne tote Ehemänner oder wütende Jungen, die nicht wussten, was sie da sagten und warum. Eine Welt, in der leidenschaftliche Männer dich von deinen Problemen losrissen, dich so sehr entzückten, dass du dich wie im Delirium unterwarfst, weil sie dich mit ihrer Liebe eroberten. Eine Welt, in der du nichts weiter zu tun brauchtest, als unwiderstehlich zu sein. Wie konnte sie Charlie erklären, dass sie ihr Herz nicht davon überzeugen konnte, obwohl sie wusste, dass er nicht mit seinem Vater gleichzusetzen und es höchst unwahrscheinlich war, dass sie ihn so plötzlich und gewaltsam verlieren würde, wie sie Nick verloren hatte?

»Und, was möchtest du heute zum Essen haben?«, fragte Ellen, erschöpft vom ständigen Ansturm der Gefühle, die in ihrem Kopf tobten.

Seit Nicks Tod hatte Charlie jeden Abend das gleiche gegessen wie am letzten Tag, als er seinen Vater lebend gesehen hatte: Fischstäbchen, Weißbrot, Tomatenketchup und Frosties mit fettarmer Milch. Ellen hatte der Reihe nach einen Arzt, einen Kinderpsychologen und eine Ernährungsberaterin aufgesucht, und alle hatten ihr gesagt, das Beste sei, ihn einfach gewähren zu lassen, solange es seine Gesundheit nicht beeinträchtigte, aber jedes Mal, wenn sie ihm etwas von dieser allzu kurzen Liste vorsetzte, kam Ellen sich wie eine Versagerin vor: Eine Mutter, die nicht einmal ihren eigenen Sohn richtig ernähren konnte, weder mit der Art von Lebensmitteln, die er essen sollte, noch mit der Liebe und Sicherheit, die er spüren musste, um diese essen zu können. Es war ein Beweis, dass Charlie trotz all ihrer Bemühungen, dagegen anzukämpfen, seit sie Nick verloren hatten, stetig von ihr weggedriftet war und sich ihr mit jedem Tag ein bisschen weiter entzog. Es war nicht nur das Geld, das ihr die Zustimmung zu dieser Reise zum Skifahren so schwer machte. Es war der für sie unerträgliche Gedanke, dass er so weit weg wäre, noch weiter weg als jetzt, da er direkt neben ihr stand. Ellen glaubte nicht, dass Charlie sie wirklich für den Tod seines Vaters verantwortlich machte. Es war eher, dass er über sein verbliebenes Elternteil enttäuscht zu sein schien. Der ruhige, liebe kleine Junge, der er einmal gewesen war, strebte jeden Tag mehr danach, von seiner Mutter absolut unabhängig zu werden, und Ellen war sich sicher, dass auch dieser Skiausflug … wieder etwas war, was er ohne sie tun konnte. Je mehr er darum kämpfte, sich von ihr loszumachen, desto mehr wollte sie ihn an sich binden, ihn als diesen wunderbaren kleinen Jungen belassen, der bei Nicks Beerdigung ihre Hand gehalten hatte.

Charlie senkte den Kopf, seine Schultern hoben sich mit einem Seufzer, und dann schlang er die Arme um Ellens Hals und lehnte den Körper an ihren. Sie spannte sich an, weil sie von der liebevollen Geste, die so ungewohnt geworden war, so überrascht wurde, dass sie die Gelegenheit verpasste, die Umarmung zu erwidern, bevor Charlie zurückwich.

»Tut mir leid, Mum«, sagte er mit gesenktem Blick. »Tut mir leid, dass ich manchmal ein solches Ekel bin. Ich weiß nicht, warum ich solches Zeug sage. Ich bin ein Idiot.«

»Nein, das bist du nicht.« Zögernd legte Ellen die Hände sanft auf Charlies Schultern und blickte ihm in die Augen. »Charlie, das letzte Jahr … wir haben mit einer Menge fertig werden müssen, du und ich. Und du … du warst alles andere als ein Idiot. Du warst ein fantastischer, starker, tapferer kleiner Junge.« Innerlich zuckte Ellen über die Wahl ihrer Worte zusammen. »Zu lernen, ohne Dad zurechtzukommen, das ist für uns beide schwer, und manchmal tun und sagen wir Dinge, die wir nicht so meinen. Das spielt alles keine Rolle, solange wir uns lieb haben und zusammenhalten.«

Charlie hielt den Blickkontakt für eine Sekunde, als wollte er noch etwas sagen, etwas Wichtiges. Aber stattdessen zuckte er mit den Achseln und zog sich aus ihrer Umarmung zurück.

»Mir ist es sowieso egal, wenn die anderen in der Schule mich für einen Schwulen, einen Zigeuner und Proll halten«, sagte er gereizt, und die Überreste der süßen Jungenhaftigkeit verflogen so schnell, wie sie aufgetaucht waren. »Es spielt vermutlich nicht wirklich eine Rolle, ob ich zum Skifahren gehe. Emily Greenhurst fährt auch nicht mit, und die spielt E-Gitarre.«

»E-Gitarre. Tatsächlich?« Charlie nickte. »Charlie, ich will ehrlich sein. Ich bin mir mit dieser Klassenfahrt nicht sicher. Das ist eine Menge Geld, und wir sind noch dabei, unsere Finanzen zu ordnen«, sagte Ellen ausweichend. Es gab einen Menschen, den sie um Hilfe bei der Bezahlung dieser Fahrt bitten könnte, auch wenn der Gedanke, Charlie gehen zu lassen, ihr panische Angst einjagte. Diese Klassenfahrten waren immer absolut sicher, redete Ellen sich trotz ihrer instinktiven Bedenken ein. Die Schule musste heutzutage sicherstellen, dass nichts passierte … obwohl es vor ein paar Wochen diesen Fall in den Nachrichten gegeben hatte, bei dem ein Junge bei einem Kanuunfall ertrunken war. Ellen unterdrückte ihre Besorgnis. Sie wollte nicht, dass Charlie der Einzige unter seinen Freunden war, der nicht mitfahren durfte, auch wenn diese mysteriöse Emily Greenhurst nicht mitkam. Ellen wusste, dass ihre jüngere Schwester Hannah ihr das Geld geben würde, wenn sie bereit war, darum zu bitten, aber sie war nicht sicher, ob sie das wollte, nicht einmal Charlie zuliebe. Hannah, die Kluge, Schöne, Erfolgreiche, hatte es sich seit Nicks Tod zur Aufgabe gemacht, häufig bei Ellen vorbeizukommen. Immer wieder hatte sie Ellen angeboten, ihr bei den Rechnungen behilflich zu sein oder sie und Charlie zum Essen einzuladen … und Ellen wusste, dass sie über die Fürsorglichkeit und Hilfsangebote ihrer kleinen Schwester gerührt und ihr dafür dankbar sein sollte, aber das fiel ihr schwer. Hannah war immer so mühelos durchs Leben geglitten, die Welt hatte sich um sie herum immer zusammengefügt. Fast ihr ganzes Leben lang hatte Ellen den Eindruck gehabt, hinter ihrer kleinen Schwester herzuhinken, mühsam durchs Leben zu stolpern, während Hannah sich einen Weg bahnte wie ein strahlender Shootingstar. Und dann hatte Ellen Nick kennengelernt, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas gehabt, was Hannah nicht hatte. Eine liebevolle Beziehung, einen Ehemann und einen Sohn, ein richtiges Familienhaus. Und wie dumm und albern es auch sein mochte, während sie diese Dinge besessen hatte, hatte Ellen sich ihrer Schwester ebenbürtig, ja ihr sogar überlegen gefühlt. Aber jetzt waren Ellens Schätze bis auf einen alle entweder dahin oder im Begriff, verloren zu gehen, und es würde ihr sehr schwerfallen, Hannah um Hilfe zu bitten. Selbst für Charlie.

»Ich versuche es, so gut ich kann, ja? Und bitte bezeichne Menschen nicht als Prolls oder Zigeuner. Oder als schwul, wenn du das als Beleidigung verstehst.«

»Aber es ist in Ordnung, wenn man es als Kompliment benutzt?«, foppte Charlie sie. »Zum Beispiel, ach, Simon Harper, du bist so wunderbar schwul!«

»Charlie!« Ellen unterdrückte ein Schmunzeln. »Du bist fast zwölf Jahre alt. Du weißt, was richtig und was falsch ist … versuche, daran festzuhalten, ja?«

»Okay.« Charlie grinste. »Ich glaube aber wirklich, dass Simon Harper schwul ist.«

»Also Fischstäbchen?« Ellen lächelte und hoffte wie immer, dass seine Antwort eines Tages anders ausfallen würde.

»Ja, bitte, Mummy.«

Ellen wusste nicht, was ihr das Herz mehr brach, die Narben, die der Tod seines Vaters bei ihr hinterlassen hatte, oder die Tatsache, dass ihr kleiner Junge manchmal, nur für einen flüchtigen Augenblick, vergaß, sich wie ein Erwachsener zu gebärden.

2

Tja, meiner Meinung nach war das ja zu erwarten«, sagte Hannah, die den dritten Löffel Zucker in ihren schwarzen Kaffee rührte. Ellens Schwester, knapp acht Jahre jünger als sie, lebte von Kaffee und Zigaretten und sah ärgerlicherweise trotzdem gut aus. »Schlank wie eine Gerte und genauso biegsam« … es war bekannt, dass sie sich mit diesem Satz potenziellen Liebhabern vorstellte, und das war so gut wie jedes männliche Wesen im Umkreis von zehn Kilometern. »Du musst tun, was dieser Steuerberater sagt. Du musst dich einschränken, das Haus vermieten und eine kleine Wohnung für dich und Charles suchen. Ich meine, Ellie, es besteht doch nur aus einem Haufen Backsteinen. Es ist ja nicht einmal so, als hättest du mit Nick euer ganzes Eheleben hier verbracht, als hätte er dich an eurem Hochzeitstag hier über die Schwelle getragen. Ihr habt hier nur ein paar Jahre gelebt, und ich habe nie begriffen, warum ihr euch ein so riesiges Haus gekauft habt, wo doch nur ihr drei darin wohnen würdet …« Hannah geriet ins Stocken, da ihr klar wurde, dass sie wieder einmal voll ins Fettnäpfchen getreten war, und sie rührte wie wild ihren Kaffee um und konnte Ellen einen Moment nicht in die Augen blicken. Sie wussten beide, dass Ellen und Nick, als sie das Haus kauften, geplant hatten, eine große Familie zu gründen, ein richtiges Familienhaus für eine richtig große Familie. Aber die Umstände hatten sich geändert, und dieser Plan hatte sich schon lange vor Nicks Tod als unmöglich erwiesen. Ellen verspürte in ihrem Inneren einen heftigen Schmerz. Es war doch typisch für ihre Schwester, dass sie jene Details ansprach, die sie am meisten verletzten, wenn sie ihr Heim als einen Haufen Backsteine bezeichnete. Es war so viel mehr: Es war ein Symbol für ihr bisheriges Leben … und wie es hätte weiter verlaufen sollen.

»Jedenfalls … es ist nur ein Haus«, fuhr Hannah stotternd fort. »Eine Erinnerung an alles, was du … was du verloren hast. Ein Neuanfang … das ist genau das, was du brauchst. Dieses Haus ist doch nur eine Last, und zwar eine, die du nicht gebrauchen kannst.«

Für einen Moment schwieg Ellen. Sie hatte nach Hiteshs Besuch zwei Tage gebraucht, bis sie sich dazu durchringen konnte, ihre Schwester anzurufen, und natürlich hatte sie Hannah wirklich nicht zum Kaffee eingeladen, um sich ihre Meinung und Ratschläge anzuhören. Die beiden Frauen waren in jeder Hinsicht so verschieden, dass sie sich vor Nicks Tod kaum getroffen oder miteinander gesprochen hatten – abgesehen von den gebotenen Anlässen, zum Beispiel an Geburtstagen oder an Weihnachten. Doch nach seinem Tod war Hannah viel häufiger vorbeigekommen, was Ellen, wie sie vermutete, hätte rühren sollen, da ihre kleine Schwester sich bemühte, für sie da zu sein, obwohl keine von ihnen die andere wirklich mochte oder verstand. Aber Hannah vermittelte Ellen nicht dieses Gefühl: Aus irgendeinem Grund hatte sie den Eindruck, dass Hannah nur aus eigenem Interesse in ihrer und Charlies Nähe sein wollte, als wäre sie diejenige, die von Nicks Tod abgelenkt werden müsste. Hannah hatte Ellen bald nach der Beerdigung, als sie an ihrem Tiefpunkt angekommen war, in ihrem Zimmer liegend aufgefunden, den Kopf unter dem Kissen vergraben, und hatte sich vorsichtig auf den Bettrand gesetzt.

»Mum hat Sandwiches mit Eiern und Mayo gemacht«, hatte sie gesagt. »Möchtest du eines?«

Ellen hatte nicht geantwortet.

»Schau …« Hannah hatte die Hand ausgestreckt und ihr auf die Schulter gelegt. »Ich weiß, wie schrecklich, wie fürchterlich das ist … aber du musst daran denken, dass du ihn zumindest für eine Weile gehabt hast. Er hat immerhin zu dir gehört, und jeder hat das gewusst. Und er wird immer zu dir gehören.«

Ellen, die nicht in der Lage gewesen war, ihre Schwester anzusehen, hatte sich einfach ein weiteres Kissen über den Kopf gezogen und sich in den Schlaf geweint. Aber später, als Hannah anfing, ihr regelmäßig Besuche abzustatten, dachte sie über das nach, was sie an jenem Vormittag gesagt hatte, und fragte sich, ob ihre Schwester, die persönliche Dramen und Lebenskrisen so sehr liebte, sie sogar ein wenig beneidete. Falls Hannah Trauer und die Aufmerksamkeit, die sie nach sich zog, glamourös fand.

Ellen konnte einfach nicht fassen, wie unterschiedlich sie beide in jeder Hinsicht waren.

Häufig fragte sie sich, ob das an ihrem Altersunterschied liegen konnte. Sie war Anfang der Siebzigerjahre geboren, als die Welt noch ein optimistischer und freundlicher Ort war. Hannah dagegen, ein absolutes Überraschungsbaby, war zu Beginn der Achtziger auf die Welt gekommen, strampelnd und nach mehr schreiend, und sie verkörperte allem Anschein nach das Jahrzehnt, in das sie hineingeboren wurde – eine kecke und selbstsichere, leistungsorientierte Person, die stets nach mehr Erfolg, mehr Besitz gierte.

Jetzt, mit fast achtunddreißig, hatte Ellen dunkle Haare, einen dunklen Teint und jene grünen Augen, die Nick so geliebt hatte, und das, was Allegra Howard als eine gut gebaute, wunderschön kurvige Figur beschrieben hätte. Nicht etwa, dass Ellen viele Gedanken auf ihre Figur verschwendet hätte, die sie unter Jeans aus dem Supermarkt und T-Shirts verbarg, von denen die meisten Nick gehört hatten. Ellen hatte nie zu jenen Frauen gehört, die großen Wert auf ihr Äußeres legen. Nick hatte ihr häufig gesagt, dass dies einer der Gründe war, warum er sie so liebte. Er hatte sie im Schlafzimmer als seine Taschen-Venus bezeichnet, als eine Göttin, die nur er bewundern dürfe, deren verborgene Reize für alle, bis auf ihn, ein Geheimnis blieben.

Ellen lebte in der Welt, die Nick für sie geschaffen hatte, und brach nur selten daraus aus. Sie lebte in ihrem Zuhause, in ihren Büchern und für ihren Mann und ihren Sohn. Das war ein angenehmer, tröstlicher Kokon gewesen, eine kleine Welt, und jetzt hatte sie Mühe, die Energie aufzubringen, aus dieser kleinen Welt aufzutauchen, obwohl sie gar nicht wusste, ob sie diese überhaupt verlassen wollte. Ellen mochte die Welt da draußen nicht; sie brauchte sie nicht. Ihr Leben war begrenzt, kleinteilig und reich an jenen Einzelheiten, die nur ihr wichtig waren, und genau so wollte sie es haben, gerade jetzt.

Hannah dagegen blühte auf, wenn sie Aufmerksamkeit erregte. Sie war groß, größer als alle anderen Familienmitglieder einschließlich ihres Vaters, und unglaublich langbeinig. Sie hatte ihr glamouröses Aussehen schon lange perfektioniert, indem sie ihre von Natur aus rötlichen Haare mit einer monatlichen kastanienbraunen chemischen Färbung auffrischte, sodass sie in üppigen und glänzenden Wellen bis zur Mitte des Rückens fielen, und sie zählte zu den wenigen Glücklichen, die trotz schmaler Hüften und flachem Bauch ein von Natur aus üppiges Dekolleté besaßen, das sie ihren vielen Bewunderern zur Schau stellen konnte. Mit gerade einmal dreißig Jahren gehörte sie zu den wenigen weiblichen Fondsmanagern bei der T. Jenkins Waterford Vermögensverwaltung. Sie hatte die Finanzkrise der letzten Monate erfolgreicher überstanden als viele ihrer Kollegen, die sie am Straßenrand zurückgelassen hatte, ohne sich auch nur einmal umzublicken. Ellen wusste, dass Hannah ein sechsstelliges Einkommen erzielte und wahrscheinlich genügend Geld auf verschiedenen Konten liegen hatte, um ihr Haus sofort kaufen zu können, wenn sie es denn gewollt hätte. Wäre es nicht um Charlies Skiausflug gegangen, hätte Ellen im Traum nicht daran gedacht, Hannah darum zu bitten, ihr finanziell unter die Arme zu greifen. Der wahre Grund, warum es Ellen so schwer fiel, Hannah um Hilfe zu bitten, war der, dass sie wusste, dass ihre Schwester ihr und Charlie gerne helfen würde, dass es Hannah sogar eine Freude wäre, und dagegen sperrte Ellen sich. Das war kein Impuls, auf den sie stolz war, vor allem wenn er bedeutete, dass Charlie am Skiausflug seiner Klasse nicht teilnehmen konnte, insbesondere da sie ihre eigenen Motive nicht wirklich verstand. Falls Hannah sie beneidete, beruhte das ja vielleicht auf Gegenseitigkeit … für Hannah war das Leben immer so einfach gewesen. Auch wenn sie immer wieder einiges missverstand und Fehler machte, so hatte es doch immer den Anschein, als arrangiere sich das Universum um sie herum, um alles wieder in Ordnung zu bringen und alles besser zu machen. Ellen hatte sich, bevor Hannah angekommen war, selbst ins Gebet genommen und sich eingeredet, dass es bei dieser Bitte nicht um sie ging, sondern um ihren Sohn … dennoch zögerte sie und schaffte es nicht, das Thema zur Sprache zu bringen.

»Dieses Haus ist nicht nur ein Haufen Backsteine … es ist Charlies Zuhause«, stellte sie stattdessen leise fest und nippte an dem schaumigen Cappuccino, den sie mit der ausgeklügelten und teuren Maschine zubereitet hatte, die Nick ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte, obwohl sie meistens Tee trank. »Und als Nick und ich dieses Haus gekauft haben, war es für uns etwas Besonderes, weil es das Haus war, von dem wir immer geträumt hatten. Der Ort … der Ort, an dem wir zusammen alt werden wollten. Nick wollte in der Garage einen Laden für Oldtimer-Motorräder aufziehen, und ich wollte anfangen, Geschichten zu schreiben, weißt du, nur zum Spaß, und sie ihm am Abend vorlesen. Und als … als uns klar wurde, dass wir keine weiteren Kinder bekommen würden, haben wir beschlossen, die Zimmer im Dachgeschoss, wenn Charlie alt genug sein würde, in eine kleine Wohnung für ihn auszubauen, damit er seine Privatsphäre hätte, und wir wollten uns einen Hund oder zwei anschaffen … einen Labrador und einen Red Setter. Nick hat sich immer einen Red Setter gewünscht.«

Ellen blickte zu Hannah auf, deren Miene sich beim Zuhören so angespannt hatte, als verärgerte sie schon allein der Gedanke an ein so alltägliches und häusliches Dasein. Ellen wusste, dass Hannah so wenig von dem, was sie sagte, begriff, dass sie genauso gut in einer Fremdsprache hätte reden können.

»Ja, aber Ellie … dazu wird es jetzt nicht mehr kommen«, stellte Hannah gereizt fest. »Begreifst du das denn nicht? Nick ist tot!« Fassungslos schwieg Hannah eine Sekunde, als würde auch sie die Nachricht zum ersten Mal hören. Sie schluckte und holte Luft. »Dein Leben hat sich verändert, es wird nicht mehr so sein, wie du dachtest. Du musst aufwachen und dich der Tatsache stellen.«

Ellen schnappte nach Luft. »Ich denke, du solltest lieber gehen«, sagte sie, schob ihren Stuhl zurück und reichte Hannah ihre Handtasche.

»Ellie … bitte … lass das!« Hannah beugte sich über den Tisch vor und legte die Hände auf Ellens Unterarm. »Wirf mich nicht hinaus, ich versuche doch bloß, dir zu helfen.«

Ellen schüttelte den Kopf. »Nein, Hannah … du versuchst nicht zu helfen. Du versuchst, hier hereinzumarschieren und mir zu sagen, wie sinnlos und erbärmlich mein Leben ist und dass ich das alles einfach beiseitewischen soll, alles, was mir von Nick geblieben ist, beiseitewischen und irgendwo in einer winzig kleinen Wohnung leben soll, nur weil das für mich das Vernünftigste ist, und weil es ja nur ich, die langweilige Ellen bin … was mit mir geschieht, spielt dabei überhaupt keine Rolle, oder? Tja, seit wann hast du jemals das Vernünftigste getan? Bloß weil nichts von dem, was für mich wichtig ist, dir wichtig erscheint, heißt das noch lange nicht, dass du das Recht hast, darauf herumzutrampeln.«

Hannah starrte sie eine Sekunde an. »Alles, was dir wichtig ist, ist auch mir wichtig. Ich will für dich und Charles nur das Beste. Du kennst mich doch, Ellen … Takt ist nicht gerade meine Stärke. Hast du noch nie etwas von liebevoller Strenge gehört? Ich weiß, dass ich wie ein herzloses Biest klinge, aber nicht nur ich denke so, auch dein Steuerberater, Mum und Dad … wir alle machen uns Sorgen um dich, Ellen. Du kannst nicht einfach in dem Glauben, dass am Ende alles schon in Ordnung kommen wird, den Kopf in ein Buch nach dem anderen stecken. Im wahren Leben gibt es diese Art von Happy Ends nicht … es gibt keinen großen, dunkelhaarigen und gut aussehenden Fremden, der nur darauf wartet, dich zu retten …« Hannah zögerte, und Ellen fragte sich, ob sie da nicht ein Beben in ihrer Stimme vernahm. »Oder sonst jemanden von uns. Und ich weiß, dass es schwer ist. Ich weiß, dass Nick alles für dich und Charles getan hat … du bist nicht daran gewöhnt, dich um alles selbst zu kümmern. Aber jetzt musst du es. Du musst es, sonst wird der Schlamassel, in dem du steckst, nur immer schlimmer, bis es keinen Ausweg mehr gibt, und was wird dann aus Charles, wenn dein Haus zwangsversteigert wird und du nicht einmal das mehr hast?«

Ellen sank auf ihren Stuhl zurück. Hitesh, Hannah, ihr Vater am Vorabend am Telefon … sie alle hatten recht. Sie musste etwas unternehmen, aber Ellen hatte nicht nur keine Ahnung, was sie tun sollte, sie hatte von nichts einen Schimmer. Sie schloss kurz die Augen und unterdrückte den Wunsch, Hannah zu sagen, dass sie gehen sollte. Hannah hatte recht, sie musste etwas unternehmen, und wenn irgendjemand auf eine Idee kommen könnte, was zu tun sei, dann war es Hannah, die clevere, einfallsreiche Hannah. In ihrem Privatleben mochte sie ja von einer Katastrophe zur nächsten taumeln, doch wenn es um Problemlösungen und unkonventionelle Ideen ging, war Hannah unschlagbar.

»Okay«, sagte Ellen. »Okay. Ich weiß, dass du recht hast. Aber es ist Charlie, an den ich denke. Er hat so viel verloren … ich will nicht, dass er auch noch sein Zuhause verliert. Es muss doch einen anderen Ausweg geben, oder?«

»Tja, zunächst einmal könntest du mehr verdienen«, antwortete Hannah und kaute auf ihrer Unterlippe herum, wie sie es schon als kleines Mädchen immer getan hatte. »Ich meine, die Arbeit, die du für diesen Verlag erledigst, Nacktes Verlangen, oder wie der heißt … wie viele Bücher redigierst du für den?«

»Na ja, das variiert … Simon weiß, welche Autoren mir liegen, deshalb wartet er, bis er ein neues Werk von denen bekommt. Irgendwo zwischen einem und zwei alle paar Monate.«

»Tja, das ist fürs Erste schon mal verrückt.« Hannah sprach schnell, und die Wörter sprudelten mit einer Geschwindigkeit von tausend Kilometern pro Stunde aus ihrem Mund, als hätte der Tag nicht genügend Stunden, um alles zu sagen, was sie zu sagen hatte. »Vor allem, da du nur … wie viel tsiist